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Leise und friedlich schwebten große Schneeflocken fast schwerelos zu Boden. Hamburg war in eine dicke Schneedecke gehüllt und die Kinder freuten sich über die weiße Pracht, die eher selten war in diesen Wintern im Norden.

Dick eingemummelt bewarfen sie sich lachend mit Schneebällen und zogen Schlitten hinter sich her. Die Streudienste hatten viel zu tun und räumten unentwegt die Straßen frei, damit der Verkehr reibungslos funktionieren konnte. Auf ihnen kroch so mancher Wagen langsam dahin, von anderen energisch mit lautem Gehupe angetrieben.

 

Isabel stand am Fenster und presste ihre pochende Stirn gegen die Scheibe. Die Kühle des Glases war so angenehm, dass sie seufzend die Augen schloss. Seit Tagen hatte sie diese Kopfschmerzen, nichts half. Eine ganze Packung Schmerztabletten hatte sie schon verbraucht, ohne dass sich eine Besserung einstellen wollte. Dieses ständige Pochen raubte ihr jeden Nerv, und sie hatte große Mühe sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

 

Rhythmische Piep-Geräusche ihres Computers rissen sie aus ihrer Versunkenheit zurück in die Realität. Mit einem letzten Blick auf den mit hohem Schnee bedeckten Garten vor ihrem Fenster wandte sie sich ihrem Rechner zu und setzte sich wieder davor. Ihre Finger flogen über die Tastatur und vollendeten das komplizierte Programm, an dem sie seit Tagen schrieb. »Fertig!« Erleichtert lehnte sie sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und ließ den Kopf nach hinten fallen. Mit geschlossenen Augen massierte sie mit kreisenden Bewegungen ihre Schläfen.

 

»Diese verdammten Kopfschmerzen machen mich noch ganz kirre«, murmelte sie und ließ die Arme kraftlos in den Schoß fallen.

 

»Na los, den Rest packst du auch noch«, ermunterte sie sich leise und informierte ihren Kunden, dass das bestellte Programm fertig war und er nun das Geld transferieren könne. Nervös wippte sie mit dem Knie, bis endlich die Antwort eintraf. Ein Blick auf ihren Kontostand bestätigte, dass der Kunde gezahlt hatte. Schnell übermittelte sie das Programm, stand auf und ging hinüber ins Bad. Sich mit beiden Händen auf dem Waschbeckenrand abstützend, schaute sie in den Spiegel.

 

»Gott, siehst du furchtbar aus.«

 

Aus dem Spiegel sah ihr ein müdes Gesicht entgegen. Ein Gesicht, das sie hasste, ebenso sehr wie den Körper, der zu diesem Gesicht gehörte. Automatisch hatte sie die Brauen zusammen gezogen und blickte durch den Spiegel an sich herunter. Ihr Gesichtsausdruck bekam verzweifelte Züge, sie hasste den Spiegel, der ihr eine junge Frau zeigte, die nicht groß, dafür aber ziemlich übergewichtig war. Ihr rundes Gesicht war alles andere als schön. Und zu allem Überfluss prangte auch noch ein hässlicher Pickel auf ihrer Stirn.

Isabel hatte heute Morgen schon daran herum gedrückt, und nun war er zu einer dicken roten Beule angeschwollen.

Seufzend riss sie den Hahn auf, schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und blickte wieder in den Spiegel. Sie sah, wie sich die Tropfen an ihrem Doppelkinn sammelten und dann ins Becken platschten. Wie eine Fremde betrachtete sie sich. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass das einzig Schöne an ihr ihre Augen waren. Lange Wimpern überschatteten ein unglaubliches Blau, das fast schon hypnotisch wirkte. Merkwürdigerweise hatte sie als Kind ganz normale blaue Augen, doch je älter sie wurde, umso intensiver wurde dieses Blau. Es veränderte sich gerade in letzter Zeit immer mehr und gewann an Tiefe und Intensität.

