Dieses Buch ist für RAWR, mein verschmustes Rudel.
Und für eine ganz besondere Person.
Nicht zuletzt für meine Vani.
Ihr seid wunderbar. Tief in meinem Herzen.
Dieses Buch ist auch für all jene, die an Wunder glauben.
Und für alle Tagträumer.
Ihr macht die Welt bunter – heller.
Erster Teil
Ich bin nicht gut im Geschichtenerzählen. Eigentlich sollte jemand anderes diese Geschichte schreiben. Jemand, den ich mal gekannt habe. Bestimmt würde sie sich dann viel schöner anhören. Aber wenn ich sie nicht erzähle, erzählt sie vielleicht niemand.
Die Geschichte beginnt dort, wo ich gelernt habe, dass die Zeit mein Feind ist.
Unser Leben wird regiert von der Zeit. Von Jahren, von Tagen, von Stunden, von Minuten, von Sekunden. Wie lange wir leben, können wir nicht entscheiden.
Die Zeit ist ebenso normal wie mysteriös. Manchmal scheint sie zu verfliegen, manchmal sich endlos hinzuziehen.
„Warum leben wir nicht für immer?“, hab ich als kleines Kind meinen Vater manchmal vor dem Einschlafen gefragt.
Wann immer ich ihm diese Frage gestellt habe, hat er mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen und zu mir gesagt „Wenn wir ewig leben würden, dann wäre die Zeit mit den Menschen, die wir lieben nicht so unglaublich kostbar.“
Als kleines Kind hab ich seine Worte nie so richtig verstanden, weshalb ich ihm diese eine Frage auch immer wieder gestellt habe.
„Warum kann ich eigentlich nicht so viel Zeit haben, wie ich will?“, hab ich dann oft noch gefragt.
„Pam, mein Schatz, du musst dir eine Sache merken. Die Zeit ist dein größter Feind, sie ist gnadenlos. Aber wenn du all deine Stärke in dir nützt; wenn du all deine Liebe schenkst, dann wirst du am Ende gegen sie siegen.“
Auch wenn ich ihm nicht ganz folgen konnte, hab ich ihm geglaubt.
Aber eigentlich handelt diese Geschichte nicht von der Zeit. Diese Geschichte handelt von Momenten.
Dies ist die Geschichte von drei Leben. Diese Leben. Unser Leben. Bis zu diesem einen Zeitpunkt war es eine übersichtliche und gewöhnliche Straße. Eine, auf der man weiß, was einen erwartet.
Es gab kaum Kurven und wenn es mal zu eng wurde, dann konnte man immer noch abbiegen. Manchmal war dieses Leben ein Highway, der auf eine wundervolle Brücke zusteuert. Eine mit tausend Lichtern, die eine dunkle Stadt zum leuchten bringt. Selten war es eine enge Landstraße oder eine verlassene Sackgasse, in der man umdrehen musste.
Und plötzlich wählten wir die falsche Abzweigung, den falschen Weg. Das war der Zeitpunkt, ab dem alles anders wurde.
Vom einen auf den anderen Moment war unser Leben eine Einbahnstraße. Eine auf der man verfolgt wird. Eine auf der man nicht umdrehen kann. Eine auf der man eine Abzweigung vergeblich sucht.
Ich probierte einen richtigen Atemzug zu machen, doch mein Atem bebte viel zu heftig. Die undurchdringliche Dunkelheit schien mich zu verschlucken. Mein Körper zitterte, ich war nervös.
Ich ging meinen Plan noch einmal in Gedanken durch. Er musste einfach klappen! Doch wenn nicht, dann wäre ich ausgeliefert.
Ich befand mich vor dem Fenster unserer Schule. Das Fenster am Boden führte in den etwas tiefer gelegenen Klassenraum.
Alles war dunkel, nur das blasse Licht des Mondes warf verschwommene Schatten auf die Erde. Ich wunderte mich, dass man den Mond überhaupt noch sehen konnte, denn es schneite weiße, dicke Flocken.
Ich kniete mich auf den mit einer noch dünnen Schneeschicht bedeckten Pflastersteinboden nieder. Mit zitternden Händen holte ich den kleinen Hammer aus meinem Rucksack, machte einen kräftigen Atemzug, hob den Hammer und machte einen sanften Schlag. Ein dumpfes, knirschendes Geräusch ertönte. Ich sah aber noch keinen Riss im Glas. Dann ein fester unüberlegter Schlag. Die Scheibe zersprang in tausend Scherben. Mit einem dicken Handschuh beseitigte ich die Glasreste, die noch im Fensterrahmen hingen. Mit weichen Knien kletterte ich durch das niedrige Fenster hinunter in den Computerraum. Als meine Schuhe auf dem Linoleumboden aufprallten, hallte ein klatschen durch den Raum. Wieso erschrak ich denn dauernd, obwohl ich selbst der Verursacher dieser Geräusche war? Nelli bleib ruhig!
Ich befand mich im Computerraum. Heute Vormittag schien er mir noch so farbenfroh, so lebendig, doch jetzt war er leer und ausgestorben. Mit klopfendem Herzen huschte ich auf den Flur. Ich konnte jeden meiner Schritte hören, sie hallten von den Wänden wider. Auch meine keuchenden Atemzüge konnte ich wie durch einen Verstärker wahrnehmen.
Ich warf durch die Fenster einen Blick auf den Innenhof. Im blassen Schimmer des Mondes schien er unheimlich und verlassen. Mir kam es so vor, als wäre die Zeit stehengeblieben. Auf Zehenspitzen schlich ich die Treppe hoch in den Ersten Stock. Ich schlüpfte in unser Klassenzimmer. Alles still und leer. Maras Schulbank, im Zwielicht kaum erkennbar. Ich steuerte auf ihre Bank zu und kramte unter ihrem Tisch. Tatsächlich, da war das Kennwort, wie Claudia es gesagt hatte. Ich merkte mir schnell die Ziffern und Buchstaben, dann schob ich Maras Handy unter die Bank und rannte so schnell und so lautlos wie ich konnte wieder zurück in den Computerraum. In Windeseile schaltete ich einen der Computer ein. Mein Herz pochte in meiner Brust, so heftig, dass es sich so anfühlte als würde es wachsen. Die Zeit schien wie eingefroren. Nelli du hast genug Zeit, dein Plan funktioniert! Endlich war der Computer hochgefahren. Hastig suchte ich nach dem Video auf dem Rechner. Wo war es jetzt? Ich konnte es nirgendwo finden. Wo hat sie es denn bloß versteckt? Nelli, du weißt, dass es jetzt nichts bringt dich verrückt zu machen!
Wieso hatte ich so dumm gehandelt? Vor zwei Monaten war ich noch ein ganz gewöhnliches 17-jähriges Mädchen gewesen, doch seit Mara in unsere Klasse gekommen war, hatte sich so Einiges verändert. Wenn ich könnte würde ich alles rückgängig machen! Wenn ich nur könnte. Ich hatte beschlossen mit dem Scheiß aufzuhören, doch um das alles zu vergessen und ungeschoren davon zu kommen, musste ich endlich dieses Video finden! Nelli, du bist auf dem besten Weg! Du bist nur ein bisschen zu nervös, aber bis jetzt läuft alles gut! Doch ich wusste, dass dies nur eine immer positiv denkende innere Stimme von mir war. In Wahrheit war ich kurz davor durchzudrehen! Meine Zukunft hing davon ab, nicht nur meine. Ich musste es einfach finden und zwar schnell. Dieses Video war Beweismaterial für eine Straftat; Beweis genug um mich in den Knast wandern zu lassen. Uns alle…
Drei Wochen zuvor
»Du musst den Konjunktiv verwenden, wenn du den Satz mit Ich denke beginnst!«, ermahnte ich Luki.
»Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal nicht den Grammatik-Nazi spielen würdest?« Er boxte mich in die Seite, doch ich könnte schwören, dass ein Grinsen auf seinem Gesicht lag.
Es war ein gewöhnlicher Schulmorgen und wir gingen wie üblich das Stück von der Bushaltestelle zur Schule zusammen.
»Leute, ihr könntet echt mal von was Anderem reden! Es gibt spannendere Neuigkeiten!«, quatschte Pam dazwischen. »Heute soll ja die Neue in unsere Klasse kommen. Ich bin schon so gespannt wie sie aussieht! Wie mag so eine Anwaltstochter wohl aussehen?« Pam redete heute schon so früh am Morgen mit vollem Enthusiasmus. Nach jedem Satz biss sie ein Stück von ihrem Müsliriegel ab.
»Schlucken und dann reden wär’ eine gute Idee!« Luki grinste in ihre Richtung.
Pam funkelte ihn böse an. Dann öffnete sie ihren vollen Mund extra weit und präsentierte ihm den halb zerkauten Rigel. »Ich hoff’, ich hab dich nicht angespuckt«, nuschelte sie und kaute mit offenem Mund weiter.
»Echt Pam, du bist abartig!«, stieß ich hervor und verzog das Gesicht.
»Irgendwann wirst du noch fett, das sag ich dir!«, versicherte ihr Lukas. »Bei den Mengen an Essen, die du täglich in dich schaufelst... Hat das überhaupt Platz in dir?«
»Man redet mit einer Frau nicht über ihre Essgewohnheiten!«, mahnte ihn Pam.
Pam, meine beste Freundin seitdem Tag, an dem ich ihr in der Grundschule einen Glitzerstift geschenkt hatte. Sie sah schon immer gut aus. Ihr Haar war hellblond, lang und seidig. Weil sie so klein war konnte man beinahe meinen, sie würde ein Kleid tragen.
Ich fand mich selbst auch irgendwie hübsch, doch nie so sehr wie Pam. Pam war für mich immer eine Prinzessin gewesen.
Nur eines konnte ich nie verstehen, nämlich wieso die hübsche und kluge Pam mit einem Loser wie Max zusammen war. Schon seit zwei Jahren.
Ich ging schon seit knapp einem halben Jahr mit Leonardo, das war sein richtiger Name, aber alle nannten ihn Leo.
Leo hatte blonde Locken. Seine Blau-bernsteinfarbenen Augen waren einfach der Hammer!
Er spielte mit Lukas schon seit der Grundschule Basketball . Seither waren die beiden so ziemlich das nervtötendste Pack, das man in der Schule finden konnte.
Gerade lief es nicht bestens zwischen Leo und mir. Nicht dass wir uns gestritten hätten. Ich wusste selbst nicht was es war, ich wusste nur, dass er mich heute zur Begrüßung nicht einmal geküsst hatte. Machte er sich gleich wie ich Sorgen um uns, oder war ihm das gar nicht aufgefallen?
Ich beschloss nicht mehr daran zu denken, vielleicht hatte er es ja nur vergessen, weil er wegen der neuen Mitschülerin so aufgeregt war. Also konzentrierte ich mich wieder auf das Geschehen um mich herum.
Ich wandte mich Pam zu, die neben mir herging. »Jetzt aber zu der Neuen: Ich nehme an, sie wird ein wenig eingebildet sein! Bestimmt trägt sie Markenklamotten, besitzt das teuerste Handy und wohnt in einem riesigen Haus.«, vermutete ich.
»Ist das nicht ein bisschen oberflächlich?«
»War doch nicht so ernst gemeint! Aber ich glaube es geht in die Richtung!«
»Du hast recht es muss so sein! Sie ist schließlich eine Anwaltstochter .«
Wir redeten und stellten den ganzen Schulweg lang irgendwelche Hypothesen auf, die wahrscheinlich sowieso nicht auf unsere neue Mitschülerin zutrafen.
Ich war froh, dass Pam wie ein Wasserfall plapperte, so konnte ich mich in meinen dicken Schal kuscheln und zuhören. Normalerweise war ich ja die, die immer etwas erzählen musste, doch der Rollentausch mit Pam, war zu Abwechslung ein Genuss.
Auch wenn auf dem Kalenderblatt erst der Monat Dezember angezeigt wurde, bildeten sich bereits die für den Jänner typischen, in der Sonne tropfenden Eiszapfen.
L aruga, eine kleine italienische Stadt mit knapp 100.000 Einwohnern in der nordwestlichen Region Piemont. Die Kommune wurde manchmal auch Collalto genannt, weil sich der große Vincenzo-Hügel vor dem Tenaro erhob.
Auch wenn ich manchmal das Gefühl hatte, ich müsste von hier ausbrechen, liebte ich den Ort irgendwie.
Die schönen Weinberge, von denen man aus im Sommer die unglaublichsten Sonnenuntergänge beobachten konnte. Zu ihnen gehörte auch der Vincenzo-Hügel. Die gelben Blätter, die vor Einbruch des Winters von den vielen Bäumen wie Engel auf den Erdboden herabschwebten. Der Tau auf den rauen Baumrinden, der zeigte, dass der Winter beginnen würde.
Der erste Schnee war bereits vor einer Woche gefallen. Das war ebenso ungewöhnlich früh für diese Jahreszeit, wenn man bedachte, dass in den letzten Jahren die Flocken erst Anfang Jänner vom Himmel gefallen waren. Für mich war diese Veränderung willkommen. Ich mochte es, wenn die hügelige Landschaft in einen weißen Umhang gehüllt wurde. Alles sah dann immer so sauber und unversehrt aus.
In der Luft roch es nach gebratenen Kastanien und in der kleineren Altstadt türmten sich die Touristen. Der Weihnachtsmarkt war auch bereits aufgestellt worden. Hier roch es nach Apfelpunsch, Zuckerwatte, Pizzabrot und Kandierten Nüssen. Die Weihnachtsmusik drang aus den kleinen Boxen. Leise und friedlich.
Auf dem kleinen Eislaufplatz liefen niedliche Kinder mit roten Näschen und süßen Käppchen umher und rutschten hin und wieder aus.
Nicht nur das mochte ich an unserer Kleinstadt. Der kühle Wind der von unserem Fluss, dem T enaro, herauf wehte und die Luft leicht machte. Luft zum Atmen. Luft, um frei zu sein.
Italienisch. Wie sehr ich dieses Fach hasste. Und damit sprach ich offenbar allen aus der Klasse sprichwörtlich aus der Seele. Besonders an Samstagmorgen, an denen man um diese Uhrzeit eigentlich noch tief unter seiner dicken Decker vergraben sein sollte.
Jill spielte auf ihrem Handy. In ihrer Freizeit machte sie viel Sport, ging Kunstturnen und war Regionalmeisterin in ihrer Disziplin.
Hella malte. Sie war anscheinend wie Nelli ziemlich kreativ.
Wie immer hörte dem Lehrer keiner außer Pam zu. Ihr Ehrgeiz den sie in der Schule an den Tag legte, hatte mich schon immer ebenso gewundert wie beeindruckt.
Sie schwang ihren Füller eifrig über eine Seite des von ihr sauber geführten Heftes.
Leo, der zusammen mit mir hinter Pam und Nelli saß, ärgerte die beiden dauernd mit seinem selbst gebauten Stock aus alten Stiften.
»Leo, sag mal hast du keine anderen Hobbys?«, fuhr Nelli in genervt an.
Ich kicherte und warf ein zerknülltes Papierkügelchen nach ihr.
»Man Leute, ihr seid echt bescheuert!«, fauchte Nelli. Seufzend drehten sie sich von uns weg, um einen weiteren Versuch zu starten, uns zu ignorieren. Und als Leo sie ein weiteres Mal mit dem langen Stift antippte, drehte Nelli sich blitzschnell um und riss ihn im aus der Hand.
Nelli grinste triumphierend als sie den Stift langsam in Stücke zerriss. Dabei kamen ihre niedlich spitzen Eckzähne zum Vorschein.
»Was machst du da?« Erschrocken starrte Leo auf sein zerstörtes Werk.
»Jetzt sind sie wirklich wütend geworden«, grinste ich schelmisch. Ich sah zu Pam. Sie war still, jedoch hatte sie auch gegrinst, als Nelli den Stock in Stücke gerissen hatte. »Irgendwann lassen wir uns umsetzten, nur damit das klar ist!«, stellte Nelli klar ehe sie und Pam uns wieder den Rücken zu kehrten.
»Pams streberhaftes Verhalten steckt Nelli glaub ich noch an«, fing er erneut an.
Als sie das hörte, wandt sich Pam ein letztes Mal zu ihm um und flüsterte: »Wenigstens produziert sie dann bei Schularbeiten nicht die gleichen verbalen Missgeburten, wie ihr zwei.«
Ich musste sofort losprusten, als sie das sagte.
Leo schüttelte grinsend den Kopf, sagte dann aber nichts mehr.
Pam hatte Recht damit. Leo und ich brachten kaum einen vernünftigen italienischen Satz zu Papier. Daran waren wohl wir allein Schuld. Während, Leo jedoch in den Fächern wie Physik, Mathe und Chemie ein Ass war, konnte ich in der Schule nirgends außer in Sport mithalten. Zugegeben interessierte mich zurzeit so ziemlich nichts außer Basketball. Bis vor kurzem hatte mir das keine großen Sorgen bereitet, weil ich Einzelkind war und meine Mutter genug Geld besaß. Jetzt wusste ich, dass es im Leben nicht nur um Geld ging. Ich musste einen Job finden, auf eigenen Füßen stehen.
Nachdem uns Leo und Lukas endlich in Ruhe gelassen hatten, sah ich immer wider zu Pam. Ich dachte wie so oft an sie und Max. Auch wenn er genauso wohlhabend, wie Pam war, passten sie meines Erachtens überhaupt nicht zusammen. Mir kam es immer so vor, als hätte Max eine ganz andere Sicht auf die Dinge wie Pam, als würde er in einer Parallelwelt leben.
Da hätte sie wohl eher Lukas nehmen sollen. Sie beide sind, wie man so sagt, auf einer Wellenlänge. Sie bringen sich gegenseitig zum lachen und verstehen einander. Außerdem mochten sie sich, im Gegensatz zu Pam und mir, auf Anhieb. Und nicht nur das, Luki sieht wirklich gut aus. Er könnte problemlos in eine dieser Boygroups wie One Directon einsteigen. Auch wenn sein Gesang so klang, als würde eine Katze sterben, sie würden ihn trotzdem nehmen. Er ist bei weitem der schärfste Junge unserer Klasse!
Jedenfalls, sagen das immer alle, ich für meinen Teil kann sagen, dass er schon gut aussieht, doch ich kenne ihn schon viel zu lange. Ich könnte mir nie vorstellen, mich in ihn zu verlieben.
Er hat braun-blondes Haar und seine Haut sieht ehrlich aus, wie Karamell. Sein Base Kap, seine Ärmellosen T-Shirts und seine breiten muskulösen Schultern, verleihen ihm das Aussehen eines Basketballspielers. Naja, eigentlich ist er ja auch einer. Die Mädchen rennen ihm in Scharen hinterher, was ihn jedoch nicht zu kümmern scheint, denn er hat aus irgendeinem Grund noch nie eine Freundin gehabt.
Ziemlich eingebildet ist er aber, sodass die Hälfte reichen würde.
Er schaut mit mir langweilige Mädchenfilme an verregneten Nachmittagen an – auch wenn er dabei die ganze Zeit die Hauptpersonen als »Ökotussis« oder »präpotente Tratschtunten« kritisiert und alle männlichen Geschöpfe, die in dem Film vorkommen als »Schwuchteln« bezeichnet. Mit ihm kann ich stundenlang durch die Stadt fahren, wenn mir einmal langweilig ist und über die Touristen herziehen.
Früher hatten wir oft Blubble Gum vom Automaten gekaut, um ihn anschließend unter eine Parkbank zu kleben und wir klingelten stets durch, wenn der Bus stehen blieb – Ich weiß, richtige Gangster waren wir!
Wir hatten das sogar noch ein Mal vor einem halben Jahr oder so gemacht. Das war kindisch, aber irgendwie auch witzig. Wenn ich mit ihm war, schien mir einfach egal zu sein, was die anderen von mir denken.
Luki war mein bester Freund.
»Habt ihr die Hausaufgabe schön fleißig gemacht?« Unsere Biolehrerin, Ms. Maci, rümpfte die Nase und wartete auf eine Antwort unsererseits.
»Was? Wir hatten Hausaufgabe?«, tat Trish erschrocken und fasste sich an die Brust.
Alle lachten – bis auf Mrs. Maci natürlich.
»Wie wir sehen ist Miss Ravera , was unsere Hausaufgaben angeht, wieder einmal auf dem Neusten Stand.«
Einige kicherten.
Trish blickte die Lehrerin einfach nur gebieterisch entgegen und kaute übertrieben auffällig auf ihrem Kaugummi.
»Ich bin mir aber sicher, dass einige in ihren Geburtspass geschaut haben und ihre Blutgruppe herausfanden.« Ms. Maci sah sich in der Klasse um. »Pam, welche Blutgruppe hast du denn?«
»Ich hab A negativ«, entgegnete sie leise.
»Wie cool, ich hab die gleiche wie du!«, reif Nelli aus.
Eigentlich hätte ich meine Blutgruppe auch gern gewusst, doch meine Mutter hatte meinen Geburtspass bestimmt nicht mehr. Ich hätte ins Krankenhaus gehen müssen, um es zu erfahren. Das war mir dann doch zu anstrengend gewesen.
Die Lehrerin erklärte irgendwas von Blutkörperchen, Hämoglobin, Universalspender und Universalempfänger und Rhesusfaktor. Bis auf Blutkörperchen hatte ich keinen Plan, was diese Begriffe bedeuten sollten.
Es klingelte zur Pause. Heute bleiben Pam, Nelli, Trish, Leo und ich in der Klasse. Pam hatte Mal wieder eine XXL-Packung Kekse dabei. Sie öffnete die Packung sorgfältig mit einer Schere und hielt sie uns entgegen.
Wir griffen sofort zu. Nicht, dass Pam die ganze Packung zu viel gewesen wäre. Ich zerkaute den Keks im Mund. Es war ein Doppelkeks mit weißem Nussteig und Vanillefüllung. Irgendwie schmeckte er ein wenig nach Pam. Vielleicht war das so, weil ihre Mutter die seit Jahren kaufte. Es waren die einzigen Kekse mit Vanillefüllung, die ihrer Meinung nach genug Ballaststoffe hatten.
Eine Sache ist mir immer aufgefallen. Pam aß die Kekse anders, wie alles andere. Für gewöhnlich stopfte sie Essen in sich rein, wie ein Mähdrescher. Bei den Keksen war das anders. Sie knabberte zuerst den Keksteig ab, der überstand, sodass der Keks nicht mehr über die Creme hinausging. Dann machte sie den Deckel ab, zerkaute ihn, schleckte die Vanillecreme herunter und aß dann den Boden. Ziemlich komisch, irgendwie.
Außerdem war Pam anders als die meisten Mädchen. Das fing schon damit an, dass sie eine ganze Kiste voll mit Barbiepuppen besaß, aber nie damit gespielt hatte. Vermutlich waren sie ein Geschenk ihrer Mutter Barbara gewesen. Viel lieber mochte sie Modellflugzeuge und ferngesteuerte Autos. Als sie älter wurde spielte sie Call of Duty auf der PlayStation, anstatt wie ich Sims auf dem PC. Sie musste die Spiele dann immer bei mir verstecken, weil ihre Mutter es nicht duldete, dass ihre brave Tochter Shooterspiele zockte.
Irgendwann brannte ihr Leo das Spiel auf die SingStar Best of Disney-CD-ROM, die ihr ihre Mutter gekauft hatte. Nur komisch, dass Barbara Winter die Hintergrundmusik von Call of Duty, die aus Pams Zimmer drang, nicht von Disneysongs unterschieden konnte.
Aber jetzt genug gelabert, denn jetzt erzähle ich die Geschichte.
Wie schon erwähnt ist dies nicht irgendeine Geschichte. Sie erzählt, wie wir das Leben von einer anderen Seite kennen lernten. Denn das Leben kann manchmal verdammt unfair sein. Keine gemütliche Landstraße mehr.
Heute würde ich mit Max, Pam, Leo, Lukas, Ben, Jill und Hella ausgehen. Wir waren eine Clique, die oft zusammen abhing. Nur Max gehörte nicht dazu, auch wenn er Pams Freund war. Er ging auf eine andere Schule und diesmal war es eine Ausnahme, dass er mitkam.
»Heute Abend werd’ ich wieder so richtig abgehn«, versicherte mir Lukas.
»Du verwechselst wohl abgehn’ mit vollsaufen, was?«, neckte ich ihn und grinste provozierend.
»Das musst genau du sagen! Du warst letzte Woche so voll, dass ich dich nach Hause tragen musste«, sagte Luki im schelmischen Tonfall.
»Du kleine Alkoholikerin!« Claudia grinste.
»Das ist doch gar nicht wahr!«, regte ich mich spielerisch auf. »Pam war auch dabei, die kann bezeugen, dass ich nicht so besoffen war! Stimmt’s, Pam?«
»Also ich sag dazu nichts!« Pam grinste mich schadenfroh an.
»Ich hasse dich Pam! Wahrscheinlich warst du so zugesoffen, dass du einen Filmriss hattest.« Sauber gekontert Nelli!
»Aus der Scheiße kommst du nicht mehr raus, Pam!« Leo hob vielsagend die Augenbrauen.
Doch Pam versuchte es trotzdem. Vergebens! Jill und Hella hatten sich jetzt auch zu uns gesetzt und lachten mit.
Jeder wurde verarscht und wir lachten und lachten. Mal über uns selbst, mal über die anderen.
Leo hatte es beinahe vom Stuhl gehauen. Wir winselten vor Vergnügen.
Allen taten die Bauchmuskeln weh, doch plötzlich wurde unser Lachen von einem lauten Knall schlagartig unterbrochen.
Der Lehrer hatte auf den Tisch gehauen. Alle blickten nach vorne. Da stand ein Mädchen.
»Meine Fresse!« Leo verzog das Gesicht. Lukas vergrub seine Augen in den Handflächen.
Sie war mager und trug dunkelblaue Turnhosen und ein ausgeleiertes dunkelblaues Shirt. Ihre dunkelbraunen Haare standen nach allen Richtungen ab.
»Das ist unsere neue Mitschülerin, Mara. Ich möchte, dass ihr sie gut in eure Klassengemeinschaft aufnehmt!«
Die ganze Klasse schwieg. Ich auch. Ich sah sie an und sie sah mich an. In ihren Augen konnte ich Angst ausmachen, doch da war noch etwas Anderes, etwas das mir selbst Angst machte.
Hier ist die Einfahrt in die Einbahnstraße.
Ich wandte meinen Blick ab. Plötzlich fühlte ich Schmerz. Unerträglichen Schmerz. Ich schloss meine Augen. In meinen Gedanken löschte ich sie aus. Mara war gar nicht da. Mara gab es nicht, es hatte sie nie gegeben. Alles nur Illusion. Zähneknirschen. Doch als ich meine Lider wieder nach oben zog, sah ich der Realität ins Auge.
Mara war da. Sie stand da, ehe sie sich wortlos neben Trish setzte. Ich konnte sehen, wie unangenehm es ihr war. Ich kannte Trish nur zu gut. Sie war nicht besonders Tolerant, was solche Sachen anging. Trish hatte dunkelrotes, voluminöses Haar. Sie sah zum Umfallen hübsch und niedlich aus mit ihrer Stupsnase, doch sie war nicht einmal annähernd so lieb wie sie aussah.
Sie erinnerte mich immer an Feuer und Zerstörung. Ja, Trish konnte auch nett sein, aber zu achtzig Prozent der Leute in ihrem Umfeld war sie gemein.
Mich konnte sie ganz gut leiden, doch Pam und Claudia stand sie nicht aus. Wer bei ihr beliebt sein wollte durfte auf keinen Fall hässlich sein, geschweige denn zu hübsch.
Ich wusste selbst nicht nach welchen Kriterien sich Trish ihre Freunde aussuchte.
Sie hatte Lange und schlanke Beine und auch sonst die schönste Figur, die man sich wünschen konnte. Manchmal fragte ich mich ob es verboten war, so sexy wie Trish auszusehen und anschließend gleich, ob ich vielleicht das Ufer gewechselt habe und nun doch das weibliche Geschlecht dem männlichen vorzog.
»OMG, die neue sieht ja aus wie ein Zombie!« Leo aß ein Sandwich und verzog dabei das Gesicht, wie er es immer tat, wenn er von etwas Widerlichen sprach. Er sah dann immer so witzig aus. »Du weißt aber schon, dass man OMG nur schreibt, oder?«, schmunzelte Luki amüsiert an Leo gewandt. »Halt’s Maul!«, zischte der und warf einen Gummi nach ihm.
Claudia, Lukas, Pam, Leo, Hella, Trish und ich waren auf dem Weg zum Bus, der uns von der Schule nach Hause brachte. Luki hatte wieder einmal seine Kamera laufen.
»Hey, Luki mich würde echt mal interessieren, was du mit dem ganzen Videomaterial dann machst!«, bemerkte Trish. Die ganze Diskussion über Lukis Angewohnheit, alles zu filmen was nur ging, nahm schon wieder ihren Anfang. Ich musste an den Stapel CDs, die sich hinter seinen Klamotten in seinem Schrank versteckten. Ich glaub' ich bin die Einzige, die davon weiß.
»Ich wette er bearbeitet das alles mit Photoshop so, dass am Ende ein Porno dabei herauskommt!« Leo lachte, worauf ihm Luki den Arm um seine Schulter schlang und seinen Kopf würgend nach unten drückte.
»Dein Gehirn ist so versaut! Weißt du das? Echt, man du bist nicht mehr zu retten!« Dann hob er seine Kamera wieder nach oben und richtete die Linse gegen Leo und sich. »Okay, jetzt reden wir einmal über die aktuellen Themen! Leo, erzähl uns doch mal was über die Neue in der Klasse!«
»Ich hab mir nur gedacht: Alter Schwede, da ist was bei der Zeugung schiefgelaufen!« Leo lächelte dümmlich.
»Du sagst es, man! So was von schiefgelaufen. Der möchte ich nachts nicht begegnen.« Leo und Lukas prusteten los.
»Ihr habt ja so was von Recht, die neue hat in dieser Klasse nichts zu suchen. Die soll verschwinden!« Trish machte einen abwertenden Gesichtsausdruck.
»Ich wette die hasst uns alle, so wie die Geschaut hat.« Claudia sagte das fast wütend. Sie war eigentlich immer schüchtern. So ist sie nur mit mir und Leo allein oder höchstens mit Lukas und da redet sie auch nur laut, aber nicht gemein., überlegte ich. Bei Gesprächen mit mehreren Leuten oder auch nur mit unserer Clique, lächelte sie zwar immer, riss ab und an einen Witz, doch sonst war sie immer still. Mir kam es manchmal so vor sie müsste sich erst ein Thema suchen, das allen gefiel und als sie es dann gefunden hatte, waren die anderen schon weg.
»Vielleicht ist das noch alles neu für sie und sie hat nur Angst nicht gemocht zu werden«, wand ich ein.
»Das glaubst du doch selbst nicht, diese Mara macht einem direkt Angst!« Claudia fuhr mich vorwurfsvoll an. Claudia du machst mir Angst! Ich dachte das, obwohl mir Mara zugegebenermaßen auch ein wenig Angst machte. Aber vielleicht war sie ja ganz anders und sie brauchte nur jemanden, der sie willkommen hieß.
»Ich meine ja nur, gebt ihr eine Chance! Auch wenn sie mir wie euch einfach nur Angst einjagt«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Ja, vielleicht hast du Recht, aber...ach keine Ahnung...«, entgegnete Lukas.
»Alter, was laberst du? Die hat ihre Chance bei mir schon in der ersten Sekunde als ich sie erblickte vergeigt!«, entgegnete Leo scharf.
»Meine auch und ich glaube ich spreche hier für alle!« Claudia schlug mit Leo ein.
Ich hätte nie gedacht, dass das einmal aus Claudias Mund kommt.
Ich konnte ja verstehen, dass die Jungs und Trish sie verarschten und gleich Vorurteile fällten. Denn Jungen und Trish waren gefühlskalt! Naja, nicht alle aber egal. Doch wo war die einfühlsame und herzensgute Claudia?
»Ich find die neue voll strange und schräg! Ihr stimmt mir doch alle zu, hab ich recht?« Trish hob die Hand zum Einschlagen bereit. Leo wollte gerade seine Handfläche gegen ihre schlagen, als eine Person an uns vorbei stürmte. Ganz dunkelblau. Den Kopf gesenkt. Eine neue Schultasche.
Erst sahen alle geschockt aus, doch dann prusteten sie los.
»Ey, Chica!« Leo pfiff. Alle lachten. Es war zwar nicht witzig, doch ich musste plötzlich auch lachen. Obwohl ich nicht wollte. Es geschah einfach. Ich glaube es war mehr so ein Reflex. Hör auf Nelli, das ist nicht witzig!
»Wenn sie schon so reich ist, versteh ich nicht wieso sie dann so schäbige Klamotten trägt!«, kritisierte Claudia, während sich Pam ein Sandwich aus ihrem Rucksack holte, das im vergleich zu ihrem Kopf riesig wirkte.
»Ich bin ganz deiner Meinung!« Trish nickte ihr anerkennend zu. Trish und Claudia? Die haben so viel gemeinsam wie ein Leopard und ein Stück Seife! Das Kapier ich nicht!
Doch dann dachte ich an etwas Anderes. Ich dachte an jemand anderen. An Leo. Er hatte mich die ganze Zeit über nicht einmal angesehen. Was war nur los mit ihm? Oder hatte ich etwas falsch gemacht…?
»Ich bin daaa!«, rief ich als ich durch die große, hölzerne Tür unseres Hauses trat.
»Hallo, Pamela, Schätzchen!«, rief mir meine Mutter aus dem Esszimmer entgegen.
Ich rannte schnell in mein Zimmer. Irgendwie hörte sich ihre Stimme heute fröhlicher an als sonst. Doch um ehrlich zu sein, war ich nicht in der Stimmung für eine gut gelaunte Mutter.
Als ich meine Schultasche und die Jacke auf mein Zimmer gebracht hatte, rannte ich die breiten Marmorstiegen hinunter und setzte mich schnell auf einen Stuhl im Esszimmer. Ich erschrak, als ich den Mann erblickte, der am anderen Ende des langen Tisches saß.
Als meine Mutter meinen erschrockenen Blick bemerkte, sah sie mich mit einem breiten Lächeln an. Ihre honigblonden Haare waren im Nacken zu einem edlen Dutt gewunden, eine lose Haarsträhne hing heraus, was sie viel jünger wirken lies.
»Pamela, das ist Victor. Victor das ist Pamela, meine Tochter.«
»Guten Tag«, sagte ich vorsichtig, dachte aber nebenher daran, was für eine Milchfresse er doch hatte.
»Hallo, Pamela«, sagte er ruhig und lächelte dabei sanft. Seine Haare waren braun und mit einem leichten Grauschleier überzogen. Er trug einen rot braun karierten Pulnder und dazu passende Anzughosen. Er war von schmächtiger Statur und machte einen sehr ordentlichen Eindruck. Ein klassischer Streber, dachte ich schmunzelnd. Wichtiger als diese Aussage war jedoch eine bestimmte Frage. Was wollte der Mann bei uns zu Hause? War er ein Freund von der Arbeit meiner Mutter? Einer ihrer Kunden? Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie mit solchen »Schnöseln« zusammenarbeitete.
Erst jetzt viel mir auf, dass meine Mutter eine kurze Schürze trug. Weiß mit Rüschen. Aus der Küche kam ein Geruch nach frisch gekochtem Essen, den ich eigentlich nur von Nelli zu Hause kannte. Meine Mutter kochte?! Irgendwas stimmte hier gewaltig nicht.
In diesem Moment kam meine Mutter fröhlich hereinstolziert.
»Das Essen ist gleich gegart«, flötete sie und verschwand mit einem Lächeln in der Küche. Ich musste mit ihr reden. Jetzt sofort. Ich schob meinen Stuhl zurück und steuerte mit großen Schritten auf die Küche zu. Meine Mutter stand ziemlich hilflos am Herd, doch sie hatte sich vor Victor nichts anmerken lassen. Der Duft von Speck und Eiern stieg mir in die Nase. Spaghetti alla Carbonara, las ich auf der aufgeschlagenen Seite des Buches, die meine Mutter nervös beäugte.
»Hey, Mum, wer ist der Typ?« Beinahe wäre mir statt Typ die Bezeichnung Spast für ihn rausgerutscht.
»Victor ist kein Typ, er ist ein kultivierter Mann, Pamela«, antwortete sie und sah mir dabei streng in die Augen, ehe sie sich wieder dem Essen zuwandte.
»Und wieso isst er bei uns?« Ich musste mich bemühen, um nicht genervt zu klingen.
»Ich habe ihn bei Starbucks in Berlin kennengelernt.«
Ich nickte nur stumm, denn ich wusste, was sie mir sagen wollte. Sie sprach es jedoch nicht direkt aus.
Anstatt sie etwas über Victor zu fragen, stand ich nur neben ihr und sah ihr dabei zu, wie sie hilflos am Herd herumhantierte. Man wird keine Köchin, in nur einem Tag, Mum!
Ich starrte auf ihre Schürze, auf der noch das Etikett hing. Offenbar brachte sie die Anwesenheit dieses Mannes dermaßen durcheinander, dass sie es nicht mehr auf die Reihe brachte ihre übliche Ordentlichkeit einzuhalten. Eigentlich sollte ich es ihr sagen, dass da ein Etikett an ihrer Schürze hängt, aber sie kann es mir nicht vorwerfen, wenn ich es ihr nicht sage. Also soll sie ruhig nachher darauf kommen und meinetwegen deshalb vor Unbehagen in Ohnmacht fallen!
