Es ist schon viele Jahre her, dass die nun folgende Geschichte passierte, doch obwohl seit damals schon so viel Zeit vergangen ist, lässt mir das einst erlebte immer noch keine Ruhe.
So habe ich endlich beschlossen, das Geschehene nieder zu schreiben.
Ich muss wohl etwa zwanzig Jahre gezählt haben und lebte, gemeinsam mit meinen Eltern, in Winsen an der Aller, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide.
Arbeit hatte ich nicht, und so verbrachte ich viele Stunden mit Spaziergängen in der Heide und den weiten Moorlandschaften. Die Ruhe dieser so geheimnisvollen Landschaft zog mich immer wieder hierher.
Endlos zog sich im Sommer das violette Meer der blühenden Heide bis zum Horizont, und im Herbst, wenn der Sturm über die nur niedrigen Heidepflanzen blies, schienen sich diese noch mehr vor der Macht des Windes zu ducken. Nur einige Wacholder versuchten sich dem Wind entgegen zu stemmen, vergebens. So beugten auch sie sich seiner Gewalt.
Jede Jahreszeit hauchte der Landschaft ihren ganz eigenen Charakter ein, so wundert es nicht, dass es mich, obwohl ich hier schon fast jedes Fleckchen kannte, immer wieder aufs neue in die Heide zog.
Auch wenn ich in all den Jahren, die seit damals vergangen sind, viele Länder bereist habe, andere Menschen, Kulturen und Landschaften sah, blieb meine Liebe zur Heide und den Mooren bis heute ungebrochen.
Eines Tages, als ich wieder einmal meine Schritte durch die Heide lenkte, es muss wohl im Spätsommer gewesen sein, wurde ich vom Nebel überrascht.
Seit Stunden schon wanderte ich ganz in Gedanken verloren durch die Landschaft und hatte gar nicht bemerkt, dass der Tag dem Abend immer näher kam, und die ersten Nebelschwaden vom Moor her über die Heide zogen.
Erst als der Tag schon fast die Grenze zur Nacht überschritten hatte, wurde mir klar, dass es an der Zeit war, umzukehren und mich auf den Rückweg zu machen.
Doch musste ich feststellen, dass ich gar nicht mehr genau wusste, wo genau ich mich befand und in welche Richtung ich meinen Heimweg antreten sollte.
Aber sicher, meinen Weg schon zu finden, schlug ich eine X beliebige Richtung ein und wanderte los.
Es dauerte nicht lange, und aus den anfänglichen Nebelschwaden, die der Landschaft etwas Unheimliches einzuhauchen vermochten, wurde richtiger Nebel, der nach und nach immer dichter, immer undurchdringlicher wurde.
Doch unbeirrt setzte ich meinen Weg fort.
Ich würde sicher bald auf etwas mir bekanntem stoßen. Ein umgestürzter, oder trockener Baum, oder vielleicht einige Wacholder die mir in ihrer Gruppierung bekannt vorkamen.
Etwas würde mir schon den richtigen Weg weisen.
Der Nebel verschluckte jedes Geräusch. Nur das Knacken von trockenen Zweigen, wenn meine Füße auf sie traten, waren die einzigen Laute, die ich vernahm.
Es war kühler geworden, der Nebel legte sich wie eine feuchte Hülle um mich, drang langsam durch meine Kleidung.
Es fröstelte mich.
Ich war schon eine ganze Weile unterwegs, als ich spürte, wie Wasser mir in die Schuhe rann.
Jetzt registrierte ich auch, dass der Boden viel weicher geworden war, als zu beginn meiner Wanderung.
Plötzlich durchfuhr es mich siedendheiß. Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich dem Moor immer näher kam.
Alle Kälte wich von mir und machte der Angst Platz.
Nur zu gut kannte ich die tödliche Gefahr, der ich ausgesetzt war, sollte ich mich im Moor verirren.
