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Die verstehen sehr wenig,
die nur das verstehen,
was sich erklären lässt.

 

Marie von Ebner-Eschenbach

 

Prolog

 

Entsetzt ließ die 20-jährige Aidamee das 1. Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter in den Schoß sinken und starrte fassungslos auf die kleine hölzerne Truhe zu ihren Füßen. In ihr standen noch 19 weitere Tagebücher, mit den Buchrücken nach oben fein säuberlich nach Jahreszahlen sortiert.
Hinter ihrer hohen Stirn überschlugen sich die Gedanken, sodass sie keinen von ihnen so wirklich erfassen konnte.
Die Erkenntnis des eben Gelesenen fraß sich schmerzhaft wie Eiskristalle in ihr Herz und brachte sie fast um den Verstand.
Wie nur konnte ihr ihre so liebevolle, fürsorgliche Mutter das antun?
War ihr ganzes Leben eine einzige Lüge?
Was würde sie noch erfahren wenn sie die restlichen Tagebücher lesen würde?
Langsam senkte sie den Blick wieder auf die Seiten, die mit der schönen Handschrift ihrer Mutter gefüllt waren und Tränen traten in ihre Augen.
» Oh Mama, wie konntest du mir das antun? « flüsterten ihre bebenden Lippen und in einem Anflug von Wut und Enttäuschung schlug sie das Tagebuch zu und warf es zu den anderen in die Truhe zurück. Dann erhob sie sich aus dem bequemen Ohrensessel, den ihre Mutter so liebte und verließ deren Schlafzimmer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Aidamee lehnte lässig im Türrahmen des riesigen Ateliers. Die Arme locker vor der Brust verschränkt, schaute sie belustigt zu ihrer Mutter hinüber, die auf einer Leiter vor einer großen Skulptur stand und ihr den letzten Feinschliff gab. Der Blaumann, den sie trug, war mit einer Schicht feinen weißen Staubes bedeckt, ebenso wie ihr Gesicht. Die langen braunen Haare hatte sie nach Art der Trümmerfrauen mit einem Kopftuch geschützt. Das Arbeiten mit der Schleifmaschine war anstrengend und sie wischte sich den Schweiß, der sich auf ihrer Stirn gebildet hatte, mit dem Unterarm ab. Dabei bildeten der Schweiß und der feine Staub dicke Schlieren quer über ihrer Stirn und gaben ihr dadurch noch mehr das Aussehen einer Trümmerfrau aus der Nachkriegszeit.
» Mama, du siehst zum Schreien aus. « lachte Aida und schüttelte dabei langsam den Kopf. Ihre außergewöhnlich dunkle Stimme, die so gar nicht zu ihrem filigranen Aussehen passen wollte, hallte durch den großen Raum. Sie löste sich vom Türrahmen und ging langsam hinüber zu ihr. Aidamee war groß, sehr groß für eine Frau. Ihre langen, fast weißblonden Haare hatte sie zu einem dicken Zopf am Hinterkopf zusammen geschlungen, den sie mit einer kurzen Kopfbewegung auf den Rücken warf.
» Ja, ja, lach du mal. Du darfst mich gern bei der Schleiferei unterstützen. «
Christina von Göbel stieg langsam von der Leiter herunter und zwinkerte ihrer Tochter verschmitzt zu.
» Damit ich danach ebenso aussehe wie du? Nein danke, da bleibe ich doch besser bei meinen Feinmetallen. «
Aidamees blassgrüne Augen strahlten belustigt und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Interessiert schaute sie zu der Skulptur hinauf und nickte anerkennend.
» Sie ist wundervoll geworden Mama. «
» Ja, finde ich auch. Nach dem letzten Feinschliff werde ich sie mit einer fetthaltigen Schleifpaste polieren. Ich bin schon gespannt wie sie wirken wird, wenn sie in ihrem Glanz erstrahlt. «
» Sie wird grandios, Mama. Dein Auftraggeber wird begeistert sein. «
Christina lächelte und gab ihrer Tochter mit dem Zeigefinger einen kleinen Stups auf die Nase. Aida sah in das schöne Gesicht ihrer Mutter, der man die 59 Jahre überhaupt nicht ansah. Außer ein paar kleiner charmanter Lachfältchen um die Augen war ihre Haut jugendlich straff. Nun allerdings war es mit Staub und Schweiß verschmiert und entlockte ihr wieder ein Grinsen.
» Sag mal Mama, hast du heute Nachmittag nicht einen Termin in Bremen? «
Christinas Gesicht glich augenblicklich einer Statue und ihre Augen weiteten sich erschreckt.
» Ach du lieber Himmel, wie spät ist es denn? «
» Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch rechtzeitig. Es ist bereits 12.30 Uhr. «
» Oh Gott, ich muss mich wirklich beeilen. «
Hektisch riss sich ihre Mutter den Blaumann herunter und stand augenblicklich in einer dichten Wolke feinsten weißen Staubes, den sie mit der Hand auseinander zu wedeln versuchte. Das Kopftuch landete danach achtlos neben ihrem Arbeitsanzug und mit einer schnellen Bewegung ihres Fußes landete Beides unter der Leiter. Schnell stellte sie sich auf die Zehenspitzen, gab ihrer Tochter einen schnellen Kuss auf die Wange und huschte, flink wie ein Wiesel, aus dem Atelier.
Aidamee sah ihr lächelnd und kopfschüttelnd hinterher. So war es immer, wenn ihre Mutter in ihre Arbeit versunken war, vergaß sie Raum und Zeit. Aber wenn sie ehrlich war, ging es ihr ebenso wenn sie an ihrem Schmuck arbeitete. Sie war ebenso fokussiert auf das, was sie tat, da gab es nur sie und das Metall, das unter ihren geschickten Händen zum Leben erwachte. Ihre Mutter und sie waren sich da sehr ähnlich.
Noch einmal umrundete sie die Skulptur. Es war ein verdrehter Obelisk, der aussah, als hätte oben jemand einen Knoten hinein gemacht. Sie war wieder einmal fasziniert wie ihre Mutter aus einem so harten starren Material etwas so leicht Wirkendes, Fließendes schaffen konnte. All ihre Werke waren berühmt dafür und wurden für schwindelerregend hohe Preise in die ganze Welt verkauft. Aidamee glaubte zu wissen worin der große Erfolg ihres Schaffens bestand.
Bevor ihre Mutter einen Auftrag annahm, bestand sie darauf ihre Auftraggeber persönlich kennenzulernen und auch den Platz, wo ihre Arbeit einmal stehen würde. Sie unterhielt sich lange mit ihren Kunden und ließ den Standort ihrer fertigen Arbeit lange auf sich wirken. Fast schon meditativ schritt sie allein durch die Räume und intuitiv nahm die neue Arbeit bereits Formen in ihrem Kopf an. Ihr großer Erfolg lag sicherlich daran, dass so etwas wie die Seele der Auftraggeber in die Arbeit mit einfloss und Diese dies bei der fertigen Arbeit spürten.
Aidamee riss sich von der Skulptur los und verließ das Atelier. Als sie die Villa betrat, kam ihre Mutter gerade die große Treppe herunter gehastet. In einem eleganten Maßkostüm, mit passender Handtasche über dem Arm, erreichte sie leicht hektisch den großen Empfangsbereich und griff nach den Schlüsseln zu ihrem Mercedes. Schnell umarmte sie ihre Tochter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
» Bis heute Abend. Es wird spät werden, also warte nicht auf mich. Ich liebe dich mein Schatz. «
Schnell schlüpfte sie in ihre eleganten Pumps und war aus der Tür.
Aidamee atmete tief durch, während sie den Wagen ihrer Mutter knirschend über den Kies der Auffahrt rollen hörte.
„ Na hoffentlich ist die Autobahn frei und sie kommt in keinen Stau. „ dachte sie noch und ging dann langsam in ihr eigenes kleines Atelier, um an ihrer Auftragsarbeit, ein paar exklusiver Eheringe aus Platin und Weißgold zu arbeiten.