Wenn sie unter Menschen ging, was selten genug vorkam, nahm sie schon die Blicke wahr, mit denen man ihr begegnete. Oft waren sie abwertend und verständnislos, hin und wieder rief man ihr auch Beleidigungen hinterher, die sie sehr trafen. Doch wenn ihr Menschen in die Augen sahen bemerkte sie auch das Erstaunen in deren Gesichtern, die Faszination und die Mühe, sich wieder von ihnen zu lösen.

Niedergeschlagen wandte Isabel sich vom Spiegel ab, griff zu einem Handtuch und trocknete sich langsam das Gesicht ab. Dann schlurfte sie schwerfällig ins Wohnzimmer, warf sich aufs Sofa, das unter ihrem Gewicht ächzte und schloss tief durchatmend die Augen. Hinter ihrer Stirn pochte es heftig, und ein unangenehmes Kribbeln lief über ihren Körper.

 

Wenn das nicht besser wird, werde ich wohl zum Arzt müssen“, dachte sie genervt. Das bedeutete, sie müsste das Haus verlassen. Sie hasste es, bestellte alles was sie zum Leben brauchte im Internet und auch ihre Lebensmittel wurden ihr ins Haus geliefert. Wenn sie etwas benötigte brauchte sie nur morgens im Supermarkt anrufen und Ben, der Bote, brachte ihr am Nachmittag alles vorbei.

 

Erschöpft bearbeitete Isabel ihre Schläfen wieder mit den Fingerspitzen. Sie konnte sich nicht erinnern jemals Kopfschmerzen gehabt zu haben, war seltsamerweise auch nie krank gewesen. Wenn andere Kinder im Heim mit Erkältungen und Fieber im Bett lagen, sich niesend und hustend gegenseitig ansteckten, war sie immer gesund geblieben.

Isabel dachte ungern an die Zeit im Heim. So viele hatte sie kommen und wieder gehen sehen, weil sie adoptiert wurden oder man sie in Pflegefamilien vermittelte. Wie oft hatte sie ihnen traurig hinterher geschaut und sich gewünscht, jemand würde kommen und auch sie abholen. Doch niemand wollte sie haben, vermutlich weil sie so verschlossen war. Die anderen Kinder mochten sie nicht, weil sie anders war, sie hatte keine Freunde und wurde oft gehänselt. Aus Frust hatte sie angefangen, alles an Essbarem in sich hinein zu stopfen, was sie in die Finger bekam und wurde dick und dicker.

Wenn sie so richtig satt war, stellte sich ein Gefühl der Zufriedenheit ein. So war es leider immer noch. Oft hatte sie versucht abzunehmen, doch der Erfolg war nie von langer Dauer. Sie hielt einfach nicht durch, und irgendwann hatte sie aufgegeben. Jetzt war sie zwanzig Jahre alt und lebte in einem Haus am Stadtrand von Hamburg, das sie sich vor einem halben Jahr gekauft hatte. Es war ihre Bastion gegen den Rest der Welt. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen.

Isabel angelte sich ein Kissen und schob es unter ihren Kopf, drehte sich auf die Seite und zog die Knie an.

Sie war stolz auf das, was sie bisher erreicht hatte.

Als sie ins Heim kam, war sie drei Jahre alt. Man hatte sie ihrer Mutter weggenommen, weil diese mit ihr überfordert schien. Eine Alkoholikerin, so sagte man ihr später, die unter psychischen Problemen litt. Irgendwann wurde ihre Mutter in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen, da sie offensichtlich den Bezug zur Realität komplett verloren hatte.

Isabel konnte sich erinnern, wie schwer die erste Zeit im Heim war. Die Erzieher bemühten sich natürlich auch um sie, doch es fehlte Wärme, Liebe und Fürsorge. Irgendwann hatte sie sich in sich zurückgezogen und lebte in ihrer eigenen kleinen Welt.