Ich beschloss, meine Schritte in eine andere Richtung zu lenken, weg vom Moor.
Langsam und vorsichtig setzte ich nun einen Fuß vor den anderen.
So tastete ich mich voraus, doch ich schien dem Moor immer näher zu kommen, anstatt mich von ihm zu entfernen.
Panik stieg in mir auf, die ich versuchte mit all meiner Willenskraft zu bekämpfen.
Wieder und wieder änderte ich die Richtung, doch schon stieg mir der Schlamm bis über die Knöchel.
Ich verharrte einen Augenblick, um meine Gedanken zu sammeln.
Nun konnte ich das leise Zerplatzen der Blasen vernehmen, die aus der Tiefe des Moores emporstiegen und mit einem feinem, kaum hörbarem Knall, dass in ihnen enthaltene Moorgas freigaben, dass sich mit seinem widerlichem, modrigem Geruch über die Landschaft legte und sie einzuhüllen schien.
Ein Geruch nach Verwesung. Verwesung von Pflanzen, Tieren und ...?
Nein!
Daran wollte ich gar nicht erst denken.
Als ich meinen Weg fortsetzen wollte, stellte ich mit Erschrecken fest, dass ich in dem kurzem Moment meiner Rast, bis weit über die Knöchel in den Schlamm gesackt war.
Dieser gab meine Beine nur unwillig, mit schmatzenden Lauten frei.
Einen meiner Schuhe behielt das Moor, fast wie zum Tribut.
Auch den anderen, mir verbliebenen Schuh streifte ich ab und ließ ihn dort, wo ich gerade stand, zurück.
Ich kämpfte mich weiter vorwärts.
Schweiß rann mir übers Gesicht und brannte in den Augen.
Dann stolperte ich, stürzte schließlich, versuchte, mich aufzurappeln, doch vergeblich.
Dass schmatzende Geräusch des Schlammes drang zu mir, wie das Schmatzen eines Ungeheuers, welches sich schon bereit machte, mich zu verschlingen.
Sein fauliger Atem stieg mir in die Nase und machte jeden klaren Gedanken unmöglich.
Ich wollte schreien, doch aus meiner Kehle drang nur ein heiseres Krächzen.
Eiserne Arme schienen mich zu umschlingen. Ich spürte, wie ich langsam aber stetig, immer tiefer sank.
Ich schlug mit den Händen wild um mich, in der Hoffnung irgendeinen Halt zu finden.
Doch wohin auch immer ich griff, war nur Leere.
Meine Angst und die Kälte wichen der Erschöpfung.
Ich gab auf.
Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme zu mir.
Ich hob den Kopf und sah aus Schlamm verschmierten Augen, nur wenige Meter vor mir, einen Jungen stehen, der mir einen Stock entgegenhielt und mir zu verstehen gab, mich an diesem festzuhalten.
Mit letzter Kraft legten sich meine Finger um den mir entgegengestreckten Stock.
Der Junge zog an, und nach wenigen Augenblicken hatte er mich aus dem Moorloch, das beinahe mein Grab geworden wäre, gezogen.
Erschöpft blieb ich zu seinen Füßen liegen.
Als ich wieder etwas Kraft gesammelt hatte, rappelte ich mich hoch, über und über mit Schlamm bedeckt.
Vor mir stand ein etwa zwölfjähriger Junge, der mich mit verschmitztem Lächeln ansah.
Etwas schelmisches lag in seinem Blick.
Sein Kopf war mit braunen, kurz geschnittenen Haaren bedeckt, die widerspenstig unter einem spitz zulaufendem, grünem Filzhut hervorlugten, an dem keck eine Feder steckte.
Überhaupt hatte seine Kleidung etwas ziemlich Altmodisches an sich.
Sein schlanker Körper steckte in einem kurzärmligen, weißem Hemd.
An den Beinen trug er Kniebundhosen und seine Füße steckten in klobigen Wanderschuhen.
