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Abschied

 

 

 Abschied ist die Geburt der Erinnerung.

Salvador Dali

 

 

 

Als Kind war meine Liebe zu dir bedingungslos, reichte bis weit hinter die Unendlichkeit.

Du warst da, immer. Egal ob ich krank war und du sorgenvoll und tröstend an meinem Bett gesessen hast. Egal ob ich in der Schule versagte, immer standest du an meiner Seite. Liebevoll, ohne Vorwürfe.

Du glaubtest an mich, auch dann, wenn niemand anderes an mich glauben wollte.

Wenn du mich zärtlich an dich drücktest, spürte ich, das, was uns verbindet, ist gültig für die Ewigkeit. Für immer unerschütterlich.

Was auch immer du sagtest, ich wusste, du hattest recht, mit allem. Deine Ansichten, deine Überzeugungen, wurden zu den meinen. Durch deine Augen schaute ich auf die Welt.

Meine Kindheit war fröhlich, war angefüllt mit glücklichem Lachen. Eine Kindheit, wie die wärmenden Strahlen der Sonne. Nur selten warfen dunkle Wolken Schatten auf meine Welt. Und wenn dieses doch einmal geschah, so sorgtest du dafür, dass diese Schatten verschwanden, sich auflösten wie ein kurzer, bedrückender Traum.

 

Erst als ich älter wurde, begriff ich, du warst nicht die Heilige, für die ich dich als Kind hielt.

Irgendwann verlor ich den Blick durch deine Augen und begann die Welt mit meinen eigenen zu betrachten.

Ich erkannte, nicht alles, was du mir beigebracht hattest, war die eine, unerschütterliche Wahrheit.

Nicht alles, was du tatest, war das einzig, immer Richtige.

 

Du versuchtest aus diesem kleinem Jungen, der ich einst war, einen Mann zu machen. Stark und Selbstbewusst sollte ich werden. Ich sollte austeilen können, aber auch wissen, wann es besser war einzustecken. Ich sollte wissen, wo die Grenze zwischen Unrecht und Recht lag. Ich sollte das Gute vom Bösen trennen können. Du versuchtest, mir all dieses beizubringen. Und doch, bald erkannte ich, dein Blick auf diese Welt war doch so eingeschränkt. Zu viel gab es dort draußen, zu vieles, was du nicht kanntest, nicht verstandest, nicht toleriertest.

 

Du versuchtest, mich zu erziehen. Mit Liebe, Zärtlichkeit, Verständnis und Ohrfeigen, die, wie du behauptetest, noch nie jemandem geschadet hatten.

Ich hätte dir gerne gesagt, doch, deine Ohrfeigen haben mir geschadet. Auch wenn ich nicht weiß wie sehr, so weiß ich doch, es ist nicht leicht, jemanden zu hassen, den man doch liebt. Nicht leicht für einen Erwachsenen und um so viel schwerer für das Kind, das ich war.

 

Ein Junge weint nicht, hast du oft zu mir gesagt. So oft, bis ich sie verlor, die Fähigkeit zu weinen. Nein, du bist nicht schuld daran, wusstest du doch nicht, wie quälend Schmerz und Trauer ohne Tränen sind.

 

Ich habe niemals verstanden, warum selbst noch in hohem alter, die Begeisterung zum Bund deutscher Mädchen so flammend in dir loderte. Nie habe ich es nachvollziehen können, warum du nicht begriffen hast, was man damals aus dir machen wollte - Soldatenfrau, Soldatenmutter, Gebärmaschine. Du warst zu jung, um das Mutterkreuz zu bekommen, aber hättest du es erhalten, gewiss hättest du es mit Stolz getragen. Nie würdest du es verstanden haben, welch ein Verrat dieses gewesen wäre. Den Verrat einer Mutter, zu der liebe ihres Kindes.

 

So wie die Liebe zu dir unerschütterlich schien, so war auch die Liebe zu Gott, welche du mir beibrachtest, unumstößlich.