* * *




» Baba, würdest du mir bitte eine Kanne Jasmin Tee bereiten? «
Aidamee hatte den ersten der Ringe fertig und war hinunter in die Küche gegangen. Die 50-jährige Haushälterin drehte sich herum und lächelte sie an.
» Aber natürlich mein Kind. Möchtest du auch etwas essen? «
» Nein Baba, Tee reicht mir völlig. «
Baba hieß eigentlich Barbara, aber als sie noch ganz klein war, konnte sie den Namen nicht aussprechen und nannte sie Baba. Und dabei war es geblieben. Baba war für sie wie eine Großmutter, sie liebte diese resolute Frau mit dem großen weichen Busen, an dem sie schon als kleines Kind immer wieder Trost fand wenn etwas in ihrer heilen Kinderwelt nicht so lief, wie sie es gern gehabt hätte.
» Geh nur hinauf Aida, ich bringe dir den Tee sobald er fertig ist. «
Aidamee bückte sich zu Baba hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
» Danke Baba, du bist die Beste. «
Schnell verließ sie die Küche und ging hinauf in den zweiten Stock der Villa, den sie allein bewohnte. Ihre Mutter hatte ihre Raume in der ersten Etage und Baba lebte in der kleinen Einliegerwohnung im Dachgeschoss. Aida liebte dieses Haus. Es war eine alte Jugendstilvilla, die ihre Mutter vor Jahren aufwändig restaurieren ließ und sie nun wieder im Charme der alten Zeit erstrahlte. Ganz besonders genoss sie die Zeit in ihrem Bad. Sobald sie die Tür öffnete, wähnte sie sich in vergangenen luxuriösen Zeiten. Der Raum wurde dominiert von einer geschwungenen weißen Badewanne mit goldenen Löwenfüßen. Daneben in der Ecke stand ein hohes großes Glas, welches gefüllt war mit Badepralinen von Badestolz. Der ganze Raum roch so aromatisch nach Lavendel, Lemon Gras und Rosenblättern, dass man sofort Lust bekam sich eine Wanne ein zu lassen. Sie liebte diese Pralinen, die die Haut beim Baden durch das Öl weich und geschmeidig machte und einen so berauschenden Duft verbreiteten, dass man danach völlig entspannt ins Bett sank. Außerdem sahen sie aus wie kleine Kunstwerke. Am liebsten mochte sie die Kugeln, in denen winzige getrocknete Rosenblüten steckten. Wenn sich die Praline sprudelnd im Wasser auflöste, gab sie die kleinen Knospen frei, die sich langsam entfalteten und an die Oberfläche schwammen. Aida konnte Stunden in der Wanne verbringen und vor sich hin träumen. Und wenn Baba ihr dann noch einen Jasmin Tee brachte, war ihr Glück perfekt.
Mit flinken Fingern drehte sie an den beiden Rädchen des Wasserhahns und mischte die richtige Temperatur. Rauschend floss es aus der alten Jugendstilgarnitur in die Wanne und leichter Dampf breitete sich auf der Wasseroberfläche aus. Mit einem wohligen Seufzer entledigte sie sich ihrer Kleidung, entnahm dem Glas eine der Badekugeln und glitt ganz langsam in das heiße Wasser.
Als die Wanne den richtigen Füllstand hatte, drehte sie das Wasser ab, lehnte sich entspannt nach hinten und lies die duftende Kugel ins Wasser plumpsen. Sofort begann diese prudelnd ihre kostbaren Bestandteile freizugeben und die ersten Rosenblättchen erschienen auf der Oberfläche. Berauscht vom Duft von Rose und Lemon Gras schloss Aidamee seufzend die Augen.
Baba hatte ihr kurz darauf den Tee gebracht und ihn auf einem kleinen Tischchen neben die Wanne gestellt. Draußen war es bereits dunkel und den Raum erfüllte der Schein einer großen Kirchenkerze. Genüsslich schlürfte Aida den Tee und genoss ihr Bad, bis Baba plötzlich neben der Wanne stand.
» Aidamee? Würdest du bitte mit nach unten kommen? Es ist …... Besuch…. für dich da. «
Aidamee öffnete verwundert die Augen. Nicht wegen des Besuches, sondern eher wegen des Tonfalls von Babas Stimme und weil sie sie Aidamee genannt hatte. Das tat sie sonst nie. Als sie in das aschfahle Gesicht der Haushälterin schaute begann ihr Herz zu rasen. So hatte sie die Frau noch nie gesehen.
» Was ist los Baba? Ist etwas mit Mama? «
Entsetzen malte sich in das Gesicht der jungen Frau und sie starrte die Haushälterin voller Angst an.
» Komm mit hinunter Kind. « sagte die müde Stimme und half der vor Angst Bebenden aus der Wanne. Dann nahm sie den dicken flauschigen Bademantel von der Heizung und half Aida hinein. Nicht auf ihr nasses tropfendes Haar achtend, hastete Aidamee an ihr vorbei, sich dabei mit fahrigen Fingern den Gürtel des Bademantels zubindend.
Als sie mit nackten nassen Füßen die Treppe hinunter hastete, sah sie sie. Zwei Polizeibeamte, ihre Mützen nervös in den Händen drehend und mit Blicken, die ihre schlimmsten Befürchtungen Gewissheit werden ließen.
» Fräulein von Göbel? « sprach sie der Eine leise an und senkte dann den Blick.
Aida nickte nur, sprechen konnte sie nicht, denn ein riesiger Kloß in ihrem Hals drohte sie zu ersticken.
» Wir haben leider eine sehr schlechte Nachricht für sie. « sagte nun der Andere und räusperte sich umständlich.
» Ihre Mutter….. sie hatte einen Unfall auf der Autobahn kurz vor Bremen. Es hatte sich ein Stau gebildet und ein LKW-Fahrer hatte dies leider zu spät bemerkt. «
Wieder räusperte er sich und versuchte seinen Klos im Hals herunter zu zwingen.
» Ihre Mutter war am Stauende und… nun ja, der LKW ist ungebremst in das Stauende hinein gerast. « vollendete der andere der Beamten ihre leidige Aufgabe.
Aidamee hörte die Worte wie durch Watte. Alles in ihr wehrte sich dagegen die Konsequenz dieser Aussagen zu erfassen.
» Ihre Mutter war auf der Stelle tot. Es tut uns sehr leid. Können wir noch etwas für sie tun? «
Aida traf die Wucht der Erkenntnis wie eine Abrissbirne. Langsam, wie in Zeitlupe, sackte sie auf der untersten Stufe der Treppe zusammen, gestützt von Barbara, die ihr unaufhörlich über den Rücken strich und leise weinte.
» Mein armes Kind. « flüsterte sie, während Aida ihren Kopf auf den Knien barg und sich fort wünschte, weit, weit fort.
Barbara nickte den Beamten zu, die verstanden und sich umdrehten, um das Haus zu verlassen. An der Tür wandten sie sich noch einmal unschlüssig um, wechselten einen betroffenen Blick und verließen dann das Haus.

* * *




Als Aidamee am nächsten Tag erwachte, war es bereits Mittag vorbei. Sie lag in ihrem Bett und fühlte sich völlig erschlagen. Wie sie hierhergekommen war wusste sie nicht mehr. Sich mit beiden Händen kräftig das Gesicht reibend, versuchte sie ihren Kopf frei zu bekommen, der ihr brummte wie ein ganzer Schwarm Bienen. Was war denn bloß los mit ihr? Und warum hatte sie Mama nicht geweckt?
Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube und die Luft blieb ihr weg. Mit einem gequälten Aufschrei saß sie im Bett und wimmerte dann wie ein Kind, beide Arme um den Oberkörper geschlungen, sich hin und her wiegend.
Kurz darauf flog die Tür auf und ihre Baba stürmte ins Zimmer. Sich auf den Bettrand setzend nahm sie Aidamee in die Arme und wiegte sie wie ein Kind.
» Tsch..tsch…tsch…. meine Kleine. Ich bin ja da. «
Barbara strich Aida immer wieder über den Kopf und den Rücken, um sie ein wenig zu beruhigen.
In der Tür stand Burghard von Breese, der Rechtsanwalt und Notar der Familie, zudem der beste Freund von Christina und Patenonkel von Aida. Das Gesicht des 65-jährigen war eingefallen und in seine Mundwinkel hatte sich ein bitterer Zug eingenistet.
Barbara hatte ihn noch in der Nacht gebeten zu kommen und ihn darüber informiert, was geschehen war. Da Aida nicht ansprechbar war, hatte er den Hausarzt informiert, der dem Mädchen eine Beruhigungsspritze gab. Zusammen mit Barbara hatten sie dann die völlig Apathische ins Bett gebracht und sich dann in die Küche gesetzt und versucht, das Furchtbare zu verarbeiten.

* * *




Die nächsten zwei Wochen waren furchtbar für Aidamee. Wie ein Schatten ihrer selbst schlich sie durchs Haus, wenn sie dann mal ihr Zimmer verließ. Nur mit Mühe gelang es Barbara sie dazu zu bewegen, etwas zu sich zu nehmen.
Burghard kümmerte sich um alle Formalitäten, was die Beerdigung und den Erbschein für Christinas Tochter betraf. Auch bestellte er die Trauerkleidung Aidas für die Beerdigung in einem der renommierten Geschäfte, da sie nicht dazu zu bewegen war das Haus zu verlassen.
Dann war er da, der schlimmste Tag in Aidas Leben. Zumindest glaubte sie es zu diesem Zeitpunkt. Der Tag, an dem ihre geliebte Mutter zu Grabe getragen werden sollte.