Ich wollte nicht wieder ins Esszimmer, denn jetzt wusste ich, um wen es sich bei Victor handelte. Er war viel mehr, als nur ein Bekannter meiner Mutter; viel mehr, als ein kultivierter Mann.
Er war der Ersatz für meinen Vater.
Nach dem Essen, bei dem meine Mutter nebenbei das Salz vergessen hatte, ging ich die marmornen Treppen in mein Zimmer hinauf. Am liebsten hätte ich die Tür wütend ins Schloss krachen lassen. Ein kultivierter Mann… Das ich nicht lache!
Ich setzte mir meine neuen Kopfhörer auf und lies mich mit den Klängen von Where Is My Mind (Lukas’ Lieblingssong) auf mein großes Bett fallen. Es stand an der Wand gegenüber meiner Tür. Ich starrte mit wachsamen Augen auf sie, so als hätte ich Angst, jemand könne meine Privatsphäre verletzen. Irgendwas in mir schmerzte. Ich hatte das Bedürfnis nach meinem Vater. Er hatte mir immer über die Haare gestrichen und geflüstert: »Denk immer daran, irgendwann wird alles gut, meine Prinzessin.«
Ich verbannte die Erinnerung schnell aus meinem Kopf, denn ich spürte wie die Narbe tief in mir erneut aufzuplatzen drohte.
Fliegende Murmeltiere!, sagte ich in meinem Kopf – mein Mantra gegen Gedanken an meinen Vater. Die beiden Worte waren, jedes an sich, wahr und zusammen paradox. Das lenkte mich immer ein bisschen ab.
Ich setzte mich an meinem Schreibtisch und wiederholte, was wir heute in Mathematik gemacht hatten. Es war schwer sich auf etwas zu konzentrieren, das mich nicht im Geringsten interessierte. Doch nach ein paar Minuten warf ich mich in die Zahlen und es gelang mir, für eine Weile abgelenkt zu sein.
Nachdem ich alles durchgegangen war, legte ich das Heft beiseite. Ich blickte auf die Uhr meines iPods. Fünf vor drei. In einer guten halben Stunde würde ich in der Stadt sein müssen. Nelli und ich wollten uns Kleider für heute Abend kaufen, doch ich hatte das ungute Gefühl ich würde heute kein Geld von meiner Mutter bekommen. Das Wichtigste heute war aber nicht das Kleid, sondern das Thema auf das ich Nelli ansprechen wollte. Ich musste mit ihr dringend über Claudia reden. Sie hatte sich heute wie eine komplett andere Person verhalten. Und seit wann war sie so gemein? Aber vielleicht war ich auch nur eifersüchtig, dass nun auch Claudia auf dem Weg war so beliebt wie Nelli zu werden. Ich würde wohl immer meinen Ruf als Streberin behalten.
Seufzend rappelte ich mich auf und zog mir einen weißen Strickpulli mit schwarzer Schrift über. Dazu kombinierte ich meinen dunkelblauen Mantel. Kurz dachte ich an die schwarze Lederjacke, die im Laden neben dem dunkelblauen Mantel hing. Dieser Pulli mit weinroten Biker Jeans und der schwarzen Lederjacke! Doch ich hatte die Dinge rasch wieder zurückgelegt, weil ich an den kritisierenden Blick meiner Mutter dachte.
Schnell lief ich die Treppe hinab und grüßte meine Mutter, die noch immer Victor im Esszimmer gegenübersaß. Sie lachte ihm ins Gesicht. So glücklich hatte ich sie seit langem nicht mehr gesehen.
»Mama, ich gehe jetzt in die Stadt.«
Als sie mich hörte sah sie kurz auf. »Um sechs seid ihr dann spätestens wieder hier, Pamela Schätzchen!«
»Ja, ich weiß.« Ich musste mich sehr anstrengen, um nicht genervt zu klingen.
»Dann, tschüss, Schätzchen.«
»Tschüss!«
»Wiedersehen, Pamela«, fügte Victor noch hinzu.
Ich wusste, dass er es wahrscheinlich nett gemeint hatte, doch am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Lag es an seiner Arroganz? An seiner hochnäsigen Haltung?
Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass er von einen Tag auf den anderen in unser Haus geplatzt war und meine Mutter für ihn gekocht hatte. Ich war ihre Tochter und sie hatte sich nicht ein Mal die Mühe gemacht mir Pancakes, meine absolute Lieblingsspeise zu kochen. Die hatte nur mein Vater für mich gemacht.
~ Nelli ~
Pam und ich hatten es uns in ihrem Zimmer gemütlich gemacht. Wir waren einkaufen gewesen und ich hatte mir ein Kleid für heute Abend gekauft.
Pam hatte diesmal alles in den Regalen liegen lassen und sich ohne Beute aus dem Laden bewegt. Ich hatte sie des Öfteren gefragt wieso, doch sie hatte nur geantwortet, dass sie heute keine Lust habe, ein Kleid zu kaufen.
Irgendwas stimmt nicht mit ihr! Sonst würde sie kämpfen, nur um das letzte Paar Schuhe in der Auslage zu ergattern.
Ich drehte mich in ihrem Zimmer vor dem Spiegel. Die Einrichtung des großen Raumes war im schlichten Weiß gehalten und mit dezenten pastellrosa Farben dekoriert. Er wirkte sehr edel und auch ein wenig zu steril. Ich wusste, dass Pam richtig Unordnung machen konnte, doch ihre Mutter erinnerte mich immer an die Putzpolizei im eigenen Hause. Sie besaß drei verschiedene Staubsauger: Einen für den Boden, einen für die Treppen und einen kleinen, den man schnell zur Hand hatte. Benutzt wurden diese fast ausschließlich von der eingestellten Putzfrau – bis auf den kleinen natürlich. Es war ein mir vertrauter Anblick Betty, die Haushaltshilfe über die ohnehin schon sauberen Marmorböden des großen Hauses putzen zu sehen. An jeder Ecke stand ein Luftbefeuchter, der zudem einen bestimmten Duft in sich hatte, weshalb es in Pams Haus immer nach künstlicher Rose roch. Passend zum künstlichen Rosenstrauch beim Eingang, dachte ich. Sogar die Seife war immer in der Duftrichtung Rose. Ein schönes Haus. Eigentlich war es ein perfektes Haus, sodass man sich erst gar nichts zu berühren wagte, in der Angst alles würde in sich zusammenbrechen.
Immer noch stand ich vor dem Spiegel mit den in den weißen Holzrahmen eingeschnitzten Ranken und betrachtete mein Spiegelbild.
Ich trug das Weinrot-weiße Kleid mit Highheels und bemerkte die neidischen Blicke von Pam, die in ihrem schwarzen Kleid, das sie schon öfter angehabt hatte neben mir stand, doch sie lächelte und sagte: »Steht dir super, du siehst richtig hübsch darin aus!«
»Danke! Du auch, wie immer.« Sie gab mir ein Küsschen auf die Wange und rannte in den Flur, wo sie sich ihre und meine Jacke krallte.
Als wir gerade zur Tür hinauswollten, tauchte ihre Mutter auf und bedachte uns mit ihrem strengen Blick. Barbara Winter war eine junge Frau, jedoch zeichnete sich bereits eine tiefe Furche zwischen ihren Augen. Sie trug wie immer Perlenohrringe, einen Blazer und weite, elegante Stoffhosen. »Pamela, hast du nicht etwas vergessen?«, sagte sie im strengen Ton an Pam gewandt.
»Mom, ich habe alles dabei: Ausweis, Fahrkarte, Geld...« Sie klang ein wenig genervt, doch ich merkte, dass sie es zu verbergen versuchte.
»Auf das wollte ich nicht hinaus«, erwiderte ihre Mutter knapp. »Ich möchte, dass du heute nicht zu spät nach Hause kommst, denn du weißt, dass für Montag der Literaturtest ansteht und ich habe gesehen, dass deine bisherigen Noten in Italienisch eher enttäuschend ausgefallen sind.«
Pam schloss kurz die Augen und atmete tief ein. »Im letzten Test hatte ich eine neun, Mom.«
»Na also, Platz nach oben ist noch genügend.«
Ich konnte die Wut förmlich sehen, die in Pam zu wachsen begann, doch sie verlor die Kontrolle wie immer nicht. »Gut, Mom, ich werde mich bemühen.«
»Schön, Pamela.« Ihre Mutter setze ihr gekünsteltes Lächeln auf und verabschiedete sich von uns.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, herrschte Stille. Es war schon längst dunkel draußen. Schweigend schritten wir über den beleuchteten mit Kiesel bestreuten Weg, der rechts und links von perfekt gemähten Rasen umgeben war. Nur das knirschende Geräusch das unsere Fußsohlen verursachten, war zu hören.
»Wieso lässt du dir das immer wieder gefallen?«, schnitt ich das Thema zum gefühlt hundertsten Mal an.
»Du weißt doch wie meine Mutter ist. Sie will, dass ich in allem die Beste bin.« Pam seufzte. Ihre Wut hatte sich wie üblich in Gleichgültigkeit verwandelt.
»Aber Pam, du bist Klassenbeste!«
»Ich könnte die beste der ganzen Schule sein und es würde ihr nicht reichen.« Sie sah mir in die Augen. »Wegen der Acht im ersten Test hat sie mir sogar ein dreibändiges Buch über die italienische Grammatik gekauft. Der Akkusativ ist dem Genitiv sein Tod oder so, heißt das. Ich kapier nicht mal den Sinn dahinter, ein Buch so zu nennen.«
Jetzt glaubte ich zu wissen, wieso Pam sich nichts mehr kaufen konnte. Ihre Mutter hatte ihr einmal wieder das Geld wegen ihrer Noten gekürzt. Ich stieß ein trotziges Lachen aus.
»Du brauchst diese Scheiße auch nicht. Da hätte es Ben irgendwie viel nötiger«, meinte ich zu ihr, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. »Wenn er den Mund aufmacht, hört es sich immer so an, als wolle er die italienische Sprache vergewaltigen.«
Darauf musste Pam lachen. Ich schlang einen Arm um sie. »Und jetzt wird nicht mehr an Schule gedacht. Jetzt lassen wir so viele Kurze runter, bis wir nicht mehr wissen, dass die italienische Sprache überhaupt erfunden wurde.« Wieder lachte Pam und ich merkte: es ging ihr schon viel besser.
Wir nahmen den Stadtbus, der uns zum Opernplatz brachte, wo wir uns mit den anderen trafen. Von dort aus würden wir, dann mit einem anderen Bus nach Pano ins Starfields fahren. Eine unserer Lieblings-Discos.
Heute kam auch einmal Claudia mit. Das freute mich, wo sie doch sonst immer zu Hause bleiben wollte.
Als wir in den orangen Bus mit der Nummer drei einstiegen und wir uns auf die Bank ganz hinten setzten, begann ich plötzlich über Leo zu sprechen. Die Worte hatten sich die ganze Zeit über in meiner Kehle gestaut.
»Leo küsst mich nicht mehr...« Ich lies die Bombe einfach so platzen. Ein wenig verwirrt sah Pam mich an.
»Ach, vielleicht ist er zurzeit gestresst, du weißt schon wegen der Schule und so.« Pam legte tröstend eine Hand um meine Schulter.
»Ich wünschte du hättest recht.« Ich war kurz davor in Tränen auszubrechen, doch ich hielt mich zurück.
»Du bist so ’ne Schlampe Jill!« Ben grinste sie an.
»Ich weiß, dass ich scharf aussehe.« Jill wackelte mit ihrem Po und tanzte zum Scherz um die Busstange. »Das ist Kino!«, bemerkte Lukas. »Das ist einfach der Hammer, ich fühl mich wie in ‘ner Stripperbude, dabei befinden wir uns im Bus. Linie Nummer 225.« Ben amüsierte sich prächtig.
Wir hatten ihn auf der Bushaltestelle getroffen.
Ben hatte dunkelbraunes Haar und glänzende Augen. Er trug Hemden und Röhrenjeans in allen Farben, die zusammenpassten.
Heute trug er ein schwarz-weiß Karo Hemd mit einer weinroten Hose und Skater Schuhen. Er sah nicht schlecht aus! Ich fand ich ihn vom ersten Moment an, als ich ihn kennenlernte gut.
Es war vor anderthalb Jahren gewesen. Leo hatte ihn einmal zu einem Treffen unserer Clique mitgenommen. Da waren Leo und ich noch kein Paar. Ich weiß noch, wie er mich angesehen hat, wie sich seine Stirn in Falten legte und er dabei lächelte. Ich malte mir manchmal aus, wie tief die Furche zwischen seinen Augen wohl sein mochte, wenn er einmal alt war. Ich hatte ihm das einmal gesagt und seitdem zog ich ihn damit auf. Wir verstanden uns vom ersten Moment an.
Ich riss meinen Blick von ihm und sah ein paar Sitze weiter. Da saß Pam auf Max‘ Schoß. Die beiden küssten und streichelten sich. Beinahe war mein Blick neidisch.
Leo saß neben Hella und unterhielt sich mit ihr. Die beiden kicherten und berührten sich immer wieder. Schlampe!, ging es mir durch den Kopf.
Ab und zu warf Leo einen prüfenden Blick auf mich. Was sollte das? Ich gab es auf. Jetzt würde ich ihn in Ruhe lassen, aber im Starfields würde ich ihn zur Rede stellen.
Ich wandt mich wieder Ben zu, der gegenüber mir saß. Neben Ben saß Lukas und neben mir Jill, die wiederum gegenüber von Lukas saß.
»Jill, wieso bist du eigentlich gegen das Rauchen?«, fragte Ben. »Ich bin nicht gegen das Rauchen, kapiert? Ich rauche nur Schischa mit Melonen-Geschmack!«
»Schischa ist was für Weicheier. Das ist wie Bonbons kauen!«
»Na und, von Schischa wird man nicht abhängig, du Junkie!«, verteidigte Jill ihren Posten.
»Ich bin ja überhaupt nicht abhängig!«, entgegnete Ben. Daraufhin prustete Lukas los. »Du und nicht abhängig? Ein Beispiel: Du hast eine schlechte Note bekommen, dann kommst du schon zu mir und sagst ‚Jetzt muss ich aber eine rauchen gehen!‘ Oder: Du hast dein Handy vergessen, dann heißt es immer: ‚Shit ich hab mein Handy vergessen, jetzt könnte ich eine Zigarette vertragen! Erzähl mir ja nicht du wärst nicht abhängig!«
»Ey, Alter was laberst du für ne Shit?« Ben machte hin und wieder einen Grammatikfehler, weil er zur Hälfte Russe war. »Deine Sprache ist echt so diskriminierend!« Lukas gluckste. »Voll der Hammer ne Shit!« er hielt sich den Bauch vor Lachen. Ich lachte auch. Es war eigentlich nicht lustig, doch er machte die gleichen Fehler immer wieder.
»Also wir Mädchen finden den Akzent geil!« hauchte ich mit gespielter Emotion und zwinkerte ihm zu. »Eben da hast du’s. Bist nur du so ne Tussi, Luke!«, kommentierte Ben im provokanten Tonfall.
»Ey, Fresse halten, kapiert?« Lukas konnte sich nicht anders verteidigen, offenbar war auch ihm einmal der Wortschatz ausgegangen.
In allen Farben leuchteten die Lichter. Es war wie eine unwirkliche Welt voller Energie und Adrenalin. Im Starfields war heute wieder einmal viel los.
Pam und Max tanzten schon eng umschlungen im Takt der Musik.
Ich saß mit Lukas, Jill, Claudia und Ben an der Bar. Leo sah ich nicht. Ich hielt Ausschau nach ihm. Nach einigen Augenblicken entdeckte ich ihn. Er tanzte mit Hella. Ziemlich nahe standen sie sich, fast schon zu nahe und Leo sah mich an. Dieser Blick. Ich musste verschwinden. Ich bahnte mir einen Weg nach draußen. Das Starfields war ein weißes zeltähnliches Gebäude. Ich stand draußen und schnappte nach Luft. War ich etwa eifersüchtig? Ich konnte jedenfalls etwas Ähnliches wie Zorn in mir erahnen.
Ich konnte mich noch gut erinnern wie Leo und ich zusammengekommen waren.
Es war ein warmer Tag im Juli und Leo und ich hatten unsere erste Verabredung. Mann, war ich nervös!
Wir hatten uns im Wald getroffen. Kein Plan wieso.
Die Sonne funkelte durch die saftigen grünen Blätter des Ahornbaumes und Vögel sangen ihre Lieder.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
Ich fuhr herum. »Ben, hast du mich erschreckt!« Ich hielt mir die Hand vor die Brust.
»War auch Sinn und Zweck der Sache!« Er schmunzelte. Dann kramte er in seiner Hosentasche und fand schließlich sein Feuerzeug und seine Packung Zigaretten. »Du auch?«
»Nein, danke! Du weißt, ich steh nicht so auf Rauchen!«
»Ich wette du hast es noch nie probiert und findest es deshalb scheiße!«
»Rauchen ist ungesund!«
»Ich weiß, aber ein Mal kann nicht schaden!«, versuchte er mich zu überreden.
»Okay, gib schon her!« Ich grinste verschmitzt. Aber ich wusste genau, wenn da nicht dieses komische Gefühl gewesen wäre, hätte ich nie eine geraucht. Ich hustete kräftig als ich den ersten Zug nahm. Einfach ekelhaft, doch ich zog weiter an der Zigarette.
Ich hustete noch mehr. »Geht`s dir gut? Nicht, dass ich Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten muss!« Ben musste über sich selbst lachen. Ich grinste. »Nein…« Ich hustete. »Es, g-e-h-t schon besser!«
»Hört sich aber nicht so an!«
»Was hast du eigentlich gemeint mit Wiederbelebungsmaßnahmen?«, grinste ich. Nelli du bist so dumm! Du weißt es doch ganz genau!, schalt ich mich im selben Moment.
»Soll ich es dir zeigen?« Ben lachte.
»So billig!«, schmunzelte ich und schüttelte dabei den Kopf.
»Ein Klassiker.« Niemand hätte das so...so...ach ich weiß auch nicht. Wir sahen uns an und ich bemerkte die Linie, die sich zwischen seine Augen zeichnete, sich glättete. Ich kannte diesen Blick und ich wusste, dass es geschehen würde. Völlig egal, was ich unternahm.
Im nächsten Moment berührten sich unsere Lippen sanft. Für einen kurzen Augenblick. Sehr langsam und zärtlich. Ich schmeckte den warmen Geschmack von weichen Lippen. Es war wie ein kurzer Stromschlag. Einer, der einen wiederbeleben konnte, aber ebenso töten.
Ich drehte mich zur Seite und sah jemanden, der mich jetzt nicht sehen durfte: Leo. Hatte er mitbekommen, dass Ben und ich uns geküsst hatten? War das überhaupt Leo gewesen?
Anscheinend sah ich schockiert aus. »Tschuldigung!« murmelte Ben und sah auf den Boden. Und ich dachte nur: Was hast du getan?! Auch wenn es nicht Leo war, ich hatte meinen Freund betrogen.
Ich fühlte mich hilflos und hatte keinen blassen Schimmer, warum ich das getan hatte. Ich atmete schwer.
Stille, die sich wie ein Gummiband dahinzog. »Ich hab kalt gehen wir nach drinnen?«, sagte ich fast tonlos.
Ben nickte nur.
Sie hatte einen Tunnelblick aufgesetzt und kämpfte sich fieberhaft durch die Menschenmassen. »Nelli!« Ich hielt sie am Arm zurück, als sie beinahe an mir vorbei huschte.
Als sie mich bemerkte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie sagte nichts, sondern sah mich nur entgeistert an.
»Nelli, ist was?«, schrie ich, um die laute Musik zu übertönen.
Sie schüttelte bloß den Kopf und versuchte weiter zu gehen. Ich hielt sie wider fest. »Nelli!«
Sie schlug sich die Hand auf ihr Gesicht.
Ich zerrte sie auf eine Couch, wo wir neben einem knutschenden Pärchen Platz nahmen. Das war ein bisschen seltsam.
»Nelli, was ist?«, versuchte ich es noch ein Mal.
Sie schüttelte abermals nur den Kopf. Anscheinend war sie wegen etwas so angepisst, dass sie nicht mehr reden wollte. Sie schien mir aber nicht nur wütend, sondern auch traurig. Vielleicht lag es an Leo. An ihn machte sich Hella schon den ganzen Abend lang ran.
Wenn sie kein Mädchen wäre, würde ich sie schlagen!, dachte ich und merkte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten.
Mir selbst ging es auch nicht wirklich besser. Überall waren diese Pärchen und knutschten. So sah ich also für gewöhnlich aus, wenn ich ein Mädchen aufriss, doch im Moment konnte ich es mir irgendwie nicht vorstellen. Worin lag der Reiz? Muss echt toll sein, jemanden dauernd ins Maul zu sabbern. Hmmm, lecker Bakterien! Wie ich feststellen musste, hatte ich gerade anscheinend ein echtes Problem.
Ich warf wieder einen Blick auf Nelli. Sie sah so verdammt deprimiert aus. Ich hatte den Drang, sie sofort aufzuheitern.
Es lief gerade Reality von Lost Frequencies. Die rhythmischen Gitarrenakkorde wurden von der süßen Melodie umspielt. Ich wusste, dass Nelli das Lied liebte.
Sie hörte es an verregneten Nachmittagen. Wann immer dies der Fall war, öffnete sie das Fenster, drehte das Lied auf die volle Lautstärke und tanzte verrückt durch den ganzen Raum. Dabei wurde sie vom Rauschen des Regens und den Tropfen, die gegen die Scheibe prassten, begleitet. Das wusste ich, weil ich sie manchmal dabei erwischt hatte, als sie noch neben mir wohnte. Ich hatte ihr das aber nie gesagt.
Ich stand auf, sah sie an und begann leicht hin und her zu wippen.
Sie legte die Stirn in falten. Ihre Nasenflügel bebten; so als würde sie sagen Du kannst mich nicht aufheitern! Mach dich nicht zum Affen!
Ich verzog mein Gesicht zu einer komischen Grimasse und nickte im Tackt.
Nelli schüttelte den Kopf. Du kannst nicht tanzen, also lass es!
Ich riss meine Augen auf und tat so, als wäre ich ein Vogel oder so was Dummes.
Sie blickte mürrisch.
Dann machte ich den Chinesen mit den Schlitzaugen; wie sie es früher im Kindergarten immer gemacht hatte.
Plötzlich lächelte sie ein kleines Lachen und ihre niedlichen Eckzähne zeigten sich.
Ich streckte ihr grinsend die Hand entgegen.
Schüchtern presste sie die Lippen aufeinander, um nicht zu sehr zu lachen und schüttelte den Kopf. Sie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Doch ich wusste ganz genau, dass sie sich jetzt tief in sich drinnen kaputtlachte. Sie wollte es nur mit aller Kraft verbergen.
Ich versuchte es noch ein Mal, indem ich mich vor ihr übertrieben nobel verbeugte.
Daraufhin musste sie losprusten. Sie gab mir ein wenig widerwillig ihre Hand.
Ich zog sie hoch.
Die bunten, gleißenden Lichter flackerten über ihrem Gesicht, das jetzt schon deutlich fröhlicher aussah. Ich machte einen der komischen Moves, die Nelli immer in ihrem Zimmer machte.
Sie kniff mich in den Arm. Doch dann tat sie es mir nach. Zuerst, ein wenig unsicher, doch dann bewegten wir uns immer ausgelassener. Nach und nach, verschwanden die Menschen um uns herum. Die Peinlichkeitsgrenze für die Öffentlichkeit war längst überschritten. Doch da waren nur noch wir, in einem Meer von blinkenden Lichtern.
Ich drehte Nelli an der Hand herum. So, wie man es beim klassischen Tanz macht. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und musste herzhaft lachen. Es war ansteckend. Dann tat Nelli, so als wäre sie ein Huhn. Ich schwang die Hüften und wackelte mit dem Arsch als wäre ich eine Prostituierte.
– oder so was Ähnliches. Wir sahen echt verdammt dämlich aus!
Ich legte die DVD in den Player, kniete auf dem Fußboden und hatte Pam und Claudia den Rücken zugekehrt. Ich atmete schwer. Gleich würde ich ihr von dem erzählen, was gestern Abend passiert war.
Im Wohnzimmer war es dunkel. Nur das Flackernde Feuer aus dem Kamin erhellte das große Zimmer. Es machte diesen düsteren Sonntagabend gemütlicher.
Meine Eltern waren nicht zu Hause und so hatte ich beschlossen Pam und Claudia einzuladen, um mit ihnen einen gemütlichen Mädchen-DVD-Abend zu verbringen.
Der Raum war mit modernen, Holzmöbeln ausgestattet. Überall standen Kerzen und Weihnachtsengel. Es roch nach Orangen.
Ich schloss das DVD-Fach.
Dann drehte ich mich zu meinen Freundinnen um und setzte mich neben sie auf das gemütliche Sofa. Ich griff nach ein bisschen von dem süßen Popcorn.
»Na dann, schieß los. Was ist die dringende Sache, die du mir heute im Bus nicht sagen wolltest?« Pam sah mich erwartungsvoll an.
»Ja, was ist passiert?« Ich konnte auch Claudia ansehen, dass sie vor Neugierde zu platzen drohte.
Ich mochte es, dass sie immer interessiert an meinen Problemen waren. »Also…es geht um Ben…«, begann ich vorsichtig und starrte auf den weißen Polster, der mit schwarzen Samtranken versehen war. Ich strich über die weichen Samtstellen, fuhr an ihnen entlang.
»Ja, und?«, hackte Pam wissbegierig nach.
»Wir – wir haben uns geküsst…« Ich konnte spüren wie mir das Blut ins Gesicht schoss. »Was?«, entführ es Pam fassungslos. Auch Claudia war die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.
»Ich weiß, ich weiß. Ich hab einen Fehler gemacht!«
»Einen Fehler nennst du das? Du betrügst Leo!«
»Herrgott nochmal, das weiß ich auch!«, sagte ich mit wimmerndem Unterton. »Sieh mich an Nelli. Sieh mich an und schwöre mir, dass du das nie wieder machst!«, befahl Pam.
Ich sah auf doch ich hielt ihrem aufgebrachten Blick nicht stand.
»Ha! Hab ich dich! Da ist doch irgendwas total schiefgelaufen zwischen euch! Es tut dir nicht so richtig leid, sonst hättest du mir in die Augen gesehen. Stimmt‘s?« Pam neigte ihren Kopf zur Seite und schwenkte ihn nach unten um meinen Blick zu fangen.
»Ja. Das stimmt. Gestern Abend wollte ich alles wieder in Ordnung bringen, doch dann war er nur noch mit Hella, so als ob es mich nicht mehr gäbe!«
»Dann kann ich dich verstehen«, sagte Claudia verständnisvoll, wie immer.
»Ach Schätzchen, das wird alles wieder gut! Da bin ich mir sicher.« Pam legte ihren Arm behutsam um meine Schulter. Doch ich schüttelte ihren Arm ab. »Nein!« Ich sah ihren verwirrten und zugleich verletzten Gesichtsausdruck.
»Was willst du damit sagen?«
»Vielleicht, dass man manchmal nicht will, dass alles wieder gut wird.« Claudia ersparte mir die Antwort und komischerweise hatte sie auch noch Recht.
»Ja, ich will damit sagen, dass es vielleicht aus ist! Und überhaupt denke ich, Leo wird sowieso mit mir Schluss machen, weil er uns gesehen hat.« Ich strich mir eine kleine Träne aus den Augen. Für einen Moment lang herrschte Stille.
»Was?!« Pam sah mich geschockt an. »Du willst Schluss machen?« Man sah ihr die Verwunderung ins Gesicht geschrieben.
»Ach, ich weiß auch nicht mehr was ich will...« Ich war verzweifelt.
»Was soll ich tun?« Ich sah sie an. Erst Pam dann Claudia. »Sagt mir, was ich tun soll!«
»Ich weiß es nicht!«, sagte Pam. »Aber ich weiß, dass du jetzt einen Filmabend mit deinen Freundinnen brauchst.«
Ich lächelte. »Ja, ich glaube du hast recht.« Dann legte sie ihren Kopf gegen meinen. Claudia klammerte sich, wie ein Kätzchen an meinen Arm. Ich war froh sie neben mir zu haben. Es fühlte sich sicher an.
Als der Film vorbei war, musste Pam schon nach Hause. Ich mochte Pams Mutter nicht sonderlich, weil mir es so vorkam, als müsste sie immer das beste Bild nach außen hinzeigen. Die perfekte Familie. Dabei erzählte mir Pam manchmal, wie sie ihr Stiefvater stundenlang im Zimmer einschloss, damit sie ihre Hausaufgaben machte. Außerdem wusste ich, dass ihre Mutter genug Geld hatte und Pam alles kaufte – unter der Bedingung, dass sie gute Noten schrieb. Verdammt perfekter Scheißhaufen von Familie! Seit ihr Vater gestorben war, kurz bevor sie dreizehn wurde, zeigte sie sich noch mehr introvertiert, als sie ohne hin schon immer gewesen war.
Claudia und ich schliefen die ganze Nacht vor dem Ofen. Kurz bevor wir schlafen gingen, flüsterte sie noch: »Nelli?«
»Ja?«
»Was, wenn das mit Ben nicht ein Fehler war, sondern der Anfang von etwas Wunderschönen?« Ich sah zu ihr und lächelte.
Was Claudia sagte, brachte mich durcheinander und hielt mich lange wach, doch während ich so in die warm leuchtende Glut starrte, machte sich vielleicht auf irgendeine Weise ein Gefühl von Glück in mir breit.
Als die schwere Haustür von Nelli ins Schloss viel, überkam mich ein kalter Luftzug. Ich wickelte mir meinen Schal enger um den Hals.
Ich hatte keinen Bock nach Hause zu gehen. Ich hasste keine Menschen, doch, wenn ich jemanden hassen müsste, dann würde ich, den neuen Freund meiner Mutter, hassen. Er spielt sich auf, als wäre er mein Vater. Dabei war er nur ein reicher, spießiger Schnösel, der mit Worten um sich warf wie ein notgeiler Firmenchef mit Banknoten in einem Stripschuppen. Nur leider waren es keine Fünfer oder Zehner, es waren viel mehr Zwei- und Fünfhunderter. Hohes Niveau des Wortschatzes und so ne Scheiße. Ich schnaubte trotzig. Wenn er meine Gedanken hören könnte, würde er mich vielleicht sogar aus dem Haus jagen. Vielleicht gehöre ich auch nicht mehr hier her...
Ich seufzte, als ich die durch den Park ging und vor der Haustür nach den Schlüsseln kramte. Als ich einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr warf, stellte ich seufzend fest, dass ich fünf Minuten zu spät war. Verdammt, sie sind sowieso schon sauer auf mich wegen der schlechten Noten in Italienisch.
Ich schwang die Panzertür auf und erschrak. Denn da stand meine Mutter in ihrem Satin-Pyjama mit Spitze und verschränkte die Arme vor der Brust. »Pamela, ich hoffe du hast eine passable Entschuldigung für dein Zuspätkommen.« Sie sah mir streng ins Gesicht.
»Mum, ich kann das erklären. Du weißt doch, dass ich meine Uhr immer fünf Minuten vorlaufen lasse, damit ich sicherstelle, dass ich pünktlich komme. Nun ist es aber so, dass ich dann immer fünf Minuten zu der Zeit die mir noch blieb dazu gerechnet habe und entschied ich mich dazu, die Uhr wieder auf die richtige Zeit zurück zu setzen und das hab ich heute vergessen...« Sauber, sauber!, bewunderte ich mich selbst. Es war aber auch nicht ungewöhnlich, dass mir eine Lügengeschichte so schnell einfiel, denn in diesem Haus zählte das schließlich zu den überlebenswichtigen Dingen.
»Na gut, geh auf dein Zimmer.« Sie seufzte.
Ich wollte mich schon hastig an ihr vorbeischieben, als sie mich zurückhielt »Warte!«
»Was?!«, fragte ich jetzt genervt, weil ich keine Lust auf weitere Moralpredigten hatte.
»Gute Nacht, meine Süße«, flüsterte sie dann aber und ihre Stimme klang dabei beinahe ein wenig zärtlich.
»Gute Nacht, Mum.«
Als mein großer Bruder noch nicht ausgezogen war, brachte er mir das Lügen bei und wie ich Mum ein wenig manipulieren konnte.
Ich vermisste ihn sehr, seit er ins Ausland gegangen war, um Jura zu studieren. Er war schon immer besser in der Schule gewesen als ich. Er schrieb massenweise Zehner in den Schularbeiten und die Lehrer nannten ihn ein »Wunderkind«. Ich wusste, dass Mum nie damit zurechtgekommen war, dass ich nur Klassenbeste war. Sie wollte, dass ich genauso gut wie mein großer Bruder war.
Im Gegensatz zu ihr hatte mein Vater immer akzeptiert, dass es mir nicht lag, stundenlang zu lernen. Ich mochte das Tanzen. Bevor er starb, durfte ich noch zum Ballett gehen. Er lächelte mir bei meinen Aufführungen immer so aufmunternd zu. Für eine Tochter gibt es nichts schöneres als ein stolzer Vater.
Er erzählte mir immer die tollsten Geschichten. Er saß jeden Abend an meinem Bett und brachte mich an einen anderen Ort in eine andere Zeit – bis er plötzlich nicht mehr da war.
Es war der Morgen vor meinem dreizehnten Geburtstag gewesen. Ich wollte ihn nicht feiern während mein Vater vermisst wurde, doch meine Mutter meinte, dass ich nicht absagen könne, wenn ich schon so viele eingeladen hätte. So nach dem Motto: Man muss den Schein aufrechterhalten. Ich konnte mich an ihre Worte noch gut erinnern: »Meine Süße, ich weiß, dass es manchmal schwer ist, doch im Leben kann man es sich nicht aussuchen, ob gute oder schlechte Dinge geschehen. Ich kann dir aber eines sagen: Du musst da durch, denn wenn du erwachsen bist, werden dir ähnliche Dinge widerfahren und wenn sie geschehen, musst du stark sein – genau wie jetzt.«
Ich schlenderte erschöpft in mein Zimmer und zog mir schnell mein Pyjama über. Dann ließ ich mich auf mein gemachtes Bett fallen.
Während ich zu der mit einer Lichterkette beleuchtete Decke über meinem Himmelbett blickte, dachte ich immer noch an meinen dreizehnten Geburtstag. Die Feier platzte nicht, alle amüsierten sich prächtig. Meine Mutter hatte sogar einen Kuchen gebacken und uns alkoholfreie Cocktails gemixt. Es war grauenhaft, lächeln zu müssen, als ich die Geschenke auspackte. Aber noch schlimmer als die Bescherung, war zu sehen, dass es meiner Mutter offenbar gutging, obwohl niemand wusste, wo mein Vater war.
Einer der schwersten Tage in meinem Leben!, dachte ich. Aber ich hatte es durchgezogen, nicht zu weinen.
»Es war der Tag, an dem du lerntest Stark zu sein.«, hörte ich meine Mutter immer wieder in Gedanken sagen. »Ich bin stolz auf dich, mein Mädchen!«
Ich habe es durchgezogen, nicht zu weinen! Doch der Stolz meiner Mutter war nicht zu vergleichen mit dem meines Vaters.
Er war stolz auf alles, was ich war. Meine Mutter war stolz auf ein Mädchen, das ich vorgab zu sein.
»Mum, ich will doch nur endlich ein neues Handy!«, schrie ich während ich ihr durch die Räume unserer Wohnung nachlief. Es war kurz nach Mittag und ich hatte in zehn Minuten mit Claudia in der Stadt ausgemacht.
»Du hast aber erst vor einem halben Jahr eines bekommen!« Meine Mutter knallte den Wäschekorb mit der Frischen Wäsche mit voller Wucht auf den Wohnzimmertisch.
»Ich weiß, aber das ist kaputtgegangen!«, schrie ich aufgebracht. Ich hatte gelogen. Es war gar nicht kaputt, es hatte nur einen Sprung im Display. Doch ich wollte unbedingt ein iPhone.
So eines wie Pam.
»Wenn du nicht auf deine Sachen aufpasst, gehen sie kaputt! Damit musst du dich abfinden. Weißt du ich arbeite jeden Tag sehr hart, um das Geld zu verdienen! Mir wird das Geld auch nicht einfach nachgeworfen!«, versuchte mir meine Mutter zu erklären. Sie klang zwar immer noch wütend, hatte ihren Ton aber jetzt deutlich gesenkt.
»Und was ist mit Dad? Der geniest es ja förmlich, dass er nicht arbeiten kann! Der sollte auch mal wieder seinen faulen Arsch zum Arbeiten bewegen, ich könnte ne Taschengelderhöhung echt gebrauchen. Neulich konnte ich mir keine Pause mehr leisten!«
»Du weißt ganz genau, dass sie deinen Vater nirgends einstellen und du weißt auch wieso. Überhaupt ist das nicht mein Problem, wenn du alles für Klamotten und Kitsch ausgibst?«
»Ach ja genau, das ist nicht dein Problem. Du hast ja andere Probleme. Wirklich schrecklich muss sich das anfühlen, versagt zu haben und seinen Kindern nicht einmal mehr das Essen kaufen zu können.« Ich trat einen Schritt auf sie zu, sodass ich ihr aus unmittelbarer Nähe in die Augen blicken konnte. »Du bist eine Versagerin, Mum. Eine erbärmliche Versagerin!«, zischte ich abwertend. Mit diesen Worten schnappte ich mir meine Jacke, öffnete ich die Haustür und trat ins Freie. Voller Wut knallte ich die Tür ins Schloss. Ich musste mir einen Weg suchen, mehr Geld zu bekommen. Egal welchen. Doch bald konnte ich an nichts mehr denken, außer daran, dass ich so weit gegangen war, die Gefühle meiner Mutter zu verletzen. Ich hatte mich vorhin aus Absicht schnell umgedreht, um ihre Tränen nicht zu sehen, doch so sehr ich versuchte es zu verhindern, ich konnte sie jetzt fühlen.
