* * *
Isabel und Agatha waren nun schon seit Stunden in der Zentrale und koordinierten die Evakuierung der Bharulaner und der Blauen. Irgendwann kamen dann auch Murith und Shurkan dazu, um sie zu unterstützen. Zuerst würden alle aus Europa hier eintreffen, was in vier bis fünf Tagen erledigt sein würde. Danach würde der amerikanische Kontinent evakuiert und zum Schluss der asiatische. In spätestens vier Wochen sollten alle in Sicherheit sein. Es würde eng werden hier, zumindest in der ersten Zeit.
Da sie vermutlich lange unter der Oberfläche leben müssten, würde in den nächsten Tagen mit dem Aufbau der ersten von drei weiteren unterirdischen Welten begonnen werden.
Die bharulanischen Architekten hatten in aller Eile vorhandene Baupläne für unterirdische Lebensräume soweit modifiziert, dass diese in kürzester Zeit bewohnbar wären. Um die Landschaftsarchitektur müsste sich später gekümmert werden, zuerst ging es darum, so viele Menschen, Blaue und Bharulaner wie irgend möglich sicher unterzubringen. Die Produktion für die Ausstattung der einzelnen Welten lief bereits auf Hochtouren und sobald die nötigen Hohlräume geschaffen und die Holo-, sowie Wirtschaftsebenen installiert wären, würde sofort mit dem Bau der ersten Wohneinheiten begonnen.
Isabel arbeitete wie in Trance. Ihre Gefühle hatte sie, so gut es eben ging, ausgeblendet, um einen klaren Kopf behalten zu können. Mechanisch erledigte sie alles, was nötig war, ohne sich eine Pause zu gönnen.
Sie wusste, wenn sie erst zur Ruhe kam, würde das Grauen, das sie tief in sich eingeschlossen hatte, an die Oberfläche drängen und sich auf sie stürzen.
Agatha, um deren ruhige Gelassenheit sie diese Frau beneidete, war wie der Fels in der Brandung. Nur die Blässe ihrer Haut und der ernste Blick ihrer irisierenden Augen verrieten, wie sehr sie litt. Vor ein paar Minuten hatte sie die Zentrale verlassen und kam nun mit mehreren Bediensteten zurück, die große Tabletts trugen, auf denen Leckereien wunderschön angerichtet waren.
»So, meine Lieben! Wer viel arbeitet, muss auch gut essen.«
Kurzerhand räumte sie die Ablage eines halbhohen Schrankes ab und ließ dort alles abstellen. Dann schnappte sie sich einen Teller, lud eine ordentliche Portion kleiner Häppchen darauf und reichte ihn Isabel.
Mit einem Blick, der keine Widerrede duldete, schaute sie die anderen an, die sich gehorsam erhoben, Teller nahmen und sich dann ebenfalls bedienten.
Isabel schenkte Agatha einen dankbaren Blick, die sich mit einem vollen Teller neben sie gesetzt hatte und ebenfalls zu essen begann.
»Es nützt niemandem, wenn ihr hier vor Entkräftung zusammen klappt.« sagte sie und schob sich ein weiteres Häppchen in den Mund.
»Danke Agatha, das war eine gute Idee. Ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich bin.«
Sie hatte fast aufgegessen, als einer der Bediensteten erschien und vor ihr den Kopf neigte.
»Herrscherin Isabel, deine Mutter wird in einer halben Stunde hier eintreffen.«
Sofort war es mit ihrer Ruhe vorbei. Sie stellte den Teller ab und stand auf.
»Ich werde sie oben abholen.«
Sie wollte auf jeden Fall diejenige sein, die sie hier nach unten brachte, denn sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sehr es ihre Mutter erschrecken würde diese fremde Welt zu sehen.
»Danke. Bitte begleite mich nach oben, meine Mutter kommt mit Gepäck. Ich gehe nur noch schnell Kontaktlinsen holen. Sei in fünf Minuten wieder hier, dann brechen wir auf.«
Eilig verließ sie die Zentrale und marschierte den Gang hinunter zu ihren Räumen und öffnete im Schlafzimmer den verborgenen Schrank. Neben dem Schmuck bewahrte sie das kleine Gerät auf, mit dem man die Iris scannen und Kontaktlinsen in der gewünschten Farbe herstellen konnte. Sie wählte ein unauffälliges helles Blau, wartete bis sie in die Ausgabeschale fielen und setzte sie dann ein.