Ich kann mich an deine Enttäuschung erinnern, als ich dir sagte, dass ich Atheist geworden bin. Die Welt da draußen und das, was sie mir zu zeigen bereit gewesen war, hatte meinen Glauben an Gott erlöschen lassen. Deine Enttäuschung war groß, umso kleiner war Dein Verstehen.

 

Du hattest mich gelehrt, jeder ist nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für seinen Nächsten.

Als ich begann mich für meine ausländischen Kollegen einzusetzen, rietest du mir davon ab. Zu viel würde für mich auf dem Spiel stehen. Ich könnte meinen Arbeitsplatz verlieren.

Damals war es an mir, enttäuscht von dir zu sein.

 

Auch als ich begriff, für wie abscheulich und gotteslästerlich du die gleichgeschlechtliche Liebe hältst, war ich enttäuscht von dir. Ich war froh, nicht schwul zu sein. Du hättest mich verstoßen.

Du versuchtest, mir Toleranz beizubringen, und warst doch selbst so weit davon entfernt.

 

Ich weiß nicht, ob du jemals verstanden hast, warum es mich hinauszog. Hinaus in die Welt, die mit so vielem auf mich wartete. Hinaus, weg von diesem kleinbürgerlichem leben. Weg auch von dir.

Ich weiß nicht, ob du das Warum verstanden hast. Doch du hast mir niemals Steine in den Weg gelegt, warst sogar ein wenig Stolz auf mich, auch wenn ich wusste, es bereitete dir Furcht, mich zu verlieren.

Dafür bin ich dir unendlich dankbar.

 

Du hast mir die liebe zur Literatur näher gebracht. Du hast mir gezeigt, welch ein Wunder diese sechundzwanzig Buchstaben sind. Ziffern, welche uns Abenteuer erleben lassen und uns all das da draußen erklären, selbst erleben und zu verstehen helfen.

Du hast mir die Fähigkeit gegeben, meine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Wenn auch nur auf dem Papier.

Auch hierfür bin ich dir unendlich dankbar.

 

Als ich erwachsen wurde und deine Ansichten, deine Gedanken und Überzeugungen, nicht mehr die meinen waren. Du vieles von dem, was mich bewegte, nicht mehr verstehen konntest, gab es trotzdem nie ein böses Wort zwischen uns.

Dafür bin ich dir dankbar.

 

Und als ich dir damals, vor so vielen Jahren diesen Brief schrieb. Den Brief, in dem ich versuchte all das, was uns verband, in Worte zu fassen. In dem ich versuchte dir zu erklären, dass ich dich noch immer Liebe, auch wenn du es mir nicht immer leicht gemacht hast, dich zu lieben.

Diesen Brief, in dem ich dir all das schrieb, was ich mich nie getraut hätte zu sagen. Den Brief, welcher mit den Worten endete, ich danke dir. War dieses, dieser Brief, dass wohl Wichtigste, was ich je zu Papier brachte.

Damals, als du diesen Brief last, hast du verstanden.

Auch dafür bin ich dir dankbar.

Heute bin ich froh darüber, dass ich den Mut hatte, dir all das zu schreiben, als es dich noch gab.

 

Für deine kleinen Unzulänglichkeiten war ich dir niemals böse, wusste ich doch, du warst ein Kind deiner Zeit, so wie ich das der meinen bin.

 

Als dann der Anruf kam, hätte ich gerne geweint, doch selbst das weinen um dich war mir nicht möglich. Du hattest es geschafft, mir selbst diese Tränen weg zu dressieren.

Wolltest du dieses?

Nur mein Zittern begleitete das Begreifen, dass es dich von nun an nicht mehr gab. Dass dieses nun der Abschied war, ein Abschied für immer.

 

So viele Jahre ist dieses nun her. Aber noch immer denke ich an dich.

Ich bin froh und weiß, welches Glück ich gehabt habe, dass gerade du meine Mutter warst.

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

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