* * *




Ein frischer Wind fegte über die Gräber des Ohlsdorfer Friedhofs und ließ die junge Frau im eleganten schwarzen Kostüm frösteln. Es war Anfang Juli, doch der wolkenverhangene Himmel verhinderte jeden wärmenden Sonnenstrahl. Aufrecht und äußerlich gefasst nahm sie die Beileidsbekundungen der vielen Kondolierenden entgegen. Unter ihrem schwarzen Schleier jedoch verbarg sich ein tränenüberströmtes Gesicht.
» Mein herzlichstes Beileid Fräulein von Göbel. Ich teile ihren schmerzlichen Verlust. Ihre Mutter war eine großartige Frau. «
Wortlos nickte Aidamee jedem zu, der sie zu trösten versuchte, sprechen konnte sie nicht. Noch lange nachdem der Letzte gegangen war, stand sie da und sah mit leerem Blick auf das frische Grab.
» Komm Aida, wir sollten gehen. «
Burghard legte seinen Arm um Aidamees Schulter und bewegte sie sanft, aber bestimmt ihm zu folgen.
Die Angesprochene seufzte schwer, straffte sich dann aber und ließ sich fortführen.
Als Burghard die schwere Limousine vor ihrem Haus stoppte, erwachte Aidamee aus ihrer Starre und sah sich verwundert um. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie von der Fahrt nichts mitbekommen hatte.
Ihr Patenonkel drehte sich in seinem Sitz herum und sah das Mädchen besorgt an.
» Soll ich dich begleiten? Ich denke du solltest jetzt nicht allein sein. «
» Danke Onkel Burghard, ich komme zurecht. Aber vielen Dank für dein Angebot. «
Aidamee nickte ihm zu und versuchte ein Lächeln, das ihr aber nicht gelang. Burghard von Breese schlüpfte schnell aus dem Wagen, öffnete ihr die Tür und half ihr auszusteigen. Dann umarmten sie sich wortlos und er sah ihr hinterher, wie sie kraftlos die breite Treppe des großen Hauses erklomm. Bevor sie die letzte Stufe erreicht hatte, öffnete sich die Tür und Barbara erschien darin. Ohne ein Wort umarmte sie das Mädchen und führte sie ins Haus.
Burghard setzte sich hinter das Steuer, atmete einmal tief durch und startete den Wagen. Er konnte unbesorgt sein, Barbara würde sich liebevoll um Aidamee kümmern.

* * *




» Komm mit in die Küche Kind, ich habe Tee gekocht. Der wird dir gut tun. «
Fast schon willenlos ließ sich die junge Frau in die Küche schieben und setzte sich gehorsam auf den ihr zugewiesenen Platz. Barbara stellte eine heiße Tasse Tee vor sie hin und setzte sich dann gegenüber.
» Es war sehr schwer für dich, nicht wahr? «
Wie von weither erreichte sie der Blick von Aida.
» Es war eine schöne Beerdigung. Sie hätte Mama gefallen. «
Seufzend ergriff sie den Löffel, ließ Zucker in den Tee rieseln und rührte dann akribisch bis er sich aufgelöst hatte.
» All ihre Freunde und viele ihrer Kunden waren da. Und der Pastor hat eine schöne Rede gehalten. «
Mit beiden Händen ergriff sie ihre Tasse und führte sie langsam an die Lippen, trank ein kleines Schlückchen und stellte sie dann wieder vorsichtig auf der Untertasse ab.
Dann sah sie Barbara an.
» Ach Baba, sie fehlt mir so sehr. Wie soll ich nur ohne sie weiter leben? «
Barbara schluckte, Aidamee tat ihr unendlich leid.
» Das findet sich mein Kind. Du wirst sehen, die Trauer verblasst irgendwann und du erinnerst dich nur noch an die schönen Momente. «
Aidamee verzog den Mund zu einem zweifelnden Lächeln und atmete noch einmal tief durch. Auch wenn sie wusste dass Baba Recht hatte, glauben konnte sie es jetzt noch nicht.
Von nun an schweigend tranken sie ihren Tee und Aida erhob sich als die Tasse leer war.
» Ich gehe nach oben und leg mich ein wenig hin. «
» Das ist eine sehr gute Idee. Ruh dich aus, danach sieht die Welt gleich weniger düster aus. «
Aidamee nickte kraftlos und verließ die Küche.

* * *




So gingen die Tage dahin. Aidamee zwang sich zu arbeiten und ihr Patenonkel saß täglich mehrere Stunden im Büro ihrer Mutter, um alle Papiere durchzusehen. Auch kümmerte er sich um die finanziellen Angelegenheiten, denn damit war sie momentan überfordert. Diese Dinge hatte immer ihre Mutter erledigt.
Aidamee atmete tief durch und reckte sich. Auch der 2. Ring war nun fertig und steckte neben dem anderen in einer kleinen, mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Leder Box.
Sie stand auf und straffte sich, ging hinüber zum Fester und sah in den Garten. Das Wetter war trübe, dicke Wolken zogen über den Himmel und ab und an regnete es. Doch das war ihr egal, das Wetter passte zu ihrer Stimmung.
Es war so ruhig im Haus, das Lachen ihrer Mutter fehlte ihr. Seit ihrem Tod hatte sie die erste Etage gemieden, doch sie wusste auch, dass dies keine Lösung war. Ihre Mutter kam nun mal nicht zurück, so sehr sie es sich auch wünschen würde.
» Aidamee, hast du mal einen Moment? «
Burkhard stand in der Tür ihres kleinen Ateliers.
» Komm doch bitte mit hinunter ins Büro. «
Aida nickte und folgte ihm in die erste Etage. Sie fühlte sich unbehaglich als sie den Gang entlang der Zimmer ihrer Mutter auf deren Büro zu steuerten.
Als sie den hellen freundlichen Raum betraten, hatte sie plötzlich das letzte Bild im Kopf, ihre Mutter am Schreibtisch, vertieft in ihre Korrespondenz. Aida schluckte die Tränen herunter und biss die Zähne aufeinander. Burkhard wies auf die kleine gemütliche Sofaecke und Aida setzte sich.
» Ich habe alles erledigt. Die Papiere sind geordnet und alle Rechnungen bezahlt. Du bist nun eine sehr wohlhabende junge Frau. «
Aidamee lächelte schwach und sah ihren Patenonkel an.
» Danke Onkel Burkhard. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das alles ohne dich geschafft hätte. «
» Aber das war doch selbstverständlich. Zögere nicht mich anzurufen wenn du Hilfe brauchst. «
Er erhob sich und verabschiedete sich von ihr, nahm sie noch einmal in den Arm und verließ dann das Büro. Unten hörte sie dann noch schwach wie er sich auch von Barbara verabschiedete und das Haus verließ. Aidamee hatte sich wieder in eines der Ledersofas fallen lassen und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Alles hier war ihr so vertraut und doch fühlte es sich irgendwie fremd an. Ob es auch in den privaten Räumen ihrer Mutter so war? Oder würde sie sie dort mehr spüren als hier?
Langsam erhob sie sich und verließ das Büro. Auf dem Gang war ihr Schritt verhalten und als sie das Wohnzimmer ihrer Mutter betrat, kam sie sich fast wie ein Eindringling vor. Sie sollte nicht hier sein sagte ihr ihr Gefühl und doch betrat sie den Raum. Früher empfing sie immer die anheimelnde Wärme, die ihre Mutter ausstrahlte. Sie hatte gehofft sie wieder zu spüren, doch es war nicht so. Der Raum war hell und freundlich und alles hier erinnerte sie an die einstige Bewohnerin. Doch es fehlte irgendwie die Seele. Langsam ging sie durch den Raum, berührte Dies und Jenes und Erinnerungen kamen hoch in ihr. Die beiden Flügel der Schlafzimmertür waren weit geöffnet und Aida trat vorsichtig ein. Alles war noch so wie ihre Mutter es verlassen hatte. Auf dem Kopfkissen lag fein säuberlich zusammen gelegt ihr Spitzennachthemd, auf dem kleinen Tischchen daneben ein Buch, in dem sie wohl noch am Abend vor ihrem Tod gelesen hatte. Vor dem großen Fenster stand ein alter Ohrensessel, den ihre Mutter so geliebt hatte und daneben ein kleines Tischchen, auf dem immer eine Kanne Tee stand, wenn sie sich mit einem Buch dort zurückgezogen hatte. Aidamee atmete tief durch, setzte sich in den Sessel und schloss die Augen. Sie spürte ihre Erschöpfung, die letzten Wochen waren hart gewesen und irgendwie musste sie eingeschlafen sein. Als sie hoch schreckte, musste sie sich erst einmal orientieren, wo sie sich befand. Ihr Blick fiel auf das Ankleidezimmer ihrer Mutter und langsam schälte sie sich aus dem bequemen Sessel. Als sie eintrat empfingen sie prall gefüllte, Decken hohe Regale im Jugendstil, die ihre Mutter hatte anfertigen lassen. Ein kleiner Kronleuchter über einem Tischchen in der Mitte des Raumes verbreitete ein weiches Licht. Dahinter ein geschwungenes Sofa, auf dem eines der Kostüme ihrer Mutter lag. Einer der geschlossenen Schränke stand offen und eine schmale Schmucklade war noch heraus gezogen. Dieser Schrank war immer verschlossen, solange Aida denken konnte und man sah, dass ihre Mutter sehr eilig aufgebrochen war. Aidamee schob sie vorsichtig zurück und wollte die Türen gerade schließen, als ihr Blick auf eine verzierte Holztruhe fiel, die sie noch nie gesehen hatte. Neugierig geworden bückte sie sich, ergriff die beiden geschmiedeten Tragegriffe und stellte mit Erstaunen fest, wie schwer diese kleine Truhe war. Was hatte ihre Mutter hierin wohl verstaut?
Als Aida sie öffnen wollte stellte sie fest, dass sie verschlossen war. Etwas ratlos sah sie sich um. Und warum war sie verschlossen? Wo mochte der Schlüssel sein? Vielleicht in einer der Schmuckladen?
Nacheinander zog sie sie auf und schob sie wieder zurück, bis sie ihn sah. Ganz hinten, versteckt unter einigen Ketten, sah sie ihn hervor blitzen. Voller Spannung nahm sie ihn und führte ihn in das kleine Schloss an der Vorderseite der Truhe. Er passte und Aida klappte den Deckel hoch. Sie staute als sie den Inhalt sah. Es waren Bücher, alle mit dem Rücken nach oben und auf Jedem stand eine Jahreszahl. Es waren 20 Bücher von 1992 bis 2012. Sie zog das Buch mit der Jahreszahl 1992 heraus, schlug es auf und blätterte kurz durch. So wie es aussah, war sie auf die Tagebücher ihrer Mutter gestoßen. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter überhaupt Tagebücher schrieb. Aidamee war hin und her gerissen. Dies war das Intimste ihrer Mutter, durfte sie diese Bücher lesen? Ihre Mutter musste einen Grund gehabt haben sie so sicher zu verstauen. Doch ihre Neugier gewann die Oberhand und Aida schleppte die Truhe hinüber ins Schlafzimmer vor den Ohrensessel.
Dann setzte sie sich hinein und öffnete das erste Tagebuch. Die Seiten waren gefüllt mit der schönen Schrift ihrer Mutter und Aida begann zu lesen.