»Die Jeans stehen dir echt super! Die betonen deine Schlanken Beine!«, sagte Claudia mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
»Danke! Find ich auch, aber das mit den schlanken Beinen, tss…« ich kicherte bescheiden, schüttelte den Kopf dabei und fuhr im spöttischen Ton fort. »das ist das was rauskommt, wenn man nicht mehr genug zum Essen bekommt! Meine Mum lässt mich verhungern. Nicht einmal mein Pausenbrot kann ich mir leisten!« Ich musste zugeben, dass dies etwas übertrieben war, doch irgendwie hatte ich recht.
»Und warum nimmst du dir dann nicht etwas von zu Hause mit?« Claudia hatte die Hände in die Seiten gestemmt und stand immer noch vor dem beiseite gezogenen Vorhang meiner Umkleidekabine. Mit ihrem schwarzen Haar, der dunklen Haut und den schwarzen Augen, und ihrer breiten Stupsnase, sah sie echt hübsch und niedlich aus. Heute trug sie eine weiße Strickjacke und einen dicken Schal. »Zu Hause? Da gibt es auch nichts. Nichts als Zwiebel und Knoblauch, nicht einmal Brot. Kannst du dir das vorstellen?«
Ich seufzte. Dann sah ich auf das Preisschild. »Fuck!«, fluchte ich. »49,95 Euro, kostet das Teil! So viel habe ich nicht mehr!«
»Wenn ich etwas hätte, könnte ich dir was leihen!«
Claudia würde mir immer etwas leihen, so gutmütig wie sie war. »Wäre auch nicht besser gewesen. Ich könnte es dir ja sowieso nicht zurückgeben«, sagte ich mit einem traurigen Blick in den Spiegel, wo ich die Hose von allen Seiten betrachtete.
»Ach was soll ich jetzt machen?«, seufzte ich schwer.
»Ach Süße, reg dich nicht so auf, es gibt sicher noch mehrere Hosen, die dir prima stehen um den halben Preis!«, versuchte mich Claudia zu trösten.
»Ach lass mal. Erstens gibt es keine schöneren Hosen wie die und zweitens würde das meine Geldprobleme auch nicht langfristig lösen!«
»Ja, stimmt! Ich hab doch zurzeit auch nicht viel. Meine Eltern müssen jetzt wegen meinen kleinen Schwestern auch schauen sich über Wasser zu halten. Zwillinge haben die sicherlich auch nicht geplant.« Wir lachten, ehe Claudia fortfuhr: »Ich wüsste aber etwas, das deine Geldprobleme langfristig löst!«, auf Claudias Gesicht machte sich ein verschmitztes Grinsen breit. »Und was?«, hackte ich wenig begeistert nach. Claudia grinste nur noch mehr. So wurde ich doch noch neugierig.
»Jetzt rück schon raus mit der Sprache, was ist es?«
»Was bekomme ich dann davon?«, grinste Claudia mit ihrem unschuldigen Teufelchen-Blick.
»Spuck’s endlich aus!«, zwang ich sie.
»Okay, okay. Also…Mara hat doch viel Geld…Ich habe gestern gesehen, wie sie einen Hunderter unter ihrer Bank hervorgezaubert hat. Verstehst du: Unter ihrer Schulbank. Wer nimmt denn so viel Geld mit in die Schule? Ganz klar: Die reichen! Außerdem hat sie das neuste iPhone. Was hältst du davon, wenn wir etwas Geld von ihr mitgehen lassen würden? Merkt das reiche Ding doch eh nicht!«
Ich dribbelte über das Feld wie ein Energiebündel. An manchen Tagen war ich beim Training einfach unschlagbar und das war jedes Mal ziemlich abgefahren.
Ich war wieder mal mit Leo im Team und wir spielten unglaublich gut zusammen. Leo landete zwei Körbe hintereinander, gefolgt von fünf meinerseits.
Als die Trillerpfeife des Trainers ertönte und wir in die Umkleidekabinen Joggten, klopfte er uns beiden lobend auf die Schulter. »Reife Leistung, Piel« und »Gut gemacht, Vento«, sagte er zu mir.
In der Umkleide wurde es wie immer laut. Verschwitzte Hosen und T-Shirts durchquerten den Raum. Als ich mein Shirt auszog und ich meinen durchtrainierten karamellfarbenen Bauch präsentierte, musste ich mir mal wieder die Kommentare von Alex und Oliver anhören. »Hey, Vento, bist du ’n Dreizehnjähriger im Körper eines Dreißigjährigen oder was?« Der Rest der Kabine grölte zustimmend. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das als Kompliment oder Beleidigung auffassen sollte. Also lachte ich einfach mit.
»Aber Vento, eine Sache muss ich dich schon fragen«, begann Alex. »Knallst du die geile Blondhaarige von der mir Ben immer erzählt eigentlich?«
»Sie hat einen Freund...«, gab ich knapp zurück.
Auf Alex Gesicht machte sich schelmisches Grinsen breit. »Das würde mich nicht davon abhalten, sie richtig hart durchzunehmen.«
Bei der Vorstellung, dass Alex in die Nähe von Pam kam und ihr mit seinem ekelhaften Blick in den Ausschnitt glotzte, wurde mir schlecht. Gleichzeitig machte es mich aber auch wütend. Ich wusste, dass wenn es um Nelli oder Pam ging, ich mich kaum im Zaum halten konnte. Ich spürte bereits, wie sich meine Finger verkrampften und sich meine Hände zu Fäusten ballten. Ich hatte das starke Verlangen auf dieses mit hässlichen Sommersprossen übersäte Gesicht einzuschlagen, bis es in sich zerfallen war.
»Oder Ollie? Die könnten wir uns doch mal vornehmen«, meinte er an ihn gewandt.
»Ja, ist echt ’ne geile Braut«, entgegnete dieser.
»Wer sein Teil zuerst in sie steckt, bekommt vom anderen einen ausgegeben. Deal?« Ich wusste nicht, ob es Alex ekelerregendes, notgeiles Grinsen war oder einfach nur die Art, wie er von Pam sprach, aber ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Mit aller Wucht stürzte ich mich auf ihn und riss ihn um. Ich schlug ihn ein paar mal mit der Faust mitten ins Gesicht.
Alex brauchte eine Sekunde, um zu reagieren. Er krallte nach meinen Armen, um die Kontrolle über mich zu gewinnen. Die anderen feuerten uns an und riefen Alex’ Namen.
Klar waren die meisten auf seiner Seite. Das gab ihm Selbstvertrauen und wenige Momente später drückte er meinen Schädel zu Boden. Ich hörte von allen Seiten Jubeln.
»Na, wie gefällt dir das?«, fragte er und haute mir mitten ins Gesicht. Mein Körper zog sich vor Schmerz zusammen. Im nächsten Moment, spürte ich taube Lippen und den Geschmack von Blut in meinem Mund. Er schlug erneut auf mich ein.
»Jetzt zeigt sich, wer hier der Stärkere ist, was?«
Ich musste mich konzentrieren. Mich nicht von seinen Worten und von den anderen unterkriegen lassen.
»Ich wette sie vögelt nicht mit dir, weil sie kein Weichei will! Dich lässt höchstens diese Vogelscheuche Mara ran.«
Ich vernahm Lachen, das bereits gedämpft klang. In meinen Ohren Rauschte es.
»Na, wie ist der Geschmack, meiner mit Testosteron gefüllten Faust?«
Ich versuchte ihn mit aller Kraft von mir wegzudrücken, doch aus irgendeinem Grund schien plötzlich all meine Kraft vom mir gewichen zu sein. Ich fühlte weniger Schmerz, eher Taubheit.
»Er ist oben. So wie er es bei Pam heute Nacht auch sein wird«, hörte ich eine Stimme rufen. »Ja Mann Alex, du wirst sie die ganze Nacht ficken!«
Augenblicklich konnte ich fühlen, wie sich dadurch der Pegel meiner Wut überschlug. Ich erwischte einen Augenblick, in dem Alex’ Aufmerksamkeit auf die eben gefallene Bemerkung beschränkt war.
Mit einem Satz, kämpfte ich mich nach oben, drückte Alex nach unten und verpasste ihm einen Schlag auf die Nase. Verblüfft und mit aufgerissenen Augen starrte er mich an – bis Blut aus seiner Nase rann.
In mir war plötzlich eine gigantisch große Wut von der ich selbst nicht genau wusste, woher sie kam. Ich schlug und schlug immer weiter auf das blutende Gesicht ein. Alles andere um mich herum blendete ich aus. Wahrscheinlich war dieser Moment viel kürzer, als er mir vorkam. Ich schlug, schlug schlug. Bis mich einige starke Arme von ihm weg zogen.
Später erfuhr ich, dass es Leo und mein Trainer gewesen waren. Laut Ollie, hätte ich ihn beinahe umgebracht. Dabei hatte ich im nur seine Nase gebrochen. Doch wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, was ich ihm angetan hätte, wären die anderen nicht dazwischen gegangen. Mein Trainer meinte anschließend zu mir, er wolle mich morgen alleine sprechen, um über das Geschehene zu reden.
Als ich zu Hause war schloss ich mich in meinem Zimmer ein und stemmte meine kiloschweren Gewichte. Die Wut in mir musste raus. Denn da war viel zu viel in mir, das mich zu einer hoch explosiven Bombe machte.
»Ich fass es nicht… Claudia hat das gesagt?« Pam sah mich ungläubig an. Ihr hellblondes Haar strich um ihr Gesicht.
»Ja, hat sie. Und ihr war ernst bei der Sache, das kann ich dir versichern.« Ich biss ein Stück von meinem Pizzabrot ab. Kartoffel-Speck-Brot. Pam hatte es schon fast fertig, während ich noch nicht einmal die Hälfte gegessen hatte.
»Komisch, sie ist sonst nicht so…«, murmelte Pam gedankenverloren.
»Ja, aber sie hat es zurzeit auch nicht leicht zu Hause. Mit ihren kleinen Schwestern. Ihre Eltern bemerken sie nicht einmal mehr…«
»Jetzt versteh ich es, deshalb hat sie in den letzten zwei Wochen schon vier Mal bei dir übernachtet.«
»Kann sein…«, entgegnete ich nachdenklich.
»Arme Claudia.« Pam sah plötzlich sehr traurig aus. Ich gab ihr meine freie Hand. Ich spürte den leichten Druck mit dem sie meine fest hielt.
Wir schlenderten in der Dunkelheit gemütlich durch die Weihnachtsmarktstraße.
Der Geruch von Zimt lag in der Luft. Aus den Lautsprechern, die alle 20 Meter aufgestellt waren, drang harmonische Weihnachtsmusik.
Pam nahm den letzten Bissen von ihrem Brot und rannte auf einen Süßwarenstand zu. Sie kaufte sich eine große Portion Zuckerwatte – um es genauer zu sagen, halb so groß wie Pam selbst.
Sie sah so niedlich aus als sie die Zuckerwatte aß. »Auch was?«, fragte Pam, deren Kopf beinahe in der großen Zuckerwolke verschwand. Sie schleckte sich genüsslich die Finger und hielt mir das riesige, rosane Knäuel vor die Nase.
»Ne, lass mal, ich hab noch mein Pizzabrot.«, entgegnete ich lachend.
Meine Pam, so ein Vielfraß. Wie ich sie eben kannte. Meine beste Freundin. Nichts mochte ich jetzt lieber als mit ihr auf dem Weihnachtsmarkt zu bummeln, hin und wieder stehen zu bleiben, zu reden und zu lachen. Das alles, während die friedliche Stimmung der Leute auf mich einwirkte. Ich sah die warmen Lichter, die überall brannten. Die Kerzen, die dufteten. Nichts könnte schöner sein.
Ich wusste nicht wieso sich jetzt dieses Gefühl in mir breit machte, ich wusste nur, dass dieses Gefühl mich schweben ließ. Wie ein Engel. Verzauberte mich. Ich glaubte eigentlich nicht an Wunder, doch jetzt, in dieser Zeit schon. Die Temperatur war unter null Grad, doch ich fror nicht. Alles um mich herum war erleuchtet und Warm.
»Was schaust du so, Nelli?« Mein Blick musste auf Pam ein wenig komisch gewirkt haben.
»Nichts, gar nichts.«
»Na, du hast aber Glück, dass ich weiß, wie komisch du manchmal bist.« Sie grinste schelmisch.
~ Lukas ~
Diesmal hatte ich mich beim Training nicht geprügelt, jedoch hatte mir mein Trainer eine halbstündige Moralpredigt gehalten.
»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einen deiner Mitspieler krankenhausreif zu prügeln. Ganz zu schweigen davon, was vielleicht passiert wäre, wenn Leo und ich dich nicht aufgehalten hätten.« Er machte dauernd Anstalten von seinem Bürostuhl aufzustehen und knallte dabei auf den metallenen Schreibtisch, der ihn von mir trennte. Ich konnte nichts erwidern. Er wusste nicht, was Alex über Pam gesagt hatte, aber das würde ihn wahrscheinlich auch nicht interessieren. »Wir sind ein Team, verstehst du? Wir müssen zusammenspielen!« Sein graues Haar sah heute ungewöhnlich strubbelig aus. Irgendwie wirkte er dadurch jünger und auch etwas verrückter. »Wir müssen zusammenhalten. Sonst macht es keinen Sinn mehr.« Ich trommelte nervös mit meinen Fingerspitzen auf den Tisch und wagte es ihn immer nur kurz anzusehen. »Ich meine du bist ein wirklich, WIRKLICH guter Spieler, aber so leid es mir auch tut, muss ich dich aus dem Team nehmen, wenn das noch einmal vorkommt.«
»Was?!«, entfuhr es mir.
»Das ist eine Verwarnung.«
»Das ist unfair!«, platzte es aus mir heraus.
»Aber, Lukas, du wirst wohl verstehen, dass diese Spannungen sich im Team spürbar machen und sich negativ auf unsere Mannschaft und Spielergebnisse auswirken werden.« Er sprach mich, anders wie sonst, mit Vornamen an.
»Wenn Sie mich rausschmeißen, müssen sie das auch mit Alex und Ollie machen!«
»Ich weiß, dass sie höchstwahrscheinlich nicht unbeteiligt an der Schlägerei waren, doch ich weiß, dass du stärker bist, als die meisten anderen und, dass du diese Aggressionsprobleme öfters hast.«
»Sie haben keine Ahnung, was hier abgeht!«, schnaubte ich. Es machte mich jedes Mal wütend, wenn jemand mich auf meine aggressive Seite hinwies.
»Willst du vielleicht mit mir darüber reden?«, bot er mir an. Ich hatte schon mehrere Male mit ihm gesprochen. Über meine Mutter mit ihrem Alkoholproblem, über meinen verschwundenen Vater, wenn auch nur oberflächlich. Es hatte jedoch gutgetan. »Ich weiß, du hast es nicht leicht zu Hause…«
»Das ist es nicht!«, schnappte ich zurück.
»Dann rede mit mir!« Ich sah in sein vertrautes Gesicht, doch die Wut in mir erweckte in diesem Moment nur den Wunsch, mitten in es hinein zu schlagen.
»Danke, kein Bedarf«, knurrte ich und stürmte aus dem Büro, an meinen Mitspielern vorbei. Ich konnte die Blicke der anderen fühlen, doch ich ignorierte sie. Draußen kam mir sie raue, kalte Luft entgegen. Ich konnte sie in meinem Basketballtrikot sehr gut spüren. Es tat mir gut, auch wenn mich die Leute auf der Straße komisch ansahen.
Er konnte mir das Basketball einfach nicht wegnehmen. Ich liebte es übers Feld zu dribbeln. Das Quietschen der Turnschuhe, das durch die Reibung von Kunststoffsohlen und Holzlack entstand. Liebte die Tatsache, dass ich den Ball unter Kontrolle hatte, dass ich mich stark dabei fühlte.
Ich konnte es nicht einmal in meiner Vorstellung ertragen, jetzt nach Hause zu gehen. Ich entschied mich kurzerhand dafür bei Nelli aufzutauchen und bei ihr zu Abend zu essen.
Vom gefallenen Schnee waren nur noch kleine vereiste Flecken zurückgeblieben.
Die Straßen waren leer und in den Häusern brannte Licht. Wärme die durch die Fenster auf die einsame, kalte Straße strahlte. Die meisten Menschen aßen wohl gerade jetzt zu Abend.
Manchmal wünschte ich mir, einer von ihnen zu sein. Jemand, der nicht auf der dunklen Straße ging. Jemand, der nicht Zuschauer war. Der stumme Vorgartenzwerg. Ich wünschte mir, einer von ihnen zu sein. So jemand konnte ich sein, wenn ich bei Nelli war.
»Lukas!« Nelli lächelte, als sie die Tür aufschloss und mich überrascht beäugte.
»Hey«, murmelte ich zerknirscht.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte sie dann besorgt. »Wieso hast du noch dein Trikot an? Ist dir nicht kalt?«
»Nein, geht schon.« Ich betrat das kleine Haus und setzte mich in der Garderobe hin, um mir die Schuhe auszuziehen.
Vom Wohnzimmer drangen Geräusche von Messern und Gabeln her. Sie waren beim Essen. Jetzt vernahm ich auch den Duft von gebratenen Kartoffeln. Ich sog das Aroma durch meine Nase und ich merkte, wie mein Bauch knurrte.
»Hast du Hunger?«, fragte Nelli, die das Geräusch offenbar gehört hatte.
Ich grinste. »Oh, ja!«
»Gut, es gibt geröstete Knödelstreifen auf Tomatenpüree.«
»Klingt lecker! Deine Mutter ist neuerdings Gourmet-Köchin?«
»Was, ich hab’s dir nicht erzählt?«, tat Nelli überrascht.
»Es sind die Knödel von heute zu Mittag und die Tomatensoße von gestern oder?«
»Verdammt!«
Als ich das Wohnzimmer betrat, lächelte mir Nellis Mutter, Ennise und ihr Vater, F alco bereits entgegen. »Hallo, Lukas!« Ennise war eine unkomplizierte Frau, die im Winter dauernd selbstbestrickte Pullis trug. Ich kannte sie wie Nelli, seit ich denken konnte und sie war in gewisser Weise, wie eine Mutter für mich. Unser Verhältnis war jedoch enger gewesen, als Nelli noch in unserem Haus gewohnt hatte. Sie war Nelli sehr ähnlich. Ihr haselnussbraunes Haar hatte sie definitiv an ihre Tochter weitergegeben.
»Hallo, Mahlzeit!«
»Danke, hol dir einfach ein Teller aus der Küche, ich habe sowieso zu viel gekocht«, sagte ihre Mutter freundlich.
Da war keine Wut mehr in mir. Nur noch das Gefühl von Wärme. Ich setzte mich an den Tisch.
»Du kommst vom Training, oder?«, fragte mich Falco. Ihn kannte ich nicht so gut, wie Ennise. Er war nämlich beinahe nie zu Hause gewesen, weil er bis vor kurzem in Verona gearbeitet hatte. Manchmal war ein wenig komisch, doch irgendwie mochte ich ihn trotzdem ziemlich gern.
»Ja, genau!«
»Willst du dich das nächste Mal nicht umziehen, bevor du dich an den Tisch setzt.«
»Ja, klar ich hab nur solchen Hunger!«
»Ich verstehe, wenn ich so alt war wie du hab ich auch gern trainiert.« Er sah in die Ferne. »Man, war ich cool!«
»Und es fängt schon wieder an…« Nelli verdrehte die Augen. »Er ist genau so eingebildet, wie du, Luki!«
Ennise kicherte. »Ja, die beiden, sind sich echt ähnlich!«, sagte sie zu Nelli. »Nichts für ungut!«, zwinkerte sie mir zu und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ach ja und, wie läuft’s bei euch in der Schule?«, fragte mich Ennise, um das Thema zu wechseln.
»Mum«, begann Nelli genervt, »wir wollen doch jetzt nicht über die Schule reden.«
Ich häufte mir eine große Portion der gerösteten Knödel auf den Teller und schaufelte zwei Kellen Tomatensoße darüber.
»Ich verstehe schon, ihr gehört zu den coolen Kids. Alles, was mit der Schule zu tun hat, ist einfach scheiße und langweilig. YOLO ist jetzt angesagt, oder?«
»Mum!«, fauchte Nelli und presste die Lippen aufeinander. Das Berufsjugendliche Getue von Mrs. DeMero kannte ich bereits. Ich lachte.
»Woher hast du dieses Wort eigentlich?«
»Ich hab mir neulich ein Jugendwörterbuch gekauft«, erzählte sie stolz. »Da stehen vielleicht Sachen drin.«
»Mum, du weißt schon, dass wir solche Wörter nicht wirklich benutzen, oder?«
»Ich hab sie doch selbst von dir gehört«, begann sie. »Zum Beispiel dieses Chillen oder WTF. Außerdem, was ich ganz witzig fand Lattenkrimi heißt Porno.« Sie lachte.
Peinlich berührt, lief Nelli rot an. »Mum, letzteres hab ich ganz bestimmt nie gesagt!«
»Das nicht, aber die anderen Sachen, sagt ihr doch immer, oder Lukas?«
Ich nickte grinsend, während ich kaute.
»Siehst du, ich hab’s doch gewusst.«
»Toll, Mama!« Nelli klang wenig begeistert.
»Nelli, geh’n wir danach ein bisschen chillen?«, fragte ich absichtlich. Ennise begann amüsiert zu lachen.
»Na, toll, ich lade dich zum Essen ein und dann verbündest du doch mit meiner Mutter.«
»Komm, Luki wir klatschen ein«, sagte Ennise und hob die Hand zum Einschlag bereit. Ich überlegte nicht und schlug ein.
Nelli machte ein finsteres Gesicht, wobei ich bemerkte, dass doch ein kleines Grinsen hindurchschimmerte.
»Ihr seid sowas von scheiße!«
»Das war gerade ein High-Five, nur, dass du’s weißt, Ennise!«, zwinkerte ich belustigt in ihre Richtung.
»Hilfe ich habe eine Zwölfjährige geheiratet!«, stimmte Falco theatralisch mit ein.
Ennise und ich begannen zu lachen. Ich nur zu achtzig Prozent, weil ich Nelli provozieren wollte.
»Das ist so peinlich!«, protestierte Nelli.
»Komm schon!« Ich zwinkerte ihr zu und tatsächlich, sie grinste widerwillig.
»Idiot!«, zischte sie und funkelte mich schmunzelnd an.
~ Pam ~
Ich betrachtete das Bild in meinen Händen. Die Pinselstriche waren schlampig; aber nicht, weil sie ohne Mühe gemacht worden waren, die Künstlerin hatte es nicht besser gekonnt. Die Künstlerin war – Achtuuuuuuuung Trommelwirbel – ich. Naja, eigentlich mein kleineres Ich.
Ich konnte mich noch genau daran erinnern, als ich es meiner Mutter geschenkt hatte – als wäre es gestern.
Es war an Weihnachten. Voller Stolz präsentierte ich ihr das Werk, für das ich einen ganzen Tag gebraucht hatte. Sie legte ihr maskenhaftes Lächeln auf und bedankte sich bei mir. Später wunderte ich mich, warum es nirgendwo auf der weißen, kargen Wand in ihrem Zimmer hing – das Zimmer meines Vaters dagegen war voll von meinen Karten und Bildern. Jetzt hatte ich mein Geschenk für sie nach all den Jahren gefunden.
Mit einem Ruck legte ich es in den Karton zurück, der sich in der hintersten Ecke des Kellers befand. Ich konnte es nicht mehr ansehen, weil da etwas draufstand; viel zu schmerzhaft, viel zu bitter.
Ich drehte mich um und ging wieder nach oben. Doch ich hatte das Bild noch immer vor mir. Ich sah den Satz vor meinem inneren Auge – ich konnte ihn nicht auslöschen. Jemand hatte mir wohl gesagt, wie man ihn schreibt. Und ich konnte kaum glauben, dass ich dies einmal ernst gemeint hatte.
FÜR DIE BESTE MAMA ALLER ZEITEN, stand da in den Blockbuchstaben einer Fünfjährigen.
Es klingelte zur Pause. Pam und ich stiegen mit langsamen Schritten die Treppen herab, in Richtung Innenhof.
Ich hatte den ganzen Vormittag nicht mit Leo geredet. In der Klasse war es überhaupt still gewesen. Nur hin und wieder waren ein paar Papierkügelchen in Maras Haaren gelandet und die anderen hatten über sie gelacht, doch sonst unterhielt sich heute keiner.
Vielleicht waren Leo und ich ja immer die lautesten in der Klasse gewesen? Ich hatte der Vertretung des Naturkundelehrers gar keine Beachtung geschenkt. Hatte nur unter die Bank geschaut und in Facebook gestöbert.
Aus Neugierde suchte ich nach Mara Malotki. Das Ergebnis war enttäuschend gewesen: Nur ein attraktives Mädchen mit dunkelbraunem Haar und zauberhaft schönen Locken und besonders hübsch geschwungenen Lippen. Außerdem war sie ein paar Jahre älter, als wir.
Ernüchtert hatte ich mein Handy in die Hosentasche meiner engen Jeans gesteckt.
Ich hatte auch ein Mal nach Personen gesucht, die den exakt gleichen Namen, wie ich hatten.
Ich schob meine Gedanken beiseite und widmete mich der Gegenwart.
Pam kaufte sich in der Cafeteria gerade zwei gefüllte Hörnchen, über die sie sich anschließend gierig hermachte.
Lukas tippte mich von hinten an. Ich zuckte zusammen und fuhr herum. »Hey!« Er grinste verschmitzt.
»Hey, Luki!«, entgegnete ich. Er grinste immer noch. »Du schaust so scheiße aus, mit dir ist doch was, stimmt’s?«
Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn forschend, so als ob ich in seinem Gesichtsausdruck die Antwort auf meine Frage finden könnte.
»Allerdings…«, antwortete er schließlich und ließ seinen Stolz in der Stimme mitschwingen. »Siehst du die Kleine da? Die mit den roten Löckchen. Sie hat eisblaue Augen, genau wie du, Nelli.« Er zeigte auf ein hübsches Mädchen mit Stupsnase und geröteten Bäckchen. Echt süß!
»Und was soll mit der sein?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort eigentlich schon denken konnte.
»Die fährt total auf mich ab! Hab ich gerade erfahren.« Er grinste noch breiter. Ich kicherte. Volltreffer!
»Hab ich’s mir doch gedacht. Und sag mal, kannst du mit deinem dämlichen Gegrinste aufhören? So langsam macht es mir Angst!«
»Mir ehrlich gesagt auch!«, pflichtete mir Pam bei. Sie hatte ihre Hörnchen schon längst aufgegessen und rieb sich jetzt genussvoll den flachen Bauch.
»Kann man nix machen, gegen mein Grinsen. Den meisten Mädchen scheint es ja zu gefallen, wenn ihr wisst was ich meine!« er zwinkerte Pam zu.
»So ´n eingebildeter Arsch!«, regte sich Pam lachend auf und schubste ihn beiseite.
»Ganz schön viel Kraft hast du, wenn man bedenkt, dass du so kleinwüchsig bist!« Er gluckste selbstgefällig über seinen eigenen Scherz.
»Haha, wie witzig!« Pam lachte gekünstelt und wollte ihm gerade noch einen kräftigen Stoß versetzen, doch ihr Blick war an den dichten Büschen hinter den Bänken hängen geblieben.
»Seht mal Leute. Das kann ich jetzt nicht glauben!« Sie starrte verwirrt mit weit aufgerissenen Augen dorthin.
»Was ist da?«, fragte ich und fing an zu zappeln.
»Also ich sehe nur Büsche. Oder müssen wir uns bücken, um uns auf dein Blickfeld zu begeben!«, neckte er Pam. Ich lachte, weil Luki es mit den Witzen über Pams Eigenschaft klein zu sein, immer übertreiben musste.
»Hör auf, Luki, das ist wirklich nicht mehr witzig! Sieh doch nur genauer hin!«
Und dann sah ich es auch: Claudia und Ben. Sie zogen beide an einer Zigarette und chillten. Wir drei rannten auf sie zu.
Als wir dann vor ihnen standen, sahen die beiden erschrocken auf. »Was macht ihr denn hier? Die entdecken uns noch, wenn ihr da so herrennt!«
Claudia nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette.
»Sorry, dürfen wir euch nicht einmal mehr vor die Augen treten?«, sagte ich zu meiner Verteidigung.
»Is ja schon gut, reg dich ab!« Ben machte eine beschwichtigende Handbewegung.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab und sah zu Claudia. Der Scham stand ihr ins Gesicht geschrieben. Als sich unsere Blicke trafen, sah sie blitzartig nach unten. Schnell warf sie die Zigarette auf den Erdboden und zerdrückte sie, indem sie den Stummel vielleicht ein Bisschen zu heftig zerdrückte.
»Ast du nicht Angst, dass man deine DNA später auf die Zigarette findet?«, fragte Ben und lachte über seine Bemerkung. Claudia lachte unsicher zurück.
»Ich geh dann mal!«, sagte Lukas und machte auf dem Absatz kehrt, im Gehen wandte er sich noch einmal um. »Pam, willst du nicht mitkommen, ich gehe ins Sekretariat, um für Leo den Zettel für die Fahrt nach München abzugeben.«
»Ach ja, klar! Bye, Leute, wir sehen uns später!« Pam lief ihm im Laufschritt hinterher.
»Wieso rauchst du nicht auch eine mit uns?«, bot mir Ben an.
Er sah mir dabei tief in die Augen. Seine Augen funkelten geheimnisvoll. Es überkam mich schon wieder dieses Gefühl. Das Gefühl, etwas Verbotenes machen zu wollen. Immer wenn er mich ansah.
»Klar, wieso nicht!« diesmal hustete ich nicht mehr so wie beim ersten Mal.
»Heute kein Wiederbelebungsnummer mehr, oder?« Ben lachte unsicher und ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er sich wünschte, dieser Satz wäre nie über seine Lippen gekommen.
»Hä?«, machte Claudia.
»Ach, nicht so wichtig!«, entgegnete ich schnell.
Claudia schien sich schnell damit abzufinden, keine Erklärung zu bekommen, denn sie fuhr auch schon fort.
»Und übrigens habe ich Ben von unserer Idee erzählt, dass wir Maras Kohle klauen könnten!«
Ich spürte wie sich mein Magen schlagartig verkrampfte. Warum musste Claudia das gleich Ben erzählen? Sie war doch sonst immer so verschwiegen.
»Du…du hast ihm also davon erzählt?«, es war mehr eine Feststellung gewesen.
»Ja, wieso nicht und er hat auch schon einen genialen Plan wie wir das anstellen!« Claudia klang begeistert.
»Jep, aber ich! Also: Während der Stunde tretet einer von uns aus und raucht auf die Toilette eine Sigarette. Die Sigarette verursacht Rauch und Rauch betätigt die Alarm! Versteht ihr was ich meine?« Ben zwinkerte mir zu.
Offenbar hatte er seine Unsicherheit überwunden.
Eines musste man Ben lassen, sein Plan war in der Tat gut! Die ganze Klasse würde zur Sammelstelle laufen und der der auf der Toilette war würde schnell in die Klasse gehen und das Geld klauen. Bevor die Lehrerin die Schüler abzählen würde, wäre derjenige schon längst hier. Auf diese Weise käme der Dieb nicht einmal unter Verdacht.
»Also ich weiß nicht…« Ich verzog das Gesicht.
»Komm schon, Nelli, das wird alles gutgehen!«
Ich wusste wieder nicht, was gerade in mir geschehen war. Und ehe ich mich unter Kontrolle hatte, war es auch schon raus: »Okay, überredet…und irgendwie hat sich das auch diese Kuh verdient! So reich…die merkt doch gar nicht, wenn einmal ein Fünfhunderter fehlt!« Was ist bloß mit dir los Nelli? Wieso hast du nicht einfach »nein« gesagt? Ich biss mir auf die Lippe. Und wie kommst du dazu Mara »Kuh« zu nennen? Sie hat doch gar nichts getan...
»Okay, machen wir es gleich schon heute… nächste Stunde da haben wir Informatik in Computerraum!« Ben grinste.
»Ja, genial! Ich mach das alles mit dem klauen und so, okay?« Ich konnte nicht fassen was da gerade aus Claudias Mund gekommen war! Ich musste mich verhört haben! Was war in sie gefahren? Wo war die Claudia von früher, die ich kannte? Sie hätte so etwas nie gemacht! Ich beschloss diese Gedanken beiseite zu schieben, immerhin war ich froh, dass dieser Part nicht an mir hängen geblieben war.
Ich zitterte auf meinem Drehstuhl. Zappelte. Wusste nicht wie ich sitzen sollte. Nelli, du hast nichts zu verlieren! Claudia macht das schon.
Ich versuchte mich mit meinen eigenen Worten zu beruhigen, doch ich schlotterte dadurch nur noch mehr. Drehte den Stuhl hin und her. Ich begann zu schwitzen. Meine Hände wurden feucht und machten Abdrücke auf dem Plastiktisch. Mein Computer war schon längst hochgefahren.
Ich warf einen vorsichtigen Blick nach hinten, wo Claudia saß.
Sie saß immer noch auf ihrem Platz. Sie sah ganz gelassen aus. So als hätte man die Claudia von davor wieder gegen die alte Claudia getauscht.
Wie konnte sie nur so ruhig sitzen bleiben? Wann würde sie fragen ob sie austreten könnte? Ich sah mich im Raum um.
Alles war wie sonst. Die karge Ausstattung des Raumes – graue Tische und Regale, die mit einer Plastikschicht überzogen waren; eine weiße, große Leinwand. Jetzt wirkte sie fast bedrohlich auf mich.
Als ich meine Klasse ansah, kam es mir so vor als ob es jeder wusste.
Die Lehrerin musterte mich mit strengem Blick. Neben mir saß Leo. Er war der einzige der ahnungslos aussah.
Leo hatte den Blick auf die große weiße Leinwand gerichtet. Es sah aus als würde er über einen ganzen Ozean blicken, doch da war nur eine langweilige weiße Leinwand, die fünf Meter vor ihm emporragte.
Doch jetzt war die Leinwand ein Ozean. Ein Ozean voller Gefühle. Ein heftiger Wind wehte und warf große Wellen an die Küste. Jedes Mal als die Wellen an die Küsten klatschten, stoßen sie ihn beinahe um. Heute war kein Sonnenuntergang. Nur dicke schwere Wolken, die ihn zu Boden zogen.
Auf der Leinwand lief ein Film. Er war schön und traurig zugleich. Leo und ich waren die einzigen Zuschauer.
~
Das magische Licht bahnte sich einen Weg durch den eng bewachsenen Wald. Verzaubernd schön glitzerte es, als ob statt der Sonne ein Engel scheinen würde.
Der Junge mit den blonden Locken hielt das braunhaarige Mädchen an der Hand.
Sie liefen gemeinsam durch den Wald. Bewarfen sich mit dem orangen Laub, das sich wie ein magischer Teppich auf dem Waldboden ausgebreitet hatte.
Das Mädchen viel hin und zog den Jungen mit auf den Boden. Kurz sahen sie sich an, ehe sie sich einen zärtlichen Kuss gaben. Sie sagten nichts, sondern sahen sich einfach nur in die Augen.
Sie sah in seine bernstein-grünen Augen und er in ihre eisblauen. Sie bewegten sich nicht. Mir kam es so vor als ob der Film stehen geblieben wäre. Nur das Bild rührte sich nicht, dafür aber meine Gefühle. Sie bewegten sich weiter und weiter.
~
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und als ich sie öffnete war das Bild verschwunden.
Die Leinwand war wieder weiß.
Ich wollte zurückspulen, doch dazu brauchte ich eine Fernbedienung, aber die war außer meiner Reichweite.
Jetzt wusste ich, dass der Film aus war. Es war die letzte Vorstellung gewesen. Die Leinwand war weiß und leer. So leer wie die Augen von Leo. Seine leeren grünen Augen, die in die Ferne blickten. In die ferne über den weiten Ozean.
»Frau Professor, darf ich austreten?« Schlagartig fuhr ich hoch. Jetzt ging es los. Ich wollte einen flüchtigen Blick auf Mara werfen, doch ich musste feststellen, dass sie sich nicht auf ihrem Platz befand. Wahrscheinlich war sie auch gerade auf der Toilette.
Es wird alles gut, Nelli!, sagte eine Stimme in mir, obwohl ich das ungute Gefühl hatte, dass etwas schiefging.
Dann musste Claudia eben in eine andere Toilette den Rauchsensor zu reizen.
Ich ließ meinen Blick zu Claudia schweifen. Langsam erhob sie sich von ihrem Drehstuhl und schritt auf wackeligen Beinen Richtung Tür. Anscheinend hatte sie doch noch Angst bekommen. Man sah es daran, dass ihre Beine zitterten, sonst war ihr nichts anzumerken.
