Cover

Kiwa

oder wenn die Hoffnung stirbt

 

 

Manchmal begegnen einem Menschen die, egal wie kurz diese Begegnung auch immer sein

gewesen mag, sich für immer in das Gedächtnis eingraben. Deren Gesichter und Mimik auch über die Jahre noch so lebendig in Erinnerung bleiben, als hätte man diese Begegnung erst gestern

gehabt.

Einer dieser Menschen war Kiwa.

 

Schon über ein Jahr war ich nun schon in diesem Land, dessen Namen ich davor nicht einmal

kannte: Burkina Faso, Westafrika.

Yaramoko, so hieß das Dorf, in dem ich als Entwicklungshelfer lebte und arbeitete. Ein Ort, bei dem es schwerfiel, ihn auf einer Karte zu finden. Wozu auch, wer sollte hier schon herkommen

wollen, hier, weit abseits jeder Zivilisation. Es gab keinen Grund, dieses Dorf zu suchen.

Außer für mich. Denn hier war ich glücklich, es war mein Zuhause geworden.

 

Es hatte lange gedauert, bis die Menschen bereit gewesen waren, mich anzunehmen. Fast hätte ich es aufgegeben, waren doch die Berührungsängste so groß, dass ich sie lange Zeit für

unüberwindlich hielt. Nur Angst und Misstrauen wurde mir am Anfang entgegengebracht.

Doch nach und nach änderte sich dieses. Die Menschen begannen mir zu vertrauen. Jeder begann dem anderen zögerlich aber stetig entgegenzugehen. Ein langer Weg war es. Ein Weg jedoch, wenn auch steinig, der sich lohnte, ihn zurückgelegt zu haben.

 

Schon längst war ich einer von ihnen geworden. Statt Misstrauen begegnete mir nun Freundschaft und Liebe. So viel, dass es für mehr als nur ein Leben reichte. Mehr, als ich verdiente.

 

Wenn ich nicht auf den Feldern oder im Dorf war, so besuchten mich die Menschen zu Hause.

Einer von ihnen war er Kiwa.

 

Groß und schlaksig stand er vor mir, als er mir das erste Mal begegnete. Aus seinem braunen, schmutzigen T-Shirt schauten dünne Arme hervor, die er scheinbar ständig in Bewegung halten musste. Immer schlenkerte er mit ihnen in der Luft umher und in den wenigen Augenblicken, die diese doch einmal zur Ruhe kamen, kratzte er sich verlegen am Kopf. In seinem Gesicht saß ständig ein breites Grinsen. Nicht herausfordernd oder triumphierend, sondern fast verlegen schaute er mich mit diesem Lächeln an.

Seine dünnen Beine schauten aus einer viel zu kurzen, viel zu engen, kurzen braunkarierten Hose hervor.

Der ganze, ungefähr vierzigjährige Mann wirkte eher wie die Karikatur eines Afrikaners, in seiner ganzen langen und dünnen Gestalt. Etwas Kindliches lag in seinem Blick. Seine Augen wanderten ständig umher, als wollten sie suchen, entdecken und sich wundern über all das, was sie zu sehen bekamen.

Ich mochte ihn sofort, diesen Kerl, der es einem leicht machte, ihn gern zu haben.

Fast täglich kam er zu mir, manchmal nur für wenige Minuten, für ein kurzes Hallo, ein kurzes, flüchtiges Grinsen und schon war er wieder verschwunden.

Nicht ein Wort konnten wir miteinander wechseln. Er sprach meine Sprache nicht und ich nicht die seine. Und doch verstanden wir uns.

Immer wenn er mir etwas erzählen wollte, baute er sich vor mir auf. Brachte seine schlaksige

Gestalt in Bewegung. Hüpfte und gestikulierte. Bekräftigte alles mit den wenigen Worten

Französisch denen er mächtig war. "Oui, oui", "Non, non". Nickte oder schüttelte heftig mit seinem Kopf, um das angedeutete zu bekräftigen.

Ich verstand ihn und wenn nicht, so war das auch nicht all zu wichtig. Ich lächelte ihn an, nickte beifällig mit dem Kopf und tat so, als hätte ich all das, was er mir erzählen wollte, auch wirklich

begriffen.

Man muss nicht unbedingt dieselbe Sprache sprechen, um sich verstehen zu können.

 

Wenn er kam, während ich noch anderen Besuch hatte, begrüßte er mich schüchtern. Setzte sich dann bescheiden abseits auf einen der Stühle, die es genug in meinem Haus gab und schwieg.

Nur wenn ich ihn direkt ansprach oder auch nur in seine Richtung schaute, blickte er auf. Sein

breites Grinsen teilte dabei sein Gesicht in zwei Hälften und ließ zwei Reihen weißer Zähne sehen.

 

Ich mochte ihn, hatte ihn gern. Dass auch er mich mochte, spürte ich. Wie sehr er mich aber

mochte, konnte ich nicht einmal erahnen. Bis zu dem Tag, als er wieder, wie so oft, vor meiner Tür stand.

Nur dieses Mal war er nicht alleine gekommen. Neben ihm seine Frau, die verlegen neben ihm stand und auf den Boden vor ihren Füßen starrte. In ihren Armen trug sie ein Kind, ein Säugling noch. Fest eingewickelt in Tüchern, hielt sie es schützend mit den Händen umgriffen.