Mehr Aufmerksamkeit bekam sie, als man merkte, dass sie offensichtlich hoch intelligent war. Mit vier Jahren hatte sie sich irgendwie das Lesen beigebracht und begann die ersten Bücher zu lesen. Während andere Kinder in ihrem Alter wilde Kreise aufs Papier krickelten, schrieb sie schon ganze Sätze und auch Zahlen wurden zu ihrer großen Passion. Sie war fasziniert von der Mathematik und Allem, was mit logischem Denken zu tun hatte. Als sie dann in die Schule kam, blühte sie sichtlich auf. Wie ein Schwamm sog sie alles an Wissen in sich auf, dessen sie habhaft werden konnte. Sie brauchte niemals etwas lernen, was im Unterricht durchgenommen wurde, beherrschte sie sofort. Ihre Nachmittage verbrachte sie in der heimeigenen Bibliothek und las alles, was sie in die Finger bekam. Für die anderen Kinder war sie ein Freak, ein Streber und wurde von ihnen bestenfalls gemieden.

Da sie in der Schule permanent unterfordert war, kam sie mit sieben Jahren in eine Schule für hochbegabte Kinder und machte mit dreizehn ihr Abitur. Dort hatte sie auch den ersten Kontakt mit einem Computer und nutzte jede freie Minute, um sich mit ihm zu beschäftigen. Total fasziniert begann sie schon sehr schnell eigene Programme zu schreiben, mit denen sogar ihre Lehrer überfordert waren. Es dauerte nicht lange, bis es keine Grenzen mehr gab für sie. Mit Leichtigkeit überwand sie Schutzprogramme und brach selbst in sensible Firmenbereiche ein, nur um sich dort umzusehen.

Mit achtzehn verließ sie das Heim, bezog eine kleine Einzimmerwohnung und lernte mit der Zeit andere ihrer Art im Netz kennen und tauschte sich mit ihnen aus. Schnell begriff sie, dass sie mit ihren Fertigkeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte und bekam nach und nach immer mehr Aufträge von Firmen und Privatpersonen, die Schutz für ihre Daten brauchten. Bald war sie in der Lage sich dieses Haus zu kaufen, das wirklich ein Zuhause für sie war und wo sie sich das erste Mal in ihrem Leben so richtig wohl und geborgen fühlte.

 

Das Pochen hinter der Stirn wurde stärker und Isabel bemerkte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Als sie die Augen öffnete, nahm sie alles nur noch verschwommen wahr.

 

»Was zum Teufel ist denn bloß los mit mir?«, wimmerte sie leise vor sich hin, während ihr Tränen in die Augen traten. Plötzlich schoss sie hoch und taumelte ins Bad, riss den Toilettendeckel hoch und erbrach sich heftig. Völlig erschöpft sackte sie vor der Kloschüssel zusammen und fing hemmungslos an zu weinen.

 

Als Isabel sich etwas beruhigt hatte, erhob sie sich umständlich, wusch sich das Gesicht und wankte mit wackeligen Beinen zurück ins Wohnzimmer. Es ging ihr schlecht, sehr schlecht sogar. Sie bezweifelte, dass sie in der Lage sein würde, mit dem Wagen zu einem Arzt zu fahren. Deshalb griff sie mit zittrigen Fingern zum Telefon und wählte den Notdienst. Mit einer Hand das Telefon ans Ohr pressend, massierte sie mit der anderen wieder ihre Schläfe.

 

»Hier medizinischer Notdienst. Wie kann ich Ihnen helfen?«, ertönte eine weibliche Stimme aus dem Hörer und Isabel hatte das Gefühl, ein Messer würde direkt durch ihr Hirn gestoßen.

 

»Isabel Breuer hier. Ich brauche dringend einen Arzt«, krächzte sie heiser.

 

»Es geht mir schlecht und ich kann das Haus nicht mehr verlassen.«

 

Fahrig beantwortete sie alle Fragen, bis ihr mitgeteilt wurde, dass ein Arzt innerhalb der nächsten Stunde bei ihr eintreffen würde. Völlig erschöpft ließ sie das Telefon aus der Hand gleiten und rollte sich so gut es ging auf dem Sofa zusammen. Als erneut Übelkeit in ihr hochstieg, rappelte sie sich wieder auf, hetzte ins Bad und übergab sich erneut. Ein Blick in den Spiegel ließ sie erstarren. Sie sah grauenvoll aus. Ihr Gesicht war eingefallen und die Haut kreideweiß. Selbst ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Das Klingeln an der Tür ließ sie zusammen fahren, mit wackeligen Beinen steuerte sie auf die Eingangstür zu und öffnete. Dann brach sie zusammen.

