Mein Talisman sind Kastanien. In jeder meiner Jackentaschen findet sich eine der braunglänzenden Kugeln. Diese Angewohnheit begleitet mich schon das ganze Leben. Mit Kastanien verbinden sich fuer mich Geschichten. Eine davon will ich hier erzählen.
Meine Mutter war lange im Krankenhaus, sie gehörte fast schon zum Inventar. Eines Tages wurde eine Vietnamesin eingeliefert. Die junge Frau hatte sich fast zu Tode gehungert, war zum Skelett abgemagert, in einem bedrohlichen Zustand. Sie verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme. Das gesamte Personal, vom Oberarzt bis zur Putzfrau redete auf die Kranke ein. Sogar ein Psychologe therapierte und analysierte die arme Seele gründlich. Ohne Erfolg. Der einzige Kommentar der Asiatin war jedesmal „Ich will nicht mehr leben, alles ist so sinnlos. Wofür? Warum? „
Meine Mutter hatte die ganzen Vorträge stillschweigend angehört. Sie griff in ihre Manteltasche und holte ihren Glücksbringer, eine Kastanie, heraus.
Dann setzte sie sich auf das Bett ihrer Mitpatientin. “Siehst du, was das ist?“ Keine Antwort. „Das, meine Liebe ist das Leben. Im Frühling, dem Zauberer sprießen zarte Blätter, entwickeln sich schnell zu Blattfingern voller Kraft und Saft. Irgenwann werden durch die Sonnenstrahlen die herrlichen Blütenkerzen hervorgelockt. Deren Farben variieren von zartem rosa, über lichtgelb bis zum burgunderrot. Der Duft ruft die Bienen, den Nektar zu holen. Am Anfang des Sommers erscheinen dann grüne Stachelkugeln. Die sammeln jeden Sonnenstrahl, bis die Schale einen Riss bekommt und platzt. Der Herbst, dieser Maler unter den Jahreszeiten, färbt die Baumkronen bunt. Und irgenwann gibt es einen Blätterregen und die reifen Früchte, die Kastanien fallen herab.
Langsam wird es kälter, der Baum wird kahl. Noch bedeckt den Boden ein Teppich aus Farben. Doch bald kommt die Zeit des Kräftesammelns und der großen Ruhe, der Winter.
Und schon allein dieses Wunder der Natur jedes Jahr neu zu erleben, ist es wert auf der Welt zu sein.“
Die Vietnamesin hatte schweigend zugehört. Am selben Abend beendete sie ihren Hungerstreik.
Meine Mutter schenkte ihr zum Abschied die Kastanie. Einmal im Jahr bekommt sie eine Postkarte mit den Worten – danke, die Kastanie habe ich immer noch.
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2011
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Widmung:
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