Mit einem letzten Blick in den Spiegel wandte sie sich ab und lief zurück in die Zentrale.
* * *
Wie schön friedlich es ist, dachte Isabel als sie draußen auf die Ankunft ihrer Mutter wartete. Sie hatte sich auf die Stufen gesetzt und schaute zum Himmel hinauf.
Die Sonne war gerade untergegangen und färbte den Horizont in den schönsten Rottönen. Es war ein wunderschönes Bild, dieses Zwielicht zauberte eine ganz besondere Atmosphäre. Unter anderen Umständen hätte sie den Anblick sehr genossen. Doch sie musste daran denken, dass dies alles sehr bald vorbei sein würde und Aschewolken den Himmel für lange Zeit verdunkeln würden.
Glücklicherweise hatte sie keine Zeit mehr, sich in düsteren Gedanken zu verlieren, denn die Limousine, die ihre Mutter hierher brachte, kam gerade die kleine Straße herauf gefahren.
Isabel stand auf und sah ihr entgegen. Gedankenverloren fuhr sie mit ihren feuchten Händen über ihr Gewandt und schluckte trocken. Sie vermochte überhaupt nicht abzuschätzen, wie ihre Mutter aufnehmen würde, was sie ihr erzählen musste, und das machte sie total nervös.
Noch während der Wagen in die Parkbucht glitt, eilte sie hinüber, öffnete die Tür und begegnete als erstes dem beunruhigten Blick ihrer Mutter. Tief durchatmend reichte sie ihr die Hand und half ihr beim Aussteigen.
»Ich bin so froh, dass du endlich da bist, Mama.«
Ganz fest umarmte sie sie, ja klammerte sich regelrecht an ihre Mutter.
»Aber Kind, was ist denn nur passiert?«
Die Stimme ihrer Mutter klang höchst beunruhigt, sie schob Isabel auf Armlänge von sich und sah ihr forschend ins Gesicht.
»Bist du in Schwierigkeiten? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Isabel sah ihren Blick erstaunt abschweifen. Sie hatte den riesigen, schwarzhaarigen Mann entdeckt, der diskret hinter ihrer Tochter wartete und sich nun ehrfurchtsvoll vor ihr verneigte. Irritiert betrachtete sie den sehr blassen, ungewöhnlich aussehenden Mann, der sich so eigenartig benahm, und blickte ihre Tochter fragend an.
»Nein Mama, mit mir ist alles in Ordnung. Lass uns einen kleinen Spaziergang machen, dann kannst du dir nach der langen Fahrt die Beine etwas vertreten, und ich werde dir erzählen was los ist. Ok?«
Claire nickte nur und sah wieder flüchtig zu dem Riesen hinüber, der gerade ihre Taschen aus dem Kofferraum nahm und sie neben der kleinen Treppe abstellte.
»Du kannst die Sachen meiner Mutter hinunter bringen. Danke.«
»Vielen Dank, dass ihr sie hergebracht habt. Ihr könnt gern mit hinunter fahren, euch stärken und dann wieder fahren«, verabschiedete sie sich auch von den beiden Bharulanern, die neben dem Wagen standen und auf ihre Anordnungen gewartet hatten. Sie neigten kurz den Kopf, sperrten den Wagen ab und folgten dem Bediensteten.
Danach wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu, schob ihren Arm unter den ihren und zog sie sanft, aber bestimmt, mit sich einem kleinen Weg entgegen, der um die Burg herum zu einem nahe gelegenen Waldgürtel führte.
Widerstrebend folgte ihre Mutter ihr, die den Blick noch immer auf den ungewöhnlichen Mann gerichtet hatte.
»Der Mensch ist ja riesig. Er ist doch kein Franzose, oder? Ich habe noch nie jemanden wie ihn gesehen«, überlegte sie leise und drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Nein, Mama, er ist kein Franzose. Hattest du eine angenehme Fahrt?«
Claire blieb stehen, drehte ihre widerstrebende Tochter zu sich herum und sah ihr forschend in die Augen.