 

 

* * *

 

 

»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«

 

Mit hoch gezogenen Augenbrauen sah Dr. Müller seinen Kollegen an, der konzentriert auf den Monitor schaute. Langsam schüttelte der den Kopf.

 

»Das ist unmöglich!« sagte er dann im Brustton der Überzeugung und starrte dann wieder auf den Monitor. Die Bilder, die das MRT vom Gehirn der bewusstlosen jungen Frau gemacht hatte, konnten unmöglich stimmen. Auf ihnen pulsierten Areale des Gehirns langsam und gleichmäßig rot und blau vor sich hin, die normalerweise keinerlei Aktivität zeigen sollten, und einen Bereich des Gehirns durfte es gar nicht geben.

 

»Das verstehe ich nicht«, wandte er sich wieder an seinen Kollegen und kratzte sich am Kinn.

 

»Hm, wir machen alles noch einmal!«

 

Gebannt verfolgten sie nun die Bilderfolge, die das MRT erneut aufzeichnete, und sahen sich fassungslos an.

 

»Das Gerät ist in Ordnung«, murmelte Dr. Müller mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen.

 

»Ich denke, wir sollten Prof. Hegener hinzuziehen.«

 

Sein Kollege nickte zustimmend, erhob sich und verließ rasch den Raum, um nach kurzer Zeit mit dem Professor wieder zu kommen.

 

»Was haben wir denn hier?«

 

Prof. Hegener nahm vor dem Monitor Platz, schaute sich die Bilder an, und sein Gesichtsausdruck wechselte von Routine zu maßlosem Erstaunen. Immer wieder ließ er die einzelnen Bilder durchlaufen, begutachtete sehr konzentriert jedes einzelne an und schüttelte immer wieder den Kopf.

 

»Das ist doch unmöglich«, sagte auch er nun und beide Ärzte nickten zustimmend.

 

»Genau das ist ja das Problem!«

 

Dr. Müller sah ihn bedeutungsvoll an und zuckte dann mit den Schultern.

 

»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«

 

»Nein, ich bin jetzt seit 20 Jahren hier an der Uniklinik in Eppendorf. So etwas habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Auch in der Literatur ist meines Erachtens nichts Derartiges erwähnt worden.«

 

Sie diskutierten noch eine Weile und beschlossen, die Patientin erst einmal auf die Station zu verlegen und Prof. Hegener wollte sich mit Kollegen in den USA in Verbindung setzen, um zu erfahren, was diese zu diesem Phänomen zu sagen hatten.

 

 

* * *

 

 

Als erstes nahm sie den Geruch wahr, der sie an Desinfektionsmittel erinnerte. Sie öffnete die Augen und sah sofort, wo sie sich befand. Angestrengt überlegte sie, was vorgefallen war.

Langsam kamen die Erinnerungen an den Notarzt und dass sie vor der Tür zusammen gebrochen war. Der Arzt hatte sie offensichtlich sofort ins Krankenhaus gebracht. Langsam bewegte sie den Kopf und bemerkte sofort, dass die Schmerzen kaum noch vorhanden waren. Erleichtert seufzte sie auf und eine Schwester, die sie noch gar nicht bemerkt hatte, wandte sich ihr zu.

 

»Wie geht es Ihnen?«

 

Mit freundlicher Mine beugte sie sich über Isabel und sah sie an.

 

»Es geht mir wieder gut, die Kopfschmerzen sind fast weg.«

 

Isabel bewegte den Kopf noch einmal hin und her und versuchte sich aufzurichten.

 

»Nein, nein, sie bleiben besser liegen. Ich sage dem Professor Bescheid.«

 

Sanft, aber bestimmt hatte die Schwester sie zurück in die Kissen gedrückt und sah sie freundlich an. Isabel nickte und schaute ihr hinterher, wie sie eilig durch die Tür entschwand. Nach kurzer Zeit erschienen drei Ärzte und Isabel vermutete, dass der in der Mitte der Professor sein musste. Er war grauhaarig, groß und schlank und hatte so eine gewisse Ausstrahlung. Mit einem freundlichen Lächeln reichte er ihr die Hand und setzte sich dann vertraulich auf die Bettkante.

