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Weihnachten in Frohnau (12/2008)

Als ich vor 15 Jahren nach Berlin kam, war die Stadt für mich ein weites Feld. Gerade hatte ich mich der Umklammerung durch meine kleinstädtische Heimat entzogen, stand erstmals auf eigenen Beinen und wollte mir die große Stadt untertan machen. Ich war beseelt von dem Wunsch, alles kennenzulernen und kannte dabei keine Grenzen. Wilmersdorf war für mich ebenso ein Platz zum Verweilen wie Prenzlauer Berg oder Pankow. Ich besuchte Partys in Tegel oder Treptow, manchmal zwei und mehr an einem Abend und achtete dabei nicht auf Entfernungen oder die Fahrzeiten der öffentlichen Verkehrsmittel. An den Wochenenden fuhr ich sogar mit meiner Clique raus nach Brandenburg, um dort das Land zu erkunden.
Von dieser Entdeckungslust ist inzwischen nichts übriggeblieben. Ich habe Grenzen gezogen und mich in dem eingerichtet, was der Berliner „Kiez“ nennt und was er hegt und pflegt wie nichts anderes.

See-/Ecke Müllerstraße heißt mein Areal und dort konzentriere ich inzwischen fast meine gesamten Aktivitäten. Der Weg nach Mitte oder Prenzlauer Berg fällt mir schwer und nach Treptow beispielsweise würde ich mich nur noch wagen, wenn mich dort ein gut bezahlter Auftritt erwartet.
Ein weiteres Thema ist Weihnachten. Weihnachten ist für mich ein ganz normaler Tag geworden. Früher bin ich an Heiligabend noch in die Heimat gefahren, um meine Mutter zu besuchen, wo Weihnachten im klassischen Sinne aber auch kein Thema war. Seit 9 Jahren ist meine Mutter tot und in Berlin habe ich Weihnachten nie kultiviert, auch wenn mir an dem Tag so ein sozialer Druck im Nacken sitzt, zumindest den Abend bloß nicht alleine zu verbringen. Früher bin ich bei anderen Weihnachtsunwilligen untergekommen und habe mit denen zu Abend gegessen und Konversation betrieben, bevor es mich wieder in meinen Kiez zog. Einmal, so erinnere ich mich, bin ich sogar nach Treptow gefahren, weil ich nirgendwo sonst untergekommen wäre. Weihnachten 2008 ist es dann passiert. Ich habe mir das heilige Fest gegeben und das sogar in Frohnau. Die Umstände, wie es dazu kam, will ich im folgenden erzählen:

Ich hatte aus einer spontanen Laune heraus bei der RTL-Show „Weihnachten für arme Schweine“ angerufen und der im Studio sitzenden Jury erzählt, was ich die letzten Jahre so an Weihnachten getrieben habe. Die Jury kam daraufhin zu der Meinung, dass mein Schicksal am schlimmsten wäre und kürte mich zum Gewinner des Abends. Meine Belohnung war ein Abend bei einer gutbürgerlichen Familie in Frohnau, die noch Weihnachten mit Weihnachtsbaum und Geschenke feierte und um 23 Uhr den Weg zur Kirche antrat, um dort die Weihnachtsmesse zu besuchen. Das klang für mich wie ein dörfliches Idyll in Bayern oder sonst wo, aber nicht nach Berlin. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich mein kaum vorhandenes Weltbild von Frohnau ändern würde, dass bislang nur aus unrealen Mutmaßungen und willkürlichen Anfeindungen bestand. Am frühen Abend fuhr ich mit der S-Bahn nach Frohnau.