»Mein liebes Kind, du sagst mir auf der Stelle, was hier los ist! Ich spüre doch, dass du in Schwierigkeiten bist. Also heraus mit der Sprache!«
»Ach, Mama.«
Isabel atmete tief durch, räusperte sich dann vernehmlich und fuhr mit ihrer Hand über die Stirn.
»Ich fürchte, ich habe keine gute Neuigkeiten für dich und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Na, so schlimm wird es ja wohl nicht sein«, erwiderte ihre Mutter und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Isabel überlegte noch kurz, ob sie ihr die Wahrheit nicht doch vorenthalten könnte, doch ihr war klar, dass sie spätestens in der unterirdischen Welt mit den Tatsachen herausrücken müsste.
»Du hast doch sicherlich schon irgendwann mal davon gehört, dass Ufos auf der Erde gelandet sein sollen, dass Außerirdische uns besucht haben und vielleicht sogar hier auf der Erde versteckt leben.«
»Aber ja«, lachte Claire, »von solchen Spinnereien hört man immer wieder mal. Was die Menschen nur dazu bewegt, solchen Unsinn zu verbreiten. Manchmal glaube ich fast, sie glauben diesen Blödsinn wirklich.«
»Das ist kein Blödsinn, Mama.«
Claire wandte den Kopf und sah ihre Tochter skeptisch an.
»Sag bloß, du hast dich von diesen Spinnern anstecken lassen. Das ist doch nicht dein Ernst, Kind.«
»Sowohl auf, als auch unter der Erde lebt seit mehreren hundert Jahren eine Spezies, die vom Planeten Bharulan stammt. Einen dieser Bewohner hast du gerade eben gesehen. Er hat deine Taschen aus dem Wagen genommen.«
»Isabel, ich...«
»Hör mir bitte zu, Mama. Bitte«, unterbrach sie ihre Mutter und atmete vernehmlich durch.
»Ich weiß, für dich klingt das sicherlich völlig verrückt, aber wenn ich dir alles erzählt habe, wirst du es verstehen.
Wie ich bereits erwähnt habe, leben sie schon sehr lange unter uns und haben den Menschen bei ihrem technischen Fortschritt geholfen. Sie sind eine bemerkenswerte Spezies, die über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Sie können beispielsweise ihren Körper verändern und sich so anpassen, dass sie nicht auffallen.
Viele von ihnen leben auf der Erde und haben ganz normale Jobs, sind verheiratet mit Menschen und haben Kinder. Diese Kinder sind besonders, Mama. Sie verfügen über die Fähigkeiten ihres bharulanischen Elternteils. Sie werden die „Blauen“ genannt, weil sie, sobald sie erwachsen werden, außergewöhnlich blau irisierende Augen haben.«
Isabel schluckte und sah ihre Mutter an, die die Brauen zusammen gezogen hatte und sie taxierte, als würde sie am Verstand ihrer Tochter zweifeln.
»Ich sehe schon«, murmelte Isabel resigniert, »du glaubst mir kein einziges Wort.«
Wie sollte sie auch, ging es ihr durch den Kopf.
Ich werde es ihr beweisen müssen, und es wird verdammt hart für sie werden.
»Ich bin eine von diesen „Blauen“, Mama, denn auch mein Vater ist ein Bharulaner.«
»Aber Kind, was erzählst du denn da? Dein Vater war ein ganz normaler Mensch und starb, als du noch ein kleines Mädchen warst. Nun ist aber Schluss mit diesem ganzen Unsinn.«
Missbilligend hatte sie die Lippen zusammengekniffen und schüttelte verständnislos den Kopf.
Da ihr klar war, dass es wenig Sinn machte weiter auf ihre Mutter einzureden, griff sie langsam nacheinander in ihre Augen, entfernte die Linsen und sah ihre Mutter dann wieder an, die scharf durch ihre feine Nase einatmete und erschrocken die Augen aufriss.