Wie soll ich beginnen? Wie schreibt man ein Tagebuch? Ich weiß es nicht und es ist im Grunde ja auch völlig egal. Ich muss einfach aufschreiben was mich bewegt, sonst verliere ich den Verstand.
Zuerst einmal muss ich ein wenig ausholen.

Vivien eröffnete mir Anfang letzten Jahres, dass sie sich unsterblich verliebt hatte und diesen Mann heiraten wollte. Natürlich war ich alarmiert, es wäre ja nicht das erste Mal das sich ein Heiratsschwindler an eine vermögende junge Frau hängte. Doch als sie ihn mir dann vorstellte, verflogen meine Bedenken sofort. Er war ein beeindruckender Mann, mindestens zwei Meter groß mit blondem, ja fast schon weißem dickem Haar und diesen blass grünen Augen, die mich sofort faszinierten. Er hatte vollendete Umgangsformen und strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, gepaart mit der Reife und Autorität, die man nur von Menschen kennt, die viel Verantwortung tragen. Von Herrschern zum Beispiel.
Ich weiß, dies klingt lächerlich, aber so war nun mal mein erster Eindruck von ihm. Sandor war ein ausgesprochen gut aussehender Mann, schien sich dessen aber gar nicht bewusst zu sein.
An jeder seiner Geste und vor allem an den Blicken, mit denen er Vivien bedachte, erkannte ich seine große Liebe zu ihr.
Die Hochzeit der Beiden fand sechs Monate später hier in Kairo statt. Vivien und ich leben hier seit einem Jahr, da ich eine Auftragsarbeit für einen Kunstliebhaber in Kairo angenommen habe, die mich noch mindestens zwei Jahre hier festhalten wird. Vivien wollte mich unbedingt begleiten, denn sie liebte das Land und die Menschen hier ebenso wie ich.
Dann verschwand Sandor und von Vivien erfuhr ich, dass sein Vater gestorben sei und er sofort abreisen musste. Sie stand mit ihm in Kontakt, doch ich bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Egal was ich versuchte, es war nichts aus ihr heraus zu bekommen. Sie veränderte sich und ich war in großer Sorge, bis sie mir dann eröffnete, dass sie schwanger sei. War dies etwa der Grund für das Verschwinden ihres Mannes? Sollte ich mich so in ihm getäuscht haben? Ich konnte und wollte es einfach nicht glauben.
Obwohl bereits fünf Monate ins Land gegangen waren, tauchte Sandor nicht auf. Vivien wich diesem Thema immer aus, egal wann ich es anschnitt.
Als sie im 7. Monat war, flog sie für ein paar Tage nach Hamburg, wollte mir aber partout nicht sagen warum. Ich verstand meine Tochter einfach nicht mehr.

Aidamee schaute auf.
„ Tochter? Mama hat noch eine Tochter? „
Ihre Gedanken sprangen in ihrem Kopf herum wie Flummibälle.
„ Warum hat sie mir nie gesagt, dass ich eine Schwester habe? „ dachte sie völlig durcheinander und vertiefte sich wieder beunruhigt in das Tagebuch.

Als sie dann wieder zurückkam, schien sie erleichtert zu sein, doch gesundheitlich ging es ihr nicht so gut. Die Schwangerschaft setzte ihr sehr zu. Sie war blass und ständig erschöpft. Die Ärzte verordneten absolute Ruhe, da das Baby sehr groß sei und eine Belastung für die Mutter war.
Einen Monat vor dem Geburtstermin setzten dann die Wehen ein. Es war mitten in der Nacht und Vivien litt mehr als es normalerweise der Fall sein sollte. Es ging ihr sehr schlecht und ich war außer mir vor Sorge.
Sie starb während der Geburt an Nierenversagen, die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Mit einem Notkaiserschnitt retteten sie wenigstens ihre kleine Tochter.
Ich war völlig betäubt vor Schmerz, bin es eigentlich immer noch. Und unglaublich wütend. Wo war Sandor als Vivien ihn brauchte?
Die Kleine ist das zauberhafteste Kind das ich je gesehen habe. Die gleichen weißblonden Haare wie ihr Vater und ebenso diese blass grünen Augen. Mit einem Geburtsgewicht von fast 8000g war sie so groß wie normalerweise ein Kind von 3 Monaten. Auch hatte sie ein komplettes Gebiss, was die Ärzte sehr erstaunte.
Als ich sie das erste Mal in den Armen hielt, öffnete sie die Augen und sah mich an. Dieser Blick ging mir durch und durch, er war so... wissend, so ganz anders als es normalerweise bei einem gerade geboren Kind ist. Ich wusste sofort, dass ich dieses Kind nie wieder hergeben würde. Ich hatte zwar meine Tochter verloren, doch das Schicksal hat mich mit einem kleinen Wesen beschenkt, dass all meine Fürsorge und Liebe brauchte. Und etwas von Vivien war in ihr, das spürte ich.
Als man mir die persönlichen Sachen von Vivien bei der Entlassung der Kleinen aushändigte, war ein Brief von Vivien dabei, an mich gerichtet. Es waren nur ein paar Zeilen, in denen sie mich bat ihre Tochter Aidamee zu nennen und das sie eine Kiste für mich bei Burkhard hinterlassen hätte. Noch immer spüre ich das Entsetzen, das mich durchfuhr, als mir klar wurde, das Vivien ihren nahen Tod gespürt haben musste.
Ich erfüllte ihren letzten Wunsch und reiste mit meiner kleinen Aidamee nach Hamburg zurück.