 

»Professor Hegener. Wie geht es Ihnen, Fräulein Breuer?«

 

Er sah sie voller Interesse an, was ihr ziemlich unangenehm war, denn sie fühlte sich unsicher, derart im Fokus zu stehen.

 

»Ganz gut. Die Kopfschmerzen sind fast weg, danke«, sagte sie vorsichtig und strich die Bettdecke vor sich mit den Händen glatt. Nun wollte der Professor genau wissen, wie und wann es zu den Schmerzen gekommen war. Jede kleinste Einzelheit musste sie berichten und wunderte sich über dieses starke Interesse. Mitten in einem Satz erstarrte sie und Adrenalin schoss brennend heiß durch ihren Körper. Ihre Hände begannen zu zittern, während sie entsetzt in das Gesicht des Professors sah.

 

»Habe ich etwa einen Tumor?«

 

Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Hände und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Beruhigend legte der Arzt seine Hand auf ihren Arm.

 

»Keine Sorge. Rein organisch ist bei Ihnen alles in Ordnung, nun ja, zumindest sind Sie gesund.«

 

»Ja, aber woher kommen dann diese furchtbaren Kopfschmerzen? Ich war vorher noch niemals krank. Nicht einmal einen Schnupfen hatte ich.«

 

Prof. Hegener schaute erstaunt auf.

 

»Sind Sie sicher? Keine Kinderkrankheiten, Fieber oder die üblichen Erkältungen?«

 

Isabel schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich war immer gesund.«

 

»Das ist ungewöhnlich. Wie sieht es mit Erbkrankheiten in Ihrer Familie aus?«

 

Familie, was für eine Familie?“ dachte Isabel bitter.

 

»Ich habe keine Familie, bin im Heim aufgewachsen«, sagte sie kurz angebunden und in einem Tonfall, der klar machte, dass sie über dieses Thema nicht sprechen wollte.

 

»Das tut mir sehr leid. Aber Sie müssen doch Eltern haben«, versuchte Prof. Hegener trotzdem etwas in Erfahrung zu bringen. Seine Patientin bekam einen abweisenden Gesichtsausdruck und wandte den Kopf zum Fenster.

 

»Bitte, Fräulein Breuer. Es ist wichtig!«

 

Isabel atmete tief durch und räusperte sich dann.

 

»Soviel ich weiß, ist meine Mutter in der Psychiatrie in Ochsenzoll, und über meinen Vater weiß ich nichts.«

 

Überrascht schaute der Professor sie an.

 

»Kennen Sie ihren Namen?«

 

»Man hat mir gesagt, sie heißt Marianne Breuer. Mehr weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht.«

 

Isabel war selbst überrascht, wie heftig sie auf diese Frage reagierte. Prof. Hegener tätschelte ihre Hand und sah sie verständnisvoll an.

 

»Ist schon gut.«

 

Mit einem beruhigenden Lächeln erhob und verabschiedete er sich und verließ dann zusammen mit den beiden anderen Ärzten das Zimmer. Auf dem Gang wandte er sich an seine Kollegen.

 

»Das ist interessant. Ich werde mich sofort mit den behandelnden Ärzten der Mutter in Verbindung setzen.«

 

Er nickte den Ärzten kurz zu und ging dann schnell in sein Büro. Die Recherchen bei seinen amerikanischen Berufskollegen hatten leider nichts ergeben. Auch sie hatten keine Erklärung für die ungewöhnlichen Hirnaktivitäten und die mysteriösen Hirnareale dieser Patientin, hatten ihn aber gebeten, sie über diesen ungewöhnlichen Fall auf dem Laufenden zu halten.