Ich glaube, es war die längste S-Bahnfahrt, die ich Berlin bislang zurückgelegt habe. Ich hatte mich extra dick angezogen, weil Frohnau am äußersten nördlichen Rand von Berlin lag und damit näher zum Polarkreis. Aus dem Abteil heraus konnte ich beobachten, wie sich die Zivilisation, wie ich sie als Kiezist verstand, immer mehr lichtete und ausgedehnten Waldgebieten Platz machte. Ich schluckte und fragte mich, ob ich je den Weg nach Hause zurückfinden würde. Am S-Bahnhof Frohnau erwartete mich Sandra, die Tochter. Sie hielt ein Schild in die Höhe mit der Aufschrift: „Empfangskomitee für den Gewinner von „Weihnachten für arme Schweine“. Ich bat sie nach der Begrüßung als erstes, das Schild runterzunehmen und zu entsorgen. Auf dem Weg zum Einfamilienhaus fragte ich sie, wie der Abend denn genau verlaufen würde. Sie berichtete von einem Abendessen, danach Bescherung und dann der Gang zur Kirche. Das mit dem Abendessen klang auf jeden Fall gut. „Muss ich denn Konversation betreiben?“, fragte ich meine Begleiterin. Ich würde als Außenstehender in einen gewachsenen Familienverbund geraten, der sich vielleicht lange nicht gesehen hatte und viel besprechen wollte. „Eigentlich nicht“, antwortete Sandra. „Wir sind ein gewachsener Familienverbund und haben uns lange nicht gesehen. Konversation außerhalb des familiären Kontext ist da eher hinderlich.“

Eine Weile später saß ich mit dem Bruder, der Tochter und der Mutter am Esstisch in einem großen Wohnzimmer und ließ es mir schmecken. Im Wedding wäre mir wahrscheinlich nur der Weg zur „Mittelpromenade“ geblieben, wo es Currywurst mit Pommes gab, die seit dem Vorabend in der Fritteuse lagen. Ein solches Essen gönnt man sich nur wenige Male im Jahr, weil man die restlichen Tage damit verbringt, es zu verdauen. Nach dem Essen saßen wir im anderen Teil des Wohnzimmers am Tisch vor dem geschmückten Weihnachtsbaum. Mir ging der berühmte Weihnachtssketch von Loriot durch den Kopf, wo die Familie Hoppenstedt um den Weihnachtsbaum sitzt und der Opa permanent jammert: „Früher war mehr Lametta.“ Der Sketch ist aus den siebziger Jahren und tatsächlich scheint das Lametta seitdem aus bundesdeutschen Weihnachtsstuben gebannt zu sein. Mein letztes, richtiges Weihnachten habe ich am Ende der siebziger gefeiert, als ich etwa 10 Jahre alt war. Das ist aber solange her, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, ob meine Mutter damals noch Lametta benutzt hat oder nicht. Bislang hatte ich nicht mehr gesagt als eine Begrüßung sowie ein Lob für das Essen. Dafür hatte ich viel von den Befindlichkeiten der Familie mitbekommen, soviel, dass ich glatt ein Buch darüber schreiben konnte. Zur Bescherung kam es schnell. Die Familienmitglieder holten sich die ihnen zugedachten Geschenke und rissen das Papier ab. Zum Vorschein kamen Bücher, Süßigkeiten, ein Handtuch, Konzertkarten sowie ein Kochbuch. Das Kochbuch war für mich und ein Geschenk von Sandra. „Das ist für mich?“, fragte ich nach. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Ja“, antwortete Sandra. „Wir haben die Sendung gesehen und deine Weihnachtserlebnisse gehört. Da dachten wir, wir schenken dir ein Kochbuch, damit du nächstes Jahr andere Leute einladen kannst und nicht mehr in der die Not kommst, nach Treptow fahren zu müssen.“

