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Ein wahrer Held

 

 

Nach einer wahren Begebenheit

 

 

 

 

 

Walter war ein wenig genervt, wieder einmal musste er zum Arbeitsamt und wie immer wusste er jetzt schon, sie hatten auch heute nichts für ihn.

Er schloss die Eingangstür zu seiner bescheidenen Wohnung - Berlin, Prenzlauer Berg, vierter Stock. Eine Adresse, die sich keiner merken musste. Bei Walter war sowieso nichts zu holen, schon lange nicht mehr.

Der Tag sollte heiß werden, hatten sie im Wetterbericht gesagt. Früher war er an solchen Tagen mit der Familie ins Freibad und dann Eis essen gegangen, sofern seine Arbeit dieses zuließ.

Heute hätte er Zeit, aber das Geld war knapp geworden.

Und seine Familie?

Auf und davon!

Das gute Leben lag schon längst hinter Walter.

 

Fast fünf Jahre war er nun schon arbeitslos, fünf Jahre, die sein Leben vollständig auf den Kopf

gestellt hatten. Die Wohnung musste er wechseln, seine Familie war ihm abhandengekommen, ein Leben in Bescheidenheit war keine Tugend mehr, sondern ein Muss.

Die Hoffnung, dass es in nächster Zeit viel besser werden würde, hatte Walter auch schon längst beiseitegeschoben. Mit nun siebenundfünfzig Jahren wollte ihn niemand mehr.

 

Walter machte sich auf den Weg. Zu Fuß, das war billiger und Zeit hatte er ja im Überfluss.

Man konnte die Hitze des erst beginnenden Tages schon spüren. Walter hob den Blick, der Himmel war strahlend blau, keine Wolke, nicht die allerkleinste, war zu sehen.

Leise pfiff Walter vor sich hin.

"Scheiß drauf!", dachte er und grinste unmerklich. Seine Arbeit weg, seine Familie weg, Geld weg, aber seinen Humor hatte ihm keiner nehmen können. "Scheiß drauf!", sagte er sich zum

wiederholten Mal.

 

Leise vor sich hin pfeifend ging Walter durch die Stadt, eilig hatte er es nicht und so schaute er sich in aller ruhe die Auslagen in den Geschäften an. All die Dinge, die er sich nicht leisten konnte. Das meiste davon könnte er sowieso nicht gebrauchen und wollte es auch gar nicht besitzen.

Die Straßen waren an diesem Morgen schon angefüllt mit Menschen. Jeder der etwas zu besorgen hatte, tat dieses wenn möglich am Morgen, bevor die Hitze des Tages, Stadt und Menschen zu

lähmen begann.

Walter genoss es, so durch die Straßen zu schlendern. Gern beobachtete er die Menschen um sich herum. Versuchte, ihre Mimik zu deuten und sich vorzustellen, wie ihr Leben wohl so verlaufen würde.

Menschen interessierten ihn, es gab so viele kuriose Gestalten unter ihnen.

Da war der Typ Banker, sorgfältig gekleidet, feiner Anzug, Krawatte, hochglanzpolierte Schuhe, gewichtiger Gesichtsausdruck, nicht zu vergessen: Der unvermeidliche Aktenkoffer.

Dann die "feinen" Damen. Alles an ihnen war gekonnt gestylt - Frisur, Make Up, jeder Ohrring,

jedes Kettchen, jedes Armband, perfekt passend zum Rest der auf den Leib geschneiderten

Garderobe. Auch hier das unvermeidliche Erkennungszeichen - die immer hochhackigen Schuhe.

Ihre Gesichter schienen zu sagen "Walter, Du bist ein paar Nummern zu klein für mich!"

Aber Walter dachte bei ihrem Anblick wieder einmal "Scheiß drauf!"

Viel besser als die Damen und der Banker Typus gefielen Walter allerdings die Menschen, die auf ihre eigene Art individuell waren: Punks mit farbigen Haaren, und Klamotten, vollgehängt mit Zeug, welches bei anderen in den Müll wandern würde: Kronkorken, und diese kleinen, runden

Teile, die an Getränkedosen befestigt sind, um diese besser aufreißen zu können, diese kleinen

Ringe von den Walter nicht einmal die genaue Bezeichnung wusste.

Dann die Typen, die scheinbar an jeder Straßenecke standen und etwas von sich gaben, was man oft nur mit sehr viel gutem Willen als Musik bezeichnen konnte. Zugegeben, einige waren gar nicht so schlecht, von ihnen ließ sich Walter auch mal verleiten länger zu verweilen, um ihnen zuzuhören.

Dann gab es noch die Bettler, deren Zahl in den letzten Jahren scheinbar anzusteigen schien. Viele von ihnen wirkten recht heruntergekommen, verbrauchte Kleidung an verbrauchten Körpern.

Walter wusste, zwischen ihnen und ihm lag nur eine hauchdünne Kluft. Sein heutiger Weg zum Arbeitsamt, sollte dazu beitragen, dass er diese Kluft niemals überschreiten musste.