Neben ihr Kiwa. Nein, er grinste nicht nur, er strahlte voller Glück und Stolz. Gab mir zu verstehen, dieses wäre sein Kind. Obwohl Kiwa schon etwa vierzig Jahre zählte und seine Frau nur wenig

jünger wirkte, war dieses Kind erst jetzt auf die Welt gekommen. Sein erstgeborener Sohn. Wie

lange hatten die beiden wohl auf dieses Kind warten müssen?

 

Vorsichtig nahm er seiner Frau das Bündel aus den Armen, drückte es dann ebenso vorsichtig und zärtlich an sich. Dann hielt er es mir entgegen, dieses kleine etwas. Nur zögerlich nahm ich das Kind aus seinen Armen. Zu viel Angst hatte ich, irgendetwas an ihm kaputt zu machen.

Ich wunderte mich, wie wenig es wog. In meinen Armen konnte ich sein Gewicht kaum spüren. Ich traute mich kaum zu atmen, so viel Furcht hatte ich, das Kind fallen zu lassen.

Ich stand da, rührte mich nicht. Das Gesicht des Jungen konnte ich nicht erkennen. Die Tücher, mit denen er eingewickelt war, waren ihm über das Gesicht gerutscht. Nun erst bewegte sich Kiwas Frau und trat auf mich zu. Legte mit ihren Händen das Gesicht des Jungen frei und lächelte.

Welch ein kleines Wesen, das ich dort in meinen Armen trug. Die Augen geschlossen, lag es

schlafend in meinen Händen. So klein und zerbrechlich war es, dass ich es kaum fassen konnte.

Nun trat auch Kiwa auf mich zu. Deutete mit dem Finger auf seinen Sohn und sagte "Ralf". Beide schaute ich an, blickte von einem zu anderen, erst zu Kiwa, dann zu seiner Frau wanderten meine Blicke. Beide lächelten mich an und ich begriff erst da: Sie hatten ihren Sohn nach mir benannt.

Ich bin nicht wirklich fähig, beschreiben zu können, was in diesem Augenblick in mir vor ging.

Tiefe Wärme durchströmte mich und hätte ich es gekonnt, so hätte ich begonnen zu weinen. In

diesem Moment, weit ab von der Welt da draußen, in diesem kleinen Dorf mitten in Afrika, wurde ich der glücklichste Mensch der Erde.

Für diese beiden einfachen Leute bedeutete mein Name, den sie ihrem Sohn gaben, mehr als nur das Zeugnis der Freundschaft, die uns verband. Mein Name bedeutete für sie auch Hoffnung.

Hoffnung darauf, dass es ihrem Sohn einmal besser gehen würde als ihnen selbst. Hoffnung auf ein schöneres, erfüllteres Leben.

 

Die Wochen vergingen und meine Rolle als "Petit Papa" nahm ich sehr ernst und hatte Anteil an dem Leben des kleinen Ralf, dessen Name für die meisten Einheimischen nur schwer

auszusprechen war.

 

Dann, eines Tages, standen sie wieder vor meiner Tür. Kiwa und seine Frau. Wieder hielten sie das Bündel Mensch in ihren Armen. Wieder hielten sie mir ihren Sohn entgegen, doch diesmal lächelte keiner von beiden. Ich nahm den Kleinen in meine Arme, konnte sofort spüren, wie heiß er war. Fiebrig blickten mich seine Augen an, Schweiß rann ihm über das Gesicht und ich konnte erkennen, dass ihm das Atmen schwerfiel.

Der kleine Ralf war krank, ernsthaft krank, das konnte ich auch merken, ohne Arzt sein zu müssen. Seine Eltern standen vor mir, schauten mich flehentlich an.

Ich sollte helfen und konnte es doch nicht.

Ich musste sie ohne Hilfe gehen lassen, mich selbst für meine Unfähigkeit verfluchend und voller Schmerz nicht helfen zu können.

 

Als wenige Tage darauf Kiwa wieder vor meiner Tür stand, musste er nicht erst versuchen, mir zu erklären, was geschehen war. Ich sah es in seinen Augen, an seinem ernsten Gesicht. Sein Sohn war gestorben, niemand hatte ihm helfen können. Nur wenige Wochen alt war er geworden, hatte

niemals eine Chance bekommen. Durfte niemals leben.

Es zerriss mir fast das Herz, Kiwa anzuschauen. Still und traurig saß er auf seinem Stuhl, den Kopf gesenkt, der Hoffnung beraubt.

Selbst wenn ich seine Sprache gekonnt hätte, so hätte es doch keine Worte gegeben, die ich hätte

sagen können. Mir blieb nichts, als ihm meine Hand auf die Schulter zu legen und zu hoffen, dass er verstand.

 

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was aber geschieht danach, wenn auch sie gestorben ist?

Gern hätte ich dieser Geschichte ein Happy End gegeben, doch auch wenn ich sie schrieb, diktiert wurde sie mir vom Leben, welches nur selten Happy Ends kennt. Zu oft ist es grausam, kalt und brutal.

 

Kiwas Sohn war das erste Kind, welches in dem Jahr sterben musste, viele folgten, doch bei keinem anderem hat es so weh getan.

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Lektorat: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Kiwa, den ich wohl niemals mehr wiedersehen werde.

Nächste Seite
Seite 1 /