Als ich zwei Stunden zuvor in der Konradsallee 17 angekommen war, hatte es in Strömen geregnet. Sandra hatte daraufhin der Mutter den Vorschlag gemacht, den Weg zur Kirche im Auto zurückzulegen. Diesen Vorschlag hatte die Mutter abgelehnt und auf die Tradition hingewiesen, dass sie immer zu Fuß zur Kirche laufen. An dieses kurze Gespräch musste ich denken, als ich hinter der Familie her trottete. Es regnete, als stünde die Sintflut bevor. Vielleicht hätte ich den Vorschlag machen sollen, im Haus zu bleiben, aber das hätten die anderen sicherlich abgelehnt. Sie wussten fast nichts über mich und hatten daher nicht das geringste Interesse, mich allein zu lassen.
Zuvor hatte ich erfahren, dass der Kirchenbesuch in Frohnau nicht direkt religiösen Zwecken diente und auch eher sekundär zum Weihnachtsritual dazugehörte. Am wichtigsten war der gesellschaftliche Aspekt. Wer sich an Weihnachten nicht in der Kirche sehen ließ, verlor seinen gesellschaftlichen Status. Der Gottesdienst wurde im Laufe des Tages 5 Mal abgehalten, so dass jede Familie den Besuch frei wählen konnte. Besuchte sie den Gottesdienst aber gar nicht, blieb das nicht geheim, denn in Frohnau kannte jeder jeden und insbesondere an Weihnachten. Wer den Kirchenbesuch an Weihnachten nicht vor weisen konnte, dem wurde nahegelegt, seine Koffer zu packen und, zum Beispiel, in den Wedding zu ziehen. Dort kannte nicht jeder jeden und ob einer einen Gottesdienst besucht hat oder nicht, interessierte im Wedding 99,9 % der Bevölkerung einen Scheißdreck. Sandra informierte mich außerdem darüber, dass diese Bindung an das Kollektiv auch Bevölkerungsgruppen einschloss, die, so gesehen, in Frohnau nichts verloren hatten. Vor einiger Zeit war der Frohnauer Penner gestorben, der jeden Tag vor dem REICHELT am Hauptplatz seine Zeit verbracht hatte. Jeder in Frohnau hatte ihn gekannt und ich könnte mir gut vorstellen, dass ihm viel Respekt entgegengebracht worden war. Ihm zu Ehren wurde ein Sondergottesdienst abgehalten, was dafür sprechen mag. Im Wedding hätten sie ihn von seinem Platz weggeräumt und irgendwo verscharrt, ohne dass es jemand mitbekommen hätte. Den Leuten wäre wohl aufgefallen, dass er nicht mehr war, aber es ist sicher, dass sie ihn bald schon aus dem Gedächtnis gestrichen hätten. Ich dachte noch eine Weile über den Penner von Frohnau nach. Hatte er auch dort gelebt? Ein Haus und ein Vermögen besessen und sich doch ein Leben aus Müßiggang und womöglich Suff gegönnt? Oder hatte ihn der Großbezirk Reinickendorf angestellt, um Frohnau auf eigentümliche Weise zu, wie soll ich sagen, bereichern?