Dann aktivierte sie ihre Energie, griff vorsichtig auf das Langzeitgedächtnis ihrer Mutter zu und gab einen Teil der alten gesperrten Erinnerungen wieder frei. Die an jene Nacht, in der sie gezeugt worden war, und in der ihre Mutter Rugall in seiner wahren Gestalt gesehen hatte. Aber nur als schwacher Schatten, der über den neuen Gedächtnisinhalten schwebte, wie Bilder aus lang vergangenen Zeiten.
Claires Gesicht verlor jegliche Farbe, während ihr die alten Erinnerungen langsam und leicht ins Bewusstsein drangen. Ihre zitternden Hände auf die Brust gepresst, schloss sie die Augen und atmete schwer durch. Isabel ergriff ihrem Arm und stützte sie.
»Es tut mir leid, Mama, aber das ist nun einmal die Wahrheit.«
Tränen traten ihr in die Augen, als sie ihre Mutter so fassungslos vor sich sah. Das Letzte, was sie wollte, war, sie so zu sehen. Aber es gab keine Möglichkeit, ihr das alles zu ersparen.
»Kann ich irgendetwas für dich tun, Mama?«
Isabel sah ihre Mutter an, die nur wortlos den Kopf schüttelte.
»Nein«, sagte sie tonlos, »das alles muss ich erst einmal verdauen, denke ich. Warum fällt es mir jetzt erst wieder ein, was damals passiert ist«, wunderte sie sich verzweifelt.
»Ich muss es verdrängt haben, ich muss es einfach verdrängt haben.«
Mit fahrigen Fingern strich sie sich eine Strähne aus der Stirn und sah sich um, als würde sie jetzt erst erkennen, wo sie sich befand.
»Geht es wieder?«
Claire nickte nachdenklich, sah ihre Tochter dann voll an und legte eine Hand sanft an ihre Wange.
»Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir so leid.«
»Das muss es nicht. Komm, Mama, wir müssen gehen. Du solltest dich ausruhen, es ist alles ein wenig viel für dich.«
Wieder schob sie einen Arm unter den ihrer Mutter und schlug mit ihr gemeinsam den Weg zurück zur Burg ein.
Aufgeregtes Gezwitscher und Geflatter empfing sie, weil ein Vogelschwarm sich gerade in einer ausladenden, uralten Eiche für die Nacht einrichtete.
Vorsichtig schob Isabel Claire die Stufen empor, hinein in den kleinen fensterlosen Raum, in dem es keine weitere Tür gab. Verwundert schaute sich Ihre Mutter um und sah ihre Tochter fragend an.
Isabel stellte sich vor den kleinen Kasten, sofort verschwand die Wand daneben und gab den Fahrstuhl frei. Claire sagte kein Wort, schluckte nur und sah ihre Tochter stumm an, betrat dann aber nach ihr den Fahrstuhl und schien sich innerlich zu wappnen für die Dinge, die unweigerlich noch auf sie zukommen würden.
Unten angekommen verschwand die Wand wieder und gab den Weg frei für einen ungewöhnlichen langen Raum mit blank polierten Wänden, gebogen wie in einer riesigen Röhre. Claire trat vorsichtig aus dem Fahrstuhl und sah unsicher zu ihrer Tochter.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Mama. Ich kann verstehen, dass dich dies alle sehr beunruhigt. Mir erging es ganz genauso wie dir jetzt, als ich hier das erste Mal aus dem Fahrstuhl gestiegen bin.«
Sie bedachte ihre Mutter mit einem warmen Lächeln und nahm sie einfach an die Hand. Claire seufzte leise und erwiderte das Lächeln.
»Komm, lass uns weiter gehen. Ich glaube, die Welt, die du gleich sehen wirst, wird dir gefallen.«
Isabels Lächeln zeigte nun einen leicht verschmitzten Zug. Die Mutter hinter sich herziehend schritt sie voran und erklärte ihr die Dinge, die in den Schaukästen an den Wänden zu sehen waren.
Am Ende des Raumes angekommen, verschwand die Wand und gab den Blick auf die fremdartige Landschaft frei, bei deren Anblick Claire sichtlich um Fassung rang.
»Oh, mein Gott. Wie ist so etwas nur möglich?« murmelte sie, beide Hände auf die Brust gepresst.