Bis jetzt machte sie das wirklich gut. Ich hatte mich jetzt auch wieder einigermaßen entspannt, doch als die Tür ins Schloss viel und von Claudia nicht mehr zu sehen war, fing ich wieder an zu zittern. Noch mehr wie davor.
Ich dachte daran, was alles schieflaufen konnte. Gleich musste der Feueralarm angehen. Es konnte jeden Moment ein Sirenengeheul losgehen.
Mit jedem Moment wird es wahrscheinlicher, dass es diesen Moment passiert. Meine Gedanken überschlugen sich.
Ich zuckte zusammen als mich jemand von hinten ansprach.
»Nelli! Hast du nicht verstanden, was ich davor erklärt habe? Du musst die Übungen machen, die ich ausgeteilt habe. Die anderen sind alle fast schon fertig, nur du hast noch nicht angefangen! Den Rest musst du dann halt zu Hause machen!« Die Lehrerin sah mich streng an. Dann sah ich auf meinen Schreibtisch und da lag tatsächlich ein Blatt mit Übungen- vielen Übungen.
»Ja, klar. Entschuldigen sie mich ich habe das mit den Übungen nicht so genau verstanden. Ich werde jetzt beginnen und sie selbstverständlich zu Hause fertigstellen!« Fotze!, dachte ich. Wirst du sicher nicht tun, Nelli. Du bist doch nicht blöd. Nie im Leben wirst du nur ein Bisschen Aufwand in diese Arbeit stecken! Ich lächelte der Lehrerin gekünstelt entgegen.
Ich wollte mich gerade zurücklehnen, doch dann ertönte ein ohrenbetäubendes Geräusch, das die Stille durchschnitt. Die Lehrerin fuhr hoch. »Kinder, verhaltet euch bitte ruhig! Keine Panik!« Man konnte ihr deutlich ansehen, dass sie Angst hatte. Wenn eine Feuerprobe war, wurde das davor mit allen Lehrpersonen besprochen. Sie dachte jetzt, dass wirklich ein Feuer ausgebrochen war.
Die Angst und Nervosität übertrug sich auf die ganze Klasse. Super! Jetzt muss ich nicht mehr so tun, als wäre ich nicht nervös. Es wurde hastig gedrängt und geschubst. Niemand bis auf Luki viel auf, dass ich mich kaum von der Stelle bewegt hatte. Er nahm mich am Arm und zog mich aus dem Raum.
Die Sammelstelle war ober der Schule im Hof des Grundschulgebäudes.
Claudia, bitte komm schon, beeil dich!, flehte ich. Wir waren schon auf dem Weg nach oben.
Gottseidank ging wegen dem Gedränge und dem Durcheinander, alles ein Bisschen langsamer voran. Trotzdem hatte Claudia nicht mehr lange Zeit, denn wenn sie erst dann kommen würde, wenn die Lehrerin die Schüler zur Sicherheit abzählte, würde auffallen, dass sie fehlte. Dann würde man ihr auch noch den Brand in die Schuhe schieben!
Ich war froh, dass die Lehrerin bis jetzt nichts von Claudias Fernbleiben gemerkt hatte, doch das konnte sie jeden Moment.
Das Tor zum Hof war schon in Sichtweite. Verdammt, Claudia, wo bleibst du denn? Ich atmete in unregelmäßigen Abständen.
War irgendwas schiefgelaufen?
Ich war so damit beschäftigt aufzupassen, dass die Lehrerin nichts merkte, sodass mir gar nicht auffiel, dass Pam auch nicht mehr hier war.
Voller Panik drehte ich mich um und versuchte durch die ganzen Leute hindurch zu sehen, doch vergebens, Pam war verschwunden. Ich wollte ihren Namen rufen, doch dann viel mir ein, dass dann alle von Pams Abwesenheit merken würden. Ich bemühte mich also Pam in dem Durcheinander zu entdecken.
Vor Aufregung hätte ich fast nicht gemerkt, dass wir schon durch das Tor des Hofes gingen. Jetzt konnte es eng werden.
Manche Klassen hatten sich schon in einer Gruppe zusammengefunden. Wo blieben Pam und Claudia? Ich wollte mir gerade einen Plan überlegen, als ich von hinten auf die Schulte getippt wurde. »Hey, Nelli!« ich fuhr herum und sah in zwei grinsende Gesichter. Pam und Claudia.
»Leute, ich hab mir schon Sorgen gemacht!«, keuchte ich erleichtert. »Ja, ich mir auch! Pam ist mir plötzlich nachgekommen. Ich dachte schon sie ist Mara.«, erzählte Claudia aufgeregt.
»Und, ist alles gut gelaufen? Mich würde aber auch interessieren wieso Pam gewusst hat, was wir vorhaben!«, erkundigte ich mich neugierig, als wir uns in der Gruppe unserer Klasse zusammengefunden hatten.
Pam antwortete mir im Flüsterton. »Also erst einmal: ich bin nachdem ich heute in der Pause mit Luki mitgegangen bin noch einmal zurückgerannt. Und dann hab ich etwas von Kohle klauen und Mara gehört. Ich bin hellhörig geworden und habe euch belauscht…« Pam setzte ein beschämtes Lächeln auf. »Ich konnte Claudia doch nicht im Stich lassen! Also habe ich vor dem Klo Wache gehalten und als dann der Alarm losging und die Schüler und Lehrer alle weg waren, sind wir zusammen in die Klasse gerannt, wir haben das Geld gefunden und dann…«, Pam verstummte plötzlich und ihre Miene verfinsterte sich.
»Und dann…?«, hackte ich besorgt nach.
»da-dann…« Ihre Stimme klang brüchig. Sie sah zu Boden. Ich wartete auf ihre Antwort.
»Dann ha…haben wir Mara entdeckt, wie sie uns gefilmt hat…« eigentlich wäre jetzt eine stille Pause eingetreten, doch die Stille wurde von den Klassen die sich wieder auf den Weg ins Schulgebäude machten erfüllt. Anscheinend hatte es schon Entwarnung gegeben.
Kurz gingen wir schweigend und auf den Boden starrend nach unten. Ich konnte das einfach nicht fassen. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, doch ich wusste, dass wir dadurch nur auffallen würden, also hielt ich mich zurück.
Claudia fand als erstes das Wort wieder: »Aber ich glaube, dass sie uns eh nicht draufhat und was kann uns so ein Video anhaben? Wir haben die Kohle doch schon!«
»Seid ihr eigentlich total bescheuert, ihr könnt sie doch nicht einfach gehen lassen, das ist Beweismaterial für die Polizei! Versteht ihr das nicht, mit diesen eindeutigen Beweisen kann die uns in null Komma nix in den Knast wandern lassen! Ist euch das überhaupt bewusst?! Wir haben gegen das Gesetz verstoßen und sind strafmündig! Passt das in eure Köpfe?!«
Pam, Ben und Claudia sahen mich ratlos an.
»Ich habe eine Idee«, sagte ich nach kurzem überlegen. »Wir klauen ihr jetzt ihr Handy und löschen das Video.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Ben mir bei. Er war gut darin andre auszutricksen und konnte jemanden sicherlich das Handy aus der Tasche ziehen. Zumal Mara, wie ich beobachtet hatte, das Handy stets in die hintere Hosentasche steckte.
Es gelang ihm nicht gleich, ihr das Handy zu nehmen. Erst nach der Stunde im Computerraum, als wir zurück in die Klasse gingen, konnte Ben es ihr unbemerkt aus der Tasche ziehen. Er verabschiedete sich von uns und verschwand in seine Klasse.
Nach der Schule trafen wir uns vor dem Schulgebäude, um uns zu beraten.
»Leute, ich habe den Video gefunden«, berichtete Ben.
»Super, aber was machen wir jetzt? Ich meine, wir müssen ihr das Handy wiedergeben.« Ich blickte nachdenklich in die Ferne.
»Ja, und was, wenn Mara das Video auf den Schulcomputer geladen hat? Ich hab gesehen, wie sie es an den Computer angeschlossen hat.«
»Scheiße, dann sind wir ausgeliefert…«, zischte Ben.
»Nicht ganz«, meldete sich Claudia. »Wir haben außer zu Wikipedia keinen Internetzugang in der Schule, somit kann sie es noch nicht versendet haben.«
»Das ist auch wahr«, stimmte Ben ihr zu.
»Was machen wir denn jetzt nur? Hat jemand einen Plan?« Ich war verzweifelt. Alles stieg mir zu Kopf und wurde mir zu viel.
»Ja, ich hätte da so eine Idee«, begann Claudia. »Wir könnten am Wochenende in die Schule einbrechen und uns in den Computerraum schleichen. Ich weiß, dass Mara ihr Passwort unter der Bank liegen hat und zugleich könnten wir dann auch das Handy zurücklegen.«
»Das klingt super«, lobte Ben. »Ich mache gerade den Führerschein, da kann ich dann den Wagen meiner Mutter nehmen.«
»Stopp, halt!«, ging ich dazwischen. »Das geht alles zu weit! Ich meine, wir machen uns doch auf diese Weise nur noch viel mehr Ärger!«
»Aber, Nelli, wenn meine Mutter herausbekommt, dass ich etwas gestohlen habe, bringt sie mich um! Noch dazu von der Tochter eines angesehenen Anwaltes.«
Mir wurde flau im Magen, als ich an den Plan dachte, doch ich konnte Pam nicht im Stich lassen.
Das ist die Einfahrt der Einbahnstraße.
Ich konnte nur noch an Ollie und Alex denken. Sie machten mich beinahe verrückt. Das nächste Mal musste ich mich versuchen im Zaum zu halten, wenn sie wieder etwas Derartiges über Pam sagten. Sonst würde mich mein Trainer rauswerfen und ich wusste, das würde er tun – wenn auch nicht gerne. Trainer Pablo war ein Mann mit strengen Prinzipien und die hielt er strikt ein. Das verlieh ihm großen Respekt und Ehre.
Ich fühlte mich schon wieder so wütend. Diese Erkenntnis wiederum ließ meinen Zorn weiterhin wachsen. Woher kam nur all diese Wut in mir? Ich wollte mein Leben unter Kontrolle haben, doch sie hinderte mich daran.
Heute Abend war kein Training, doch manchmal ging ich trotzdem in die Halle, um ein bisschen den Kopf frei zu kriegen.
Ich streifte mir einen Pulli über und schnappte mir meinen Rucksack. Schon war ich aus der Haustür verschwunden. Ich hatte meine Mutter gar nicht beachtet. Aus Absicht. Wenn man die Augen schließt, kann man nichts sehen.
Die Luft draußen war kalt und rau, das Licht blass. Der späte Nachmittag neigte sich dem Ende und Wolken zogen auf. Vielleicht würde es erneut schneien.
Ich nahm wie immer mein Fahrrad, um zur Turnhalle zu gelangen.
Vor der Halle stellte ich mein Rad ab. Überraschenderweise stand da noch ein weiteres Fahrrad. Ich erkannte es sofort: Es war das von Leo.
Ich betrat den Flur und steuerte auf die Umkleide zu. Bereits jetzt hörte ich das Prallen eines Basketballes auf dem Parkett.
Als ich mich in meinem rotweißen Trikot befand, schritt ich in die große Halle. Leo sah sehr konzentriert aus, als er den Ball immer wieder gegen den Boden prallen ließ und ihn hin und wieder zwischen seine Beine lenkte. Seine blonden Locken waren nass und klebten an seiner Stirn.
Als er mich erblickte, verfinsterte sich seine Mine.
»Was machst du hier?«
»Dasselbe wie du!«, rief ich ihm zu.
Er antwortete mir nicht, sondern trainierte einfach weiter und kehrte mir dabei den Rücken zu.
»Bist du wegen irgendwas sauer?«, fragte ich sicherheitshalber nach.
»Neeeein, überhaupt nicht«, zischte er ironisch. »Du kannst dich hier nur immer aufführen, wie der letzte Depp und kriegst die ganze Aufmerksamkeit.«
»Das ist nicht wahr! Paolo hat mir letztlich eine ziemlich lange Moralpredigt gehalten.«
»Oh, dein Leben muss so schrecklich sein«, äffte er sarkastisch.
»Alter, ich geh wieder!«, seufzte ich und ging. Gerade wollte ich zur Tür hinaus, als ich seine Stimme vernahm.
»Man, es tut mir leid«, meinte er jetzt entschuldigend. »Du kannst nichts dafür, dass du so gut bist.«
Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich darauf sagen sollte. In so einer schwierigen Situation konnte ich keine albernen Sprüche reißen.
»Du bist auch größer und stärker, als ich.«
»Ja, ich weiß.«
»Echt beschissen!« Er stieß den Basketball mit voller Wucht gegen die Wand.
»Ja«, murmelte ich. »Das Leben ist nicht gerecht.«
Ich sagte das nicht nur so, ich wusste es aus eigener Erfahrung. In den meisten anderen Dingen hatte Leo, im Gegensatz zu mir, Glück gehabt. Das war ihm nicht bewusst. Aber ich blieb still und passte ihm den Ball zu.
Es klopfte an meiner Zimmertür. Meine Mutter steckte ihren Kopf herein.
»Pamela, dein Freund Max ist da.« Sie lächelte ein übertrieben freundliches Lächeln, als Max hinter ihr hervortrat.
»Hey, Mäuschen.« Er kam auf mich zu und küsste mich auf den Mund. Ich nahm dabei den vertrauten Geschmack seiner Lippen in mir auf. Ich war aber zur selben Zeit nervös, weil ich das ungute Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Tatsächlich stand meine Mutter noch immer hinter uns im Türrahmen und blickte stolz. Auch wenn ich mir manchmal nichts sehnlicher wünschte als das, wollte ich, dass sie ging und uns allein ließ.
»Hey, Schatz.« Ich nannte ihn fast immer so.
»Kann ich euch noch etwas bringen?« Meine Mutter sah dabei jedoch nur Max an.
»Nein danke, Mrs. Winter.« Er sah ihr wohlwollend entgegen. »Ihre neue Bildreihe mit den Rosen im Esszimmer sieht übrigens fabelhaft aus!«
»Dankeschön, das freut mich!« Ich konnte sehen, wie sehr meine Mutter in ihrer Rolle als perfekte berufstätige Mutter und Hausfrau aufging und sich von Max’ anerkennenden Gesten nährte.
»Die Freude ist ganz meinerseits.«
»So jetzt lass ich euch ein Bisschen allein. In einer Stunde treffen wir uns unten. Geht das für euch in Ordnung?« Wieder sah sie dabei nur Max an.
Victor hatte für uns Karten für eine Besteck-Sonderausstellung im Museum besorgt. Wenn ich nur daran dachte, konnte ich mich erschießen.
»Ja, natürlich, Mrs. Winter.«
»Bis später dann, ihr zwei.« Sie könnte mit »ihr zwei« ebenso bloß Max meinen!
Sie schloss die Tür hinter sich.
»Ist was, Mäuschen?«, meinte er.
»Nein, alles in Ordnung…«
»Das glaub ich dir nicht.« Er setzte sich auf mein Bett und zog mich an den Händen zu sich.
»Du weißt, du kannst mir alles sagen.« Er lächelte und mir wurde warm.
»Ja…« Ich zögerte einen Moment. Sollte ich es ihm wirklich sagen? Ich wusste, dass ich ihm vertraute. Also sprach nichts dagegen.
»Es ist nur so«, begann ich, »dass ich es nicht mag, wenn meine Mutter mit dir spricht…« Mir war klar, dass es sich lächerlich anhörte, doch ich wusste nicht, wie ich mich sonst ausdrücken sollte.
»Was?« Er klang verwirrt. »Soll ich etwa nichts mehr sagen, wenn sie mit mir redet?«
»Nein das meine ich so nicht…« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Ich meine… Mir kommt es so vor, als würde sie sich in alles einmischen, was uns anbelangt…«
Auf Max’ Gesicht machte sich Erleichterung breit. »Ach Schatz, mach dir keine Gedanken deshalb. Wir gehören nur uns.« Als er das sagte, ging es mir besser.
Ich wollte ihm noch sagen, dass er das Kompliment mit den Bildern weglassen hätte können, doch dann entschied ich mich dagegen. Es war ja eigentlich von Vorteil, dass sich die beiden mochten.
»Du hast recht, Schatz.« Ich setzte mich auf seinen Schoß und küsste ihn. Ich vergrub die Hände in seinen schwarzen Locken . Er ließ sich auf meinem Bett nach hinten fallen. Max drückte mich an sich. Ich kuschelte mich halb neben, halb auf ihn. Mein Kopf ruhte an seiner Schulter. Ich spürte seine Wärme und das Gefühl von Geborgenheit. Jetzt wäre der perfekte Augenblick, um mir meine Sorgen von der Seele zu reden. Ich wollte ihm das mit dem geplanten Einbruch in die Schule erzählen, doch aus irgendeinem Grund konnte ich es dann doch nicht.
»Weißt du noch?«, sagte er dann plötzlich.
»Was denn?«
»Dass ich dich liebe.«
»Ja«, flüsterte ich. »Ich dich auch.«
Wir lagen noch lange so da. Ich ließ die klänge dieser Worte in mir nachhallen und lächelte.
Das Gefühl dauerte an, bis Max’ Handy klingelte und mich aufschreckend in die Wirklichkeit zurückholte.
Er setzte sich auf und tastete nach seinem Handy in der Hosentasche. »Ah, wir müssen nach unten.«
»Du hast dir einen Wecker gestellt?«, zischte ich fassungslos.
»Ja, man.« Er grinste verschmitzt.
»Oh Gott«, murmelte ich seufzend.
»Was ist so schlimm daran?« Er zuckte unschuldig mit den Schultern.
»Du wirst soglangsam, wie sie.« In dem Moment, als ich es sagte, tat es mir bereits leid. Weniger wegen ihm, sondern eher, weil ich es nicht aussprechen wollte.
»Mit mir bleibt uns eine Moralpredigt erspart. Sieh es mal so.«
»Okay, okay, Mister.« Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu und grinste.
Max hob mich hoch und trug mich bis zur Tür meines Zimmers. Wegen unseres deutlichen Größenunterschieds, war es für ihn eine Leichtigkeit, mich aufzuheben.
Er holte mir noch meinen edlen dunkelblauen Mantel und streifte ihn mir über. Dann sah er mich von oben bis unten an. »Du siehst fantastisch aus!«, bemerkte er bewundernd.
»Ach was…« Ich machte eine abwehrende Handbewegung. Auch nach anderthalb Jahren konnte ich noch immer keine Komplimente von ihm annehmen. Max machte mir viel zu oft Komplimente und ich kam mir einfach nur blöd dabei vor.
»Doch, Mäuschen, du bis meine Prinzessin.«
Ich lächelte, um keine dieser Diskussionen zu entfachen und griff nach der Türschnalle.
Meine Mutter lächelte uns bereits entgegen, als wir Hand in Hand das große Marmortreppenhaus herunterkamen. Miene Mutter hatte ihren langärmeligen Overall an, darüber den neuen Trenchcoat. Victor stand neben ihr. Er trug wie üblich einen dieser karierten Pullunder, darunter ein weißes Hemd. Seine dicken Lippen waren leicht geschlossen und wirkten entspannt – alles wie es sein sollte. Ich hatte sogar den Eindruck, dass seine Brille perfekt saß – zum kotzen!
»Max, du siehst wunderbar aus!« Sie strahlte ihr schönstes Lächeln und fasste ihm dabei an den Schultern. Dan drehte sie sich zu mir. »Meine Güte, Schätzchen, sehen deine Haare zerzaust aus!« Sie zupfte mit ihren Fingern an meinem Kopf herum, bis sie zufrieden war. »So, sieht doch gleich viel ordentlicher aus.« Sie trat einen Schritt von uns weg und betrachtete uns von oben bis unten. »Pamela, willst dir dir keine hohen Schuhe anziehen? Du siehst so klein aus neben Max.«
Entschuldigung Mum, dass ich nicht genau wie du 1,70 bin.
Sie eilte zum Schuhkasten im Foyer und wir folgten ihr. Ich warf Max einen genervten Blick zu.
»Hier, nimm diese Schätzchen.« Sie drückte mir ein Paar edler Schuhe mit ziemlich beachtlichen Absätzen in die Hand. Ihr Stoff war beige und samtartig. »Mit denen bist du genau 1,70 groß.«
1,70 ist die perfekte Größe einer Frau, sagte eine Stimme in meinem Inneren, die meiner Mutter gehörte. So wirkt die moderne Frau kleiner als der Mann, aber dennoch stark und unabhängig.
Wenn ich meine Mutter mit einem Wort beschrieben müsste, würde ich mich ohne Zweifel für perfekt entscheiden.
»Danke, Mum«, murmelte ich und versuchte zu lächeln.
Nach langer, sich dahinziehender Zeit, befanden wir uns immer noch im Museum. Die Räume waren hoch und in den Vitrinen an den Wänden und in der Mitte, befanden sich beinahe identische Bestecksets. Meine Mutter und Victor unterhielten sich mit einem älteren Herrn angeregt über ein besonders außergewöhnliches Set.
»Ich kill mich gleich mit diesem Messer«, raunte ich Max unauffällig zu und deutete auf das entsprechende Stück in der Vitrine.
»Kannst du mich auch gleich abstechen?«, murmelte er ohne seine Lippen zu bewegen und lächelte dabei meiner Mutter zu die in diesem Moment zu uns blickte.
»Mit dem größten Vergnügen, Mister!«
Nach einer gefühlten Ewigkeit, waren meine Mutter und Victor endlich an allen Bestecksets vorbeigekommen und wir befanden uns am Ausgang der Ausstellung.
»Sehr, inspirierende Anregungen«, sagte sie an Victor gewandt. »Findest du nicht auch?«
»Ja durchaus, Darling, ich kann dir nur zustimmen.«
Erschieß mich, dachte ich.
»In der Tat, sehr beachtlich«, kommentierte Max.
Meine Mutter wollte gerade etwas erwidern, als der alte nobel wirkende Mann von vorhin zu uns trat.
»Es hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Mrs. und Mr. Winter.«
Meine Mutter begann den Kopf zu schütteln. »Oh, wir sind noch nicht verheiratet.«
Der Mann lachte peinlich berührt. »Sie lassen mich also gnadenlos ins offene Messer laufen.« Eine stille Pause entstand, ehe meine Mutter und Victor anfingen zu lachen.
»Oh, Sie sind mir aber einer.«
Max und ich versuchten mit einzustimmen, doch der schlechte Wortwitz gestaltete es uns ziemlich schwer.
»Möchten Sie mich vielleicht noch in die Stuhlausstellung begleiten?«, fragte der Mann.
Meine Mutter sah Victor fragend an und als der nickte, bejahte sie und hackte sich sanft bei ihm unter.
Angestrengt, mir den Seufzer nicht anmerken zu lassen, schlenderte ich mit Max an der Hand, den kultivierten Erwachsenen hinterher.
Es war eine Ausstellung mit nichts, außer Stühlen. Von modernen, bis hin zu alten, bereits mit mit Holzwürmern zerfressenen Exemplaren.
Das berühren der Exponate ist untersagt!, las ich auf einem kleinen weißen Schild.
»Möchtest du dich viellicht hinsetzen?«, fragte Max und sah mich an.
»Mein Gott, ja, aber woher soll ich wissen ob der Stuhl nicht eins von den verfickten Exponaten ist?«, zischte ich und erntete dafür den entsetzen Blick der Dame, die gerade an uns vorbeikam. »Ups«, kicherte ich und hielt mir die Hand vor den Mund.
Max musste sich bemühen, nicht gleich loszuprusten.
»Sag jetzt ja nichts«, warnte ich ihn und stieß ihn unauffällig in die Seite.
Als wir am Abend endlich mit dem silbernen BMW von Victor nach Hause fuhren, tauchte ein Satz, den meine Mutter heute gesagt hatte, erneut in meinen Gedanken auf.
Max und ich saßen auf der mit braunen Leder überzogenen Rückbank. Ich hatte meinen Kopf an ihn gelehnt.
Wir sind noch nicht verheiratet!, wiederholte ich den Satz in Gedanken. Noch. Was sollte das bedeuten? Hatte meine Mutter etwa vor, Victor zu heiraten? Sie kannte ihn doch noch gar nicht richtig! Eine Mischung aus Schmerz und Wut stieg in mir hoch. Wie konnte sie meinen Vater nur so gnadenlos auslöschen, so als hätte es ihn niemals gegeben? Außerdem konnte ich meinen Vater – anders als meine Mutter – nicht einfach ersetzten. Niemand würde meinen Vater jemals ersetzen können.
Stopp! Meine Augen brannten.
Stopp! Ich atmete tief ein, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Atmete langsam aus.
Denk an etwas Witziges! Fliegende Murmeltiere . Ich dachte stets an fliegende Murmeltiere, wenn sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Und es funktionierte immer.
Ich konnte Victor nicht ausstehen. Deshalb war Eines klar: Auf der Hochzeit von ihm und meiner Mutter werde ich ein Trauergewand tragen! Ein pechschwarzes Trauerkleid. Nicht jenes ich bei der Beerdigung meines Vaters getragen habe. Das wäre mir viel zu schade!
Der Gedanke fing an, mir zu gefallen. Und ich hätte es wirklich getan, wenn meine Mutter nicht so wäre, wie sie war.
Mein Atem bebte, mein Bauch hob und senkte sich bei jedem Zug kaum. Alles von mir war angespannt, immer wieder durchfuhr mich ein Zucken. Meine Zähne klapperten.
Ich wickelte mir meine langen glatten braunen Haare um die Fingerspitzen.
Im halbdunklen tastete ich nach der Maus. Umfasste sie wie einen Steuerknüppel, so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
Der Computer machte ein ohrenbetäubendes Geräusch. Als ob ein Helikopter auf dem Dach landen würde.
»Nun mach schon«, bat ich mit einem Singsang in der Stimme. Tränen der Verzweiflung traten mir in die Augen. Bis der Rechner hochgefahren war, dachte ich an die Geschehnisse heute Nachmittag – weshalb ich überhaupt hier war.
Unsere Klasse war nach dem Feueralarm wieder in den Informatikraum zurückgegangen. Mara saß immer noch in dem Eck – da saß sie immer. Ihr Computer verdeckte ihr Gesicht, überhaupt alles was sie tat wurde von dem Monitor, der viel größer schien als der der anderen, verborgen.
So konnte sie sich verstecken. Verstecken vor den Rufen der anderen. Verstecken von den Tritten und Stoßen. Von den Beleidigungen und Gemeinheiten.
Als ich sie ansah, fühlte ich Mitleid, doch dann flüsterte mir Claudia etwas über ihre Haare ins Ohr. Sofort prusteten wir los. Sahen in ihre Richtung.
So hätte das jemand erzählt, der nicht wusste was ich fühle. Ja, ich fühle anders! Ich wollte nicht lachen, ich wollte sie nicht ansehen. Es füllte nur meine innere Leere aus.
Manchmal kam es mir so vor als ob Mara gar nicht mehr hier wäre. Mit jedem Schubs, jeder Beleidigung und jedem Auslachen, schien sie kleiner zu werden – bis nichts mehr von ihr übrig war. Sie dachte, dass es an ihr lag, doch sie war nur das Etwas, das unsere Lücken füllte. Das Etwas, das unsere Schwächen verbarg. Eigentlich war nicht Mara, die die sich versteckte, eigentlich waren es wir, die unsere Schwächen vor ihr, vor den anderen und vor allem vor uns selbst versteckten.
Nervös warf ich einen Blick auf den Monitor, der in der Dunkelheit wie eine Dreihundert-Watt-Glühbirne zu scheinen schien und kniff meine Augen zusammen, die sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Ich versank wieder in meinen Gedanken. Dachte daran wieso ich hier war. Ich musste dieses Video finden, das Mara auf den Computer geladen haben musste. Ich musste es vernichten.
Plötzlich ertönte ein stechendes Geräusch. Ich fuhr hoch und wirbelte herum. Auf dem Monitor des Computers zeigte sich der Desktop.
Ich hielt mir die Hand aufs Herz, das mir vorhin fast in die Hose gerutscht wäre.
Ich war so blöd gewesen den Computer nicht auf »lautlos« zu schalten. Dieses Geräusch ertönte doch immer wenn der Computer hochgefahren war.
Ich gab das Passwort ein, das ich vorhin unter Mars Bank gefunden hatte in das Feld auf dem Computer ein und meldete mich an.
Eilig suchte ich nach dem Video auf dem PC. Suchte fieberhaft in allen Ordnern. Auf allen Festplatten. Vergebens! Wo war dieses Video? Dieses verdammte Video? Das Blut rauschte in meinen Ohren. Der Monitor begann zu flimmern. Alles fing an sich vor meinen Augen zu drehen. Mein Kopf drohte zu zerplatzen.
Wenn ich dieses Video nicht fand, konnte Mara uns ins Gefängnis wandern lassen. Nelli, verdammt. Streng dich an! Tu nur ein Mal das Richtige. Ich stützte meine zittrigen Hände auf dem grauen Tisch ab. Ich atmete tief ein. Tief aus. Mir war klar, dass ich verschwinden musste. Wenn jemand die Polizei rufen würde? Doppeltes Verbrechen, ging es mir durch den Kopf. Zwei Mal! Meine Finger waren 100° heiß, obwohl es draußen schneite.
Ich war hin und her gerissen. Sollte ich gehen und hoffen, dass Mara gütig sein würde? Oder sollte ich weitersuchen und riskieren erwischt zu werden? Ich fasste einen kurzerhand Entschluss.
Ich durfte nicht aufgeben! Ich musste mir etwas Neues einfallen lassen.
Und wie vom Himmel gefallen, kam mir eine Idee. Ich musste einfach nur das Passwort auf Maras Computer ändern, das würde sie daran hindern auf ihre Daten zuzugreifen. Du bist genial Nelli, lobte ich mich.
Am liebsten hätte ich lauthals geschrien vor Freude. Mit hastigen Bewegungen klickte ich mich bis zum Passwort durch.
Als ich das neue Kennwort eintippen wollte, vernahm ich plötzlich ein seltsames Geräusch. Es kam von der Ferne. Von draußen. Eine Schockwelle durchzog meinen Körper. Eine Sirene. Es war eine Sirene! Genauer gesagt eine Polizei Sirene.
»Nelli, jetzt mach schon!« Ich zitterte und knabberte nervös an meinen Fingernägeln. Claudia saß mit mir auf der Rückbank von dem dunkelgrünen Landrover von Bens Mutter.
Ben saß vorne am Steuer. In meinem Kopf dröhnte es. Was wenn Nelli das Video nicht finden würde? Und was, wenn wir erwischt werden würden?
Dann, plötzlich hörte ich ein Geräusch, aufgrund dessen sich mein Magen im Bauch umzudrehen schien.
»Habt ihr das Gehört?«, fragte Claudia ängstlich.
»Ja, ich hab die Geräusch auch gehört…«, stammelte Ben. Auch er schien von seiner Nervosität gleich zerrissen zu werden.
»Komm schon, Nelli!«, betete ich.
Die Polizeisirene wurde immer lauter und mit jeder Sekunde sank die Hoffnung, dass Nelli rechtzeitig auftauchen würde.
»Was sollen wir jetzt machen?« Ich war kurz davor durchzudrehen, meine Stimme überschlug sich.
»Ich habe keine Ahnung…« Claudia starrte mit unfokusiertem Blick in die Ferne.
Wir mussten uns schnell entsenden! Uns blieb keine Zeit. Sollten wir noch warten und hoffen, dass Nelli doch noch auftaucht, oder war es besser einfach davon zu fahren um zu verhindern, dass wir alle bestraft wurden?
Das Sirenengeheul war nun nur noch ein paar Straßen entfernt.
Die Moral gegen die Vernunft. Eine von beiden würde siegen.
OH-MEIN-GOTT. Mir entfuhr ein leises Jauchzen. Würde ich es zeitlich schaffen?
Ich machte einen Satz Richtung Fenster. Nein doch nicht! Ich hechtete wieder zum Computer zurück. Doch mir wurde schnell klar, dass es zu spät war.
Rasch bückte ich mich, kroch unter den Schreibtisch und zog den Stecker des Computers. Auf einen Schlag erlosch das Bild auf dem Monitor und der ganze Raum verdunkelte sich.
Wie ein geölter Blitz hastete ich zum offenen Fenster. Schnell zog ich einen Stuhl unter das Fenster, sprang darauf und versuchte mich am Fensterrahmen hochzuziehen. Ich zog meinen Kopf ein, um durch das niedere Fenster zu passen.
Die Sirene war inzwischen um einiges lauter geworden.
Jedes Dezibel riss an meinen Nerven. Lies mich erstarren und zugleich zappeln.
Schnell setze ich meine Füße auf den mit Schnee Bedeckten Pflastersteinboden und dann stürmte ich los. Die Sirene kam immer näher.
Jemand hatte mich gesehen wie ich die Fensterscheibe zerschlagen hatte. Jetzt musste ich nur noch fliehen. Fliehen vor der Polizei. Das Auto von Bens Mutter wartete vor dem Haupteingang der Schule. Ich fegte über den Fahrradhof, rutschte aus, viel hin, fing mich auf. Hecktisch stand ich auf und jagte weiter.
Ich konnte das Auto schon sehen. Die Sirene war nur noch eine Straße entfernt. Schneller Nelli! Schneller!
Endlich war ich am Wagen angekommen, in dem Ben, Claudia und Pam auf mich warteten.
Eilig riss ich die Beifahrer Tür auf und quetschte mich auf den Sitz.
Sofort gab Ben Gas. Der Wagen beschleunigte und Ben lenkte ihn schleifend die via Bellaria runter.
Er geriet ins Rutschen, angestrengt versuchte Ben die Kontrolle über den Wagen zu bekommen. Der Teer war glatt und die Schneeflocken peitschten gegen die Windschutzscheibe.
Ben bog an der nächsten Kreuzung in eine lange und gerade Straße ein und trat das Gaspedal bis zum Boden durch.
»Ben, nicht so schnell! Du kannst doch gar nicht Autofahren!«, wimmerte ich und hielt mir die Hände vors Gesicht. Wer hat eigentlich diese bescheuerte Idee gehabt, mit einem Auto zu fahren?
»Nelli! Die erwischen uns noch, wenn Ben nicht ordentlich Gas gibt!«, fauchte Claudia.
Der große dunkelgrüne Jeep wurde immer schneller. Mir kam alles wie in einem furchtbaren Alptraum vor. Das muss ein Traum sein, dachte ich und versuchte die Augen aufzureizen und wieder zusammenzupressen.
Ich wollte aus diesem Alptraum erwachen. Doch bevor ich diesen Gedanken zu Ende führen konnte, trat Ben plötzlich mit voller Kraft aufs Gaspedal. Kurz darauf wurde mit voller Wucht gegen ein weiches Kissen geschmissen.
Laute Schreie ertönten, dann war alles still. Ich sah nur weiß. Weiß, wie Schnee oder wie das Gefühl von Leere.
Dann schlug ich meine Augen auf. Abrupt strömte mir Dunkelheit entgegen.
Sie überkam mich wie ein harter Schlag ins Gesicht. Ruckartig setzte ich mich auf. Die anderen bewegten sich auch schon.
Ben, der am Steuer saß, hatte seinen Kopf in das Weiße Kissen gepresst, das aus dem Lenkrad herauskam.
»Ben, aufwachen!«, schrie ich ihm ins Ohr und rüttelte unsanft an seiner Schulter.
Schlagartig fuhr er hoch. Instinktiv versuchte er den Wagen zu starten. Ein Glück – er sprang gleich an.
Ben fuhr kurz nach hinten und dann war er wieder auf der Straße. Wir bemerkten, dass das Sirenengeheul verstummt war. Der Wagen tuckerte langsam über den verschneiten Asphalt. Erst jetzt spürte ich das Schockgefühl. Ich fühlte mich unbeschreiblich.
Ich drehte mich um und spähte nach hinten. Jetzt erst begriff ich was passiert war.
Ben war gegen ein Straßenschild gefahren. Dadurch gingen die Airbags auf. Das Auto hatte offenbar keinen weiteren Schaden genommen, denn es lief ja wieder.
»Ich fahre jetzt nach Ause!« Ben starrte durch die Windschutzscheibe auf die schwach beleuchtete Allee.
Er sah mitgenommen aus. Er keuchte und ich sah, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Ich atmete wieder tief durch.
Ich weiß nicht wie lange wir wortlos auf unseren Sitzen saßen, während Ben langsam – so als wüssten wir nicht wohin wir fuhren – über die Straße rollte.
Nach und nach wich die Spannung aus meinem Körper. Jetzt meldete sich jemand von der Rückbank.
»Und Nelli, hast du das Video gefunden?«, fragte Pam.
Diese Frage traf mich wie ein Dolch mitten in die Brust. Schlagartig wurde mir übel. Was sollte ich ihnen jetzt erzählen?
Stille. Es war so still, sodass sich mein eigener Herzschlag, in meinem Körper wie ein Paukenschlag anfühlte.
Ich wollte etwas sagen, doch meine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Ich wagte es kaum zu atmen. Immer wieder tauchten die gleichen Bilder vor meinen Augen auf. Der Computer, der flimmernde Monitor- dieser Ordner ist leer.
In der Hoffnung die Bilder würden verschwinden, versuchte ich krampfhaft die Augen offen zu halten. Meine Lider zitterten.
»Nelli, was ist los?«, fragte Pam ängstlich und besorgt.
»Nelli?!«, wiederholte sie, doch ich konnte nichts erwidern, wollte nichts erwidern.