Aidamee war wie erstarrt. Wieder und wieder las sie die letzten Zeilen und ließ das Buch in ihren Schoß sinken. Ihre Mutter war gar nicht ihre Mutter, sie war ihre Großmutter. Ihr Herz schlug so hart gegen ihre Rippen, als wollte es aus der Brust springen. Eiseskälte erfasste sie und in ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos.
Warum hatte sie ihr nie etwas gesagt? Was war aus ihrem Vater geworden? Warum hatte er sich nicht um sie gekümmert? Hatte er sie nicht gewollt?
„ Sie hat mich belogen, all die Jahre. Warum nur hat sie das getan? „ dachte sie enttäuscht und zutiefst verletzt.
„ Wie konnte sie mir das nur antun? „
Aidamee schlug das Tagebuch zu und warf es in die Kiste zurück, die ihr plötzlich wie ein Feind vorkam, der ihr Leben zerstören wollte. Sie starrte sie an und in ihrem Kopf war nur eine Frage, „ Warum! „
Das eben Erfahrene war einfach zu viel für die junge Frau. Ohne die Truhe eines weiteren Blickes zu würdigen stand sie auf und verließ den Raum. Auf der Treppe in ihre Etage stockte sie plötzlich, drehte auf dem Absatz um und lief hinunter ins Erdgeschoss. Ein plötzlicher Gedanke hatte von ihr Besitz ergriffen und sie musste sich sofort Gewissheit verschaffen,
Hatte Baba davon gewusst? Hatte auch sie sie die ganzen Jahre belogen? Während sie auf dem Weg in die Küche war, schnürte ihr Angst die Kehle zu.
„ Bitte nicht auch noch Baba. „ dachte sie pausenlos wie ein Mantra.
Als sie die Küche betrat, war Barbara gerade dabei den Geschirrspüler auszuräumen und bemerkte sie nicht sofort. Aidamee schluckte, denn sie fürchtete sich vor der Antwort.
» Baba? «
Die Angesprochene fuhr erschrocken herum, griff sich ans Herz und wollte gerade etwas sagen, als sie das bleiche Gesicht von Aidamee sah.
» Mein Gott Kind, was ist passiert? Du siehst ja zum Fürchten aus. «
Schnell zog sie einen Stuhl herbei und nötigte die junge Frau sich zu setzen.
Aida schluckte und sah Barbara an.
» Sei ehrlich Baba. Hast du gewusst, dass Mama meine Oma ist und mich adoptiert hat? Dass ich die Tochter ihrer Tochter Vivien bin, die bei meiner Geburt gestorben ist? «
Barbara sah Aida an, als hätte sie chinesisch mit ihr gesprochen. Im ersten Moment erfasste sie überhaupt nicht den Sinn des Gesagten. Langsam, ganz langsam tröpfelte es aber in ihr Hirn und ihre Augen weiteten sich.
» Aber was erzählst du denn da Kind? Woher hast du denn diesen Blödsinn? «
» Diesen „Blödsinn“ habe ich aus dem Tagebuch meiner Mutter.. Oma.. Ich verliere noch den Verstand. «
Barbara schüttelte langsam den Kopf, man sah ihr an, dass sie versuchte einzuordnen, was Aida ihr da eben erzählt hatte.
Erleichtert atmete Aidamee aus, Barbara war genauso ahnungslos wie sie.
» Aber das verstehe ich nicht. Vivien starb doch in Ägypten an Malaria, zumindest hatte deine Mutter es mir so erzählt. Und sie war über ein Jahr dort, kam dann mit dir wieder zurück und sagte, du wärst ihre Tochter. Warum hätte ich daran zweifeln sollen? «
» Ist schon gut Baba, ich bin so froh dass du es nicht wusstest. Noch eine Enttäuschung hätte ich nicht ertragen. «
» Mein Gott, Kind, du hast es wahrlich nicht leicht im Moment. Aber du weißt, deine Mutter hat dich geliebt. Sehr sogar. Daran gibt es keinen Zweifel. «
Barbara tätschelte Aidas Hand und sah ihr in die Augen. Mit einem tiefen Seufzer nickte Aidamee und rieb sich dann mit der freien Hand über die Stirn, als könnte sie die Gedanken weg wischen, die sie so sehr belasteten.
Dann erzählte sie, was sie in dem Tagebuch ihrer Mutter gelesen hatte und merkte, dass es ihr half sich alles von der Seele zu reden.
Barbara erhob sich und füllte den Wasserkocher.
» Rede nur weiter, ich hör dir zu und koch uns erst mal Tee. «
Und Aida redete und redete, bis sie das Gefühl hatte innerlich leer zu sein. Der Druck, den sie verspürte, war weg. Erleichtert atmete sie mehrmals durch und griff zur Tasse, die Barbara ihr wortlos hin schob.
» Was willst du nun tun? «
Aida dachte nach und ihr wurde schnell klar, dass sie nun alles wissen wollte.
» Ich werde alle Tagebücher lesen. Und Mama hatte eine Kiste erwähnt, die meine Mutter bei Onkel Burkhard für sie abgegeben hatte. Sie muss hier irgendwo im Haus sein. Weißt du etwas davon? Hast du sie vielleicht irgendwo gesehen? «
Barbara kräuselte die Lippen. Das tat sie immer wenn sie angestrengt nachdachte und schüttelte dann den Kopf.
» Nein, ich kann mich an nichts Dergleichen erinnern. Du wirst sie sicher in den Räumen deiner Mutter finden, denke ich. Soll ich dir vielleicht beim Suchen helfen? «
» Ja, sehr gern. Morgen nach dem Frühstück? Ich werde gleich ins Bett gehen und weiter lesen. «
Barbara nickte zustimmend und Aidamee verabschiedete sich, ging dann hinauf ins Schlafzimmer ihrer Mutter und schleppte die Truhe hinauf in ihr eigenes Schlafzimmer. Mit dem Tagebuch in der Hand kroch sie aufs Bett, stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken, atmete tief durch und schlug das Buch auf.

Burkhard hat sich wieder einmal als wahrer Freund erwiesen. Er ließ seine Beziehungen spielen und kam schon drei Tage später zu mir und überreichte mir die Adoptionspapiere. Er ist ganz vernarrt in die Kleine und hat sofort angeboten ihr Patenonkel zu werden. Auch Barbara, die gute Seele, ist ganz närrisch vor Freude. Ständig schleicht sie um das Bettchen herum und hat dabei so ein Strahlen im Gesicht. Ein paar Mal habe ich sie dabei beobachtet, wie sie der Kleinen leise Lieder vorsang und ich glaube, Aidamee mag ihren Gesang. Sie schlief dann immer ruhig wie ein kleiner Engel.


Über Aidamees Gesicht huschte ein Lächeln. Ja, Baba hatte ihr immer vorgesungen, auch später als sie schon älter war. Und ihre Geschichten und Märchen, die sie ihr erzählte, hatte sie geliebt. Baba hatte eine so warme beruhigende Stimme, die ihr noch heute half ruhiger zu werden, wenn es ihr mal nicht so gut ging.
Als sie weiter las, bemerkte sie, dass die Schrift ihrer Mutter sich verändert hatte. Sie war fast unordentlich, so als hätte sie in großer Aufregung geschrieben. Sofort spannte sich alles in ihr an und sie las beunruhigt weiter.


Heute habe ich die kleine Kiste abgeholt, die Vivien bei Burkhard für mich abgegeben hatte. Ich bin noch immer voller Entsetzen und weiß nicht, ob sich dies jemals wieder legen wird.
Als ich die Kiste öffnete, enthielt sie zwei dicke Briefe. Einer war an mich gerichtet, der Andere an Aidamee. Darunter waren zwei weitere kleine Kästchen, eines enthielt einen schwarzen glänzenden Gegenstand, der wie ein flaches großes Ei aussah. Es ist aus einem Material dass ich nicht kenne, ähnlich wie Stein, aber leicht wie eine Feder. Auf der Oberfläche ist ein Symbol eingraviert, das meinen Atem zum Stocken brachte. Ein ineinander verschlungener goldener Reif, der mir so bekannt vorkam. Ich bin sofort ins Zimmer von Aidamee geeilt und habe die rechte Hand der Kleinen ergriffen, die so friedlich schlief. Mein Herz schlug mir bis zum Halse als ich sie öffnete und das gleiche Zeichen blass blau, kaum sichtbar darin entdeckte. Über der Handfläche, am Unterarm, hat die Kleine noch drei winzig kleine blass blaue Punkte, die in exakten Abständen übereinander angeordnet sind.


Aidamee schluckte, legte das Buch zur Seite und öffnete ihre rechte Hand. Die winzigen Punkte an ihrem Unterarm waren mittlerweile etwa Linsen groß und hatten eine zarte blaue Farbe, ebenso wie die verschlungene Ader in ihrer Handfläche, die die Größe einer Euromünze hatte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, es wäre eine Anomalie, eine Ader hätte sich verdreht und die Punkte wären Ausbuchtungen einer Vene. Aidamee hatte nie weiter darüber nachgedacht. Was hatte es damit auf sich?
Schnell nahm sie das Tagebuch wieder in die Hand und las weiter.

Im 2. Kästchen lagen nebeneinander auf schwarzem Samt drei Kristalle. Sie haben die Form von Obelisken und schimmern in sattem Glanz. Einer ist weiß und durchsichtig wie Eis, der zweite sieht aus wie schwarzes Glas, in dem eine weiße Wolke eingefroren ist. Der dritte von ihnen ist blass grün, ebenso wie Aidamees Augen.
In dem kleinen Beutel verbarg sich eine Kette, an dem ein kleiner verschlungener Reif hing. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aus welchem Material beides gefertigt wurde. Es schimmert wie Gold, fühlt sich aber an wie Porzellan und ist dabei leicht wie eine Feder. Eine wundervolle Arbeit.
Zuerst einmal war ich fasziniert von all den Objekten und habe sie mir genau betrachtet. Bis ich den Brief las. Eiseskälte kroch mir beim Lesen durch die Finger, die Arme hinauf, bis in mein Herz. Hätte ich nicht schon gesessen, hätte es mir die Beine weg gerissen. In meinem ganzen Leben hat mich noch niemals ein solches Entsetzen erfasst. Wie nur kann es sein, dass ich nichts davon gespürt oder erahnt habe? Ich bin so fassungslos, das mir einfach die Worte fehlen, um ausdrücken zu können wie ich mich fühle.
Ich muss das Kind beschützen, niemals darf sie die Wahrheit erfahren. NIEMALS!!!

