Ein Tag in der Depression ultra (01/2003) (12/2004) (09/2006) (02/2009)
Ich sitze mit einem Kumpel auf einer Bank im Park. Wie jeden Tag beobachten wir das Treiben der Leute, die ebenso viel Zeit wie wir haben, die sie gleichfalls hier verbringen. Mütter schieben Kinderwagen vor sich her und fragen sich, welche Zukunft ihre Sprösslinge vor sich haben. Manche tun dies in Gedanken, manche laut. Junge Männer in Anzügen, die gerade ihr BWL-Studium abgeschlossen haben, sitzen auch auf Parkbänken und tippen Bewerbungen in ihre Laptops. Die Dateien schicken sie gleich an irgendwelche Arbeitgeber, die aufgrund der Depression aber niemanden mehr einstellen. Initiativbewerbung nannte sich das Mal, was die jungen Leute da treiben.
Vor uns sitzt ein Spatz und wirft uns Brotkrümel zu. Normalerweise ist das anders herum. Es ist schon ein entwürdigendes Gefühl, ausgerechnet von Vögeln Nahrungsmittelspenden zu erhalten. Ich hebe ein paar der Krümel auf und stecke sie mir in den Mund.
Ein Fahrradfahrer nähert sich unserer Bank. Er sitzt steif auf dem Rad und sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Missgelaunt tritt er in die Pedalen und kümmert sich nicht um die anderen Passanten, die ihm schimpfend aus dem Weg treten.
„Schau mal“, sage ich. „Da fährt jemand verbittert Fahrrad.“
„Wer weiß, wieso?“, rätselt mein Kumpan. „Vielleicht hatte er ein Bewerbungsgespräch und wurde abgelehnt?“
„Schätze ja“, antworte ich. Wir verfolgen noch ein paar Augenblicke den Weg des Radlers und hängen dann wieder unseren Gedanken hinterher. Die Depression ist der Tiefstand nach dem Abschwung einer Volkswirtschaft. Danach kann es nur noch aufwärts gehen. Allerdings kann keiner der Ökonomen sagen, wann das sein wird. Ich greife in die Tasche und hole ein paar Steine hervor. „Ich habe noch ein paar Kieselsteine“, sage ich zu meinem Kumpel. „Was hast du? Vielleicht genug für was zu essen?“ Der Kumpel verneint. Ich lasse die Steine wieder in die Tasche wandern. Konnte niemand ahnen, dass es so soweit kommen würde. Erst ging die Wirtschaft den Bach herunter, zusammen mit den Banken. Dann kam die Inflation. Das Geld wurde immer weniger wert, die ausgegebenen Scheine trugen immer mehr Nullen, bis das gesamte System kollabierte.
Die Menschen waren am Boden zerstört und keiner wollte mehr irgendeine Hoffnung in die Politik, die Wirtschaft und vor allem die Währung setzen. Eine grundlegende Reform musste her und sollte ganz neue Wege gehen. Zuerst wurde es mit Blättern versucht, aber alle wurden deprimiert, als die Bäume schon im Sommer kahl dastanden. Außerdem welkten die Blätter und wurden nicht mehr als Zahlungsmittel akzeptiert. Dann kam irgendwer auf die Idee, es mit Steinen zu probieren. Steinige Regionen wurden plötzlich superreich und andere Gegenden bitterarm. Die Alpenanrainer kamen sogar auf die Idee, die Alpen abzubauen, doch dann ließen sie wegen des Tourismus wieder davon ab.
Um dem ausufernden Umlauf an Steinen zu begegnen, wurde weltweit die zuvor nur in Deutschland gültige DIN 4022 eingeführt, die Steine nur als Steine benennt, wenn sie eine Größe über 6,3 Zentimeter haben. Zusätzlich wurden solche Steine mit einer farblichen Kennung versehen, die aber leicht zu fälschen war. Um ein Äquivalent zum Cent oder Pfennig zu schaffen, wurde Kies als Zahlungsmittel eingeführt. Ich fühle nach meinen Kieselsteinen und stoße dann einen Seufzer aus. Es sind nicht viele und wo ich die nächsten Tage welche herbekommen soll, weiß ich nicht.