Ich fühlte mich krank. Mich würgte es, als ob ich brechen müsste. Ich wollte weinen doch ich konnte nicht. Mein ganzer Körper war wie gelähmt.
»Nelli, jetzt antworte mir!«, flehte Pam jetzt.
Ben hatte den Wagen zum Stehen gebracht und ich konnte aus dem Blickwinkel erkennen, dass er mich fassungslos anstarrte.
Pam beugte sich nach vorne zu mir. »Nelli, egal was du jetzt sagst, wir sind nicht sauer auf dich!« Ihre Stimme klang jetzt sanft und beruhigend. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. Ein seltsamer Schauer durchzuckte meinen Körper als sie das tat. Doch dann fühlte es sich trotzdem gut an.
Plötzlich lösten sich meine Worte: »Ich…ich habe Mist gebaut – großen Mist! Ich bin in Maras Ordner gegangen, doch da war das Video nicht! Ich schwör’s, da war kein Video.«
Ich legte eine kurze Pause ein. »Ich hab wirklich alle Ordner durchsucht und alle Festplatten- nichts! Ich hab sogar versucht das Kennwort zu ändern, doch diese Idee kam zu spät, denn da habe ich schon die Polizeisirene gehört.«
Jetzt war es raus. Alles. Einerseits fühlte es sich gut an, andererseits hatte ich Angst auf die Reaktionen der anderen.
Stumm blickte ich nach unten. Wieder trat Stille ein, doch plötzlich zuckte ich zusammen. Claudia fauchte mich an: »Nelli! Weißt du was das für uns bedeutet? Du kannst dir nicht im Geringsten die Folgen dies…«
»STOP!« Pam war ihr ins Wort gefallen. »Claudia, du hast vergessen was Nelli für uns riskiert hat! Es kann immer etwas schieflaufen!«, verteidigte mich Pam.
Ich war froh, dass sie das gesagt hatte. Das nahm mir auch ein Bisschen meiner Schuldgefühle.
»Ja, aber die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schiefläuft kann man verringern, indem man seinen Plan vielleicht etwas besser durchdenkt!«, zischte Claudia sarkastisch.
»Vielleicht hast du auch schon einmal daran gedacht, dass wir Nelli bei dem Plan geholfen haben!« Pam sah sie kurze Zeit unverwandt an, ehe sie im höheren Ton fortfuhr.
»Du hättest doch ruhig einmal etwas sagen können, aber nein du bist schön still auf deinem Stühlchen gesessen und hast gegafft!«, höhnte Pam.
»Das muss ich mir nicht bieten lassen, jetzt bin ich noch daran schuld, dass Nelli Scheiße gebaut hat?! Also das...das ist doch lächerlich!«, gab Claudia im beißenden Ton zurück. »Und ihr seid meine Freunde?!«, hörte ich sie murmeln.
Mit diesen Worten öffnete sie die hintere Tür des Wagens, stieg aus und knallte die Tür mit voller Wucht zu. Die Stille beherrschte jetzt wieder unsere Welt.
Ich sah aus dem Fenster. Auf die verlassene Straße, die in das gelbliche Licht der eisernen Straßenlaternen getaucht wurde. Die hohen Bäume warfen ungewöhnliche Schatten auf die mit Schneematsch bedeckte Straße.
»Wollt ihr Claudia bei dieser Dunkelait wirklich allein nach Ause gehen lassen?«, fragte Ben. Seine Stimme klang weder wütend, noch vorwurfsvoll. Sie klang auch nicht nett. Sie klang nach gar nichts. Ich sah ihn an. »Es ist doch schon drei Uhr morgens, wer soll ihr da Etwas anhaben? Außerdem wohnt sie hier gleich in der Nähe!«
Ben nickte nur und starrte auf das Lenkrad. Dann stieg er plötzlich aus dem Auto und stellte sich vor die Kühlerhaube. Was tat er da? Er machte einen skeptischen Gesichtsausdruck, doch dann hellte sich seine Miene auf. Er strich glücklich über die Stoßzange des Autos – jedenfalls glaubte ich das, denn aus diesem Winkel konnte ich das nur erahnen.
Erleichtert stieg Ben ein und lies sich in seinen Sitz fallen. »Wie durch eine Wunder hat die Stoßzange keine Schaden genommen! Meine Eltern und vor allem die Polizei wird nicht merken, dass ich mit diese Auto gefahren bin.«
»Hey, das hört sich doch super an!« Pam klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
»Ja, allerdings. Und ich werde erst wieder mit 18 Auto fahren, aber ihr müsst zugeben, dass ich für meine 17 Jahre sehr gut fahre – auch wenn ich gerade den Führerschein mache!« er grinste uns schelmisch ins Gesicht.
»Nur, wenn du Nelli und mich zu mir nach Hause fährst, dann hast du die Prüfung bestanden!« Pam lachte, um die Stimmung aufzuheitern und Ben startete den Wagen. Ich wunderte mich wieso sie sich keine Sorgen mehr um das Video machten, doch anscheinend hatten sie begriffen, dass das keinen Sinn machen würde.
Aber die Tatsache, dass sie nichts sagten, änderte nichts daran, wie hilf- und hoffnungslos ich mich fühlte.
Am nächsten Tag war ich völlig am Boden zerstört. Zerfressen von meinen Gewissensbissen. Ich schaffe den ganzen Druck nicht mehr. Vielleicht ist es Zeit aufzugeben und wenn es sein muss werde ich im Gefängnis landen. Gottseidank konnte ich heute Abend zu Pam gehen. Ihre Mutter war zwar noch strenger und verurteilender als meine, jedoch konnte ich meine Mama nur schlecht anlügen und irgendwann wollte ich mir auch nicht mehr Geschichten ausdenken. Ich liebte Geschichten, jedoch nicht solche von dieser Sorte.
Nelli und ich lagen zugedeckt auf dem ausgezogenen Schlafsofa im Wohnzimmer unseres Hauses. Meine Mutter und mein Vater waren wieder einmal weggefahren. Nellis Mutter und Victor würden auch nicht merken, was gestern passiert war, denn sie glaubten, dass sie ausgegangen wäre. Also hatten wir uns gestern bei Nelli einfach ins Haus geschlichen – wie nach dem Ausgehen eben.
Im Raum war es angenehm Warm und die edle Wolldecke, die zu allen Dingen im Raum farblich abgestimmt zu sein schien, war weich und kuschelig. Ich starrte an die rosa gestrichene Zimmerdecke und dachte nach.
Plötzlich sagte Nelli: »Du, Pam!«
»Ja?« kam es aus meinem Mund.
»Danke! Danke, dass du zu mir gehalten hast.«
»Das war doch klar. Und hey, du weißt ja, wir halten doch zusammen.«
Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und lächelte. Auch wenn ich es in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte, wusste ich doch, dass sie lächelte.
Eine kurze Pause trat ein, ehe Nelli erneut das Wort ergriff. »Wir bleiben Freundinnen, Pam. Beste Freundinnen für immer. Versprich mir das, Pam!«
»Nein!«, sagte ich plötzlich.
»Nein?!«, fragte sie ängstlich.
»Nein, Nelli! Ich versprech’s dir nicht! Ich schwöre es dir!« Ich nahm sie in den Arm. Ich hielt sie so fest ich konnte. »Ich schwöre es dir, dass wir für immer beste Freundinnen bleiben Nelli!«, meine Stimme zitterte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Es tat weh, jemanden nach so langer Zeit, so nah an mich heran zu lassen. Ich hatte meinen Vater sehr geliebt, aber er hatte mich verlassen.
»Ist etwas, Pam?«, fragte mich Nelli, die zu merken schien, dass mir mir etwas nicht stimmte.
»Nein«, sagte ich schnell. »Nein…«, wiederholte ich etwas zögernd.
Ich wollte jetzt nicht wirklich darüber reden, aber ich war froh, dass sie hier bei mir war und mir irgendwie etwas wie Wärme oder ein gutes Gefühl gab. Ich könnte nicht aufgeben – wir konnten nicht aufgeben.
~ Nelli ~
»Hey, Nelli!«, Trish kam in der Mittagspause auf mich zu. Ihre knallroten Haare wirbelten um ihr Gesicht. Sie ist richtig hübsch.
»Hey, Trish, was gibt’s?«, grüßte ich zurück und grinste.
»Gestern wurde in der Schule eingebrochen! Hast du schon davon gehört?«, fragte Trish aufgeregt.
Eine lähmende Welle durchzog meinen Körper und ließ mich erstarren.
Cool bleiben, Nelli!, redete ich mir zu.
»Echt?«, fragte ich ungläubig mit betontem Mistrauen. Gut gemacht! Jetzt nur nicht nervös werden. »Ja! Stell dir vor. Das seltsame ist, es wurde nichts geklaut!« Trish drehte eine Strähne ihres voluminösen Haars um den Finger. Schauspielen, Nelli! »Is ja merkwürdig! Und wissen sie schon wer es war?«, fragte ich und bemühte mich möglichst lässig und möglichst interessiert zu klingen.
»In der Tat! Aber nein, sie wissen noch nicht wer es war, denn bis noch hat man keine Fingerabdrücke oder DNA Spuren gefunden! Aber ich frag mich nur: Wer ist so dumm und bricht in die Schule ein ohne etwas zu klauen? Das ist aber so typisch deine Aktion!«, sie grinste mich herausfordernd an.
»Du weißt es?«, zischte ich geschockt. Trish winkte ab und schüttelte den Kopf.
»Nelli, du kannst echt gut schauspielern – aber nicht gut genug! Spar dir das nächste Mal die Mühe, ich kauf dir so nen billigen Scherz eh nicht mehr ab!« Für einen Moment traf mich der Schock, wie ein Blitz der durch Mark und Bein ging. Ich spürte das Kribbeln auf meiner Gesichtshaut. Mir wurde heiß. Doch dann sah ich Trish' Gesichtsausdruck und der verriet, dass sie dachte, dass mein »Du weißt es?« ein Scherz war. Ich begann mich wieder zu entspannen. Ich atmete tief durch.
»Erwischt…«, lachte ich nervös.
»Du kleine kriminelle Lügnerin!«, lachte Trish und legte freundschaftlich einen Arm um meine Schulter. Es fühlte sich aber ehr so an als würde sie mir die Luft abschnüren. Die Tatsache, dass sie es nur gut meinte, machte es kaum besser. Ich lachte mit.
»Haha, ja ich bin es gewesen.«
»Naja, wir sehen uns, Nelli«, sagte sie plötzlich und befreite mich zu meiner Erleichterung aus ihrem Griff. Sofort sanken meine Mundwinkel nach unten. Meine Lachmuskeln im Gesicht schmerzten vom falschen Lachen reichlich.
»Puh!« Mir entfuhr ein Seufzer.
Fetzen von unserem Einbruch wirbelten in meinem Kopf umher, als ich in einer der Toilettenkabinen der Schule saß. Ich hatte viel zu große Angst, in der Pause mit Fragen gelöchert zu werden. Meiner Mutter konnte ich lauter Märchengeschichten erzählen, doch diesmal wusste ich, würde ich es nicht schaffen, die Wahrheit gänzlich zu verbergen.
Nelli, hatte zu mir gesagt, dass es zu sehr auffällt, wenn wir alle die Pause auf der Toilette verbringen würden. Ich bestand heute jedoch darauf. Wenn ich könnte würde ich vielleicht den Rest meines Lebens auf der Mädchentoilette verbringen., Überlegte ich. Ein netter Duft, ich tippe mal auf mit Putzalkohol gewässerten Lavendel. Die Toilette klingt, wie ein Bach. Und man hat seine eigenen vier Wände. Die Beschreibung würde beinahe auch auf eine Holzfällerhütte in den Bergen zutreffen.
Erneut schossen mir die Bilder der gestrigen Nacht durch den Kopf.
Ich wusste, dass die nächtliche Aktion an sich falsch gewesen war, doch ich hatte ihnen helfen müssen. Wenn es danebengegangen wäre und sie erwischt worden wären, dann hätte meine Mutter mir nie wieder erlaubt, mich mit Nelli oder Claudia zu treffen. Und womöglich auch nicht mit Luki, denn sie würde, dann sicherlich an meiner Fähigkeit mir Freunde aussuchen zu können zweifeln.
Ich dachte kurz, wie ein Leben ohne sie wäre, doch es wollte nicht in meinen Kopf. So wie man sich nicht einfach eine neue Grundfarbe, wie Gelb, Blau oder Rot vorstellen kann. Mein Freund, Max, war bei Barbara Winter immer schon beliebt gewesen, denn sie kannte seinen Vater und der war ein angesehener Architekt.
Jemand betrat die Toilette. Die Kabine neben mir wurde aufgerissen. Meine Gedanken beruhigten sich für einige Augenblicke, ehe sie jedoch mit gleichem Druck weitersprudelten.
Auch Max wollte eines Tages ganze Häuser auf Skizzen zeichnen. Er hatte die besten Voraussetzungen dafür. Kurz gesagt, er war überdurchschnittlich schlau. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sich meine Mutter einbildete, seine Intelligenz würde auf mich abfärben. Und ich wusste auch, ohne dass sie es je erwähnt hatte, wer von uns beiden für sie »die bessere Hälfte« darstellte. Manche Dinge mussten von meiner Mutter nie gesagt werden, sie waren von Anfang an klar.
Durch Max, hatte sie doch noch Hoffnung auf ein Happyend. Nämlich auf ihre perfekte Tochter, die keinen Makel aufweist, weil sie schön, reich und intelligent ist. Das waren ja auch die wichtigsten Dinge im Leben. Die wahren Werte, die man seinem Kind beibrachte. Nur so sollte man seine Kinder aufziehen, sonst werden sie nicht glücklich.
Mein spöttisches Lächeln schmeckte bitter. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wollte, dass ich glücklich war. Es hörte sich hart an, aber etwas Schönes zu glauben, gestaltete sich als sehr schwierig, wenn man es weder zu spüren, noch gesagt bekam. Ich glaubte eher, dass sie den Schein einer glücklichen und vor allem, fehlerlosen und gut erzogenen Tochter, aufrechterhalten wollte. Barbara Winter gab mir nämlich nicht ungern Verbote, setzte mir Grenzen, wo es nur ging und traf wichtige Entscheidungen prinzipiell für mich.
Nelli und Luki, sagten mir immer wieder, dass ich mich gegen sie – und seit Neuem auch gegen Victor – wehren müsse. Aber das war nicht so einfach, denn schon als kleines Kind hatte ich sehr großen Respekt vor meiner Mutter. Man könnte es auch Angst nennen, doch das sagt man von einer Mutter nicht, oder?
Ich hatte ihr nie das letzte Stück Schokolade geklaut – wie kleine Kinder das so machten. Ich hatte auch nie den Teig aus der Schüssel geschleckt – wie kleine Kinder das so machten. Und ich war auch nie nachts in ihr Bett gekrochen – wie kleine Kinder das so machten. Das hieß aber nicht, dass da keine Monster unter meinem Bett gewesen wären.
Ich lag ausgestreckt auf Vickys’ Bett. Das Zimmer war klein und hübsch eingerichtet. Natürlich hätte ich sie lieber mit zu mir genommen, aber wenn sie die Unordnung und… meine Mutter sehen würde…
»Hey, lass das!« Ich wandt mich vor Vergnügen, als sie sich über mich beugte und mich kitzelte.
»Ehrlich, ich hab noch nie einen Menschen getroffen, der so kitzelig ist wie du!«, pflichtete sich mir bei und lachte.
Ich zog sie an mich und küsste sie. »Und ich hab noch nie jemanden kenne gelernt, der so gut küsst, wie du.« Es war nicht mein erster Kuss. Jedoch aber das Erste Mal, dass es nicht im berauschten Zustand, in einem Club geschah.
Ich genoss es ihre weichen Lippen auf meinen zu fühlen, es war okay. Da war jedoch noch jemand anderes in meinem Kopf, den ich aber sogleich wieder von dort verbannte. Wieso konnte ich mich nicht auf das Jetzt und Hier konzentrieren?
Wir küssten uns immer noch. Vickys’ Zunge stieß nun fordernder gegen meine. Plötzlich dachte ich an Pams Vater. Na toll, ich dachte während ich ein Mädchen küsste, an einen Toten. Eine sehr verstörende Tatsache!
Es war unser drittes Treffen bei ihr zu Hause. Ich dachte daran, dass ich sie soglangsam fragen könnte, ob sie mit mir zusammen sein wollte. Sie war ein hübsches, nettes Mädchen…was will man mehr?
»Vicky?«, fragte ich plötzlich und hörte auf, sie zu küssen.
»Ja«, flüsterte sie atemlos mit einem Lächeln auf ihrem mit Sommersprossen übersäten Gesicht.
»Sind wir eigentlich zusammen?«, fragte ich.
»Ja. Ja ich denke schon.« Sie strahlte mich an und ich fühlte mich gut.
Dann streifte sie mir meinen Pullover ab und ich zog ihr das Shirt über den Kopf – bis wir beide nichts mehr trugen.
Als ich mit ihr schlief, war es mir endlich gelungen, meine Gedanken abzulenken.
»Mäuschen, ich will dich doch nur küssen«, jammerte Max und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Wir lagen auf seinem französischen Bett und hörten die Musik, die er aufgelegt hatte.
»Ich will aber gerade nicht«, seufzte ich. »Nicht heute!« Ich wollte einfach nur von allen in Ruhe gelassen werden. Wollte nichts mehr sagen, nichts mehr hören und am besten auch an nichts denken.
Seit kurzem war nämlich auch meine Gedankenwelt heimgesucht von dusteren Bildfetzen vom Einbruch oder von Gedanken an das zwischen Mum und Victor. Außerdem war da noch Dad, der in letzter Zeit sehr häufig in mir auftauchte. Ich musste ihn dann immer wieder in den Kerker meiner Gedanken verbannen. In die hinterste Ecke, in der er von der Dunkelheit verschluckt wurde.
»Du bist aber so schön heute«, versuchte er mir zu schmeicheln in der Hoffnung es würde ihm etwas bringen.
»Ich habe nein gesagt, ist das so schwer zu verstehen?« Mein Ton klang nun etwas schroff und auch schärfer als sonst.
»Nein, aber ich verstehe nicht warum.«
»Weißt du was?«, begann ich nun vorwurfsvoll. »Du kannst es ja nicht wissen, weil du mich gar nicht fragst, was mit mir los ist!«
»Soll ich dich etwa jede Sekunde danach fragen?« Er hatte einen verwirrten und unschuldigen Ausdruck im Gesicht.
»Nein, natürlich nicht!«, schnaubte ich nun wütend. Dann senkte ich meinen Ton wieder. »Aber du fragst mich das viel zu selten…«
Er betrachtete mich stumm. Mit seinen schwarzen Locken und dem ratlosen Blick.
»Ach, vergiss es!« Ich stand auf und schritt zur Tür.
»Pam, warte!«, rief er verzweifelt.
»Ich muss noch Hausaufgaben machen!«, zischte ich kalt, ohne ihn dabei anzusehen. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken. Ich wollte dem Schmerz in seinen Augen weichen. Denn ich war Pam Winter. Und eine Winter lässt sich nicht von Gefühlen beeinflussen und lenken. Eine Winter geht stets aufrecht und lächelt in ihren schmerzenden hohen Schuhen mit den Keilabsätzen. Die Füße sind wund, doch die wunderschönen Schuhe verdecken alle Blasen, die sich unter ihnen verbergen.
»Leo, warte doch mal!«, rief ich ihm hinterher und rannte ihm mit tausenden von Büchern im Arm den langen Gang im Schulhauptgebäude nach.
Kurz drehte er sich um und blieb stehen. »Ich hab jetzt keine Zeit! Ich fahre schon morgen Abend nach München. Und ich muss noch mit Hella die letzten Strohsterne für den Weihnachtsmarkt fertigmachen!« Er klang genervt. Mit schnellen Schritten eilte er weiter.
»Leo, ich weiß wie wichtig dir das Projekt für dich ist und wie viel Arbeit ihr alle dort reingesteckt habt! Aber du musst mir nur eine Chance geben, mit dir zu reden!«, flehte ich.
Leo blieb wieder stehen, aber diesmal nicht wegen mir, sondern wegen seinem Spind im Gang. Ruckartig schloss er ihn auf, schmiss ein paar Bücher hinein und knallte ihn wieder zu, um dann wieder wortlos und schnaubend im schnellen Tempo weiterzulaufen.
»Leo!«, rief ich noch einmal, aber diesmal deutlich lauter. »Bleib stehen, verdammt!«
Leo legte noch einen Zahn zu. Er war ein gutes Stück schneller als ich, also rannte ich ihm nach. Als ich ihn eingeholt hatte, packte ich ihn am Arm und riss ihn herum.
»Hey, was soll das, Nelli?!«, schnaubte er wütend.
»Was das soll?! Müsste ich das nicht dich fragen?« Mein Gesicht war wutverzerrt und ich blickte ihn von 10cm Entfernung in seine bernstein-grünfarbenen Augen. Unsere Nasen berührten sich um ein Haar nicht.
Mit festem Griff hielt ich ihn an seinem starken Oberarm fest.
»Ey, ich weiß gar nicht was du meinst! Ich weiß nur, dass du in letzter Zeit einfach nur eine nervige Klette bist!«
»Ich bin eine nervige Klette?! Ich mein wir sind zusammen, da werd ich doch noch ein Recht darauf haben mit dir zu reden?« Meine Stimme senkte sich beim letzten Satz. Ich lockerte meinen Griff und senkte meinen Arm.
»Ich weiß es nicht, Nelli!«, flüsterte er jetzt mit gesenkter Stimme und fast im traurigen Ton. Ich betrachtete ihn ängstlich.
»Was weißt du nicht?«
»Nelli, hör mal, ich weiß nicht…«, er verzog schmerzhaft das Gesicht, als ob ihm etwas furchtbar wehtun würde. »…ich weiß nicht ob das mit uns noch einen Sinn hat!«
Als er das sagte sah er mir tief in die Augen, doch ich merkte deutlich wie schwer ihm das viel. Worte hatten mich noch nie so tief getroffen. Es war so als ob jemand ein langes Messer durch mein Herz bohren würde. Alles um mich herum begann sich zu drehen. Doch ich wollte mich jetzt nicht klein machen. Ich wollte stark sein! Also zwang ich mich zu lächeln. Es fiel mir nicht leicht. Meine Gesichtsmuskeln schmerzten sogar. Ich wusste nicht einmal ob ich lächelte.
»Ich glaube wir sollten Freunde bleiben!«, schoss es aus mir heraus. Meine Stimme klang nicht, wie die von mir. Es war so als hätte jemand anderes für mich gesprochen. Die Stimme hörte sich so fremd an.
Ich wusste, dass ich nie wieder mit Leo befreundet sein konnte.
Ein halbes Jahr. Zwischen uns war einfach zu viel passiert.
Mit einem Lächeln drehte ich mich um, schritt den Gang entlang und drückte die schwere Glastür auf um ins Freie zu gelangen. Mein Lächeln war wie aufgemalt. Mit der Hand strich ich es aus meinem Gesicht. Ich glaube ich muss das Lachen neu lernen.
Ein heftiger und kalter Wind peitschte mir ins Gesicht. Meine Jacke war offen, doch es war mir egal. Grauer Schneematsch lag gemischt mit Kieselsteinen auf den Straßen und auf dem Gehsteig.
Hella also. Hella, das Mädchen mit den langen blonden Locken. In unserer Clique nicht besonders beliebt, aber bei Leo offenbar doch…
Leo und sie hatten sich vor einem Monat besser kennen gelernt, seitdem behauptet er sie sei eine sehr gute Freundin von ihm. Ich hatte ihm auch geglaubt, doch jetzt war die Grenze erreicht.
Nelli, du blöde Kuh hast die Grenze auch überschritten! Musstest du auch Ben küssen? Nein! Er hat dich geküsst. Aber was, wenn Leo das gesehen hat…
Ich hatte Leo extra nicht auf Hella angesprochen, denn ich fühlte mich schuldig wegen dem Kuss. Vielleicht wusste er davon und hat deshalb mit mir Schluss gemacht.
Es war drei Uhr nachmittags und die Schule war gerade aus. Und ich? Ich schlenderte verloren die verschneiten Straßen entlang. Das trostlose Wetter zog mir die Mundwinkel Richtung Boden.
Plötzlich bremste ein Fahrrad vor meinen Füßen. Es rutschte einen halben Meter über den Bürgersteg.
»Hey, Nelli!«, begrüßte mich Lukas. Heute hatte er kein Base Kap auf, er trug eine Wollmütze und eine Skijacke. Seine Haare lugten zerzaust unter der Kappe hervor.
Alle liefen den ganzen Tag mit roten Näschen und Wangen herum, nur Lukas nicht. Er hat viel zu dunkle Haut., dachte ich.
»Hey...«, brummte ich und sah nur kurz auf, ehe ich wieder auf den Boden starrte.
»Nelli, was ist los?« Lukas klang besorgt. Er stieg von seinem Rad und legte mir einen Arm um die Schulter.
»Nelli, du weißt, dass du mir alles sagen kannst! Egal was es ist!« Er lächelte mich freundlich an.
Ich wich seinem Blick jedoch aus. »Das weiß ich…!«, flüsterte ich.
»Also, schieß los, was ist?«
»Es ist wegen Leo…« Ich verstummte als ich seinen Namen aussprach.
»Ich weiß, dass es schwer ist!« Lukas drückte mich ganz fest. Ich begann zu schluchzen.
»Alles wird gut, Nelli! Das versprech’ ich dir!« Er strich mir über den Rücken. »Ach und Pam hat mir von eurer Aktion erzählt, diese Aktion...« Er unterbrach sich.
»Du weißt es?«, flüsterte ich. Ich war nicht wütend, dass Pam es Lukas erzählt hatte. Ich vertraute ihm. Misstrauen hatte ich ehr gegenüber Claudia. Sie hatte sich in letzter Zeit so verändert, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass ich mir Sorgen um sie machte.
»Ich – ich hab es nicht geschafft das Video zu löschen. Ich bin so ein Loser! Ich hab alles vermasselt und kaputt gemacht. Ich bin schuld daran, dass alles schiefgelaufen ist! Ich hätte…« Ich brach erneut in Tränen aus. Alles schien in diesem Moment verloren zu sein.
»Schhht!«, Lukas legte mir den Zeigefinger auf meine Lippen. »Nelli, du darfst so etwas nicht sagen! Nie wieder. Versprich mir das!« Lukas weiche Stimme tat mir gut. Ich nickte stumm.
»Nein, Nelli! Sag, dass du es mir versprichst!« Er schüttelte mich sanft.
»Ja, ich versprech’s dir!«, schniefte ich und sah ihm dabei in die Augen. »Nimmst du mich in den Arm?«, sagte ich dann noch.
Er zögerte nicht und schloss seine großen, starken Arme um mich. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust.
Wir standen einfach nur so da. Arm in Arm. Stumm. Es war so als würde er, von einem Moment auf den anderen die Hälfte meiner Last auf sich nehmen.
Nach einer Weile hob ich meinen Kopf, sah zu ihm auf und fragte ihn mit einem beschämten Lächeln im Gesicht: »Magst du mich auch noch, wenn ich so eine miese Verbrecherin bin?«
Er grinste und erwiderte: »Klar! Ich würde mit dir sogar eine Bank ausrauben!« Wir fingen beide zu lachen an. Dann sah ich ihm tief in die Augen. Es beruhigte mich beinahe so sehr, wie wenn mir meine Mutter die Hand hielt.
»Du hast große Augen, weißt du das?«, sagte er ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Ja, ich weiß«, erwiderte ich und lächelte mit zusammengepressten Lippen.
»Und weißt du noch was?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie sagen mir, dass du so einen gewissen Luki zum Eislaufen einlädst.«
»Bist du dir da sicher? Ich hab nämlich gehört, dass das so ein ganz komischer sein soll...« Ich mochte es, wenn sich unsere Gespräche in Richtung Ironie bewegten.
»Ja, komisch im Sinne von lustig!« Er grinste.
»Nein, das ehr nicht. Er ist mehr so ein Psychopath.« Ich verzog das Gesicht.
»Leg dein Gesicht nicht so in Falten, sonst bleibt's dir!«
Das hatte er auch schon immer im Kindergarten gesagt, als ich die Chinesen-Augen gemacht habe.
»Ja klar, es ist mir wirklich geblieben und ich schau jetzt ja auch aus wie ein Chinese, oder?«
»Ja, ich seh da schon asiatische Züge.«
»Wenn wir Eislaufen gehen, bist du dann still?«
»Jap«
»Gut!«
»Das war so lustig!«, rief Lukas und warf sich auf sein Bett.
»Du bist ja auch nicht das Opfer gewesen!«, regte ich mich auf und lachte.
»Das nächste Mal kann gerne ich dir in den Rücken fahren und dich zu Boden werfen!«, beteuerte ich.
Er kugelte sich vor Lachen. »Tschuldige, aber das war Absicht!« Er hielt sich den Bauch.
»Haha, wie witzig! Na warte!«, zischte ich ironisch und boxte ihm auf seinen rechten Oberarm.
»Ahh«, entfuhr es Lukas schmerzhaft. Ich hatte gespürt, wie er zusammengezuckt war.
»Was hast du denn?« Ich sah erschrocken auf.
»Ach, nichts.«, murmelte er beiläufig. Ich merkte sofort, wenn Luki log und ich wusste, dass dies jetzt der Fall war.
»Das glaub ich dir nicht!«, beharrte ich.
Er sah mich nur wütend an und zischte. »Tja...«
»Zieh deinen Pullover aus!«, sagte ich plötzlich.
»Nein, ganz sicher nicht!«
»Oh doch.«, gab ich schnappend zurück.
»Ich werde es früher oder später sowieso sehen.« Zu meiner Erleichterung gab er seufzend nach und zog sich seinen Pullover über den Kopf.
Ich schnappte erschrocken nach Luft, als ich den blauroten Fleck erkannte, der sich auf seinem Oberarm befand. »Was ist passiert?!«, keuchte ich.
»Ach, das ist doch völlig egal. In ner Woche sieht man eh nix mehr.« Er war immer noch wütend.
»Nein, ist es nicht!« Ich spürte erneut den Zorn. Ich machte mir so große Sorgen.
»Ich will wissen, wie das passiert ist!«
»Okay, okay dann sag ich´s dir: Mich hat einer aus meinem Team bei der Probe fürs Basketballspiel gefoult.«, gab er zu.
»Aber habt ihr euch geprügelt?«, hackte ich nach.
»Es war ein Versehen«, sagte er schnell.
Ich war misstrauisch gegenüber seinen Aussagen, doch ich hatte keine Lust mich darüber zu streiten. Ich fühlte mich schlecht, weil ich mich nicht genügend um ihn sorgte. Aber ich hatte so viel Anderes im Kopf.
»Okay, dann wird´s sicher bald besser.« Ich seufzte.
»Zu bald ist auch nicht gut.«, schmunzelte er plötzlich vielsagend.
»Hä, wieso?« Ich legte die Stirn in Falten.
»Ich meine das sieht schon scharf aus, oder?«, meinte er mit seinem selbstgefälligen Grinsen.
Ich kannte ihn gut. Wie schnell er von ernst auf witzig schalten konnte. Und er brachte mich in der tat immer wieder zum Lachen. »Aha«, gab ich schmunzelnd von mir.
»Da kann ich dann Vicky fragen, ob sie mich verarztet, wenn du verstehst, was ich meine.« Er zwinkerte mir zu.
»Du bist so schlecht!«, lachte ich und schüttelte dabei den Kopf.
»Du meinst wohl im schlechten Zustand, oder?« Luki zog die Augenbrauen nach oben.
»Hör endlich auf so einen auf sexy Macho zu machen, das graust mich anzusehen!« Ich lachte dabei, doch ich musste zugeben, dass es schon fast der Wahrheit entsprach. Das passte meiner Meinung nach einfach nicht zu ihm.
»Willst du mir nicht einmal von Vicky erzählen?«, fragte ich schmunzelnd.
»Ach ja Vicky… Ich bin jetzt mit ihr zusammen…«, knirschte er verlegen. Er würde rot werden, wenn seine Haut nicht ein bisschen zu dunkel dafür wäre, dachte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Was ist denn?«, fragte Lukas unschuldig.
»Ach nichts. Aber ich bin froh. Unser Luki wird endlich erwachsen. Endlich hat er eine Freundin!«, ich lachte über meinen eigenen Scherz.
»Du bist echt zu doof…«, Lukas grinste breit. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass er wirklich ein süßer Junge war. Mit seinen hellbraunen Haaren, der dunklen Haut und den kohlschwarzen Augen. Kein Wunder, dass ihm die Mädchen in Scharen nachrannten. Seine lässigen Klamotten passten auch zu ihm – heute eine graue Jeans kombiniert mit einem schwarzen Pullover und einem weinroten Basecap (wie immer).
Ich liebte ihn, doch nicht auf die eine Art, sondern auf die Andere, brüderliche Weise. Er war wie ein Bruder, oder besser wie ein Zwillingsbruder für mich.
Ich hasste es keine Geschwister zu haben. Claudia hatte erst kürzlich kleine Halbschwesterchen bekommen, Pam hatte einen großen Bruder, der gerade studierte, Leo einen großen Bruder, der gerade eine Weltreise machte, Ben eine fünfjährige Schwester… nur Lukas und ich hatten keine »echten« Geschwister.
Aber dadurch, dass Lukas und ich als Nachbahren aufgewachsen sind, ist er für mich wirklich ein Bruder.
Ich richtete meinen Blick auf das Foto, das an der Wand ober dem Sofa hing. Es zeigte Lukas und mich, als wir im Sandkasten seines Gartens gespielt hatten. Früher hatte ich noch blonde Locken und überdimensional riesige Knopfaugen. Jetzt sind sie nur noch riesig, dachte ich.
Auf meinen und Lukas Kleidern waren Schmutzflecken. Er hatte beinahe blondes Haar und schon die dunkle Haut, die er jetzt hatte. Verdutzt blickten wir in die Linse der Kamera. Richtig süß.
»Und, habt ihr euch schon geküsst?«, fragte ich neugierig. »Naja…schon!«, nuschelte er beschämt, doch noch etwas Anderes war in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen und in seiner Stimmfarbe. Ich wusste nur nicht was, ich wusste nur, dass da Etwas nicht stimmte.
Heute würde Leo nach München fahren. Mit Hella. Die Wut stieg in mir hoch. Spürte sie bis in die Fingerspitzen. Zwischen denen würde bestimmt was laufen. Egal!
Ich versuchte den Gedanken beiseite zu schieben, doch es wollte mir irgendwie nicht gelingen.
Ich wollte Leo zurück! Und ich hatte auch schon einen Plan. Dazu brauchte ich nur Ben. Ben war mit absoluter Sicherheit in mich verliebt und das würde mir jetzt doch noch zum Vorteil geworden. Sollte Leo doch für drei Tage nach München fahren. Immerhin war er nicht nur wegen Hella mitgekommen, das wusste ich. Leo mochte nämlich eines Tages die kleine Supermarktkette seines Vaters übernehmen und in München würde er lernen wie das Geschäft so läuft.
Anfang November hatte die kleine Gruppe von acht Schülern begonnen Strohsterne zu basteln, die würden sie dann auf dem Weihnachtsmarkt von München verkaufen.
Dadurch verdienten sie das Geld für die Reise und zugleich erhielten sie auch Geschäfts- und Vermarktungsstrategien von Profis oder so einen Mist.
Hella hatte vom Geschäft keine Ahnung! Sie war wegen Leo mitgegangen. Ich wusste es einfach. Eine Welle der Wut durchströmte meinen Körper. In diesem Moment hätte ich nichts lieber getan als gemeinsam mit Trish über Hella herzuziehen.
Trish’ gemeine Art über Leute zu lästern hätte mich aufgebaut. Ich dachte an das, weil ich nicht zusammenbrechen durfte. Ich musste gerade gehen und lächeln. Ich muss stark sein!
Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern nicht da. Ich fühlte mich kraftlos. Seufzend lies ich mich auf das unordentliche Sofa fallen. Ich dachte an unseren Einbruch. Dachte wieder an Leo. Dachte an Claudia, Luki und Vicky. Meine Gedanken überschlugen sich. Kreuzten sich. Wie Geschosse schienen sie mich zu attackieren. Mein Kopf drohte zu platzen. Ich hielt es nicht mehr aus.
Ich stand auf und rannte in den Keller. Da war die große weiße Wand. Ich begann zu malen. Der Pinsel in meiner Hand strich hektisch und mit zuckenden Bewegungen über die raue Oberfläche. Ich war wie auf einem Trip. Rot, schwarz, grau und weiß. So schnell war ich noch nie gewesen. Bald lies ich den Pinsel fallen und griff mit meinen Händen in die Farbeimer. Mit einem Schrei klatschte ich die schwarze Farbe auf mein Werk. Tränen der Verzweiflung schossen mir in die Augen. Ohne sie zu waschen, steckte ich meine Finger in die rote Farbe. Mein Körper bebte.
Das schwache Licht der Lampe zeichnete undeutliche Schatten auf die Wand. Zitternd führte ich meine Finger über die Wand. Es war mehr ein Kratzen, als ein Streichen. Ich weinte so sehr und lies meinen Gefühlen freien Lauf. Meine Tränen kannten kein Ende. Ich drohte zusammenzubrechen. Dann schleuderte ich plötzlich den weißen Farbeimer mit aller Kraft, die ich noch besaß gegen die Wand. Es war wie eine Explosion. Auf der Wand blieb ein großer weißer Fleck.