 

* * *




Burkhard von Breese saß in seinem Wohnzimmer, neben sich eine Flasche Rotwein, die schon fast geleert war. Nervös drückte er die Zigarette in dem bereits vollen Aschenbecher aus und trommelte dann mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Normalerweise ging er verantwortlich mit Genussmitteln um, doch seit Tagen quälten ihn Gewissensbisse und eine Frage, die ihn ständig beschäftigte, ließ ihn nicht mehr los.
Mit fahrigen Fingern griff er erneut zur Schachtel und zündete sich eine weitere Zigarette an, tat einen tiefen Zug, legte den Kopf zurück und blies den Rauch geräuschvoll aus.
Was sollte er tun? Er befand sich in einer echten Zwickmühle.
Die verzierte kleine Kiste, die Vivien damals bei ihm für Christina zur Aufbewahrung hinterlegt hatte, stand neben ihm auf den Tisch. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr und er fragte sich bestimmt zum tausendsten Mal, was sie so Schreckliches enthielt.
Als er sie Christina nach Viviens Tod ausgehändigt hatte, stand diese am nächsten Tag wieder vor seiner Tür, völlig außer sich und leichenblass. Sie hatte ihm die Kiste in die Hand gedrückt und ihm das Versprechen abgenommen, das Aidamee sie niemals in die Finger bekommen würde. Er sollte sie verschwinden lassen, möglichst so, dass sie nie wieder auffindbar wäre.
Erst als er es versprochen hatte wurde Christine ruhiger. Doch sie war nicht dazu zu bewegen ihm zu sagen, was sie so sehr erschreckt hatte, nur dass der Inhalt von ihrem Vater stammte. Dies erstaunte ihn doch sehr, denn normalerweise vertraute sie ihm alles an. Nach diesem Tag hatten sie nie wieder über die kleine Kiste gesprochen.
Burkhard hatte sie wirklich entsorgen wollen, hatte es aber schlichtweg einfach vergessen. Seit fast 20 Jahren fristete sie nun schon ihr Dasein in einem alten Schrank in der hintersten Ecke seines Kellers.
Bis Christina starb.
Als er sich um Aidamees Nachlass kümmerte fiel sie ihm wieder ein und er holte sie aus ihrem verstaubten Versteck. Rein rechtlich müsste er ihr nun diese Kiste aushändigen, denn sie war Erbin ihrer Mutter. Andererseits hatte er Christina versprochen, dass Aidamee sie niemals zu Gesicht bekommen würde.
Mit einem tiefen Seufzen griff er zum Weinglas und trank es in einem Zuge leer.
Resigniert erhob er sich dann, denn im Moment kam er zu keinem Ergebnis und auch der Wein stieg ihm langsam zu Kopfe. Nun würde er erst einmal noch eine Nacht darüber schlafen und später entscheiden was zu tun war.

* * *




Aidamee war geschockt. Sie ließ das Tagebuch sinken und starrte die Wand an. Was hatte das alles zu bedeuten?
Ihre Augen brannten vom Lesen und der Müdigkeit, ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt.
Mit beiden Händen rieb sie über Augen und Gesicht und massierte dann ihren Nasenrücken, um den Druck im Kopf zu mildern. Obwohl sie spürte, dass sie kaum noch aufnahmefähig war konnte sie sich nicht von den Aufzeichnungen ihrer Mutter los reißen, ergriff erneut das Tagebuch und las weiter.

Ich muss diese Kiste loswerden. Am besten sie wird vernichtet. Ich werde Burkhard bitten es zu tun, damit ich im Fall der Fälle wirklich nichts über deren Verbleib weiß.
Einerseits wünschte ich diese Kiste niemals erhalten zu haben, andererseits bin ich froh, denn nun bin ich im Ernstfall vorbereitet und kann meinen kleinen Liebling beschützen. Worauf hatte sich Vivien da nur eingelassen.
Ich kann und werde niemals ihrem Wunsch nachkommen, das tue ich dem Kind nicht an. Sie gehört nun mir, mir allein. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun um sie von ihrem Vater fern zu halten.



Die Buchstaben verschwammen vor Aidas Augen und sie rieb erneut darüber. Vor Überanstrengung begannen sie schon zu tränen. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte ihr auch warum, es war bereits 3.50 Uhr. Sie zwang sich weiter zu lesen, erfuhr aber nichts Bedeutendes mehr, was ihr irgendwie weiter half.
Also entschloss sie sich das Tagebuch zur Seite zu legen und erst einmal zu schlafen. Morgen früh würde sie zu Onkel Burkhard fahren und ihn bitten ihr zu sagen, was er über den Verbleib der kleinen Kiste ihrer Mutter wusste.
Schnell löschte sie das Licht und rollte sich in ihrem Bett zusammen, die Beine angezogen und das Kopfkissen fest an ihre Brust gedrückt.