Nach einem langen Gespräch mit der Psychiatrie Ochsenzoll hatte er sich in Gedanken versunken in seinem Sessel zurückgelehnt und ging im Geiste das gesamte Gespräch noch einmal durch. Die Mutter der Patientin litt an Schizophrenie mit ausgeprägter Paranoia und wurde seit sechzehn Jahren medikamentös in der geschlossenen Abteilung behandelt. Die eigenartigen Hirnaktivitäten von Isabel Breuer hatte er mit dem ärztlichen Direktor besprochen, doch auch der hatte keine Erklärung für dieses Phänomen. Da seine Patientin keinerlei Symptome einer geistigen Erkrankung zeigte, war eine Verlegung in die Psychiatrie nicht angezeigt.

Ratlos fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht und atmete hörbar aus. Dann legte er diesen Fall erst einmal gedanklich bei Seite und widmete sich konzentriert seiner routinemäßigen Arbeit.

 

 

* * *

 

 

Isabel ging es immer besser. Die Kopfschmerzen waren verschwunden und sie hatte das Gefühl, dass sie alles viel intensiver wahrnahm. Irgendwie war ihre Außenwelt präsenter als je zuvor. Ein Gefühl, das sie kaum beschreiben konnte, da ihr die Worte dafür fehlten. Sie fühlte sich regelrecht beschwingt und hätte die Welt umarmen können. So hatte sie noch nie in ihrem Leben empfunden. Bevor die Kopfschmerzen kamen, war das Leben für sie eine regelrechte Last. Sie war ein Freak, hässlich und mit einem höheren IQ als Einstein. Die Menschen hatten immer einen großen Bogen um sie gemacht. Doch jetzt hatte sie Lust, aus dem Bett zu springen und über grüne Wiesen zu laufen, Bäume zu umarmen und sich die Welt anzusehen, sie, die sich ihr ganzes Leben lang verkrochen hatte.

Ungeduldig hatte sie sich eine der Zeitschriften gegriffen, die eine Schwester auf ihren Nachttisch gelegt hatte, und blätterte ziellos darin herum. Von einer Werbeseite lächelte sie ein Model an, welches ihr einen eleganten Parfumflakon entgegen streckte. Isabel hielt inne und betrachtete die wunderschöne Frau.

 

Mein Gott, was haben manche Frauen doch für ein Glück“, dachte sie wehmütig.

 

Wie herrlich muss das Leben sein, wenn man so aussieht.

 

Mit dem Finger fuhr sie die Konturen des Gesichtes und der traumhaften Figur nach, und alles in ihr sehnte sich danach, ebenso schlank und schön zu sein.

Urplötzlich begann es in ihrem Kopf zu hämmern, und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war gespannt wie die Saite eines Bogens, die zitternd darauf wartete hervorzuschnellen. Mit einem gequälten Stöhnen ließ sie die Zeitschrift fallen und griff sich an den Kopf, der immer stärker zu pochen begann. Den Kopf in ihren Händen wiegte sie den Oberkörper vor und zurück und langsam ließen die Schmerzen nach, bis sie kurz darauf völlig verschwunden waren. Auch ihre Muskulatur war wieder geschmeidig wie zuvor. Vor Erleichterung atmete sie mehrmals durch. Als wäre nichts geschehen, fühlte sie sich wieder beschwingt und frei. Fassungslos starrte sie die Bettdecke an, die Gedanken rasten durch ihren Kopf, kamen aber zu keinem Ergebnis.

 

»Was war das denn schon wieder, hört das denn nie auf?« fragte sie sich leise, wusste aber keine Antwort. In dem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet und eine korpulente, schon etwas ältere Schwester rauschte mit einem Tablett in den Händen ins Zimmer.

 

»So Kindchen, hier ist erst mal was zur Stärkung!«

 

Voller Elan zog sie die Tischplatte aus dem Nachttisch, drehte sie über ihr Bett und platzierte das Tablett darauf.

 

»Der Mensch muss essen, sonst wird er nicht gesund«, sagte sie mit allem Ernst.

 

»Wir beide wissen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011
ISBN: 978-3-95500-512-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diesen Roman widme ich den vielen begeisterten Lesern, die mich schon lange begleiten und beständig ermutigten "The Blue" endlich zu veröffentlichen. Danke dafür!

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