Meine Mutter und Victor waren offenbar nicht zu Hause, als ich am späten Nachmittag die Tür unseres Anwesens öffnete und das Foyer betrat. Das schloss ich daraus, dass weder Mums weißer VW Beetle Cabrio noch Victors schwarzer BMW 730d in der Auffahrt standen.
Im Stiegenhaus aus rosé Marmor war es ruhig und eine gewisse Kälte lag schwer in der Luft. Der Rosenduft lag eisig und fahl in der Luft.
Die Sohlen meiner flachen Schuhe durchbrachen die Stille wie eine Abrissbirne und das Geräusch hallte durch das ganze Treppenhaus. Ich zuckte zusammen, als ich ein Geräusch vernahm, das aus dem oberen Stock kam. Vielleicht war meine Mutter ja doch zu Hause und hatte ihr Auto bei Victor stehen gelassen – wo auch immer dieser arrogante Schnösel wohnte.
»Mooom?!«, rief ich vorsichtig, als ich auf den letzten Stufen zum ersten Stock stand. »Bist du da?«
Keine Antwort.
Ich fühlte, wie mir heiß wurde, ich jedoch zeitgleich zu zittern begann.
Hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet oder war da jemand?
Erneut hörte ich ein Rascheln. Ich blieb wie angewurzelt am Ende der Treppe stehen und hielt den Atem an. Die Stille trat erneut ein, rauschte in meinen Ohren.
»Victoor, bist du das?«, rief ich noch einmal.
Keine Antwort.
Panik breitete sich in mir aus. Mit schlotternden Knien machte ich ein paar Schritte auf den kleinen Beistelltisch im Flur zu, auf dem eine längliche rosafarbene Vase platziert war und nahm sie mit zitternden Händen zwischen meine Finger. In langsamen Schritten ging ich an der Wand entlang. Als ich das Geräusch erneut vernahm, hielt ich inne. Es kam aus meinem Zimmer. Diesmal klang es lauter und war von längerer Dauer.
Voller Angst, kämpfte ich mich langsam auf meine Zimmertür zu. Kurz vor ihr blieb ich stehen und drückte mich gegen die Wand. Meine Hand umklammerte die Vase mit klauendem Griff. Jeden Moment darauf gefasst, jemand könnte die Tür öffnen. Ich atmete flach und lauschte in die Stille. Nichts geschah.
Nach einer Weile, fragte ich mich, ob ich vielleicht ein klein wenig paranoid geworden war. Nach dem Einbruch in die Schule war ich völlig durch den Wind gewesen. Ich versuchte mich zu sammeln und über den nächsten Schritt nachzudenken.
Ich kam auf die Idee, Lukas anzurufen, während ich das Zimmer betrat. So konnte er mir notfalls helfen, wenn mich jemand überfiel.
Ich wählte die Nummer auf meinem Smartphone und wartete bis die Verbindung aufgebaut war.
»Pam?«, begrüßte mich seine Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hey, ich bin’s«, antwortete ich im Flüsterton.
»Was ist los, Pam?« Er klang bereits jetzt ein wenig besorgt.
»Ich bin zu Hause und da kamen so komische Geräusche aus meinem Zimmer.«
»Was?!« Nun, bemerkte ich, war er wirklich in Sorge.
»Ja. Die Geräusche kamen aus meinem Zimmer und ich werde jetzt reingehen.«
»Nein, tu’s nicht, Pam«, zischte er.
»Ich muss wissen, ob da jemand ist«, beteuerte ich.
»Pam, das ist viel zu gefährlich!«
»Ich gehe jetzt rein«, sagte ich ohne auf seine Besorgnis einzugehen. Ich wusste, dass er sowieso nicht auflegen würde.
Ich atmete tief ein und riss die Tür mit einem Satz auf.
Das Zimmer war wie immer. Doch dann überkam mich ein kalter Luftzug und mein Blick viel auf die Gardine, die sich im Wind wog. Das Fenster war offen!
Ich war kurz davor, in Panik auszubrechen. Langsam und wankend schritt ich auf das Fenster zu und schloss es. Erst als der Hebel nach unten zeigte, konnte ich durchatmen und spähte zur Sicherheit hinaus. Ich konnte nichts und niemanden erkennen. Hatte ich mir etwa doch alles nur eingebildet?
Vielleicht hatte meine Mutter das Fenster geöffnet und durch den Luftzug war das Fenster gegen seinen Rahmen gedrückt worden. So würde sich das merkwürdige Geräusch erklären.
Ich hatte das Handy und die Vase in meiner Hand beinahe vergessen. Ich hielt mir das Mobilgerät ans linke Ohr.
»Lukas?«
»Pam? Was ist passiert?«
»Nichts, Gott sei dank!« Ich atmete erleichtert auf. Erst jetzt, als ich seine Stimme hörte, fühlte ich mich richtig entspannt.
»Puh!« Ich konnte förmlich spüren, wie die Spannung aus seiner Stimme wich. »Du, Pam ich muss auflegen, das Training ruft!«
»Oh, okay. Dann wünsch ich dir viel Spaß!«
»Danke dir, und ich hoffe du findest das Gespenst.«
»Ha, ha!«, tat ich und legte absichtlich gleich auf.
Ich stellte die Vase auf meinen Schreibtisch und ließ mich dann mit dem Rücken auf mein Bett fallen. Ich wollte schlafen und an nichts mehr denken. Besonders nicht an Max. Als ich den Kopf aufs Kissen legte, gab das ein klickendes Geräusch von sich. Irritiert setzte ich mich auf und griff unter das Polster. Ich hielt einen Zettel in der Hand. Meine Finger verkrampften sich, als ich das in rot Geschriebene las: meine Vergeltung ist der Tod.
Nachdem ich eine halbe Stunde lang gezittert hatte, hörte ich wie sich ein Schlüssel im Schloss der schweren Haustür drehte. Wie von der Tarantel gestochen, schreckte ich hoch. »Pamela, wir sind daaa!«, flötete meine Mutter im fröhlichen Ton.
»Mum!«, rief ich und rannte die Treppen hinab, um es ihr zu erzählen.
Als ich sie am Treppenabsatz mit Victor stehen sah, der einen Arm um sie gelegt hatte, stellten sich bei mir alle Haare im Nacken auf. Ich kam kurz vor ihnen zum stehen und hielt die Luft an.
»Pamela, wir werden heiraten!«, rief sie und zeigte strahlend auf den funkelnden Ring an ihrer Hand.
In diesem Moment stand die Welt um mich herum für einige Momente still. Es rauschte in meinen Ohren und ein monotones Piepsen schnitt mir ins Trommelfell. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. Ich versuchte mich wach zu rütteln. Ich muss mich freuen! Siehst du nicht, wie glücklich sie ist?
Dann plötzlich, wurde ich wie ins kalte Wasser, wieder in die Wirklichkeit geschmissen.
»Wow, das ist phantastisch!«, drang es begeistert aus dem Mund des Mädchens, das ich zu sein schien. »Ich freue mich so für euch!«
»Kommt, wir gehen in die Küche und stoßen mit einer Flasche Sekt darauf an«, sagte Victor lächelnd in unsere Richtung.
»Tolle Idee«, beteuerte ich.
Meine Mutter strahlte ihn einfach nur über das ganze Gesicht an.
Als wir die Gläser in der Küche erhoben, hätte ich sie ihnen am liebsten aus der Hand geschlagen, so wütend war ich.
»Mum, ich muss noch ein Mal in die Schule«, log ich. Ich würde in die Turnhalle gehen, deren Schlüssel ich seit einigen Monaten besaß. Ich würde wie immer einige Stunden tanzen. Heute war ohnehin der Tag, an dem das Training von Lukas’ Basketballmannschaft schon um halb neun fertig sein würde. Also konnte ich noch eine Weile mit meinem Roller über die verlassenen Straßen fahren, bis das Training zu Ende war.
Ich schwang mich, vor Wut zitternd, auf meinen Roller und ließ die kalte Luft auf mein Gesicht streifen. Papa, ich brauche dich! Ich kann nicht mehr ohne dich! Wo bist du? Ich begann immer schneller zu atmen. Wie konnte meine Mutter nur? Wie konnte sie Papa einfach ersetzen. So als hätte es ihn nie gegeben. Victor hatte nun offiziell seinen Platz eingenommen. Das war gut so, in den Augen meiner Mutter. Denn nach der Hochzeit würde sie nun niemand mehr als »einsame, bemitleidenswerte Witwe« bezeichnen können.
»Pip-pip!«, mein Wecker klingelte heute Morgen schon zum dritten Mal und ich hätte am liebsten wieder auf die Schlummertaste gedrückt.
Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett, um mich aufzuwecken. Ich hastete zu meinem Schokoladenweihnachtskalender und öffnete das Türchen mit der »19«.
Es war ein wenig kindisch mit sechzehn noch einen Türchen-Kalender zu besitzen, doch mir war das egal.
Heute würde ich mich krank stellen. Ich wollte nicht in die Schule! Da würden mich alle blöd anglotzen – die ganze Schule würde tuscheln und flüchtige, vorsichtige Blicke auf mich werfen.
Denn alle wussten mit Sicherheit, dass Leo und ich nicht mehr zusammen waren.
Ich stopfte mir das Stück Schokolade aus dem Türchen in den Mund – das sollte mein Frühstück sein. Mehr würde ich heute wahrscheinlich auch nicht runterbringen. Als ich aus dem Fenster sah, blickte ich in eine graue Welt.
Die hängenden Wolken und der Matsch auf den Straßen waren Boten für Hoffnungslosigkeit.
Dann wurde mir aber klar, dass ich heute in die Schule gehen musste, sonst würden die anderen denken, dass mich die Trennung von Leo so mitgenommen hatte, dass ich zu Hause bleiben musste. Wie hatte mein Leben nur so aus den Fugen geraten können? Ich dachte an die Zeit, als Luki und ich uns noch diese bunten Kaugummi-Rollen in den Mund stopften. Ich konnte die größten Kaugummi Blasen machen. So groß wie ein Luftballon.
»Neeelli!«, hörte ich meine Mutter von unten schreien. Ich erkannte gleich an ihrem Tonfall, dass sie sauer war. Na toll, auch das noch! Deprimiert und mit hängenden Schultern schlürfte ich die Treppen hinunter in die Küche. Meine Mutter musterte mich mit strengem Blick. »Wie kannst du mir diese Sauerei im Keller an der Wand erklären?« Ihre Stimme bebte vor Zorn. Mein Vater sah mich durch seine Brillengläser hindurch an. Jedoch war es kein zorniger Blick. Ich war mir nicht einmal sicher ob er mich überhaupt wahrnahm. »Nelli DeMero, ich erwarte eine Antwort!«
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich wich ihren Blicken aus und zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Das ist alles?« Sie warf den Schwamm in der Hand in das Spülbecken, wandte mir den Rücken zu und stützte sich am Küchentresen ab. Ihr entfuhr ein Seufzer. »Ich werde einen Handwerker rufen.« Sie drehte sich um und sah mich wieder an. »Und den bezahlst du selbst!«
»Vergiss es Mum! Vergiss es!«, schrie ich und rannte mit dem Rucksack über der Schulter aus dem Haus.
»Hey, Nelli! Ich hab das mit dir und Leo gehört!«, sagte Trish mitfühlend und war somit der erste Schüler der sich traute mich darauf anzusprechen. Ich hörte das Getuschel, die sich wie ein dumpfes Hintergrundgeräusch über den Schulhof legte.
»Ach, wir haben einfach nicht als Paar zusammengepasst – jetzt sind wir Freunde!«, sagte ich und wehrte mich dabei mit meinen falschen Glücksgefühlen, die ich wie chemische Sonnenstrahlen auf ihr gebräuntes Gesicht warf.
Ich war wie eine leuchtende Sonne, die innerlich schon längst ausgekühlt war. Oder wie ein Solarium. Nur tödliche Strahlung, die Falten macht, dachte ich.
Konnte ich wirklich so falsch sein? Anscheinend schon, denn alle nahmen mir ohne Zweifel ab, dass ich glücklich war. Ich war eben das Mädchen der Schule und da konnte ich nicht einfach einmal unglücklich sein.
Wieso ich gestern Nachmittag nicht in die Schule gegangen war hatte mich niemand gefragt. Dazu hatte niemand den Mut. Naja, bis auf Pam. Und Lukas wusste es ohnehin schon.
»Hey!«, begrüßte mich Ben.
Nicht du auch noch!, dachte ich genervt. »Hey…«
»Du ich...ich wollte dich nur fragen, ob du Lust hast heute Abend mit mir Kino zu gehen…«, Ben grinste verlegen und nervös. Hatte mich gerade ernsthaft zu einem Date eingeladen?! Ich war einerseits erleichtert, doch mich wunderte, dass er so dreist war, mich gleich nachdem mit Leo Schluss war, zu fragen ob ich mich mit ihm traf. Ich würde ihm nicht zusagen – zumindest nicht ganz, denn ich wollte ihm von Anfang an zeigen, dass ich hier der Boss war.
»Weißt du heute Abend hat Luki ein Spiel…ich hätte aber nichts dagegen, wenn du mich begleiten würdest.«, sagte ich und war stolz auf mich, dass ich mich durchsetzte. Doch ich musste auch zugeben, dass ich mich freute mit Ben zu Lukis Basketballspiel zu gehen. Außerdem würde ich es auf diese Weise vielleicht schaffen, Leo eifersüchtig zu machen.
»Hey, habe ich da gerade Basketballspiel gehört?«, Pam schob sich zwischen uns und legte ihren Kopf leicht in den Nacken, um mir ins Gesicht zu sehen.
»Pam du hast dich nicht geirrt!«, Ich grinste und legte einen Arm um meine beste Freundin.
»Ich komme auch mit! Ich muss Luki anfeuern.«, sie lächelte mit roten Wangen. Das sah süß aus. Meine kleine Pam mit roten Wangen.
Es klingelte zum Unterrichtsbeginn.
»Gut dann bis heut Abend, Nelli!«, verabschiedete sich Ben und hastete zu seinen Jungs. Aus der Ferne konnte ich sehen, dass er lässig mit allen einschlug. Einige seiner Kumpels drehten sich zu mir um.
»Gehst du dir jetzt Ben schnappen?«, Pam grinste mich mit ihrem provokanten Gesichtsausdruck an.
Ich versetzte ihr einen Rippenstoß »Du bist so doof! Halt jetzt bloß die Klappe.«
»Er ist nicht auf deinem Niveau, oder?« Pam klang jetzt ernster.
»Ich will mir ja nicht meinen Ruf ruinieren!« Ich hob meinen Kopf.
»So kenn ich meine Nelli!« Kichernd betraten wir das Schulgebäude. Doch ich musste zugeben, dass ich Ben gar nicht so schlecht fand… Aber das entschied ich, würde ich für mich behalten.
Man bemerkte gleich, dass Leo nicht dabei war. Hoffentlich ging es ihm gut in München mit seiner perfekten Hella. Lukas wirkte ziemlich nervös heute.
»Go, Luki, go Luki!«, schrie Pam. Sie hatte eine starke Stimme, deshalb schien sie urplötzlich gewachsen zu sein. Sie trug einen kurzen Jeansminirock, ein hübsches mit Blumen bedrucktes Shirt – dazu ein passender Schal.
Ich bemerkte wie die Jungs bewundernde Blicke auf sie warfen. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich konnte mir Pam gut als Cheerleader vorstellen, doch das wurde den restlichen Mädchen von L aruga ein Leben als Single versprechen.
»An was denkst du gerade?«, fragte mich Ben und erschreckte mich damit fast zu Tode.
»Gott, hast du mich erschreckt! An gar nichts. Wieso?« Ich fühlte mich so, als wäre ich bei etwas Peinlichem erwischt worden.
Ben grinste. »Nur so, weil du so geschmunzelt hast…«
»Soso, hab ich das?« Wir lachten.
In diesem Moment ertönte die Schlusspfeife. Lukis und Leos Team hatte 36:30 gewonnen. Ben, Pam, eine Schar anderer Schüler und ich – darunter ein Großteil Mädchen – rannten auf Lukas zu und hoben ihn zusammen auf. Aus den Lautsprechern der Turnhalle ertönte Discomusik.
Siegesstolz riss Luki seine starken Arme – die Hände zu Fäusten geballt – in die Luft.
Er wurde als Held gefeiert, weil er auch der Beste seiner Mannschaft war. Er hatte 31 Punkte erzielt. Das war eine Topleistung, selbst für Lukas.
Die Party ging bis 22:00 Uhr. Ben wollte mich noch mit seinem Roller nach Hause bringen. Wir warteten nur noch auf Luki, der noch in der Umkleide war. Auch Pam war irgendwie in der Turnhalle oder so aufgehalten worden.
Im Flur des Schulgebäudes der Mittelschule, der zu der großen Turnhalle führte, war es dunkel.
Ich wusste nicht wieso wir das Licht nicht anschalteten. Nur der Schein der Straßenlampen warf ein gelbliches Licht durch die Fenster des Korridors. Plötzlich wurde mir kalt. Ich begann zu zittern.
»Ist dir kalt, Nelli?«, fragte Ben besorgt, dessen Gesichtsausdruck ich bei dem schlechten Licht nur schwer erkennen konnte.
»Ja, ein wenig…ich hab meine Jacke in der Turnhalle vergessen. Warte kurz ich gehe sie schnell holen!«, sagte ich und wollte schon Richtung Turnhalle hasten, doch Ben hielt mich zurück.
»Nelli! Die gehe ich schon für dich holen, ich gebe dir derweil meine.« Ben zog seine Jacke aus und streifte sie mir über die Schultern. Wir sahen uns in die Augen. Dann gab ich ihm einen Kuss auf den Mund. Schnell nahm ich meine Lippen von seinen.
»Oh, das tut mir leid…«, stammelte ich.
Ben grinste – so viel konnte ich bei den Lichtverhältnissen noch sehen. Er zog mich mit seiner Jacke näher zu sich heran und gab mir einen lagen Kuss. Er schmeckte nach Pfefferminze. Langsam lies mich Ben los und rannte den Gang entlang zur Turnhalle. Er hinterließ ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich sah Ben nach. Er öffnete die große und dicke scheibenlose Tür. Als er in der Turnhalle verschwand und die Tür hinter ihm zuschlug ertönte ein dumpfer Klatsch.
Plötzlich war alles still. Die Stille dröhnte in meinen Ohren.
Auf einmal schoss mir das Bild von Lukas durch den Kopf. Davor, während des Spiels, hatte ich es nicht so direkt wahrgenommen. In dem Ärmellosen Shirt konnte ich erkennen, dass er sich so eine Art Bandage über seinen blauen Fleck auf seinem rechten Oberarm geklebt hatte. Auf seiner Wange hatte ich einen weiteren Fleck ausmachen können. Ich machte mir ernsthafte Sorgen… Was wenn er sich doch geprügelt hat?
Als ich ein Geräusch in dem dunklen Flur hörte, zuckte ich zusammen. Ohne Vorwarnung ergriff mich das Gefühl der Angst. Ruckartig drehte ich mich um. Drehte mich schreckhaft im Kreis. Jeden Moment darauf gefasst, von hinten erschlagen zu werden.
Wo blieb bloß Ben so lange? Nelli, du bist hier in einem Schulgebäude, dir passiert schon nichts und Ben kommt bestimmt auch gleich…
Würde er gleich kommen? Oder würde ihn jemand überfallen? Nelli, hör auf dir Angst zu machen! Du schaust nur zu viele Horrorfilme.
Vielleicht sollte ich mal nachsehen, wo Luki und Pam blieben. Luki musste sich doch längst fertig umgezogen haben!
Ich schritt zu der Jungenkabine und trat sie unüberlegt mit einem Satz auf. Ich erschrak: Da waren Pam und Luki und küssten sich innig, ehe sie vor Schreck auseinanderstoben. Einen Moment lang sah ich sie entgeistert mit weit aufgerissenen Augen an. Zwei feuerrot angelaufene Gesichter mit beschämtem Ausdruck.
Pam ergriff als erste das Wort: »Nelli, es…es ist nicht das wonach es aussieht!«, stammelte sie. Nervös kramte Pam in ihrer Tasche und tat dabei so als würde sie etwas suchen.
»Was ist es dann? Alles nur Theater? Ist dir überhaupt im Geringsten klar wie viele Leute du damit verletzt?«, schrie ich sie mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck an. Verwirrt und unschuldig sah sie mich an. »Nein! Offenbar nicht!«, setzte ich kopfschüttelnd fort.
Lukas stand nur unsicher daneben. Ich sah ihm an, dass er am liebsten gleich im Boden versinken mochte, deshalb zerrte ich Pam am Arm aus der Kabine der Jungs.
Krampfhaft versuchte sie sich zu wehren, doch das zarte Wesen hatte gegen mich keine Chance.
»Lass mich los!«, kreischte sie hysterisch.
Ruckartig riss ich sie herum, damit ich ihr in die Augen blicken konnte. »Pam, ich kenne dich so nicht! Du kannst nicht einfach mit den Gefühlen anderer spielen!«
»Erstens, Menschen können sich verändern und zweitens ist das meine Sache und du hast dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen, kapiert!«, pfiff Pam wütend zurück.
Diese Worte versetzten mir einen Stich. Breiteten sich schmerzhaft in mir aus, doch ich hielt meinen Gefühlen stand. Ich wollte gerade einen kräftigen Atemzug zu machen, als Pam meinen Moment der Unachtsamkeit ausnützte und sich kurzerhand aus meinem Griff entwand.
»Wie kann man nur so beschissen sein!«, murmelte sie deutlich hörbar. Sie drehte sich um.
Ich warf ihr ein ironisches Lächeln nach. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Pam zeigte mir den Mittelfinger. »Ach, fick dich doch!«, schrie sie mir im gehen über ihre Schulter.
»Nur, weil du jeden ficken würdest, der auf dich steht, muss ich mich nicht ficken, du Schlampe!« Kaum konnte mich Pam nicht mehr sehen, brach ich in Tränen aus. Wie war es möglich, dass diese Sache sie so kalt lies? Für mich hatte sich jedes einzelne Wort, wie ein Messerstich in meine Brust angefühlt. Wieso lies es Pam immer so kalt, wann immer wir uns stritten?
»Empfindest du etwas für Pam?«, fragte ich Lukas, während ich neben ihm herging. Stille. Luki schwieg.
Es war der Abend nach dem Spiel. Er hatte mich gestern gefragt ob er mich nach Hause bringen sollte, doch ich hatte nur abgelehnt und preschte mit Bens Skooter davon. Ich war viel zu wütend auf die beiden gewesen. Wie konnte sie sich nur so verhalten? Sie waren meine Freunde. Sie durften sich nicht küssen! Verdammt, wir sind Freunde! Und kurz dachte ich daran, was wäre, wenn sie tatsächlich zusammenkommen würden. Was wäre ich dann? Womöglich das fünfte Rad am Wagen. Vielleicht, dachte ich, war das auch ein Grund dafür, warum ich Pam gestern so angeschrien hatte.
Doch ich versuchte meinen Egoismus zu zügeln. Ich schob die Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf das Jetzt.
Ich fror in meiner Daunenjacke, in deren Taschen ich meine Hände wärmte.
Nach einer kurzen Weile ergriff Lukas trotzdem das Wort, ging jedoch auf meine Frage nicht ein. »Und du, hast du Gefühle für Ben?«
»Ja. Ich meine vielleicht. Ich weiß nicht. Ach wenn nicht alles so kompliziert wäre!« Ohne, dass ich noch einmal nachhaken musste beantwortete mir Luki jetzt auch die Frage, die ich ihm gestellt hatte.
»Ich bin schon seit ich Pam kenne, in sie verliebt«, murmelte er leise, aber dennoch so deutlich, dass ich es hören konnte. Diese Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. Eine Mischung aus Enttäuschung und Entsetzen machte sich in meiner Magengegend breit.
»Was? Wieso hast du mir nie etwas davon gesagt? Ich dachte immer ich weiß alles von dir!« Ich konnte das gar nicht so richtig begreifen.
»Nelli, lass mich jetzt einmal alles erklären! Es ist so, dass…«
Und dann erzählte mir Lukas alles. Und so langsam konnte ich ihn auch verstehen. Seit der ersten Grundschule war er in Pam verliebt gewesen, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Doch für ihn waren diese Gefühle damals neu und da haben Lukas und ich ja auch noch nicht über Sachen wie »Liebe« geredet. Ich hab diese Sachen im Grundschulalter auch immer für mich behalten. Später in der Mittelschule, hat er das Gefühl verdrängt und sich selbst belogen, obwohl er immer noch ständig an Pam dachte. Dann kam Pam mit Max zusammen und Luki war so niedergeschlagen, sodass er die Gefühle für Pam mit allem Schmerz noch fester unterdrückte. Ich kannte das auch: das unterdrücken von Gefühlen. Luki hatte Pam schon aufgegeben, doch vorhin in der Kabine waren sie beide allein und da passierte es plötzlich wie von selbst.
»Verstehst du das, Nelli? Ich...ich liebe Pam!«, zischte er verzweifelt und strich sich tatsächlich eine Träne aus seinem linkem Auge. Es klang so als hätte er den letzten Satz aus sich herausgewürgt. Ich merkte ihm an wie schwer es ihm viel, mir das alles zu sagen.
»Wie kannst du das wissen, du warst doch nicht einmal mit ihr zusammen!« Ich konnte ihn nicht ganz verstehen.
»Ich weiß es, Nelli! Was meinst du wieso ich die ganzen Jahre über mit noch keinem dieser hübschen Mädchen gegangen bin, die mich angehimmelt haben?! Einige waren nämlich verdammt hübsch!«
»Und was war mit Vicky?«, hackte ich nach. Ich wurde beinahe wieder wütend. Ich konnte ihm nicht glauben. Wollte es nicht.
»Ich habe mir eingebildet, dass ich in sie verliebt bin – um Pam zu vergessen!« Lukas senkte seinen Blick.
»Und wie kannst du dir dann sicher sein, dass du dir das mit Pam nicht auch all die Jahre eingebildet hast? Was macht dich da so sicher?«, wollte ich wissen.
Er blickte jetzt beinahe gleichgültig. »Gar nichts! Rein gar nichts! Aber du musst eine Sache wissen, dass ich für nichts auf der Welt so wenig Beweise habe wie für diese Sache, zugleich aber bin ich mir bei keiner Sache so sicher wie bei dieser hier…« Er verstummte. Wir waren am Tor angekommen, das in den Hof meines Hauses führte.
»Aber wieso sagst du ihr das nicht?«, fragte ich irritiert.
Er sah mich kurz an. Ich blickte in seine Augen und erkannte den Schmerz. Es versetzte mir einen Stich. Dann flüsterte er: »Gute Nacht, Nelli!« Ohne ein weiteres Wort, drehte er mir den Rücken zu und schritt davon.
Ich wusste, dass Lukas nicht schüchtern war und begann jetzt zu begreifen, wieso er Pam gegenüber immer geschwiegen hatte und mit ihr all die Jahre gut befreundet war. Sie bedeutete ihm viel – viel zu viel, als dass er sie verlieren oder ihr weh tun könnte.
Als ich mit geröteten Augen die Haustür aufschloss, kam mir meine Mutter lächelnd entgegen. »Heute Abend war der Handwerker da.« Ich konnte warmen Glanz in ihren Augen sehen.
»Ja und?«, murmelte ich.
»Kopf hoch mein Nelli Schätzchen!«
Ich war verwirrt. Hatte sie einen Anlass gefunden mir die Rechnung nachzulassen? Vielleicht ist sie ja zu dem Schluss gekommen, dass sie es feiert, wenn ich deprimiert bin.
»Rein zufällig ist der Handwerker ein Hobbykunstsammler und er findet dein Gemälde fantastisch!«
»Ach so, jetzt ist es auf einmal ein Gemälde und keine Sauerei mehr.«, knurrte ich. Doch innerlich freute ich mich darüber.
»Er will mehr von deinen Arbeiten sehen und sie dir vielleicht sogar abkaufen!«
Ich konnte es nicht fassen, was ich hörte. War ich im falschen Film?
»Siehst du manchmal wird aus einem Streich was Gutes.« Es verletzte mich, dass sie es noch immer nicht begriff. Dieses Werk war so viel mehr als nur ein Streich.
»Es sollte doch auch ein Kunstwerk sein!«
Ihr Gesicht bekam einen anderen Ausdruck. Sie schien verwirrt. »Wirklich?«
»Wirklich! Ich kann mit Farben ausdrücken, was ich fühle.«
»Schätzchen, das ist ja wunderbar!« Ihr stand die Begeisterung ins Gesicht geschrieben, doch dann wurde ihr Blick reuevoll. »Es tut mir leid, dass ich geglaubt habe, du wolltest uns damit nur ärgern.«
»Ist schon okay«, sagte ich und konnte nicht anders als mich in ihre vertrauten Arme zu legen. Ich spürte ihre weichen Haare in meinem Gesicht und ihren Duft, den ich so lange nicht mehr so intensiv wahrgenommen hatte; der in mir das Gefühl von Geborgenheit hervorrief.
»Ich kauf dir gleich morgen eine große Leinwand!«, flüsterte sie.
»Wirklich?«
»Ja, versprochen!«
Ich erwachte mit einem schlechten Gefühl im Bauch. Mit aller Kraft raffte ich mich auf. Im Wohnzimmer angekommen, bemerkte ich, dass meine Mutter noch nicht da war. Offenbar besoff sie sich immer noch in irgendeiner Säuferkneipe. Ich duschte und zog mir meinen Kapuzenpulli über. Am Küchentresen machte mir ein Brot und aß es, während ich aus dem Haus schlenderte. Ich kaute schnell und schwang mich anschließend auf mein Bike.
Die feuchte, kalte Morgenluft peitschte mir entgegen, als ich mein Fahrrad die Straße hinab rollen ließ.
Wie konnte ich Pam bloß vergessen? Sollte ich wieder mit Vicky zusammenkommen? Oder mich mit einer ganz anderen treffen? Vielleicht mit einem Mädchen, das Pam hasst. Das würde sie dann vielleicht eifersüchtig machen. Und dieses Mädchen, an das ich dachte, hieß Trish. Ja, sie könnte mir vielleicht helfen. Dann schob ich den Gedanken jedoch wieder beiseite, weil es kindisch wäre, sich so zu verhalten.
Ich rannte schwach beleuchtete Straße entlang. Die Sohlen unter meinen Füßen knirschten. Der Teer war mir einer dünnen, vereisten Schneeschicht überzogen. Ich hörte meinen keuchenden Atem; Rauch strömte aus meinem Mund; meine Lungen brannten; ich zitterte.
Mit pochendem Herzen drückte ich den metallenen Knopf. Er fühlte sich an wie Eis. Die Hölzerne Tür öffnete sich langsam.
Ich hatte fliehen müssen; auch wegen Nelli.
Max stand im Schlafanzug vor mir. Seine schwarzen Locken waren zerzaust.
»Hey«, stammelte ich und meine Stimme zitterte – nicht nur wegen der Kälte.
»Hey.« Er sah mich an wie eine Verbrecherin. Aber er machte keine Anstalten, mich davonzuschicken. Er bleib einfach vor mir stehen.
»Max, du…«, begann ich unsicher. »Du, ich wollte dir sagen, dass…dass mir alles so schrecklich leidtut. Ich wollte nicht.«
»Wie kann ich sicher sein, dass du es nicht noch einmal machst?« Ich kannte Max so gar nicht.
Ich sah ihn nur an und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte ich mich um. Im nächsten Moment spürte ich eine Hand auf meinem Oberarm. Sanft und schüchtern. Ich schnappte leise nach Luft. Ich blickte Max über die Schulter hinweg an. Seine Augen waren beinahe so dunkel wie die von Lukas; aber nur beinahe. Seine schmalen Lippen waren leicht geöffnet; so als wolle er etwas sagen.
»Pam ich brauche dich!«, keuchte er dann auch. Dann nahm er mich in die Arme und ich roch seinen vertrauten Duft nach seinem Waschmittel, das irgendwie nach Strand und milder Minze roch. Für einen Moment genoss ich es, doch dann fühlte ich mich schuldig. Ich konnte es nicht fassen, ich war so unglaublich egoistisch.
»Schon was vor heute Nachmittag?«, fragte ich Claudia, weil ich mir erhoffte, dann mit ihr reden zu können.
»Nö, zu Hause, warten, eh nur zwei schreiende kleine Bestien, eine Mutter, die mich vergisst zu grüßen und ein Vater, der alle Wände mit dunkelbraunen Streifen anstreicht, weil er seinen Job verloren hat. Also wird dir wohl kaum entgangen sein, wie meine Antwort lautet, oder?«, zischte sie. Arme Claudia! Ich könnte sie ja ein Bisschen trösten.
Der etwas seltsame Vormittag in der Schule verging schleppend. Pam sah mich nicht an, Lukas sah aus dem Fenster, Claudia und andere rissen Witze über Mara und bewarfen sie mit Papierkügelchen und anderen Dingen. Übrigens, sehr kreativ finde ich das. Das würde jetzt Pam vielleicht sagen. Ich vermisste ihren finsteren Humor und ihr Lächeln, das nun sucht mehr vorhanden sein zu schien.
Leo und Hella waren nicht hier.
Am Nachmittag ging ich mit Claudia auf den Weihnachtsmarkt, doch es wurde nicht so wie ich es mir erhofft hatte. Wir quatschten ein wenig und die fiesen Sprüche über Mara und das Gemotze über ihre kleine Schwester, verwehrten mir jegliche Möglichkeit mit ihr über ihr seltsames Verhalten in letzter Zeit zu sprechen.
Gegen fünf Uhr, als es schon dunkel war, musste sie dann ganz plötzlich nach Hause.
Ich schlenderte den Weihnachtsmarkt aufwärts, als ich plötzlich Ben inmitten der Menschenmassen entdeckte. Er war mit ein paar Kumpels unterwegs, die ich nicht kannte.
Als er mich sah, winkte er mir gleich freudig zu. »Hey, Nelli!« Er rannte zu mir.
»Hey, alles fit?«, fragte ich ihn und versuchte dabei möglichst gelassen zu klingen.
»Ja, und bei dir? Du siehst irgendwie mitgenommen aus…«
»Es ist alles okay!«, behauptete ich und versuchte möglichst überzeugend zu wirken. Vielleicht hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, wenn nicht seine zwei Kumpels hinter ihm gestanden hätten. Ich bemerkte wie mich einer von ihnen bewundernd ansah.
»Ach ja, darf ich dir Oliver und Alex vorstellen?« Ben trat einen Schritt zur Seite.
»Hi, ich bin Nelli.«
»Ich weiß.«, sagte Oliver ein wenig kleinlaut. Wahrscheinlich ging er auf meine Schule, weil es mir jetzt doch so vorkam als hätte ich ihn irgendwo schon einmal gesehen. Eine kurze und peinliche Pause trat ein.
Ben ergriff als erster wieder das Wort. »Weißt du was, Nelli, ich zeige dir jetzt einmal was Tolles.« Er sah mich lächelnd an.
»Ich bin gespannt, was es ist«, grinste ich neugierig.
»Ist schon okay, wenn ich euch für heut einmal nicht mehr nerve, oder?«, fragte er an seine Freunde gewandt.
»Alles cool, man.« Sie verabschiedeten sich mit einem Einschlag von Ben und winkten mir. Kurz fragte ich mich, was er wohl vorhatte und ein Bisschen wünschte ich mir, dass Pam diesen Augenblick miterlebt hätte. Dann könnte ich über meine Schulter blicken und mich von ihr mit einem vielsagenden Grinsen und zuckenden Schultern verabschieden.
»Ganz sympathisch deine Freunde!«, sagte ich, als wir uns von ihnen entfernt hatten.
»Ja, das sind sie. Ollie ist einer meiner besten Kollegen. Er geht übrigens auch auf unsere Schule.«
»Das habe ich mir schon gedacht, weil er mir bekannt vorkam.«, erwiderte ich.
Jetzt waren wir am Ende des Marktes angekommen. Da wo der Stand mit den Kastanien war. Der Geruch nach gerösteten Kastanien war jetzt ganz stark.
»Und, was wolltest du mir denn tolles zeigen?«
»Komm mit!«
Wir steuerten auf die Kirche zu. Hinter ihr führte eine Treppe empor.
»Du willst mit mir auf den Vincenzo -Hügel gehen? Glaub ja nicht, dass ich da noch nie war!«, regte ich mich mit gespielt auf.
»Abwarten…« Ben hatte ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Mir gefiel es wenn er so grinste. Mit einer Freundin hätte ich Angst gehabt im Dunkeln auf dem nicht beleuchteten Weg zu gehen, aber mit Ben war sie wie weggeblasen. Ich war ehr ein wenig nervös.
Der weg schlängelte sich in Kurven immer weiter nach oben. Als wir ganz oben angelangt waren, hackte ich noch einmal nach.
»Was willst du mir jetzt zeigen?«
»Geduld ist wohl nicht deine Stärke«, stellte Ben lachend fest.
Wir gingen noch ein Stück nach oben, bis sich der Weg ebnete und wir auf einem Panoramaweg entlang des Hügels am Rande der Stadt gingen.