* * *




Als sie am nächsten Tag erwachte fühlte sie sich wie erschlagen. Sie hatte sehr schlecht und unruhig geschlafen. Mit einem Blick auf den Wecker quälte sie sich aus dem Bett und wankte ins Bad. Es war schon nach 9 Uhr und sie wollte noch vor dem Mittag zu ihrem Patenonkel. Um in Schwung zu kommen gab es nur die harte Tour. Schnell schlüpfte sie aus ihrem Schlafanzug, stellte sich in die Dusche und riss den Hebel der Armatur in der kältesten Stellung voll auf. Der Schock des eisigen Wassers ließ sie kurz aufschreien und mit schnappender Atmung hielt sie es dann noch ein paar Sekunden aus. Prustend und bibbernd sprang sie aus der Dusche und griff zum Handtuch, trocknete sich in Windeseile ab und entspannte sich dann langsam. Wach war sie nun, ihr ganzer Körper kribbelte noch von dem Adrenalinschock. Mit einem kurzen Blick in den Spiegel entschied sie sich heute Morgen auf Schminke zu verzichten, die sie sonst ja eher sparsam verwendete. Zähneputzen musste heute Morgen reichen.
Als sie fertig angezogen in der Küche erschien, erwartete Barbara sie bereits mit dem Frühstück.
» Da bist du ja Kind. Hast du einigermaßen gut geschlafen? «
Ihr freundliches Lächeln tat gut und Aidamee setzte sich an den gedeckten Tisch.
» Na ja, geht so. «
» Dann stärke dich erst einmal. Möchtest du Kaffee? «
Aidamee nickte und griff zu einem Brötchen, die Barbara kurz zuvor frisch gebacken hatte und schaufelte sich einen Löffel der selbst gemachten Rhabarber Marmelade darauf.
» Dann können wir ja gleich mit der Suche beginnen. « sagte Barbara und stellte ihr die Tasse mit dem frischen Kaffee eben ihren Teller.
» Das brauchen wir nicht, die Kiste ist bei Onkel Burkhard, zumindest hoffe ich dass sie dort noch ist. Ich fahre gleich zu ihm. Mama wollte sie unbedingt wieder aus dem Haus haben. «
» Ach so? « entgegnete Barbara erstaunt, registrierte aber auch den angespannten Tonfall von Aidamee. Doch sie wollte nicht weiter nachfragen, wenn das Mädchen ihr etwas erzählen wollte, würde sie es schon tun.
Nach einer Brötchenhälfte war Aida satt und erhob sich.
» Aber Kind, du hast ja noch gar nichts gegessen. «
» Tut mir leid, Baba, aber ich bekomme nichts mehr herunter. Danke für das Frühstück. «
Der besorgte Blick von Barbara entging Aidamee nicht und sie nahm die Haushälterin kurz in den Arm.
» Es ist alles in Ordnung. Mach dir bitte keine Sorgen. «
Dann verließ sie schnell die Küche, angelte ihren Wagenschlüssel vom Haken und schlüpfte in eine leichte Jacke. Draußen war es mal wieder trübe und der Himmel ließ vermuten, dass es heute sicherlich noch regnen würde.
In der Garage empfing sie ihr neuer carreraweisser Porsche Boxster S und mit Bedauern dachte sie daran, dass sie ihn noch nicht einmal offen fahren konnte. Bei diesem Wetter wäre es auch alles andere als ein Vergnügen. Nachdem sie sich hinter das Steuer geschwungen und ihn gestartet hatte, trat sie kurz aufs Gaspedal. Die 315 PS ihres 981 brüllten ihr freudig entgegen und Aidamee schloss verzückt die Augen. Sie liebte diesen Wagen und hatte vor dem Kauf einige Kämpfe mit ihrer Mutter auszufechten, die der Meinung war, einige PS weniger wäre auch genug. Aber sie hatte sich durchgesetzt und seit 4 Monaten stand dieses Schmuckstück nun in ihrer Garage. Nachdem sie das Licht eingeschaltet hatte rollte sie langsam aus der Garage und bog in die Poppenbüttler Landstraße ein.
Als sie in Niendorf angekommen war, bemerkte sie sofort die leere offene Garage ihres Patenonkels und ärgerte sich, dass sie nicht vorher angerufen hatte.
„ Hoffentlich ist er nicht zu lange unterwegs. „ dachte sie voller Hoffnung und stieg aus dem Wagen.
» Hallo Frau Schuster. « begrüßte Aidamee die Haushälterin ihres Patenonkels.
» Onkel Burkhard ist nicht da, oder? «
» Nein Fräulein von Göbel, er ist heute schon sehr früh abgereist. «
» Abgereist? Aber wohin denn? Und wann kommt er wieder? «
Aidamee war mehr als nur erstaunt, ihr Patenonkel hatte nichts von irgendwelchen Reiseplänen erwähnt. Sie atmete tief durch und runzelte die Stirn.
» Tut mir aufrichtig leid, Fräulein von Göbel, ich kann ihnen da wirklich nicht weiterhelfen, selbst wenn ich wollte. Er hat mich nicht in seine Reisepläne eingeweiht. «
Aidamee nickte und verabschiedete sich dann. Auf dem Weg zu ihrem Wagen nestelte sie ihr Handy aus der Jackentasche und drückte auf die Kurzwahltaste.
» Verflixt.... nur die Mailbox. « murmelte sie ärgerlich und wartete bis die Ansage beendet war.
» Onkel Burkhard? Wo steckst du? Bitte ruf mich an wenn du deine Box abgehört hast. Es ist dringend. «
Dann öffnete sie den Wagen, warf das Handy auf den Beifahrersitz und stieg ein. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Warum war Onkel Burkhard so plötzlich verreist? Er war ihr natürlich keinerlei Rechenschaft schuldig, doch ungewöhnlich war das schon. Er hatte ihr gesagt, sie könne ihn jederzeit um Hilfe bitten und nun war er einfach verreist.
Es hatte angefangen zu regnen und die Wischer schaufelten unermüdlich das Wasser von der Frontscheibe. Der Motor röhrte begierig unter der Haube und normalerweise beruhigte sie dieses Geräusch. Doch heute tat es dies nicht, sie war viel zu angespannt. Als sie nach dem Handy angelte um nachzusehen, ob sie vielleicht schon eine SMS bekommen hatte, knallte es plötzlich und sie wurde heftig in den Gurt gepresst. Erschrocken und im ersten Moment total verwirrt starrte sie auf den vor ihr stehenden Audi, auf den sie an der Ampel aufgefahren war.
» Verdammt, auch das noch. «
Ungehalten schlug sie mit der Hand auf das Lenkrad und sah, wie sich die Fahrertür des Audis öffnete und ein etwa 30 jähriger Mann ausstieg und auf sie zukam. Aidamee stöhnte kurz auf, öffnete dann die Tür und stieg aus. Der Fahrer des anderen Wagens verhielt kurz im Schritt und Erstaunen malte sich in sein Gesicht. Aidamee kannte diesen Blick. Sie war 1.92m groß und der Fremde hatte exakt die gleiche Höhe wie sie.
» Es tut mir furchtbar leid. Ich war in Gedanken und habe wohl nicht auf den Verkehr geachtet. Selbstverständlich komme ich für die Reparaturkosten an ihrem Wagen auf. «
Zuerst einmal herrschte Stille, der Audi Fahrer starrte sie nur an und besann sich dann.
» so viel ist ja nicht passiert. Nichts, was sich nicht wieder richten ließe. « sagte er mit einem Anflug eines Lächelns und bückte sich, um sich das Malheur anzusehen.
» Na sie haben Nerven. « erwiderte Aidamee gequält und betrachtete sein Profil. Er sah gut aus, blondes kurzes Haar, ein schlanker athletischer Körper, lange Beine und der Hintern, den er ihr gerade entgegen streckte, war einfach nur zum Anbeißen. Aidamee schluckte und als er sich wieder aufrichtete und sie mit seinen stahlblauen Augen ansah, spürte sie wie ihre Wangen heiß wurden.
» Ich bin übrigens Eric Stetten. Jammerschade um ihren schönen Wagen. «
Um seine Augen bildeten sich kleine Lachfältchen, während sich seine Lippen schelmisch verzogen.
Aidamee verdrehte die Augen und atmete einmal tief durch.
» Nun ja, das habe ich mir wohl selbst zuzuschreiben. Aber sie haben durchaus Recht. Ich bin übrigens Aidamee von Göbel. «
Sie ergriff die dargebotene Hand und sah ihn lächelnd an. Bevor sie noch etwas sagen konnte, öffnete sich die Beifahrertür des Audis und eine schwarzhaarige junge Frau entstieg ihr formvollendet. Sie sah den Schaden und schüttelte den Kopf.
» Können sie nicht aufpassen? Oder haben sie keine Augen im Kopf? «
Aidamee zog die Brauen ein wenig in die Höhe und sah sich das Püppchen ein wenig genauer an.
Ihre Stimme war ein wenig zu schrill, Augen und Lippen ein wenig zu stark geschminkt, ihre Körpersprache etwas zu affektiert und ihre Kleidung ein wenig zu sexy. Aber ihre Figur war atemberaubend, das musste sie ihr lassen.
» Bitte Chantal, steig wieder ein. Ich regle das hier schon. «
Eric Stetten war anzusehen, dass ihm der Auftritt seiner Begleitung etwas peinlich war. Die zog sich leicht schmollend zurück und stieg hoch erhobenen Hauptes wieder in den Wagen.
» Tut mir leid. «
Eric verzog entschuldigend das Gesicht und lächelte etwas verlegen.
» Nein, nein, es ist schon in Ordnung. Ihre Freundin hat ja durchaus Recht. «
» Chantal ist nicht meine Freundin, sie ist meine Sekretärin. « beeilte sich Eric Stetten die Sachlage richtig zu stellen und Aidamee registrierte erstaunt, dass sie erleichtert war.
Infernalisches Gehupe riss die Beiden aus ihrer Konversation und Eric griff in seine Innentasche, zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie Aidamee.
» Bitte rufen sie mich an, dann können wir die Schadensregulierung klären. Ich denke wir sollten langsam die Kreuzung räumen. « sagte er mit einem Blick auf die genervten Fahrer, denen sie die freie Fahrt versperrten.
» Sie haben Recht. Nicht dass wir noch für einige Herzinfarkte verantwortlich gemacht werden. Ich rufe sie heute Abend an. «
Eric nickte ihr noch einmal zu, stieg dann in seinen Wagen und fuhr davon. Aidamee warf sich ebenfalls in ihren Sitz und beschloss sofort in die Werkstatt zu fahren, da ihr Wagen doch sehr in Mitleidenschaft gezogen war.
Im Porsche Zentrum Nedderfeld angekommen wurde sie sofort von dem Geschäftsführer begrüßt.
» Fräulein von Göbel. Welch eine Freude sie zu sehen. Was kann ich für sie tun? Darf ich ihnen zuerst einmal einen Kaffee anbieten? «
» Sehr gern Herr Tiedgen, obwohl.... ein doppelter Cognac wäre mir jetzt lieber, nach dem Schreck. «
Der Geschäftsführer riss erstaunt die Augen auf und sah Aidamee an.
» Ich habe Arbeit für sie mitgebracht. Ich bin einem Mann etwas zu nahe gekommen, mit fatalen Folgen, fürchte ich. «
Aidamee verzog den Mund, verdrehte leicht die Augen und Herr Tiedgen verstand nun.
» Oh... wo steht der Patient? «
Mit einem Kopfnicken deutete sie auf den Parkplatz vor der Werkstatteinfahrt und folgte dem Geschäftsführer, der im Gehen seinem Werkstattleiter aufforderte ihm zu folgen.
Zu dritt erreichten sie den demolierten Wagen und der Werkstattleiter inspizierte mit geschultem Blick den Schaden.
» Da müssen wir leider eine neue Stoßstange montieren und auch der rechte Scheinwerfer muss erneuert werden. «
Dann öffnete er die Motorhaube und sah fachmännisch hinein.
» So wie ich das auf den ersten Blick sehe, ist nichts weiter in Mitleidenschaft gezogen worden, doch das endgültige Urteil kann ich mir natürlich erst bilden, wenn ich den Wagen auf der Bühne habe. «
Aidamee atmete erleichtert auf. Sie hatte schon befürchtet, dass der Schaden erheblicher sein würde.
» Möchten sie den Wagen gleich da lassen? Selbstverständlich stellen wir ihnen für die Zeit der Reparatur einen Ersatzwagen zur Verfügung. «
Aidamee überlegte nicht lange und sagte zu.

» Keine Sorge, ihr Wagen ist nach der Reparatur wie neu. « versicherte ihr Herr Tiedgen freundlich und hielt ihr den Schlüssel für das Ersatzfahrzeug hin.
Nachdem sie sich bedankt hatte bestieg sie den Leihporsche und fuhr dann zügig nachhause.