»Wie ich dir schon sagte, die Bharulaner sind ein hoch entwickeltes, erstaunliches Volk.«
»So muss es wohl sein.«
Fasziniert wandte Claire den Kopf und sah sich um, löste sich dann von ihrer Tochter und machte ein paar Schritte auf den Sandweg, ging in die Hocke, nahm etwas von dem roséfarbenen Sand in die Hand und ließ ihn durch ihre schlanken Finger rinnen. Dann stand sie wieder auf, wandte sich einem der Büsche zu und ergriff vorsichtig eines der riesigen Blätter, die eine ähnliche Form wie Ahornblätter hatten.
Diese allerdings waren dunkelblau und fühlten sich an, wie mit weichem Samt überzogen.
»Wie seltsam und wunderschön«, murmelte die erstaunte Frau und strich vorsichtig darüber. Langsam ging sie nun den Weg entlang und berührte immer wieder die Pflanzen und Blüten am Wegesrand, roch an ihnen und betrachtete sie ganz genau.
»Was ist das hier alles? Ich habe so etwas noch nie gesehen! Und mit Pflanzen kenne ich mich doch eigentlich aus.«
»Alles, was du hier siehst, stammt von Bharulan. Diese Welt hier unten ist eine kleine perfekte Nachbildung eines Teils des zerstörten Planeten.«
Isabel lächelte ihre Mutter an, die mit ungläubigem Blick über die Landschaft hinweg sah.
»Das ist einfach unglaublich«, murmelte sie erneut und setzte ihren Weg langsam fort.
Die Sonnen standen schon tief und tauchten die Welt in ein warmes rötliches Licht. Während Claire alles fasziniert betrachtete, schlenderte sie mit ihrer Tochter langsam dem Haus entgegen.
Als Claire den Garten erblickte, begannen ihre Augen zu leuchten. Die Farbenvielfalt der wunderschönen, ungewöhnlichen Blüten hatte sie völlig in ihren Bann gezogen.
»Wie wundervoll«, murmelte sie immer wieder, versenkte ihre Nase in die Blüten und sog deren Duft in sich auf.
Als sie das Haus betraten, kam ihnen Agatha entgegen und begrüßte Claire wie eine alte Bekannte.
»Herzlich willkommen, Claire. Schön, dass Sie nun hier sind. Ich bin Agatha.«
Sie hatte sich bei Claire einfach untergehakt, tätschelte kurz deren Hand und lächelte sie ganz offen an.
»Ist dies nicht eine erstaunliche Welt? Sie werden sich hier sehr wohl fühlen, glauben Sie mir.«
Claire, der die füllige Frau sofort sympathisch war, nickte.
»Oh ja, ich bin noch ganz erschlagen von all den Eindrücken.«
Isabel war sehr froh, dass ihre Mutter sich zu entspannen schien, denn sie musste ihr ja noch die Hiobsbotschaft beibringen. Froh, von Agatha dabei unterstützt zu werden, wurde nun auch sie selbst etwas ruhiger.
»Ja, ich bin auch eine der Blauen. Mein Vater ist ebenfalls Bharulaner«, hörte Isabel Agatha gerade ihrer Mutter erklären, die diese Nachricht nicht sonderlich zu überraschen schien.
»Und Ihre Mutter?« wollte Claire nun wissen und sah die Frau neben sich interessiert an.
»Nun ja, die starb vor 90 Jahren.«
»Wie bitte? Vor 90 Jahren?«
Claire maß sie mit einem ungläubigen Blick.
»Darf ich fragen wie alt sie sind, Agatha?«
»Zarte 168 Jahre«, lachte die nun und sah Claire mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck an.
»Oh..«, war alles, was Claire im Moment dazu sagen konnte und sah sich mit einem merkwürdigen Blick zu ihrer Tochter um.
»Ja, Mama, wir werden sehr alt. Hektor, der Vorsitzende im Ältestenrat der Blauen ist bereits über fünfhundert Jahre alt.«
»Oh...«.
Claires Stimme, die nun mindestens eine Oktave höher war, verriet, dass sie sichtlich um Fassung rang.