Aber es gab auch sehr unterhaltsame Menschen. Da waren die Kinder, die versuchten, ihren

Müttern zwischen all den vielen Erwachsenen zu entwischen. Die Mütter, die versuchten, genau diese, ihre Kinder, wild gestikulierend wieder einzufangen und zur Räson zu bringen, nicht immer war dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt.

Dann gab es Menschen, die Walter einfach nur durch ihre Art oder ihr Aussehen unterhielten und manchmal auch belustigten.

Weiter die vielen Ausländer, von denen Walter nicht immer mit Bestimmtheit sagen konnte, aus welchem Land sie eigentlich stammten, die aber dazu beitrugen, diese Stadt bunter zu machen. "Bunte Republik Deutschland" dachte Walter.

Walter fühlte sich wohl, so unter all den Menschen. Er fühlte sich, als wäre er einer von ihnen. All seine Sorgen, die großen wie die kleinen, konnte er hier unter ihnen für eine kurze Zeit von sich schieben.

 

Walter ging weiter, bog um die nächste Straßenecke. Den Weg zum Arbeitsamt kannte er im Schlaf. Er hatte ihn oft genug zurücklegen müssen.

Kaum war er um die Häuserecke gebogen, fiel sein Blick auf eine Menschentraube. Die Menschen schienen um etwas herumzustehen und irgendwem oder bei irgendetwas zuzuschauen.

Walter musste zugeben, auch er war neugierig und so strebte er zielsicher dieser Ansammlung von Menschen entgegen.

Erst konnte er nichts sehen. Walter war halt nicht der Größte mit seinen nur ein Meter siebzig, aber dann erhaschte sein Blick doch das, was all die Menschen so zu interessieren schien.

Und er erschrak!

Dort, umringt von Schaulustigen, musste er sehen, wie ein groß gewachsener Kerl auf eine Frau einprügelte. Immer wieder und wieder trafen die kräftigen Hände des Mannes die wehrlose Frau, begleitet von seinen Schimpftiraden, deren Wortlaut Walter unter anderen Umständen, röte ins

Gesicht getrieben hätte.

Schluchzend versuchte die Frau den Schlägen auszuweichen. Tränen rannen ihr übers Gesicht.

Die verzweifelte, aber vergebliche Gegenwehr der Frau, schien den Mann noch mehr anzustacheln und so prasselten die Schläge weiter unablässig auf sie nieder.

Niemand tat etwas. Niemand schritt ein, alle gafften nur zu den beiden hin. Nicht einmal empörte Stimmen waren zu vernehmen. Nur dumpfes Gemurmel lag über der Menschenmenge.

Walter wollte seinem ersten Impuls folgen, einfach weitergehen, fort von hier, was ging ihn das schließlich an?

Aber Walter konnte nicht weitergehen. Die unbekannte Frau tat ihm leid und seine Wut auf den Kerl dort und die untätigen Menschen, für die es doch ein Leichtes gewesen wäre einzugreifen, stieg ins unermessliche.

Aber Walter hatte auch angst, was sollte er tun?

Was konnte er tun?

Der Mann dort war jünger, größer und sicher um einiges stärker als er.

Walter wollte, musste helfen, aber wie?

Nur einen Augenblick später war ihm klar, was er tun konnte, und wollte.

Er holte sein altes Handy aus der Hosentasche. Schnell tippte er die Eins Eins Null ein.

Am anderen ende wurde das Gespräch umgehend entgegengenommen und eine ruhige, männliche Stimme meldete sich. Walters Wut wurde etwas gedämpft, die Stimme beruhigte ihn etwas.

"Ihr müsst kommen!", rief er ins Telefon. Und noch einmal "Ihr müsst kommen, schnell und

sofort!

Der Polizist schien davon nur wenig beeindruckt, er fragte Walter nach seinem Namen und was eigentlich genau passiert wäre. "Sie müssen sofort jemanden herschicken, hier prügelt irgendein Typ auf eine Frau ein! Beeilt euch, sonst bringt er sie noch um! Mein Name ist doch völlig wurscht. Hauptsache, es taucht bald einer von euch hier auf. Ich bekomme das hier für eine Weile in den Griff, aber nicht für lange, beeilt euch!"

Am anderen Ende beharrte der Polizist darauf, dass Walter seinen Namen nennen sollte, und wollte wissen, wie er was in den Griff bekommen würde. Aber Walter weigerte sich beharrlich, seinen

Namen preiszugeben. Brüllte nur noch schnell die ungefähre Adresse ins Handy, zu der die Polizei kommen sollte, setzte noch ein weiteres "Beeilt euch!" oben drauf und unterbrach die Verbindung.

Er würde es in den Griff bekommen, hatte er soeben behauptet und dachte dabei an sein Vorhaben. Seine Beine wurden schwach unter ihm. Hitze stieg in seinem Bauch auf und breitete sich über den ganzen Körper aus.