* * *




» Baba, beruhige dich. Es ist ja fast nichts passiert. « versuchte Aida die aufgelöste Frau zu beruhigen.
» Aida, du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt. «
» Ich weiß, tut mir leid. Ich werde in Zukunft aufmerksamer sein. Versprochen. «
Aidamee schaute nervös auf ihr Handy.
„ Immer noch keine Nachricht. „ dachte sie und atmete tief durch.
„ Wo steckt Onkel Burkhard nur? „
» Ich geh dann mal nach oben. « sagte sie, verließ die Küche und Barbara schaute ihr besorgt hinter her. Sie machte sich ernsthaft Sorgen um die junge Frau, die momentan so fahrig und unkonzentriert war. Nach den Ereignissen der letzten Wochen war das verständlich, sie hatte momentan wirklich viel zu verkraften. Mit einem tiefen Seufzer machte sie sich wieder an ihre Arbeit.
Nachdem Aida Eric Stetten angerufen und einen Termin für morgen verabredet hatte, warf sie sich auf ihr Sofa. Ihre Gedanken kreisten fast pausenlos um die kleine Kiste ihrer Mutter und um Burkhard, der einfach nicht erreichbar war. Sie war ungeduldig und wollte diese Kiste haben. Hoffentlich hatte ihr Patenonkel sie nicht vernichtet. Noch einmal sprach sie ihm aufs Band und bat um Rückruf und legte dann das Handy aufs Sofa.
Da sie im Moment nichts weiter ausrichten konnte, beschloss sie weiter in den Tagebüchern zu lesen. Entschlossen erhob sie sich und ging in ihr Schlafzimmer. Nachdem sie es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte, öffnete sie das Tagebuch und begann zu lesen. Die nächsten Seiten waren gefüllt mit Alltäglichkeiten. Wie sie sich entwickelte und ihrer ersten fiebrigen Erkältung, die ihre Mutter in helle Aufregung versetzte. Doch dann kam ein Eintrag, der Aidamee fassungslos machte.

Ich bebe noch immer. Heute stand Sandor vor der Tür. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, denn mit ihm habe ich nicht gerechnet. Wie denn auch?
Glücklicherweise hat Barbara Aidamee mitgenommen. Sie hat heute ihren freien Tag und wollte ihre Schwester in Rahlstedt besuchen. Da das Wetter so herrlich war wollte sie vorher einen ausgedehnten Spaziergang machen und die Kleine mitnehmen. Mir kam das sehr gelegen, so konnte ich mich in aller Ruhe um meine Plastik kümmern.
Ich war geschockt als Sandor plötzlich in meinem Atelier stand und nach Vivien fragte.
Er hätte immer wieder versucht sie zu erreichen und war dann nach Ägypten gereist. Als er uns dort nicht mehr angetroffen hatte, dachte er sich, dass wir zurück nach Hamburg gegangen seien.
Ich werde sein bestürztes Gesicht nie vergessen als ich ihm vom Tod Viviens erzählte. Sein Schmerz war echt, da bin ich mir sicher. Als er dann nach seinem Kind fragte, stieg Panik in mir auf, Angst er könnte mir das Kind wegnehmen. Also erzählte ich ihm, das auch die Kleine nicht überlebt hätte und mit Vivien zusammen gestorben sein. Sein Schmerz berührte mein Herz, aber was hätte ich anderes tun sollen? Wenn er das Kind mitnehmen würde, sehe ich es nie wieder. Das kann und will ich nicht. Nach Allem, was ich jetzt weiß, war es die richtige Entscheidung. Aidamee soll ganz normal aufwachsen und eine Chance auf ein ganz normales Leben haben. Das bin ich ihr einfach schuldig.
Bevor Sandor ging wollte er noch wissen, ob sich im Nachlass von Vivien die Dinge befanden, die ich in der kleinen Kiste gefunden hatte, doch ich stellte mich ahnungslos.
Sandor nickte nur und verabschiedete sich. Als er fort war brach ich fast zusammen. Wäre er nur einen Tag früher oder später gekommen, hätte er mir mein Kind genommen. Diese Erkenntnis erdrückte mich fast. Doch nun ist Aidamee in Sicherheit, er wird nicht wiederkommen.



Aidamee atmete schwer. Was hatte ihre Mutter getan? Er war doch ihr Vater. Weshalb hatte sie ihn angelogen?
Sie verstand überhaupt nichts mehr. Weshalb sollte ihr Vater eine Bedrohung für die sein? Er hatte ihre Mutter geliebt und ganz offensichtlich auch sie. Warum also hatte ihre Mutter gelogen?
Aus Selbstsucht, weil sie nicht allein sein wollte?
Das konnte Aidamee nicht glauben, so war ihre Mutter nicht. Oder hatte sie sie überhaupt nicht gekannt?
Sie war doch immer eine so liebevolle Mutter, die stets um ihr Wohl besorgt war. Wie konnte sie ihr dann aber den Vater vorenthalten?
Tränen traten in ihre Augen und die Buchstaben verschwammen. Sie legte das Tagebuch zur Seite, legte sich hin und zog die Knie bis an die Brust. Unaufhörlich rannen die Tränen und versickerten in ihrem Kopfkissen.
Eines war ihr klar. Sie musste ihren Vater finden.

* * *




Burkhard von Breese schloss die Tür zu seinem kleinen reetgedeckten Haus auf Sylt auf. Tief durchatmend betrat er es und sah sich um. Er war lange nicht mehr hier gewesen, die Möbel waren mit großen Tüchern abgedeckt und es roch etwas stickig. Zuerst öffnete er die Fenster und nahm dann die Tücher von den Möbeln, wobei er reichlich Staub aufwirbelte.
Er hatte sich heute sehr früh am Morgen spontan entschlossen ein paar Tage hier zu verbringen, bis er wieder einen klaren Kopf hatte und wusste, wie er sich entscheiden sollte.
Zuerst einmal brauchte er einen ausgiebigen Spaziergang durch die Dünen. Kurz entschlossen machte er sich auf den Weg. Die salzige Nordseeluft würde ihm gut tun und das Meer hatte schon immer eine entspannende Wirkung auf ihn. Während er strammen Schrittes die Küste ablief, konnte er seine Gedanken sortieren. Danach würde er etwas essen gehen und dann sah er weiter.

Burkhard lief am fast leeren Strand entlang. Es war bedeckt und der Wind zerzauste sein Haar. Je länger er lief, desto freier begann er sich zu fühlen. Die Luft war so frisch und durchlüftete seine Lungen. Tief einatmend schloss er kurz die Augen und lauschte dem Rauschen der Wellen. Manchmal, wie eben jetzt, wünschte er sich alles hinter sich zu lassen und hier einfach in den Tag hinein zu leben.
Wenn das nur so einfach wäre.
Vor seinem inneren Auge erschien das Bild Christinas. Ihr Tod hatte ihn schwer getroffen, denn sie war die Liebe seines Lebens. Er hatte sich ihr nie erklärt und nun war es zu spät. Christina war eine beeindruckende, wunderschöne Frau gewesen. Doch er hatte auch gespürt, dass sie nach dem Tod ihres ersten Mannes nicht bereit war für eine neue Beziehung. Also hatte er sich lieber mit ihrer Freundschaft begnügt und sich nicht offenbart.
Und eben weil er so empfand, fühlte er sich an sein Wort gebunden, doch der Notar in ihm wusste, dass dieses Kästchen Aidamee zustand.
Christina hatte gesagt, die Kiste hätte mit Aidamees Vater zu tun. Er hatte nie verstanden, warum sie den Kontakt zu seinem Kind verhindert hatte. Doch nun lebte sie nicht mehr und das Mädchen hätte die Möglichkeit ihn mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Auf dem Weg ins Restaurant fasste er einen Entschluss. Er würde Aidamee die Kiste aushändigen, sie sollte die Möglichkeit haben ihre Wurzeln kennenzulernen.

Als er nach Stunden wieder in seinem Häuschen eintraf, sah er sein Handy auf dem Tisch blinken und hörte seine Mailbox ab. Allein fünf Nachrichten von Aidamee, alarmiert rief er sie zurück.

» Hallo Aidamee? Ist etwas passiert? «
» Hallo Onkel Burkhard, gut dass du endlich anrufst. Wo steckst du überhaupt? «
» Ich bin auf Sylt. «
» Wann kommst du zurück? «
» Ich wollte eigentlich ein paar Tage ausspannen. Was ist los? «
» Hast du die Kiste noch, die Mama dir damals gegeben hatte? «
» Du weißt davon? «
Burkhard von Breese war höchst erstaunt.
» Ja. Ich habe die Tagebücher von Mama gefunden und darin erwähnte sie sie. Hast du sie noch? «
Burkhard schluckte kurz. Christina hatte also Tagebuch geführt.
» Ja. Sie steht in meinem Büro. Ich werde Frau Schuster bitten sie dir auszuhändigen. «
» Danke Onkel Burkhard. Genieß die Tage auf Sylt. Wir sehen uns wenn du wieder da bist, ok? «
» Ja, danke. Auf Wiedersehen Aida. «
Als er aufgelegt hatte, setzte er sich erst einmal hin. Dann griff er erneut zum Handy und rief seine Haushälterin an.
Danach atmete er ein paarmal tief durch. Hoffentlich hatte er das Richtige getan.

* * *

 Hat dir der erste Teil gefallen und du möchtest gern wissen wie es im Leben von Aidamee weiter geht? Dann würdest Du mir eine große Freude machen, wenn du den Teil in deine Favoritenliste einfügen würdest. Da die weiteren Teile meinen BX-Freunden vorbehalten sind, schick mir eine FA damit du weiterlesen kannst.

Herzliche Grüße Jenny

 

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2012

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