Wir leben in der Zeit des Abwartens. Das bedeutet, dass man den Tag damit verbringt, den Tag zu verbringen und zu hoffen, dass ein wichtiger Mensch sich zu Wort meldet und mitteilt, dass ab morgen alles besser wird.
„Ich kenne jemanden, der hat einen Job“, spricht mein Kumpan mit einem Mal.
„Echt?“, gebe ich zurück und beuge mich vor. „So richtig mit früh aufstehen, Acht Stunden Tag und genug Steinen am Monatsanfang, um sich was leisten zu können?“
„Ja, genau“, antwortet der Kamerad. „Ich bin froh, dass ich ihn kenne. Er lädt mich ab und zu ins Kino ein.“ „Und wie ist das so?“ Ich bin ganz Ohr. Heutzutage jemanden zu kennen, der eine Arbeit hat, ist wie einen Prominenten zu kennen.
„Na ja, er geht ganz ungeniert vorne an die Kasse und zahlt anstandslos, was verlangt wird. Er zählt nicht Kieselsteine ab oder fragt nach Sonderprogrammen für Bedürftige mit Achternbusch-Filmen, kroatischen Experimentalfilmen aus der Nachkriegszeit oder 70iger Jahre Fernsehwerbung aus Deutschland.
Dann sagt er zu mir: „Bruno, was willst du denn essen und trinken?“
„Und was sagst du dann?“
„Na ja, was man halt so sagt in so einer Situation, das weißt du doch. Ich sage dann: „Eh, Viktor, eh … finde ich nett, dass du mir das spendieren willst. Bin heute noch gar nicht zum Essen gekommen, hatte viel um die Ohren und so …“, na ja, ich will ihm natürlich nicht erzählen, dass ich nicht die Hosentaschen voller Steine habe, ich habe ja meinen Stolz, oder? Viktor wendet sich dann an die Frau hinter dem Schalter und meint: „Einmal ein Taco-Menü für meinen Freund hier und zwei große Bier.“ Ja, und dann nehme ich das Essen und das Bier mit in den Vorstellungsraum, sage Viktor als Dankeschön, daß er gut aussieht, das freut ihn zu hören und dann gönne ich mir zwei Stunden ein Taco-Menü, ein großes Bier und hoffentlich einen guten Film. Ich kann dir sagen, mit Viktor ins Kino gehen ist wie Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig.“
„Wow, das finde ich total klasse mit dem Viktor“, platzt es aus mir heraus. „Kannst du mich mal mit dem bekannt machen?“
„Nee, du Robert, das geht nicht. Du weißt doch „Existenzkampf“ und so. Da muss jeder allein sehen, wo er bleibt. Wenn ich noch so einen Freund hätte, mit dem würde ich dich zusammenbringen, das würde ich gerne machen, ja, aber Viktor, der ist mir lieb und teuer, in jeder Hinsicht sozusagen.“
Mein Kumpel wechselt abrupt das Thema. „Schau doch mal, noch ein Fahrradfahrer.“
„Der sieht auch so aus“, kommentiere ich, „als hätte er versucht, einen Job zu bekommen.“
„Ja, genau, Robert, so sieht der aus“, stimmt mein Kumpel zu. „Es sind heute eine Menge Leute unterwegs, mehr als sonst. Vielleicht hat der wichtige Mann schon gesagt, dass alles besser wird?“
„Nein“, halte ich dagegen, „ich hätte bestimmt davon gehört.“ Ich picke noch ein paar Brotkrümel vom Boden auf und gebe meinem Kumpel einige davon ab. Der Spatz scheint sich über seine Guttat zu freuen und fliegt dann weiter zur nächsten Parkbank.
„Aber …“, ich lasse mir einen Moment Zeit und bemühe mich, meine Stimme hoffnungsvoll klingen zu lassen, „morgen ist ein neuer Tag.“
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2009
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