»Aber jetzt zeige ich dir erst einmal deine Räume, Mama.«
»Und dann besorgen wir Ihnen etwas zu essen. Sie müssen ja umkommen vor Hunger«, verkündete Agatha fröhlich und tätschelte noch einmal Claires Hand.
Sie hatte so ihre Erfahrungen und wusste, wenn der Magen beschäftigt war, war es auch erst einmal der Kopf und Claire hatte dann etwas Zeit, alles, was sie bisher erfahren hatte, zu verdauen. Denn den eigentlichen Grund, weshalb sie so Hals über Kopf hierher geholt worden war, kannte sie ja noch nicht. Glücklicherweise war ihr das noch nicht aufgefallen, denn erst einmal brauchte sie wirklich eine Verschnaufpause.
Isabel brachte ihre Mutter in ihre alten Räume, während Agatha sich um das leibliche Wohl kümmerte. Claire war sehr angetan von dem schönen Raum mit den blanken Wänden. Dann zeigte sie ihrer Mutter, wie man den Schrank öffnete, was sie wieder mit großem Erstaunen aufnahm. Die glatte Wand verschwand einfach und offenbarte dahinter viel Platz für ihre Kleidung.
»Das ist alles so … außergewöhnlich«, sagte sie und ließ sich auf eine Ecke des Bettes sinken.
»Ja Mama, ich weiß. Es ist ein bisschen viel auf einmal. Nach dem Essen unterhalten wir uns ganz in Ruhe.«
Ihre Mutter sah sie mit einem Blick an, den sie nicht einordnen konnte. Er wirkte nachdenklich, ungläubig und auch ein wenig fasziniert.
Vorsichtig tastete Isabel nach ihren Gedanken, fühlte sich aber nicht sonderlich wohl dabei. Irgendwie kam sie sich vor wie ein Voyeur, doch sie musste unbedingt wissen, was ihre Mutter von ihr und der ganzen Situation hielt.
Sie war stabiler, als es den Anschein hatte. Zwar fiel es ihr schwer, dies alles zu begreifen, doch sie war pragmatisch genug, es als gegeben hinzunehmen. Was sie am meisten beschäftigte, war ihre Tochter. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass sie nie etwas bemerkt hatte von der Andersartigkeit ihres Kindes. Ihr hätte doch etwas auffallen müssen, warf sie sich vor.
Isabels Befürchtung, ihre Mutter könnte, nun da sie wusste, was sie war, Berührungsängste entwickeln und ihr anders begegnen als bisher, bestätigte sich nicht.
Sichtlich froh darüber, half sie ihrer Mutter die Sachen im Schrank zu verstauen und ging dann mit ihr hinüber in die Halle, wo Agatha schon den Tisch hatte decken lassen. Isabel war gespannt, wie ihre Mutter auf die fremdartigen Speisen reagieren würde.
Obwohl Claire zuerst meinte, sie würde keinen Bissen hinunter bekommen, probierte sie doch und aß dann mit großem Genuss. Immer wieder versicherte sie, wie vorzüglich alles. Isabel musste schmunzeln, erinnerte ihre Mutter sie doch an sie selbst, als sie hier ankam. Claire lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Ihre Tochter und Agatha an.
»So, und nun erzählt ihr mir, was wirklich los ist. Nur zum Essen werdet ihr mich ja wohl nicht hier her geholt haben, oder?«
Isabel und Agatha wechselten einen schellen Blick. Claire war eine kluge Frau, sie hatte längst bemerkt, dass etwas Beunruhigendes vorgefallen sein musste, wenn ihre Tochter ihr wohl gehütetes Geheimnis preisgab.
»Du hast recht, Mama. Es gibt einen triftigen Grund, warum ich dich in Sicherheit wissen wollte.«
Sie sah ihre Mutter an und atmete tief durch.
»In den nächsten Wochen wird der Krakatau ausbrechen. Die Messergebnisse unserer Wissenschaftler sind eindeutig, doch niemand will ihnen glauben. Statt sofort zu handeln, wird herum diskutiert und wertvolle Zeit verschwendet. Wir haben deshalb beschlossen, alle unsere Leute
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2706-6
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