Am liebsten hätte Walter sich umgedreht und wäre davongelaufen. Bloß weg von hier, was ging ihn denn das alles an?

Aber Walter wusste, es ging ihn etwas an, was dort vor ihm mit der Frau geschah. Ihn und den

herumstehenden, gaffenden Menschen ging es etwas an!

Walter schob sich durch die Menschenmenge, bereitwillig machte man ihm Platz, man erwartete wohl eine Sensation. Etwas, was die Schaulust noch steigern würde und über das man anschließend reden und berichten könnte und was den Tag ein wenig weniger langweilig machte.

Plötzlich stand Walter mitten im Kreis der gaffenden Leute. Vor ihm die weinende Frau und der Mann, der überrascht einen Augenblick von der Frau abgelassen hatte. Überrascht von Walter,

siebenundfünfzig Jahre alt, ein Meter siebzig groß, nicht sehr kräftig. Und dieser Wicht traute sich, sich ihm entgegenzustellen?

Walter wusste sehr genau, was er tun wollte. Er wusste, körperlich war ihm der Fremde weit überlegen, aber Walter musste etwas tun, er musste um jeden Preis verhindern, dass der Typ da vor ihm weiter auf die Frau einprügelte. Er musste es einschreiten, zumindest so lange bis endlich die

Polizei eintraf.

Die Menge um ihn war still geworden. Er spürte die gespannten Blicke, die auf ihn gerichtet waren.

Walter fühlte, wie ihm die röte ins Gesicht schoss.

Dann öffnete er den Gürtel an seiner Hose. Dann den Knopf am Hosenbund, schließlich noch den Reißverschluss.

Alles starrte auf Walter, der nun mit seinen beiden Händen seine Hose am rutschen hinderte.

Er spürte den Kloß in seinem Hals, der immer dicker und dicker zu werden schien. Sein Gesicht brannte wie Feuer und er wünschte sich, im Erdboden versinken zu können.

Dann ließ Walter die Hose aus seinen Händen gleiten.

Seine Hose rutsche in die Kniekehlen. Schnell griffen seine Hände den Bund seiner Unterhose. Auch diese ließ er mit einer schnellen Bewegung heruntergleiten.

Er wusste, die Zeit, wo der Anblick seiner Blöße noch als angenehm durchgegangen wäre, war schon länger vorbei, aber Walter war noch nicht fertig.

Langsam setzte er sich in Bewegung, drehte sich im Kreis, begann mit seinem Hinterteil zu

wackeln, es der Menschenmenge entgegenzustrecken. Begann, so weit herunter gerutschte Hose und Unterhose es zuließen, zu hüpfen. Erst auf dem einem Bein, dann auf dem anderen. Zuerst langsam, dann immer schneller, bis er wie ein Berserker durch die Gegend hüpfte, sich dabei immer um sich selbst drehend und mit seinem Hinterteil wackelnd.

Walter tanzte.

Die Menge fing an zu lachen, erst leise und verschämt, dann immer lauter und grölender.

Alle Lachten.

Lachten über Walter. Walter, der sich zum Gespött aller machte.

Auch der Mann hatte nun endgültig von der Frau abgelassen, zeigte mit ausgestreckter Hand auf Walter und hielt sich mit der anderen den Bauch vor Lachen.

Und die Frau?

Eben noch geprügelt und geschunden, sie lachte nicht, hatte aber aufgehört zu weinen. Sie begriff wohl als einzige, was Walter dort tatsächlich tat und für wen.

 

Noch immer sprang Walter mit nacktem Unterleib umher. Noch immer grölten die Menschen bei seinem Anblick. Fast hätte er das Martinshorn überhört, welches aus der Ferne immer näher und

näher kam.

Es ist Zeit, zu verschwinden, dachte er.

Mit flinken Bewegungen riss er erst seine Unterhose, dann seine Hose hoch. Um den Gürtel zu schließen, war später noch Zeit genug.

Dann lief er los, brach sich einen Weg durch die erstaunte Menschenmenge und lief und lief, nur weg von hier und den grölenden Leuten.

Erst als seine Lungen zu schmerzen begannen, verringerte er das Tempo. Es brannte in seiner Brust und der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Keuchend blieb Walter stehen, um nun

endlich seinen Gürtel zu schließen. Vorbeieilende Passanten betrachteten ihn neugierig, doch das war Walter egal.

Er hatte sich zum Gespött gemacht, hatte sich selbst gedemütigt. Aber er hatte eines ganz gewiss, er hatte gewonnen!

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte widme ich all den Kleinen, unbekannten Helden die unter uns leben, Helden die nicht ins Fernsehen oder in die Zeitung kommen. Deren Taten aber deswegen nicht weniger mutig und aufopfernd sind. Egal wie diese Helden auch immer heißen, ob Katrin, Maria, Werner, Ali oder wie in meiner Geschichte, einfach Walter. Jeder kann zu einem Helden werden, manchmal reicht dazu schon ein Lächeln!

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