Wir erreichten die Kirche sehr früh, weil es in diesem Jahr hieß, dass Stehplätze aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen seien und eventuelle Vergehen von der freiwilligen Feuerwehr geahndet wurden. Doch bald füllte sich die Kirche und an den Seiten standen Leute. Ich schaute mich nach der freiwilligen Feuerwehr um, doch niemand von denen war zu sehen. Viele junge Leute waren anwesend und wie ich sie so beobachtete, wie sie nach und nach ihre Handys ausschalteten, ging es mir durch den Sinn, dass viele von ihnen dies zum ersten Mal in diesem Jahr taten.
Auch musste ich mir wieder vergegenwärtigen, dass ich mich nicht in einem Dorf in Bayern oder Franken befand, sondern in der Hauptstadt Berlin und das es vielleicht 5 Kilometer Luftlinie eine andere Kirche gab, wo sich gerade drei Senioren und eine vierköpfige Familie auf den Sitzbänken verloren.
Ich war gespannt auf die Show, die der Pfarrer bieten würde. Die Bühne wurde durch einen großen, schön geschmückten Baum ohne Lametta glänzend in Szene gesetzt. Daneben befand sich eine Kanzel, die sicherlich effektvoll genutzt werden konnte. Vor mir auf der Bank entdeckte ich einen Zettel mit Texten drauf, offensichtlich Liedern. Was bedeutete das? Sollte etwa das Publikum singen? Kurze Zeit später betrat der Pfarrer die Bühne und begann eine Geschichte zu erzählen. Irgendwie ging es um Hirten, ein Neugeborenes und einen Stall. Schien ein älterer Stoff zu sein und so eingeübt, wie der Pfarrer die Geschichte vorlas, machte er das wohl nicht zum ersten Mal. Ich fand die Geschichte langweilig, ohne Witz und beschloss, diese Show nie wieder zu besuchen. Plötzlich forderte der Pfarrer die Leute auf, sich zu erheben und zu singen. Nach dem Lied setzten sich alle Leute wieder hin und der Pfarrer erzählte weiter seine doofe Geschichte. Kurz hatte ich den Impuls, zu klatschen, als er mit dem nächsten Teil der Erzählung fertig war, ließ aber im letzten Moment davon ab. Dann sprach der Pfarrer so etwas wie ein Gedicht, alle Leute standen auf und sagten mehrmals „Erbarme dich“. Wen meinten die bloß? Etwa den Pfarrer? Drückten die Besucher damit aus, dass sie die Geschichte ebenso langweilig fanden wie ich und ihn aufforderten, damit aufzuhören? Das tat er dann tatsächlich auch und wies auf ein Projekt in Burkina Faso hin, für das er um Spenden bat. Warum sollte ich das tun? Ich erinnerte mich, dass mir Sandra zuvor 2 Euro in die Hand gedrückt und gemeint hatte, das solle ich in die Kollekte tun. Warum? Das Geld reichte fast, um mir das Rückfahrticket zu leisten. Die Leute standen auf und jetzt kam der der so wichtige Frohnauer Gesellschaftsfaktor ins Spiel. Denn erst jetzt warfen alle einen Blick auf die anderen, schauten, wer die Show verfolgt hatte und wer nicht. Alle setzten sich ein wenig in Pose, verharrten kurz im Gang und grüßten irgendwen. Ich tat nichts davon, denn ich hatte keinen sozialen Status in Frohnau und würde nie einen haben. Dafür lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Brieftaschen der Leute, die sie zückten, während sie auf den Ausgang zuströmten. Ich sah 10, 20 und sogar 50 Euro-Scheine, die parat gehalten wurden für die Spende. Ich dagegen holte das 2 Euro Stück von Sandra aus der Hosentasche. Mehr war mir die Show, ehrlich gesagt, nicht wert gewesen und bezahlte dafür nicht mal mit eigenem Geld. Mir ging durch den Kopf, die Kollekte zu klauen. Vom oberen Teil der Treppe sah ich, dass die Kirchendiener oder Messmitarbeiter so etwas wie Strümpfe hielten. Ich konnte bestimmt einen meiner Strümpfe gegen einen von denen austauschen. Von dem Geld konnte ich ein halbes Jahr leben und die nahmen halt für ihr Projekt in Burkino Faso das, was die anderen noch reintaten. Aber ich ließ von dem Gedanken ab, womöglich konnte darunter der soziale Status meiner Gastfamilie leiden. Draußen angekommen, wurde ich noch bis zum S-Bahnhof geleitet.

„Wenn du wider Erwarten nächstes Jahr nichts finden solltest, kannst du ja mal ne Mail schicken. Wir würden uns freuen, wenn du mal wieder vorbeikommst.“
Ich hatte eigentlich eher so etwas wie „Tschüss, hau ab“ erwartet. Sandras Verabschiedung war für mich so etwas wie der krönende Abschluss dieses Weihnachtsfestes. Offenbar war meine zurückhaltende Art bei ihnen gut angekommen. Sie mochten mich und hatten mich in den Kreis ihrer Familie aufgenommen. Auf dem Rückweg sinnierte ich darüber, ob ich das Angebot für nächstes Jahr schon vorab annehmen sollte. Wer weiß, vielleicht würde ich künftig öfter Frohnau aufsuchen, vielleicht sogar mal am Tag, damit ich etwas von der landschaftlichen Schönheit mitbekam?

Weihnachten, so dachte ich während der Fahrt nach Hause, verändert die Menschen ganz schön …

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Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009

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