Unwillkürlich musste ich beim Anblick seiner Erscheinung an einen Hirtenjungen denken.
Der Stock, wahrscheinlich sein Wanderstab, mit dem er mich aus dem Moor gezogen hatte und mit dem er sich nun auf dem schlammigem Boden abstützte, trug sein übriges dazu bei, meinen Eindruck, dass es sich bei ihm um einen Hirtenjungen handelte, zu verstärken.
Es musste schon sehr spät sein, doch seltsamerweise wunderte ich mich nicht einen Augenblick darüber, was er um diese Zeit noch im Moor zu suchen hatte, so natürlich schien mir seine Erscheinung hier hinzugehören.
Ich war noch viel zu schwach, um ihm irgendwelche Fragen zu stellen, und auch er sprach nicht, lächelte mich nur an.
Unvermittelt wendete er sich von mir ab und bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
Langsam trabte ich hinter ihm her.
Unbeirrt ging er vor mir her, wich mit schlafwandlerischer Sicherheit Steinen, Ästen und Sumpflöchern aus.
Er musste sich überaus gut im Moor auskennen.
Ich vertraute mich ihm an, folgte ihm ohne Angst, denn ich fühlte, dass ich in seiner Nähe völlig sicher war.
Schon bald spürte ich wieder festen Boden unter meinen Füßen.
Langsam lichtete sich auch der Nebel.
Der Junge blieb stehen und so hatte ich Zeit, mich umzusehen.
Ich sah drei Wacholder vor mir, rechts daneben lag ein großer Findling und plötzlich kannte ich mich wieder aus.
Ich wollte mich bei dem Jungen, dem ich mein Leben zu verdanken hatte, bedanken.
Doch wohin ich auch blickte, er war verschwunden, wie vom Nebel verschluckt.
So machte ich mich eiligst auf den Weg, zurück nach Hause.
Seit meinem Erlebnis im Moor, waren schon einige Wochen vergangen, als ich an einem regnerischem Tag, an dem ich nichts anderes zu tun hatte, beschloss, den Dachboden unseres Hauses wieder einmal aufzuräumen.
Eigentlich war das Aufräumen nur ein Vorwand, denn ich stöberte gerne in den alten Sachen, die dort verstaut waren, herum.
So saß ich auch damals auf einer umgedrehten Bücherkiste und sah mir alte
schwarz-weiß Fotos an, die ich dort, in einem uraltem Koffer, entdeckt hatte.
Plötzlich stutzte ich. Na klar, dass Gesicht, welches mir da von einem der Fotos entgegenblickte, kannte ich.
Die Haare, das verschmitzte Lachen, selbst der schelmische Blick. Alles an diesem Gesicht war so, wie ich es in Erinnerung hatte.
Es war der Junge im Moor.
Doch was machte sein Bild hier auf unserem Dachboden?
Ich drehte das Foto herum und auf seiner Rückseite stand die Zahl 1927. Vermutlich das Jahr, in dem das Foto aufgenommen wurde.
Aber wie konnte das sein?
Das Foto war ja dann schon fast 60 Jahre alt!
Nachdem ich meine Eltern auf dieses Bild hin angesprochen hatte, wusste ich zwar, wer der Junge war, doch seit dieser Zeit trage ich ein Geheimnis mit mir herum, das mir bis zum heutigem Tage keine Ruhe lässt.
Der Junge auf dem Foto war mein Onkel, der Bruder meines Vaters.
Seit seinem zwölftem Lebensjahr wird er vermisst.
Nur ich weiß jetzt, welches Schicksal ihm zuteil wurde.
Das Foto hängt nun seit damals über meinem Schreibtisch, oft sehe ich es an, sehe das verschmitzte Lächeln, dass mir entgegen lacht, und denke zurück an meine Nacht im Moor.
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein bescheidener Beitrag für die Hochwasser-Opfer 2013.
Ich Hoffe es hilft ein wenig !