»Jetzt sind wir gleich da!«, versprach er. »Mach die Augen zu und öffne sie erst wieder, wenn ich es dir sage.«
»Okay, aber es darf nicht zu lange dauern, denn ich hab…«
»…keine Geduld!«, beendete Ben meinen Satz. Ich schloss meine Augen und merkte, wie sich zwei große Hände auf meine Schultern legten. Er führte mich noch ein kleines Stück den Weg entlang. Während wir gingen, hörte ich wie er hinter mir atmete und unsere knirschenden Schritte auf dem Schotterweg. Dann drehte er mich nach rechts und blieb stehen.
»So jetzt kannst du deine Augen öffnen.«
Ich hob meine Lider und blickte auf ein Meer von Lichtern.
Unter uns erstreckte sich die Stadt. Sie leuchtete so hell und es war wunderschön. Mir wurde warm ums Herz, obwohl die Temperatur nah an den Minusgraden lag. L aruga hatte ich noch nie so betrachtet. Am Tag war es nichts Besonderes, die Stadt von hier aus zu betrachten, doch jetzt schien alles so weihnachtlich, beinahe magisch, so als ob alle Hoffnung zu uns herauf strahlen würde.
»Und, hab ich dir zu viel versprochen?«, ertönte Bens Stimme neben mir.
»Das ist atemberaubend!«, flüsterte ich überwältigt von der Schönheit dieses Anblicks.
»Das hat mir mein Opa gezeigt, kurz bevor er starb…« er machte eine Pause und schluckte. »Er sagte zu mir damals, dass diese Lichter die Seelen der Menschen sind, die man von unten nicht sehen kann und dass jede dieser Seelen wichtig ist, um das Herz einer solchen Stadt zu füllen.« Seine Stimme bebte. »Viele denken vielleicht, dass das der klassische Quatsch ist, den Großeltern ihren Enkeln erzählen, doch weißt du was? Ich glaube ihm noch heute!?«
Ich wartete einen kurzen Augenblick, ehe ich antwortete. »Ja, du hast Recht. Da ist etwas, das man mit den Augen nicht sehen kann. Ich fühle es und es ist das schönste, das ich seit langem gefühlt habe.«
Als ich nach Hause kam, stieg mir gleich der Geruch frisch gebackener Kekse in die Nase. Meine Mutter hatte vier verschiedene Sorten gebacken. Ich tapste in die Küche und schnappte mir einen heißen Marzipantaler, den ich von einer Hand in die andere warf, um mir meine Finger nicht zu verbrennen.
»Finger weg, Nelli! Ich will unseren Verwandten auch noch ein paar Kekse anbieten können!«, zischte sie im gut gelaunten, jedoch auch bestimmten Ton.
»Ich bin ja schon weg!«, lachte ich, stibitzte mir aber doch noch unauffällig ein weiteres Plätzchen.
Ich musste lächeln als ich an letztes Weihnachten dachte. Unsere Familie hatte da so ihre Tradition. Jedes Jahr zu Heilig Abend kamen all unsere Verwandten zu uns nach Hause und wir schmückten zusammen den Tannenbaum, aßen Kekse, lachten.
Onkel Martin hatte sich letztes Jahr beinahe selbst in Flammen aufgehen lassen, als er den Versuch machte, den Tannenbaum anzuzünden. Gegen sieben Uhr gab es immer ein festliches Abendessen – meist eine traditionelle Weihnachtsgans. Danach ging’s immer an die Bescherung. Letztes Jahr hatten ich, meine vier Vetter und meine Kusine je eine Weihnachtstasse bekommen. Wir zwei Mädchen noch zusätzlich ein Lipgloss und die vier Jungen alle eine CD ihrer Lieblingsband. Nach der kleinen Bescherung gingen wir immer zur Mitternachtsmette, dort wo alle Leute der Stadt zusammenkamen. Weihnachten war in unserer großen Familie nie das Fest der großen Geschenke gewesen. Das Zusammensein mit den wichtigsten Menschen zählte.
Bis heute war Weihnachten für mich immer das Fest der Hoffnung gewesen, doch plötzlich wünschte ich mir, dass es bei uns auch ein Bisschen so wie bei Trish oder Pam wäre. Sogar Claudia bekam mehr Weihnachtsgeschenke, als ich. Bei ihnen gab es immer eine Riesenbescherung mit tausend Päckchen unterm Tannenbaum. An Pam durfte ich erst gar nicht denken. Sie bekam jedes Jahr mehr Geschenke, wie meine gesamte Familie zusammen.
Morgen würde der letzte Schultag sein und ich hatte für Lukas noch kein Geschenk. Ich hockte lange in meinem Zimmer und überlegte. Ich wollte ihm dieses Jahr auf jedem Fall ein persönliches Geschenk machen – aber nicht zu persönlich, denn Jungen mochten das bekanntlich nicht so. Es brauchte etwas lange bis ich einen Entschluss fasste, doch gegen Abend war es so weit. Ich würde ihm die crazy Passfotos in einem selbstgebastelten Album schenken. Ja, darüber würde er sich bestimmt freuen. Unter den Fotos kamen auch noch passende Insidersprüche.
Als ich gerade loslegen wollte, klopfte es an der Tür und meine Mutter platzte ins Zimmer. »Hey, mein Schatz! Dein Vater und ich gehen jetzt ins Theater, wir kommen gegen elf wieder zurück!«, sagte sie mit einem Lächeln. Sie hatte sich schick angezogen und etwas mehr als sonst geschminkt. Sie war wirklich hübsch.
»Muss das so lange sein?!«, jammerte ich.
»Ja, das Theater wird nämlich in P ano aufgeführt und da dauert allein die Fahrt eine halbe Stunde!«, entgegnete sie und fuhr mir dabei durch meine lange brünette Haarpracht.
»Okay, dann bis nachher!«, sagte ich schließlich und mir gelang sogar ein Lächeln. Meine Mum gab mir ein Küsschen auf die Stirn und verabschiedete sich. Auch mein Dad winkte, ehe er sich umdrehte und die schwere Haustür hinter sich schloss. Dann war ich allein.
Im zweistöckigen Reihenhaus herrschte plötzlich unheimliche Stille. Jede meiner Bewegungen, war wie ein lautes Krachen. Ich musste wieder an den Einbruch in die Schule denken; dabei lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Waren da nicht Schritte gewesen? Schritte von unten. Schritte eines Einbrechers, vielleicht? Spätestens seit dem Einbruch wusste ich, wie leicht es war in ein Haus einzudringen. Besonders wenn man in einer Parterrewohnung wohnte. Wer sollte schon bei dir einbrechen? Bis heute ist noch niemand bei dir eingebrochen, wieso sollte es ausgerechnet heute passieren?, beruhigte mich meine innere Stimme. Ich machte an meinem Album weiter, jedoch mit gespitzten und wachsamen Ohren.
Eine Stunde verstrich. Ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Wanduhr: Halb acht. Ich schlich auf Zehenspitzen in die Küche, um den Einbrecher früh genug zu hören. Verdammt, Nelli! Wieso machst du dich immer so verrückt? Ich brauchte wirklich keine Angst zu haben. Oder? Sicherheitshalber drehte ich das Schloss unserer Panzertür noch ein paar Mal um und ließ unsere elektrischen Rollos herunter.
In der Küche stand überraschenderweise ein Pizzakarton. Ich freute mich darauf, sie zu verputzen. Ich setzte mich vor den großen Flachbildschirm im Wohnzimmer und schaltete auf ProSieben, um mir dort einen Weihnachtsfilm reinzuziehen.
Ich vertiefte mich in den Film, sodass ich meine Angst bald vergas. Wieso sie den Film, der Dramatik halber nicht in schwarz-weiß zeigen, wie so ziemlich alles auf diesem billigen Kanal, ist schon irgendwie merkwürdig, dachte ich amüsiert.
Plötzlich ertönte ein stechendes Geräusch. Vor Schreck sprang ich auf und warf dabei den Pizzakarton, der auf meinem Schoß platziert war, mit voller Wucht auf den Boden. Es hatte an der Haustür geläutet. Jemand stand da draußen. Eine Welle der Angst durchzuckte mich. Es war neun Uhr und irgendjemand stand gerade vor meiner Haustür und wollte herein. Keine Panik, Nelli! Du musst jetzt cool bleiben, nur dieses eine Mal! Mit kleinen vorsichtigen Schritten, tapste ich zur Tür. Meine zitternde Hand drehte das Schloss um. Die Angst pulsierte in meinen Adern, als ich mit schlotternden Fingern nach der Schnalle griff.
Es kostete mich alle Mühe, Nelli zu ignorieren. Wann immer ein Lehrer etwas Lustiges sagte, oder Lukas mal wieder begann von Faust zu reden, wollte ich sie anstupsen und mit ihnen darüber lachen. Doch dann viel mir ein, dass ich doch sauer auf sie war – und unterdrückte den Drang.
Ich hatte zufällig mitbekommen, dass Nelli sich mit Claudia getroffen hatte. Wollte sie mich etwa eifersüchtig machen? Das wäre so link von ihr!
Wie immer, wenn ich Probleme hatte, konzentrierte ich mich noch mehr auf die Schule. Mein Notendurchschnitt von allen Fächern betrug zurzeit 9,6. Grundgütiger, ich könnte mir, passend zu meiner Persönlichkeit, eine Zahnspange in die Fresse pflanzen lassen und mir einen eckigen Schulranzen besorgen!
Ich ignorierte nicht nur Nelli. Victor war auch auf meiner Liste. Ein angenehmer Nebeneffekt davon war, dass es Mum irgendwie zu stören schien. Doch sie sagte es nicht. Bei solchen Dingen hatte ich keine Angst, meine Mutter würde mich nicht mehr mögen, doch würde ich mit Max Schluss machen, wäre ich ein Nichts für sie. Das musste ich mir eingestehen. Sie würde Lukas niemals akzeptieren. Es würde schon damit anfangen: »Welche Mutter gibt ihrem Kind einen deutschen Namen?« Ich sah sie vor mir, wie sie den Kopf schüttelte. »Man schreibt ihn mit k…Wie geschmacklos! Wieso nicht einfach Luca? Das klingt doch viel schöner!« Vielleicht hatte sie sich ja sogar schon einmal darüber beschwert. Das würde erklären, warum mir die Worte so schnell zugeflogen waren. Sie sah die guten Seiten von ihm nicht. Er war sportlich, durchsetzungsvermögend und seine Moralischen Ansichten entsprachen den meinen – nicht zu vergessen seine Haut und… Außerdem hatte er die stärksten Arme, die man sich vorstellen konnte.
Aber ich war ja nicht in Lukas verliebt! Ich ging mit Max! Er war witzig und unkompliziert. Mit ihm konnte man Spaß haben. Mit Lukas zwar auch, doch irgendwie war er manchmal ziemlich nachdenklich; komisch…
~ Nelli ~
Mit einem Ruck öffnete ich die Schwere Tür. Ein kalter Luftschwall strömte mir entgegen. Ich blickte in die dunkle Nacht – und in das Gesicht eines Mannes, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich brauchte einige Sekunden um zu erkennen, dass es sich um einen uniformierten Polizisten handelte.
»Guten Abend, ich bin Sergeant Mason von der Kripo Pano!«, sagte er im ernsten Tonfall und zeigte mir seinen Polizeiausweis. »Sind Sie Nelli DeMero?«, fügte er hinzu.
»Ja.« Meine Stimme bebte vor Angst. Die Tatsache, dass er mich siezte machte mich noch nervöser.
»Ich habe ein paar Fragen an Sie, darf ich reinkommen?« Dieser Satz traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Warum ist er hier? Wegen dem Einbruch? Wegen dem Diebstahl? Wegen dem Auslösen des Feueralarms? Oder aus einem ganz anderem Grund? War jemand gestorben? Bitte, bitte nicht!
Mit schlotternden Beinen, einen Fuß vor den anderen stakste ich ins Wohnzimmer. Ich bot dem Sergeant mit einer Handbewegung einen Platz auf dem Lehnsessel an. Nervös setzte ich mich ihm gegenüber auf die Couch.
Er begann nicht sofort zu reden. Erst starrte er mit seinen kalten Augen durchdringlich in meine.
Ich wollte den Blicken des Sergeanten entweichen, doch aus irgendeinem Grund hielten seine Blicke die meinen fest. Für einen Moment dachte ich gar nichts, doch im nächsten Moment wirbelten die Fragen mit der Geschwindigkeit eines Tornados im inneren meines Gehirns umher. Hatte die Polizei alles herausgefunden? Wurde ich ins Gefängnis gesteckt? Musste ich mit aufs Revier kommen? Gab sich der vermeintliche Sergeant sich nur als einer aus, um mich dann anschließend zu erschlagen und unsere Wohnung auszurauben? Oder war es nur eine Polizeiliche Umfrage, nichts weiter? Doch den Augen des Beamten nach musste es sich um etwas Ernstes handeln. Etwas sehr Ernstes.
Er war groß und von schlanker, schmächtiger Statur, jedoch machte er auf mich einen äußerst einschüchternden Eindruck. Er machte einen tiefen Atemzug und begann zu sprechen. »Mrs. DeMero…«, wollte er beginnen, doch ich unterbrach ihn
»Sie können mich ruhig duzen!«, sagte ich mit einem unsicheren Lächeln.
»Gut, wie du willst, Nelli. Nun, eine Klassenkameradin von dir ist heute Abend spurlos verschwunden…«
Nein! Kurz ging ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Lass es bitte nicht Pam sein!, flehte ich im Stillen. Wir hatten uns doch zuletzt gestritten…
»Es handelt sich um Mara Malotki.«, ergänzte er seinen Satz, so als ob er meine Gedanken gelesen hätte.
Mir viel vor Erleichterung ein tonnenschwerer Stein vom Herzen, gleichzeitig wurde mir speiübel. Ein derber Anflug von Schuldgefühlen riss mich beinahe um. Was wenn Mara nie wieder auftauchen würde? Ich würde mir ewig Schuldgefühle machen. Ich hatte sie, wie die anderen, auch ausgelacht und hatte nichts dagegen unternommen…
»Alles in Ordnung, Nelli?«, der Sergeant riss mich aus meinen quälenden Gedanken.
Ich blickte auf. »Sicher! Alles im grünen Bereich, Sir!«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, jedoch konnte man meinen nervösen Unterton dabei kaum überhören. Trotzdem war ich über meine vornehme und etwas gewöhnungsbedürftige Ausdrucksweise angenehm verwundert. Es musste am Druck liegen.
»Ich habe die Information erhalten, dass ein Freund von dir, ihr das Handy weggenommen hätten!« Der Sergeant klang streng, jedoch nicht vorwurfsvoll. Das beruhigte mich aber in keinster Weise. Jetzt würden wir für unsere Taten bestraft werden…
Ich merkte Tagein Tagaus, wie mich die ganzen Mädchen am Schulhof beneideten und wie mich die Jungs bewundernd musterten, doch sie wussten nicht im Geringsten wie mein Leben wirklich aussah. Das war das große Geheimnis am beliebt Sein. Nichts war so wie es aussah. Alles nur Show. Eine frisch gestrichene rosa Fassade, die ein verkommenes Haus umhüllt. Nichts weiter…
»Nelli? Kannst du diese Angabe bestätigen?«, fragte der Beamte mit einem Hauch von Ungeduld. Nelli, du musst der Kripo die Wahrheit sagen, sonst wird das alles nur noch schlimmer machen!
Ich fasste allen Mut zusammen und antwortete mit einem direkten und tonlosen »Ja!«
Der Sergeant nickte stumm, biss dabei die Zähne zusammen. Mir wurde schwindelig. Ich hatte einen Freund verraten! Ich wollte doch nur, dass alles wieder gut werden würde! Doch wie es aussah, würde nichts mehr werden wie es war.
»Und…und wa…was werden sie jetzt mit ihnen machen?« Ich kam ins Stottern.
»Unser Team wird sie kontaktieren und sie auf die Wache bringen!« Das würde Ben mir nie verzeihen! Ich war mir sicher, dass er mich hasste.
Dennoch hatte ich irgendwo in meinem Unterbewusstsein ein gutes Gefühl. Denn ich hatte Wahrheit gesagt und nicht schon wieder alles auf Lügen aufgebaut.
Einen kurzen Augenblick dachte ich, dass der Sergeant sich jetzt erheben und gehen würde, doch da musste noch etwas Anderes sein, er war unmöglich gekommen, nur um mir diese eine Frage zu stellen. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Und meine schlimmen Befürchtungen bestätigten sich.
Sergeant Mason räusperte sich. »Ich hätte noch eine Frage an dich: Wann hast du Mara Malotki zum letzten Mal gesehen?«
»Heute Vormittag in der Schule!«, antwortete ich schnell. Mason kritzelte eine Notiz auf seinen Block. Kam ich jetzt auf seine Verdächtigen-Liste? Ich wollte, dass er ging. So langsam brachte mich seine Anwesenheit auf die Palme. Mir kam es so vor, als ob er mir nur lange genug in die Augen sehen müsse, um die Wahrheit heraus zu bekommen. Ich konnte ihn aber auch nicht bitten zu gehen, dann wüsste er sofort, dass ich was verbrochen hatte. Ganz ruhig, Nelli, dieser Mann ist kein Mentalist und auf deiner Stirn steht auch nichts verdacht erregendes. Bleib einfach nur cool!
»Kann ich ihnen etwas anbieten?« Na toll, Nelli, ganz gut gemacht! Das sind ja die typischen Ablenkungsmanöver! Ich nahm mir vor, keine Fehler mehr zu machen.
»Nein, danke! Aber sie könnten mir sicher verraten welche Beziehung zu Mara haben.«
Die unerbittlichen Schuldgefühle kamen zurück. »Wa…was soll ich sagen, sie ist eine Mitschülerin.«, brachte ich mit zitternder Stimme hervor und ärgerte mich über das Gestammelte.
»Ich habe die Information erhalten, dass Mara von einigen Mitschülern gemobbt wird und dass die aufgrund dessen womöglich von zu Hause weggelaufen ist!« Jetzt klang er vorwurfsvoll.
Eine Horde Ameisen machte einen Streifzug durch meinen Körper. Mich schüttelte. »Sie…sie war nicht die beliebteste in der Klasse…« Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe.
»Du hast sie auch nicht sonderlich gemocht – nehme ich an?!«, hackte Mason nach.
»Das kann man jetzt nicht so direkt sagen, ich kannte sie ja kaum!«, erwiderte ich vorsichtig.
»Und deine Freunde? Wie gut kannten sie Mara?« Der Sergeant klang immer energischer. Es war fast schon ein Drohen und ich wusste auf was er hinauswollte.
Mein Herz begann zu flattern. Sollte ich meine Freunde in den Dreck ziehen und die Wahrheit sagen oder sollte ich lügen? Eine simple Lüge.
»Ich weiß nicht das habe ich sie nie gefragt!«, wollte ich schon sagen, doch dann fragte ich mich, was war, wenn er schon wusste, dass Claudia und die anderen sie gemobbt hatten? Was war, wenn er mich nur testen wollte? Testen, ob ich für meine Freunde lügen würde. Dann war alles aus. »Meine Freunde verstanden sich nicht bestens mit ihr…« Entschuldige Claudia! Entschuldige Ben!
»Ach so, war das alles!« Ich merkte wie Mason seine Wut zügelte.
Ich nickte schwach.
»Verdammt, Nelli DeMero, wann sagst du mir nicht endlich, dass Mara das Opfer eurer Clique war?«, schrie Mason plötzlich ohne jede Vorwarnung.
Der Schock schoss mir bis in die Zehenspitzen und lies mich erstarren.
»Verstehst du nicht? Wir wissen nicht, was sich das Mädchen wegen des Mobbings antun wird!«, schrie er aufgebracht weiter. Er wollte uns die Schuld dafür geben, dass Mara abgehauen war und auch für alles, das sie sich antun wird. Trugen wir tatsächlich die Schuld?
Dann senkte der Uniformierte seine Stimme und fuhr fort: »Ich möchte nur, dass du weißt, dass auch wenn man es nicht beabsichtigt hat, schlimme Dinge geschehen, für die man sich anschließend die Schuld gibt...« Mit diesen Worten stand er auf und schritt zur Tür.
Er verabschiedete sich und verließ das Haus.
Nachdem der Sergeant sich von unserem Haus entfernt hatte, ging ich ins Bett. Ich konnte nicht schlafen. Drehte und wendete mich.
Nach etwa einer halben Stunde, hörte ich erneut ein Klingeln an der Tür. War es etwa wieder der Sergant? Hatte er noch weitere Worte mit denen er mich durchbohren konnte?
Obwohl ich mich dagegen sträubte, richtete ich mich auf. Es wäre vielleicht ein wenig verdächtig so zu tun, als wäre ich plötzlich nicht mehr zu Hause. Mit klopfendem Herzen schlich ich die Treppe herab und spähte durch den Spion. Wen ich dort sah, hätte ich in diesem Augenblick am wenigsten erwartet.
Ich schwang die Tür auf. Leo stand keuchend vor mir.
War er nicht mit Hella in Deutschland?
»Aber...aber«, stammelte ich, doch er schnitt mir das Wort ab indem er
meinen Kopf in seine Hände nahm, seine Lippen auf meine legte und mich gelichzeitig an meiner Taille zu sich zog. Ich spürte wie mein Puls in die Höhe schwang, als er mich gierig küsste. Ich wusste, dass ich es bereuen würde, doch ich brauchte das jetzt viel zu sehr.
Leo schob mich nach drinnen und schloss blind die Tür hinter sich. Sie knallte mit einem lauten Krachen ins Schloss. Er streifte mir hektisch meinen Pulli über den Kopf.
Ich öffnete seine Jacke, streifte sie ihm über die Schultern und warf sie auf den Boden. Als ich schwer atmend begann die Knöpfe seines Hemdes aufzuknöpfen und über seinen Bauch strich, spürte ich wie seine Muskeln unter meinen Berührungen zuckten.
Plötzlich umfasste er meine Oberschenkel und trug mich auf seinen Hüften die Treppen nach oben.
Ich vergrub meine Hände in seinen lockigen Haaren. In meinem Zimmer warf er mich aufs Bett. Dann küsste er mich überall. Mein Unterleib zog sich dabei genüsslich zusammen.
Mein Kopf war wie leergeräumt. So als müsste ich nicht mehr an all die erdrückenden Dinge denken. Sie waren wie vorübergehend gelöscht.
Doch dann war es vorbei und Leo und ich lagen nebeneinander in meinem französischen Bett. Bis auf unsere keuchenden Lungen, war kein Geräusch zu hören.
Ich konnte förmlich spüren, wie alles, was bevor Leo vor meiner Tür stand passiert war, immer deutlicher vor meinem inneren Auge wurde. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir sahen uns auch nicht an.
Nach einer Weile ergriff ich dann doch das Wort. »Wieso bist du nicht in Deutschland?« Meine Stimme klang eingerostet; so als hätte ich für eine sehr lange Zeit nicht gesprochen.
»Keine Ahnung«, entgegnete er gleichgültig.
»Ich weiß, dass es einen Grund gibt!«, beharrte ich.
»Ja. Du warst schon immer gut darin, zu bemerken, wann ich nicht die Wahrheit sage.« Er lachte auf, doch sein Ton klang etwas gequält.
»Hey, du weißt ja. Ich kann dich lesen, wie ein offenes Buch.« Ich stieß Luft aus meinen Nasenlöchern.
Wir starrten immer noch an die Decke.
»Ja. Vielleicht war es das!«
Ich wusste, was er meinte. Ich konnte ihn tatsächlich lesen. Und manchmal zerstört das den Reiz einer Geschichte.
Er erzählte mir noch, wie er sich mit Hella gestritten hatte und sie alleine gefahren war, so als wäre es das normalste auf dieser Welt, ehe er sich anzog und nach Hause ging.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss viel, dachte ich an uns. Daran, dass ich ihn auf irgendeine Weise brauchte und darüber, dass es nicht mehr Dasselbe war, in seiner Nähe zu sein. Ich wusste selbst nicht genau, was ich dachte, was ich wollte und was ich fühlte. Und dann schimmerten die Gedanken um Mara, genau wie vorhin, erneut durch mein Schutzschild aus Lust. Am liebsten hätte ich Leo noch einmal hergeholt und mit ihm geschlafen. Einfach, um nicht von meinen Schuldgefühlen vertilgt zu werden.
Die ganze Nacht über rissen mich fesselnde Alpträume aus dem Schlaf. Schweißgebadet und schwer atmend wurde ich in die Realität aufgenommen. Ich versuchte friedlich weiter zu schlafen, doch die Nachtmahre ließen mich nicht aus ihren Klauen. Ketteten mich an den Grund einer unendlich schwarzen Höhle. Engten mich ein, in der Tiefe meiner Schuldgefühle.
Wieder und wieder erlebte ich die Szene, in der Pam und ich uns geküsst hatten. Sogar in der Schule, während dem Unterricht. Ich blickte dann in ihre Richtung und hoffte, sie würde meine Blicke nicht bemerken.
Es war merkwürdig, in der immer gleichen Klasse zu sitzen und sich dabei gleichzeitig so nah und so fern zu fühlen. Manchmal wechselte ich Blicke mit Nelli, die, wie sonst auch, neben Pam saß. Pam ignorierte sie jedoch eiskalt.
Sollte ich vielleicht auf Pam zugehen? War es jetzt meine Aufgabe den ersten Schritt in ihre Richtung zu machen?
Im Raum war es Still. Jeder hatte das Blatt der Lateinarbeit vor sich liegen. Es war mir unmöglich, mich auf den Test zu konzentrieren.
Die Uhr in der Klasse tickte. Es kam mir so vor, als hinge die Spannung in der Luft.
Tick – tack.
Jemand trommelte leise mit den Fingern auf den Tisch. Leise, aber doch drängend und nervös.
Tick – tack.
Das rauschende Geräusch eines Bleistiftes, der über ein Blatt geführt wurde, ging durch den Raum. Dünne, messerscharfe Linien wurden in die Fasern des Papiers gezogen.
Tick – tack.
Diese erdrückende Stille schien mich zu zermalmen. Ganz langsam, lang und qualvoll. Ich merkte, wie ich den Drang verspürte aufzustehen und laut zu brüllen, doch ich widersetzte mich ihm.
Vor mir lag der vielleicht kniffligste Multiple-Choice-Test den ich jemals gemacht hatte. Ich kam mir vor wie bei Wer wird Millionär?. Ich wusste, ich würde wieder negativ sein, aber das war mir im Moment eigentlich egal. Das einzige was mich daran stören könnte, war, dass ich vielleicht sitzen bleiben würde und dann wäre ich nicht mehr mit Pam und Nelli in der Klasse. Aber das würde ohnehin nicht passieren. Ich wurde jedes Jahr aufs Neue mit lauter Sechsern und einigen Noten, die eigentlich Fünfer waren, aber irgendwie doch auf eine Sechs aufgerundet wurden, in die nächste Klasse durchgeschoben – ach ja, in Sport hatte ich eine Zehn.
Ich war der Gegenpol zu Pam, die manchmal schon mit einer Neun unzufrieden schien. Aber ich hatte mich schon immer gefragt, ob es wirklich Pam war, die sich daran störte, oder bloß ihre Mutter.
Mit dicken, schwarzen Augenringen erwachte ich am nächsten Morgen. Kurz betete ich, dass die Erinnerungen an den letzten Abend Bruchteile meines Alptraumes waren, doch als ich in den Wandspiegel sah und mir die müden Augen rieb, musste ich feststellen, dass dem nicht so war.
Leo lag nicht mehr neben mir. Er musste in der Nacht gegangen sein.
Keine Wolken waren am Himmel zu sehen, doch meine Augen waren mit einem trüben Schleier bedeckt. Die Kälte des Morgens schien mich zu betäuben; ließ mich erstarren. Es war ein schöner Morgen. Ein schöner Morgen für alle Bewohner dieser Stadt – nicht aber für mich.
»Hey, wie geht’s dir?«, begrüßte mich Luki.
»Hey, alles okay! Bei dir?«, murmelte ich niedergeschlagen und blickte kurz in sein Gesicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich auf seinem rechten Wangenknochen ein dunkelvioletter Fleck zeichnete. »Was ist das auf deiner Wange?«, fragte ich.
»Ach das…das ist nichts. Ich hab den Ball beim Training ins Gesicht bekommen.« Ich merkte, dass er log, doch ich war jetzt zu schwach um für ihn da zu sein. Ich seufzte und lies die Schultern hängen. Lukas schlang die Arme um mich. Genau das brauchte ich jetzt.
»Gemeinsam schaffen wir das!«, flüsterte er mir ins Ohr.
»Die Polizei wird alles herausfinden!«, zischte ich besorgt.
»Solange die keine Beweise haben, können die euch gar nichts anhaben!«, versuchte mich Lukas zu beruhigen. Wenn nur alles so einfach wäre… Sie hatten Beweise, das Video.
»Luki, Mara hat das Video!«, erinnerte ich ihn.
»Ihr seid euch doch nicht sicher, ob sie es wirklich hat! Ich meine nur, überleg doch mal: wie kann sie es haben, wenn Ben ihr das Handy abgenommen hat und sie es nicht auf den Computer in der Schule geladen hat?«, machte Lukas mir klar. Er hatte Recht. Ich wusste nicht wie es Luki immer anstellte, aber er konnte einfach alles wieder gut machen. Alles wieder im neuen Licht erstrahlen lassen. Naja nicht gleich alles, aber einen wichtigen Teil davon.
»Ach ja, sag bitte niemanden, dass ich gestern…naja du weißt schon...geheult habe…« Luki sah unsicher auf den Boden.
»Ich werde dir jetzt etwas sagen, das du für immer in dein Herz schließen sollst!« Ich suchte seinen Blick und sah in seine glänzenden Augen. »Gefühle sind die Blumen unserer Selle und wenn die nicht gegossen werden, verdorren sie irgendwann.«
Plötzlich prustete er los. »Woher hast du denn den?«
»Du kannst jetzt echt deine Klappe halten! Du kommst immer mit deinen rührenden Sprüchen, die du von weiß nicht woher zitierst.« Ich bemerkte gar nicht, wie ich plötzlich mit meinen Händen zu fuchteln begann. »Du bist für mich ein Lichtermeer, dem Tausende von Kerzen nicht gerecht werden würden! Nur du kannst Regen in Sonne verwandeln!«, flötete ich.
»Was? Du hast den Brief für Vicky gelesen? Du Sau!«
Ich lachte. »Ja, ich würde mir es das nächste Mal besser überlegen, wenn du etwas in meinen Mülleimer wirfst! Aber jetzt sag schon, woher hast du den Spruch! Vielleicht aus Die Räuber von Schiller?«, neckte ich ihn.
Er musterte mich mit gespielt feurigem Blick. Ich wusste, dass es nicht Goethes Faust war, den kannte ich inzwischen durch Luki beinahe auswendig.
»Du bist doch nur neidisch, weil ich zu einem Poetischen Talent neige!«
»Ja, klar!« Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um ihm meinen rechten Arm um den Hals zu legen und ihm sein Basecap vor die Augen zu ziehen.
»Okay, okay. Ich hab’s aus dem Internet. Und jetzt halt die Klappe!« Er befreite sich schmunzelnd aus meinem Griff und boxte mich freundschaftlich in die Seite.
Als es schon zur zweiten Stunde klingelte, war ich noch immer an meinem Spind. Vollbepackt mit Büchern unterm Arm. Einem ganzen Stapel Bücher für das Referat nach den Weihnachtsferien. Ich würde sie erst morgen mit nach Hause nehmen, da wir morgen ausnahmsweise auch noch drei Stunden Schule hatten. Ich konnte es nicht glauben, am 23. Dezember Schule! Einen Tag vor Weihnachten… Welcher Trottel in der Regierung hatte sich das ausgedacht?
Dann wanderten meine Gedanken zu Leo. Ich dachte auch daran, dass ich Luki nichts von dem erzählt hatte, was gestern zwischen uns vorgefallen war. Ich wollte die Bücher gerade in das Schränkchen Stapeln, als sie mir allesamt aus dem Arm rutschten und mit einem dumpfen Klatschen auf dem Boden aufprallten.
»Hey, kann ich dir helfen?«, ertönte plötzlich eine mir allzu bekannte Stimme, die mein Herz höherschlagen ließ. Ich nickte stumm und blickte nur für den Bruchteil einer Sekunde in Leos Seegrün schimmernde Augen.
Wir knieten uns nieder um die Bücher aufzuheben. Wieder ein flüchtiger Blick. Kürzer als ein Moment und doch kam er mir vor wie eine halbe Ewigkeit.
Wortlos und mit zitternden Händen legte Leo die Bücher in den Spind. »Man sieht sich!«, sagte er schnell, ehe er sich zum Gehen wand.
Erst jetzt viel mir auf, dass er eigentlich auch in der vorherigen Stunde in der Klasse hätte sein müssen. Und wie es aussah hatte er auch in der folgenden Stunde nicht die Absicht die Unterrichtszeit in unserer Klasse zu verbringen, denn er war nicht in die Richtung gegangen in der sich unser Klassenraum befand.
Auch in der dritten Stunde ließ sich Leo nicht blicken. In der vierten jedoch war er dann da, zusammen mit Hella. Ich warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Ich spürte den Hass. Den Hass, der sich in mir breit machte, wann immer ich dieses Mädchen erblickte. Früher hatte ich sie weder gemocht noch gehasst, doch seit sie Leo hinterherlief, konnte ich ihr nichts Gutes mehr wünschen. Außerdem, dachte ich, sie und Leo hätten sich gestritten... War sie trotzdem nach München gefahren? Ich wusste es nicht. Aber ich hoffte, dass sie sich gestritten hatten. Bildfetzen vom letzten Abend erschienen vor meinem inneren Auge. Eine genüssliche Stromwelle schoss durch meinen Körper. Im nächsten Moment blickte ich mich verstohlen um. Hoffentlich hat man mir meine Wuschigkeit nicht angesehen.
Leo setzte sich hinter mich in seine Bank. Ich konnte spüren, wie seine Blicke an meinem Rücken hafteten.
Dann sah ich unauffällig zu Pam, die wie immer neben mir saß. Sie hatte den Scheitel auf die andere Seite verlegt, sodass ihr Gesicht von ihren Haaren verdeckt wurde. Seit unserem Streit nach dem Basketballspiel ignorierte sie mich. Wenn ich ehrlich war, fühlte sich das schlimmer an, als all die Worte, die sie je zu mir gesagt hatte – und die waren ziemlich schlimm gewesen! Ich hatte doch Recht damit, dass sie Luki nicht hätte küssen sollen, oder? Insgeheim hoffte ich, dass ich sie nicht aus selbstsüchtigen Gründen angeschrien hatte.
Der Lehrer wollte uns gerade mit einem »Guten Morgen« begrüßen, als die Klassenzimmertür plötzlich energisch aufgerissen wurde. Ein großer und schmächtiger Mann im dunkelblauen Anzug stürmte ins Zimmer. Alle Augen richteten sich auf ihn. Das war womöglich auch seine Absicht gewesen.
Unser Religionslehrer starrte ihn entgeisterten Blickes an. Erschrocken trat er einen Schritt zurück; wie ein scheues Reh, das überrascht worden war.
Der große Mann stellte sich vor die Tafel, dann sah er uns einen Augenblick lang mit finsteren Augen an. Seine Blicke streiften durch die Reihen. An mir blieben sie haften – aber nur für einen Augenblick. Einen Augenblick, der lange genug war, um in seine dunklen, ozeantiefen Augen zu blicken, die ganze Romane zu erzählen schienen. Sicherlich keine Liebesromane! Dem war ich mir sicher.
Dann sah er wieder uns alle an, nahm einen kräftigen Atemzug. »Wer war es?«, zischte er im kräftigsten und bedrohlichsten Ton.
Erschrocken zuckte die Klasse zusammen. Mein Gehirn versuchte fieberhaft, den Mann einzuordnen. Wer war er? Wieso war er hier?
»Ich will verdammt noch mal, dass einer von euch eure scheiß Klappe aufreißt und sich schuldig bekennt!«, schrie er nun und haute mit der Faust auf den Tisch, sodass der ganze Raum erzitterte.
Der Religionslehrer stand inzwischen im Eck der Klasse. Still und verängstigt. Dieser Mix aus gehobener Sprache und vulgären Ausdrücken, lies mich vermuten, dass dieser Mann ein Reicher war, der gerade ausrastete.
»Ist das alles, was ihr zu sagen habt? Soll das alles sein? Meine Tochter hätte sich gestern fast umgebracht und alles, was ihr könnt ist Schweigen?« Das letzte Wort schrie er noch lauter, bis seine Stimmbänder bebten. Dann war alles still nur das wütende Schnauben des Mannes war zu hören, das sich jetzt wie das eines tollwütigen Hundes anhörte.
Ein Klopfen an der Tür des Klassenzimmers. Augenblicklich sahen alle zur Tür; hoffend auf Rettung.
Die kleine Schuldienerin stand erschrocken im Türrahmen. »I…ich wollte nur nach dem Rechten sehen…«, stotterte sie, ehe sie sich beängstigt von der Tür entfernte.
Ein kurzer Moment der Stille trat ein.
In mir hallten die Wörter des Mannes nach: Alles was ihr könnt ist Schweigen?! Soll das alles sein? Meine Tochter…umgebracht…alles was ihr könnt…Schweigen?! Dieses Durcheinander in meinem Hirn, lockte mich plötzlich auf eine ängstlich erahnte Fährte, die ich mit Furcht und Entsetzen anstrebte. Der Mann war Maras Vater! Eine Schockwelle lies meinen Körper erzittern. Mir wurde kalt und heiß zugleich. Ich spürte jeden Quadratzentimeter meines Körpers.
Mein Blick schnellte zu Claudia. Als ich in ihr Gesicht sah, stellte ich fest, dass sie sehr entspannt schien. Pam? Auch gelassen! Pam. Es war so als würde es sie nicht mehr geben.
Ein lautes Geräusch lies meinen Blick in die Richtung des Mannes springen. Er hatte auf den Tisch geklatscht. Zu meiner Überraschung zeichnete sein Gesicht keine Wut mehr. Es war Reue. Ja, in seinen Augen konnte ich einen Funken Reue wahrnehmen, aber auch ein wenig Verwirrung. »Entschuldigt, ich war wohl etwas unfair! Das tut mir leid!«, er machte eine Pause und kniff dann seine Augen zusammen, ehe er mit schmerzverzerrtem Gesicht fortfuhr.
»Es ist nur…ich habe mir Sorgen um meine Tochter gemacht und das kann einen in den Wahnsinn treiben! Ich bitte noch einmal um Entschuldigung!« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Der Religionslehrer starrte noch einige Momente fassungslos auf die Tür, als ob er das alles nicht recht glauben würde. Ich sah ihm aber auch deutlich an, dass er erleichtert war, den Mann endlich los zu sein. »Ja…ähm nach dieser kleinen…« Er suchte nach dem passenden Wort. »…Unterbrechung, wollen wir mit dem Unterricht fortfahren. Heute backen wir nämlich Kekse, die wir dann morgen bei der Weihnachtsfeier verkaufen!«
Normalerweise wäre unsere Klasse in Begeisterung ausgebrochen, doch nach diesem Vorfall musste sich der Lehrer mit einem zufriedenen Lächeln von uns begnügen.
»Hey, jetzt ist mein Pullover voll Keks Teig!«, schimpfte Leo und lachte.
»Das war ein Versehen, ehrlich!«, schrie ich und klang dabei ziemlich unglaubwürdig.
»Ja, klar, das war gaaanz klar ein Versehen!«, lachte Leo.
»Na warte, dir erteile ich auch eine Lektion…« Leo griff zum Mehlberg auf dem Küchenschrank.
»Nein!«, kreischte ich und unterdrückte einen Schrei, doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Gerade, als ich mich hinter der Kochinsel verbarrikadieren wollte, platzte der Religionslehrer in die Küche. Blitzschnell stand ich auf und stellte mich gerade hin; die Hände rasch in die Teigschüssel. Wir unterdrückten ein Kichern.
Leo nahm das Mehl und schüttete es auf den ausgewalzten Kuchenteig. Kurz sahen wir den Religionslehrer an.
Sein Blick schweifte zur Teigschüssel. »Wieso ist da kein Teig drinnen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, sah er auf das Mehlhäufchen, das jetzt den ausgewälzten Kuchenteig zierte. »Du hast wohl auch noch nie Kekse gebacken, was?«, schnauzte der Religionslehrer kritisierend. Anscheinend musste er den Frust über die Niederlage vorhin loswerden. »Die Jugend von heute ist ja noch dümmer als ich es vor zwanzig Jahren erwartet habe!« Er schritt auf die Kochinsel zu und begann mittels Mehl, Eiern, Butter und Zucker einen Teig zu kneten. »Jetzt schaut mir zu! Ihr müsst noch viel lernen!« Jetzt plötzlich war seine Klappe wieder groß.
Leo und ich warfen uns vielsagende Blicke zu. Ich kicherte kaum hörbar. Der Lehrer war so in seinem Element, dass er gar nicht bemerkte, wie wir eines unserer telepathischen Gespräche führten.
Es war irgendwie wieder wie früher; als ob jemand die Zeit um zwei Monate zurückgedreht hätte. Da war wieder dieses warme Feuer in Leos Augen, das ich so lange vermisst hatte. Dieses Feuer, das erloschen war und jetzt neu aufflammte.
Mir gefror beinahe das Blut in den Adern, als ich an den Mann dachte, der soeben in der Klasse aufgetaucht war. Ich hatte versucht, mir nichts anmerken zu lassen, dass ich mich unglaublich schuldig fühlte. Meist wusste ich nicht einmal, was ich fühlte, doch diesmal war es ein starkes Schuldgefühl – das wusste ich genau.
Ich sah zu Nelli, die Leo einen vielsagenden Blick zuwarf. Ich merkte kaum, dass sich meine Hände zu Fäusten ballten. Es ärgerte mich. Aber nein, ich war nicht eifersüchtig! Ich war es ganz bestimmt nicht! Soll Nelli doch glücklich sein!
Ich sah vor mich und hatte einen klebrigen Teigklumpen in der Hand. Was sollte das? Ich konnte nicht einmal Kekse backen!
»Soll ich dir helfen?« Luki stand hinter mir.
»Schon gut!«, antwortete ich knapp. Meine Stimme klang sehr gereizt und unfreundlich. Ich hatte das nicht beabsichtigt, doch ich wollte jetzt auch nicht gut drauf sein.
»Pam…«, wollte er beginnen.
»Schon gut hab ich gesagt!«, unterbrach ich ihn.
Mit aller Kraft knetete ich den Teig mit den ungleichmäßig vermischten Zutaten durch. Die Stückchen des gelben Dotters wollten sich einfach nicht mit dem Rest vermischen. Blöder Teig!
Ich konnte jetzt keine Kekse Backen! Ich war wütend und traurig zur selben Zeit. Ich konnte jetzt nicht glücklich Weinachten Feiern! Ich dachte an den Abend mit Nelli vor vier Jahren – ziemlich genau vor vier Jahren. Am 23. Dezember. Das erste Weihnachten ohne meinen Dad.
~
Wir lagen im Himmelbett von Pam und starren zu den Lichtern, die ihr Vater für sie aufgehängt hatte. Sie leuchteten, als wären es Sterne. Wir lagen einfach so da, unter eine Decke gekuschelt. Ich traute mich nichts zu sagen, weil ich nur daran denken konnte, dass Pam jetzt gerade, ihren Vater vermisste.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sie mich plötzlich fragte. »Wo möchtest du sein, wenn du dich an einen Ort wünschen könntest?«
Ich war verwirrt. Wieso fragte sie mich das? Trotzdem gab ich ihr eine Antwort »Nach Sibirien an die Küste.«
»Das find ich schön. Aber warum willst du das?«
»Weil ich dann am Strand entlanglaufen würde; in einen dicken Pulli gehüllt. Das Meer wäre aufbrausend, wild und kalt. Aber ich wäre nicht allein. Luki und du, ihr würdet logisch auch dabei sein.«
»Ja, ich würde mitkommen.«, sagte ich.
»Jeden Tag würde ich aufstehen, mir den Sonnenaufgang ansehen und daran denken, dass die Wissenschaft kompletten Schwachsinn erzählt.« Ihre Augen leuchteten voller Enthusiasmus.
»Warum eigentlich?«, fragte ich.
»Weil ich wüsste, dass hinter dem Horizont die Unendlichkeit ist.«
»Ja, das könnte sein…«, murmelte ich nachdenklich und etwas verträumt. Ich dachte daran, dass ich das eigentlich nicht glaubte – jedenfalls nicht so wie Nelli das meinte. Aber ich wollte die Erinnerung an die bestimmte Person, die mir das gesagt hatte, nicht ausgraben. Ihre Schönheit würde unerträglich sein. Also tat ich so, als würde sie nicht existieren. »Wir könnten unsere Pässe fälschen und alles hinter uns lassen und niemand würde uns finden«, sagte ich und ich sah wie Nellis Augen dabei aufleuchteten.
Es war eine schöne Vorstellung, doch es gab einen Hacken. Oder sogar mehrere. Nelli konnte ihre Eltern nicht einfach zurück lassen. Für sie war es nicht so einfach, wie für mich.
Ich hatte eine Mutter, die eigentlich keine war. Und ich hatte nicht so viele Freunde wie Pam. Ich Hatte nur sie und Lukas.
~
Jetzt dachte ich daran, dass ich das Angebot von Nelli hätte annehmen müssen. Jetzt war meine Welt endgültig zusammengebrochen. Meine Mutter war immer noch die selbe, ein komischer Typ hatte sich in unser Haus eingenistet und mein Bruder Hank war beim studieren. Was hielt mich noch hier?
Ich stellet mir vor, ich würde Nelli fragen, ob sie immer noch nach Sibirien wollte; ich stellte mir vor, sie würde ja sagen. Ich wusste, dass es bloß ein Traum von Nelli gewesen war; einer von den Träumen, die Kinder manchmal hatten, doch manchmal machten Träume die Realität erträglich.
Leo und ich hatten noch lange Spaß beim Kekse backen gehabt. Immer wieder hatten sich unsere Hände berührt. Wann immer das geschah, wichen wir erschrocken zurück. Dem folgte ein schüchternes, nervöses Lächeln.
Jetzt war ich zu Hause und dachte über alles nach. Leo. Mara. Und über meine Angst. Was war da zwischen uns? Fühlte er das kribbeln, wann immer wir uns berührten auch? Oder bildete ich es mir nur ein, weil ich an unsere schöne Zeit dachte. Ich war hin- und hergerissen. Denn was ich nicht wollte war, verletzt zu werden. In letzter Zeit war da ohnehin genug, was mich belastete oder weh tat. Da brauchte ich nicht auch noch ein doppelt gebrochenes Herz.
»Wo willst du hin, Pamela?« Meine Mutter kam ins Zimmer und sah, wie ich mir gerade meinen Mantel anzog.
Ich knöpfte den letzten goldenen Knopf zu. »Ich gehe noch kurz zu Max«, log ich.
»Du nimmst aber den Roller, oder?«
»Ja, Mum!«, entgegnete ich und versuchte nicht genervt zu klingen.
»Gut, das beruhigt mich! Bestell ihm einen ganz schönen Gruß von mir und sage ihm, dass die Weihnachtskekse fantastisch waren.« Sie lächelte ihr einstudiertes Lachen – stets proportional zum Anlass. Von wegen fantastische Kekse! Ich hatte die Kekse von Max heute morgen in der Tonne gefunden.
»Na klar«, antwortete ich schnell, ohne mir meine Wut anmerken zu lassen.
Ich wollte mich bei Lukas für mein Verhalten entschuldigen. Ich hatte echt nicht so abweisend zu ihm sein wollen. Als ich vor die Haustür trat, schneite es zum Glück nicht. Ich lief zu meinem Roller und holte den Helm unter dem Sitz hervor. Ich würde zur Turnhalle fahren, weil Luki jetzt gleich Training hatte. Die beißende Kälte ließ meine Hände taub werden. Gottseidank hatte mir meine Mutter noch Handschuhe in die Hände gedrückt. Sonst kriegst du noch raue Hände!, hatte sie zu mir gesagt. Nicht etwa: Sonst frierst du! Nein! Sie hatte gesagt: Sonst kriegst du raue Hände! Und sie hatte noch hinzugefügt. Ungepflegte Hände haben nur diese Ghettomädchen – und ich will nicht, dass man dich für so eine hält!
Als ich den Scooter zitternd vor der Halle abstellte, strömte immer noch Rauch aus dem warmen Auspuff. Allerdings handelte es sich dabei um Wasserdampf. So eiskalt war es. Erleichternd stellte ich fest, dass Lukas’ Roller ebenfalls dastand. Mit schlotternden beinen lief ich auf die große Eingangstür zu. Weiche Wärme strömte mir aus dem dunkeln Flur entgegen und umhüllte mich. Im langen Gang brannte keine Glühbirne. Nur das leuchtend grüne Schild für den Notausgang, ließ mich nicht in völliger Dunkelheit versinken. Dann merkte ich, wie mein Gesicht und meine Finger begannen aufzutauen. Trotz der Handschuhe hatte ich sie mir ziemlich abgefroren. Von der Haller her drang das Geräusch von Quietschenden Turnschuhen her; und das von der Pfeife des Trainers. Ich lauschte kurz an der Kabine, um zu wissen ob Lukas noch drinnen war. Ich wusste, ich hätte auch einfach in die Halle gehen können, doch ich mochte nicht so vor allen Leuten auftauchen und nach Lukas fragen. Außerdem wusste ich, standen die Chancen gut, dass Lukas der Letzte in der Umkleide war.
Ich hielt mein Ohr gegen die Tür im Gang. Ich vernahm tatsächlich nur wenige Stimmen. Genauer genommen waren es nur zwei. Eine gehörte Leo.
Die andere erkannte ich nicht. Die Stimme lachte. »Ja, ich würde sie auf jeden Fall weiterhin nageln!«
»Ich weiß nicht…«, hörte ich Leo sagen.
Es ging also um Nelli.
»Was, du weißt es nicht?«
»Ich meine, ich will nicht mehr mit ihr zusammen sein.« Leo klang ein wenig niedergeschlagen.
»Du hast doch selbst gesagt, dass sie ziemlich was draufhat.«
»Ja…«
»Na, also«, versuchte ihn die Stimme weiterhin zu überzeugen.
Dann war es ruhig.
Mein Herz klopfte wie verrückt.
»Du!«, ertönte Leos Stimme jetzt wieder. »Weißt du was ich heute noch vorhab’?« Dabei trug seine Stimme falsche Unschuld in sich.
»Oh Mann, so gefällst du mir!«
Ich vernahm ein Händeklatschen und dann waren sie, den Geräuschen nach zu beurteilen, aus der Umkleide gegangen.
Dieser Arsch! Ich fühlte Zorn. Ich ärgerte mich derart über Leo, dass ich beinahe vergaß, dass ich ebenso auf Nelli wütend war.
Ich entschied mich zu warten, bis Lukas in die Umkleide kommen würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passierte, war zwar nicht sehr groß, aber ich musste es versuchen! Ich wollte nur nicht die große Halle betreten. Alle würden mich anstarren…
Nach einer Weile vernahm ich tatsächlich Schritte, die sich in die Umkleide bewegten. Ich musste es riskieren! Wenn es jemand anderes sein würde, dann würde ich einfach vorgeben, ich würde Leo Hausaufgaben oder so bringen.
Mit klopfen in der Brust trat ich die die Tür ein. Als ich Lukas erblickte, schlug mein Herz zu meiner Verwunderung noch schneller.
»Hey!«, brachte ich zerknirscht hervor.
»Pam, was macht du denn hier?« Es klang überrascht, aber gleichzeitig huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ich…ich…« Verdammt! Ich hatte mir nicht überlegt, wie ich beginnen sollte und wie ich es ihm erklären sollte.
»Ja?« Jetzt grinste er beinahe belustigt und seine süßen Eckzähne kamen dabei zum Vorschein.
Grundgütiger, warum ging mir genau jetzt wieder der Moment durch den Kopf, als wir uns in diesem Raum geküsst hatten. Ich muss aufhören zu denken! Ich muss was sagen! »Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut…«
»Das brauchst du nicht! Ich kann dich gut verstehen…das mit Nelli…und so…«
»Doch! Ich hab mich ziemlich danebenbenommen. Und…und ich möchte, dass du weißt, dass ich dich mag…« Oh mein Gott, bin ich wahnsinnig? In welche Richtung lenk’ ich das Gespräch? Umdrehen! Umdrehen!
»Ich mag dich auch, Pam…« Er kam auf mich zu.
In diesem Moment wollte ich nichts lieber, als seine Lippen auf meinen zu spüren. Ich sah seine verschwitzten Haare, die so verstrubbelt waren; seine vollen Lippen; versank in seinen dunklen Augen. Grundgütiger!
Jetzt stand er vor mir. Er berührte meine Hand mit seiner und ich spürte das kitzelnde Gefühl. Es prickelte unter meiner Haut. Er nahm meinen Kopf behutsam in seine andere Hand und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich konnte nur in seine Augen sehen. Dann strich er mir mit seinem Finger sanft über meine Lippen. Dieser Blick! Niemand sonst hatte mich je mit diesem Blick angesehen. Dieser Blick! Er sah mich an, so, als wäre ich das kostbarste auf dieser Welt.
»Ich kann das nicht!«, sagte er plötzlich.
»Was?!«, keuchte ich. All der Strom war mir einem Mal aus meinem Körper gewichen und ich kam mir vor wie ein exprimierter Waschlappen.
»Weil du mit Max zusammen bist.« Jetzt mied er den Blickkontakt mit mir.
»Ich mach mit ihm Schluss!«
»Nein, das musst du nicht!«, widersprach er.
»Doch, ich mach’s!«
»Aber…«, wollte er ansetzen, doch ich unterbrach ihn.
»Ich mach’s weil ich es will!«
»Gut.«
Ich hatte mir erwartet, dass er mich vor Freude Umarmen würde oder so, doch er lächelte nicht einmal. Aber als ich in seine Augen blickte, strahlten sie irgendwie auf eine Weise, die scheinbar nur ich sehen konnte.
»Ich geh jetzt gleich zu ihm.«
»Was?! So spät? Das ist doch viel zu gefährlich!«
»Ich bin mit dem Roller da.«
»Wenn du willst kann ich dich fahren.«
»Lukas!«, mahnte ich ihn.
»Okay, aber pass auf!«
»Ja, das mache ich«, versprach ich ihm.
»Guter Wurf, Vento!«, lobte mich mein Trainer, als ich gerade mit einen Korbleger gepunktet hatte.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Pam würde mit Max Schluss machen. Für mich! Ich war total in Fahrt und sprühte nur so vor Energie. Vermutlich war es deshalb schon die ganze Zeit so gut gelaufen. Es war unser letztes Training vor den Weihnachtsferien.
Leo und ich lieferten ein perfektes Zusammenspiel mit der Mannschaft.
Als sich alle in die Umkleiden begaben, winkte mich mein Trainer zu sich. Er ging mit mir in sein kleines Büro neben den Umkleiden. In dem Raum standen ein paar Pokale und Poster von Basketballspielern hingen an den Wänden. Er setzte sich an den spärlichen Schreibtisch und bedeutete mir gegenüber von ihm platz zu nehmen.
»Um was geht’s Coach?«
»Nun ja, wie dir vielleicht bereits aufgefallen ist, bist du einer der besten Spieler im Team…«
Mein Herz begann höher zu schlagen.
»Hast du dir schon ein Mal überlegt, der Nationalmannschaft beizutreten?«
Meine Augen leuchten. »Ja, das wäre mein Traum!« Ich war begeistert. Nie wieder würde ich den Blödsinn in der Schule lernen müssen, stattdessen konnte ich einfach das machen, was ich über alles liebte.
»Nun, dann werde ich ab jetzt mit dir darauf hinarbeiten, dass du dann vorbereitet bist, wenn dir der Trainer der italienischen Nationalmannschaft bei einem Spiel zusieht.«
Ich konnte vor Aufregung nur noch daran denken, wie ich bei der Europameisterschaft in einem weiß-blauem Shirt über den Platz dribbelte.
»Lukas?«
»Äh, ja.« Ich sah wieder zu ihm auf.
»Dieses Spiel, auf das wir hin arbeiten wird darüber entscheiden, ob du aufgenommen wirst.«
Eine Schockflut überkam mich. »Wann ist dieses Spiel?«
Mein Trainer lachte über meine Aufregung. »Keine Sorge du hast noch fast ein ganzes Jahr Zeit.«
Mir viel ein Stein vom Herzen. »Huch«, machte ich und strich mir über die Stirn. Plötzlich musste ich an Leo denken. Er war auch ziemlich gut.
»Du wirst jetzt einen Trainingsplan von mir bekommen und auch einen Ernährungsplan, um deine Leistung optimal zu verbessern.«
Ich fragte ihn noch viele Dinge und merkte nicht wie schnell die Zeit dabei verging.
Als es schon elf Uhr war, verabschiedete ich mich von meinem Trainer und wollte schon zur Tür hinaus, doch dann blieb ich abrupt stehen und drehte mich zu ihm um. Sein Kopf mit den grauen, kurzen Haaren blickte mich fragend an.
»Wieso haben Sie Leo eigentlich nicht auch gefragt?«
Pause.
»Manchmal reichen die Körperlichen Voraussetzungen nicht.«
Ich wusste sofort, was er damit meinte. Ich war größer als Leo; von Natur aus kräftiger.
Ich radelte auf der dunklen, mit gelben Licht ausgeleuchteten Straße nach Hause und war überglücklich. Nur eine Sache war wie ein winzig kleiner Fleck auf einem strahlend weißen Tischtuch. Dieser Fleck war Leo. Denn in diesem Moment war mir eine Sache so sehr bewusst, wie sie mir scheinbar all die vergangene Zeit nicht klar gewesen war: Das Leben war nicht fair. Das war es niemals gewesen.
Diese Nacht schlief ich nicht besonders gut. Ich hatte Halsschmerzen vom kalten Wind; dem rauen Wetter. Von Weihnachtsstimmung keine Spur.
Was war eigentlich Weihnachten? Das Fest der Liebe? Für mich war es das immer gewesen, doch dieses Jahr schien einfach alles schief zu gehen. Ich wusste nicht wie ich mich fühlen sollte. Glücklich wegen Leo? Traurig und schuldig wegen Mara? Oder ängstlich wegen dem Einbruch? Ich drohte in dem Sumpf zu versinken. Hilflos schlug ich mit den Armen um mich, doch je mehr ich mich widersetzte desto tiefer sank ich; drohte zu ersticken; wollte um Hilfe schreien, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich versuchte mit den Beinen zu strampeln – vergebens. Ich war kurz vor dem Tod. Ich wusste, dass ich sterben würde, doch ich kämpfte weiter. Kämpfte, auch wenn ich merkte wie das Feuer des Lebens in mir erlosch; langsam und qualvoll. Ich spürte, wie ich zu schweben begann. Jetzt war ich erlöst. Nichts als Leere umgab mich. Schwebte in der Leere. In der Leere wo alles das Nichts war.
Ein klirrender Schmerz ließ mich von der einen Sekunde auf die andere erwachen. Ich war aus dem Bett gefallen. Ich genoss den pulsierenden Schmerz an meiner rechten Hüfte und an meiner Schulter. Genoss den kalten Luftzug, der über meinen schweißnassen Körper streifte und ihn erzittern ließ. Mit bebendem Leib raffte ich mich auf. Schwindel überkam mich und ich merkte kaum wie mir davon schwarz vor den Augen wurde, in dieser Dunkelheit.
Erst nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das düstere Zimmer. Die Bäume vor meinem Fenster wogen sich im Wind, sodass sie sich wie schleichende Schatten im blassen Licht der Straßenlaternen bewegten. Nur ein böser Traum! Nelli, das war nur ein böser Traum! Ich war wieder in der Realität angekommen, doch viel besser war die auch nicht! Ich war tot… Das Gefühl tot zu sein. Ein süßer Sinnesreiz. Wie ein verfaulter Apfel- süß und verdorben. Ich wischte über das Gesicht, in der Hoffnung meine Gedanken würden sich so verflüchtigen. Eine schrille Sirene ließ mich augenblicklich aufspringen. Meine Ohren dröhnten vor Schmerz. Was war geschehen? Von der einen auf die nächste Sekunde wurde die Tür meines Zimmers aufgerissen. Im Türrahmen zeichnete sich die wage Silhouette eines großen und starken Mannes. In seiner rechten Hand befand sich ein Gegenstand in der Form einer Pistole.
»Nelli! Kannst du deinen Wecker das nächste Mal nicht ein bisschen leiser stellen?«, schrie mein Vater wutentbrannt.
»Was? Ist schon Morgen?« Verwirrt aber auch erleichtert richtete ich meinen Blick auf seine rechte Hand. Die Schachtel mit seinen Schlaftabletten! Klar!
Mein Vater nahm seit kurzem regelmäßig Schlaftabletten, um besser schlafen zu können. Doch richtig gut schienen sie ja bei ihm nicht zu wirken.
Schützend vor dem grellen Flurlicht, hob ich meinen Unterarm vor mein Gesicht. »Sorry, Dad! Das kommt nicht mehr vor, versprochen.«
Mein Vater zog die Luft durch seine Zähne und seufzte. »Okay, dieses Mal will ich mal nicht so streng sein. Aber wehe das klappt in Zukunft nicht!« Mein Vater schlenderte Richtung Bad. Armer Dad!
Seit Wochen zeichneten sich dunkle, violette Schatten unter seinen Augen. Er hat sich verändert, seit er seinen Job in Verona verloren hat. Es muss schwer für ihn sein, zu akzeptieren für die eigene Familie nicht mehr sorgen zu können.
Ich hatte ihn einmal gefragt wieso er sich nicht einfach einen anderen Job sucht. Darauf hatte er mir erzählt, dass er mit achtzehn Jahren etwas ganz Dummes angestellt hatte. Er hatte mit seinen Freunden im Betrunkenen Zustand ein Auto zertrümmert.
~
»Das«, sagte er »steht jetzt bis zum Ende meines Lebens in meinem Strafregister. Und wenn ich mich für einen Job bewerben will, den auch noch ein anderer möchte, bekommt ihn immer der andere. Alles nur wegen ein paar Zeilen im Strafregister.« In seinen Augen konnte ich sehen, dass er sich wünschte er hätte niemals ein Auto zerstört. Und da war noch etwas anderes in seinen Augen. Etwas, dass noch viel bedeutender und schmerzhafter war, als die Zeilen im Strafregister.
»Und wieso hat Mr. Malotki dich dann eingestellt?«
Er hob überrascht die Augenbrauen. So, als wäre er auf solch eine Frage nicht gefasst gewesen. »Weißt du, meine Sonne, du bist noch etwas zu jung, um das zu verstehen. Manchmal geschehen Dinge im Leben, die man nicht so geplant hat.«
~
Ich konnte es kaum fassen, dass es schon Morgen war. Mühsam raffte ich mich auf und knipste das Licht an. Die brennende Helligkeit lies meine Augen für den Bruchteil einer Sekunde erblinden. Ich genoss den Schmerz meiner veilchenblauen Hüfte schon längst nicht mehr. Mit einem beschwerlichen Ruck öffnete ich die große schwere Tür meines Kleiderschrankes. Heute würde die Weihnachtsfeier in der Schule stattfinden. Dieses Jahr fieberte ich der Veranstaltung längst nicht so sehr entgegen, wie das vergangene Jahr. Trotzdem wollte ich mir etwas Passendes dazu anziehen. Eine weiße Bluse, weinrote Skinnyjeans, dazu schlüpfte ich in braune Fellstiefel und wickelte mir ein Tuch um den Hals.
Heute Morgen hatte ich Lukas gebeten, mich von zu Hause abzuholen. Er war sofort gekommen, doch anstatt mit mir über alles zu reden, hatte er gleich angefangen von Pam zu erzählen.
»Pam hat gestern mit Max Schluss gemacht! « Lukas‘ Stimme klang vor Aufregung ganz hoch. »Das ist doch der Beweis dafür, dass sie mich mag und mit mir zusammen sein will!« Er sah mich erwartungsvoll an. Was erhoffte er sich von mir?
»Schon für dich!«, sagte ich ohne jegliche Begeisterung. Mir war im selben Moment bewusst, was für eine schlechte Freundin ich für ihn war.
»Ist was, Nelli?« Einen kurzen Moment lang sah er mir prüfend ins Gesicht, fuhr dann aber gleich wieder fort. »Schaust ein wenig müde aus! Auf jeden Fall kann ich nur sagen Endlich! Endlich hat sich Pam für mich entschieden! Sie ist die allerschönste und allertollste, die man sich vorstellen kann.« Luki war in den Wolken, während ich nur stumm auf den Boden sah. Wieder blickte er mich prüfend an. »Zusammen mit dir natürlich…«, korrigierte er sich. »Was ist denn mit dir bloß los? Sag doch mal was!« Luki klang ein wenig wütend.
»Ja, das werde ich dir. Du gehst mir auf den Keks! Genauso wie deine Freundin Pam. Deine Probleme möchte ich haben, weißt du!«, schrie ich ihm ins Gesicht ehe ich mit schnellen Schritten voraus marschierte.
Ich kam jedoch nicht weit, da Luki mich am rechten Arm zurück riss. »Was ist denn los zwischen euch beiden? Mir kannst du alles sagen!« Lukas sah mir mit seinen dunkelblauen Augen tief in meine.
»Pam hasst mich, das ist los!« Gleich nachdem ich das gesagt hatte, fing ich an zu heulen. Luki nahm mich in seine starken Arme.
Ich stellte den letzten Teller Plätzchen auf den Buffettisch, im gleichen Moment stürzte sich die ganze Klasse hungrig auf die weihnachtlichen Süßspeisen. Ausgenommen Lukas, der erst einmal alles mit seinem Handy filmen musste.
Ich schnappte mir eine von den Nussschnecken und setzte mich neben Jill, Leo und Trish. Luki kam mit dem Handy auf mich zu und machte eine Nahaufnahme von meinem Mund. »Man, Luki geh da mal weg!«, regte ich mich auf und schob das flache Ding von meinem Gesicht weg.
»Menschen hautnah«, sagte er amüsiert und setzte einen Gesichtsausdruck auf, als hätte er eine Vision. »Leoard, sie schließen ihren Mund während dem Mahle nicht«, drückte sich Luki im übertrieben gestelzten Ton aus, während er auch ihm aus sehr kurzer Entfernung an den Mund filmte.
»Alter, du bist ein Eiertreter!« Leo seufzte und riss seinen Mund nun aus Absicht so weit auf, wie er konnte.
»Sag mal Nelli, wo bleiben denn heute Pam und Claudia?«, Trish biss genüsslich in ihr großes Stück Weihnachtsstollen. Lukas und Leo standen auf, um sich noch etwas am Tisch zu holen.
»Kein Plan!«, antwortete ich nur knapp, weil es mir unangenehm war, von Pam und Claudia zu reden.
»Naja, Pam kann ja auch bleiben wo sie ist! Die hätte uns sonst noch das ganze Buffet abgeräumt. Wundert mich eigentlich, dass sie noch nicht fett geworden ist!«
Ich schwieg über den Kommentar von Trish. Gott sei Dank hatten sie Luki und Leo nicht gehört, die jetzt gerade mit zwei gehäuften Tellern Keksen zurückkamen. Sie hätten Trish für ihre Bemerkung vielleicht mehr als nur einen bösen Blick zugeworfen.
»Woah, ist die Nussschnecke klebrig! Geht jemand mit mir die Hände abwaschen?«, sagte ich mit einem kritischen Blick auf meine pappigen Finger.
»Jep!« Jill stand auf und folgte mir.
»Im Kunstturnen bin ich jetzt für die Landesmeisterschaft zugelassen!«, erzählte sie mir als wir die Mädchentoilette betraten. Ihre Augen funkelten vor Freude.
»Das ist ja…«, doch weiter kam ich nicht. Mir blieb das Wort im Rachen stecken. Geschockt blickte ich auf den großen Spiegel. Darauf stand mit großen Lettern aus Blut. »Ruhe in Frieden, Pam.«
Das Blut rann leise den Spiegel herab.
Jill starrte entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen auf das Werk. »Was ist mit Pam?«, keuchte Jill erschrocken. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sie ihren Blick auf mich gerichtet hatte.
Meiner ruhte noch immer auf dem großen Spiegel. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, um mich davon zu vergewissern, dass es sich hierbei nicht bloß um eine Illusion handelte; eine optische Täuschung. Das Aufschlagen meiner Lider, zog mich mit einem Ruck unsanft wieder zurück; zurück in die Realität. »Ich weiß es nicht, Jill. Ich weiß es nicht…«, antwortete ich erst jetzt im brüchigen Ton. »Ich weiß nur, dass wir Hilfe brauchen!«
Jill rannte in die Klasse. Ich hörte wie sie die Tür der Klasse aufschlug. Die kurz eintretende Stille. Jills laut kreischende Stimme. Die Ruhe vor dem Sturm. Dann erschrockene Rufe und Schuhe, die klatschend über den Linoleumboden stampften.
Luki kam als erster in die Toilette gestürmt. Er schnaufte so hart, wie nach einem seiner Basketballspiele. »Wer war das?«, japste er bestürzt. Er sah sich jeden unserer Klasse genau an, die jetzt dichtgedrängt und neugierig im Türrahmen stand. »Das ist doch n‘ Scherz!« Luki hoffte auf eine Rückmeldung. Eine kleinliche Stimme, die unter Beschämen zugab, dass dies alles nur ein Streich war. Doch diese Stimme meldete sich nicht, sie würde wohl nie das Wort ergreifen. »Scheiße, Scheiße, Scheißeeee!«, brüllte Lukas und schlug für jedes Wort einmal auf den Trockentücherspender.
»Lukas, jetzt beruhige dich doch einmal, vielleicht ist das doch alles nur ein schlecht gemeinter Scherz…«, versuchte ihn unsere Musiklehrerin zu beruhigen. »Das ist sicher nur Wasser mit roter Lebensmittelfarbe!«, setzte sie mit unsicherem Ton fort.
»Ich bitte Sie, das ist Blut! Sehen Sie…« Ohne mit der Wimper zu zucken tauchte Lukas seinen Zeigefinger in das Blut und leckte ihn ab. »Das ist Blut! Wenn Sie es mir nicht glauben, dann kosten Sie doch!« Er tauchte den Finger noch einmal in das Blut und hielt ihn der Lehrerin direkt vor die Nase.
Die trat erschrocken einen Schritt zurück. Lukas war gerade kurz vor dem Durchdrehen, das sah ich an seinen Augen.
Wieder schlug er gegen den Tuchspender; schlug die Handflächen vor die Augen. »Ich hätte Pam gestern Abend nicht allein zu Max gehen lassen dürfen…« Schweißperlen zeichneten sich auf Lukis Stirn.
»Mach dir keine Vorwürfe, das bringt uns jetzt auch nicht weiter!«, sagte ich im sanften Ton, obwohl ich selbst drohte gleich zusammenzubrechen.
Trish fischte jetzt ihr Handy aus der Hosentasche und verständigte die Polizei.
Langsam verrann das Blut auf dem Toilettenspiegel, sodass die Schrift immer undeutlicher zu erkennen war. Verzweifelt stampfte Luki in der Toilette auf und ab. Trat die Türen der Kabinen auf, sodass sie krachend aufschwangen, aber ich hielt ihn nicht auf. Als er gerade den Mülleimer umstoßen wollte, hielt er kurz inne. Er schien wie gelähmt. Ich folgte seinem Blick. Und dann sah ich es. Unter dem Waschbecken lag Pams Lieblingshalstuch. In Blut getränkt.
»Dieses Schwein. Dieses perverse Schwein!«, schrie er mit kratzender Stimme und mit hochrotem Kopf. »Mit dir werde ich abrechnen! Ich schwör’ es, wenn du Pam nur ein Haar krümmst! Mach dich auf eine Tracht Prügel gefasst!« Entschlossen zwängte sich Lukas jetzt an allen vorbei und rannte den Gang entlang. Die anderen blieben erschrocken stehen, nur ich rannte ihm rufend nach. »Was hast du vor?«
»Ich werde Max einen Besuch abstatten, er soll Pam endlich in Ruhe lassen!«, rief er wutentbrannt ohne sich dabei nach mir umzudrehen.
»Luki, ich verstehe nicht! Was hat Max jetzt auf einmal mit der Sache zu tun?«, rief ich ihm verwirrt hinterher, als wir schon das Treppenhaus erreicht hatten.
»Er hat Pam entführt!« Als er das sagte, blieb er stehen und sah mich an.
»Was? Was bringt dich dazu, das zu behaupten?«, zischte ich ihm lautstark ins Gesicht. Unsere Köpfe waren sich dabei sehr nahe.
»Gestern, nachdem ihr so gestritten habt, da bin ich noch zu ihr und Pam und ich haben noch geredet…« er machte eine kurze Pause und schluckte. »Sie sagte, dass sie mit Max Schluss machen würde! Und dann ist sie mitten in der Nacht einfach aus dem Haus gerannt. Ich hab ihr gesagt, dass ich mitkomme, doch sie meinte, das müsste sie alleine regeln...« Er keuchte schwer. Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen. »Und ich hab sie gehen lassen…« Er fasste sich mit der Hand an die Stirn und seufzte.
»Max würde wohl kaum Pam entführen nur weil sie mit ihm Schluss gemacht hat!«
»Oh doch, das traue ich dem kranken Schwein zu! Und wer weiß, was er mit ihr macht...« Ohne mir die Change zu geben ihm zu widersprechen, rannte Lukas weiter.
Ich hastete ihm nach. Wir waren jetzt schon am Ausgang des Schulgebäudes. Mit einem kräftigen Ruck öffnete Lukas die gläserne Tür, im selben Moment kam uns ein eisiger Windzug entgegen. Für einen kurzen Augenblick sah ich wieder den blutverschmierten Spiegel, vor meinen Augen. Wie die Lettern immer undeutlicher wurden. Dann kam mir ein Gedanke. Der Täter konnte noch nicht weit sein. Er musste die Nachricht kurz bevor Jill und ich ins Bad gekommen waren geschrieben haben, sonst wäre die ganze Schrift längst verronnen. Luki und ich rannten gegen den Wind zu seinem Fahrrad hin.
»Luki, es kann gar nicht Max gewesen sein! Er ist doch jetzt gerade in der Schule und der Entführer kann die Nachricht nur kurz bevor wir das Mädchenklo betraten geschrieben haben!«, schrie ich ihm so laut ich konnte hinterher, doch meine Rufe wurden vom böigen Wind vertragen. Vielleicht hatte mich Lukas ja doch gehört, er tat aber jedenfalls so, als hätte ich nichts gesagt. Ich blieb stehen; sah wie Lukas neben der Kolonne von Fahrrädern vorbeilief. Zu meiner Überraschung konnte ich Lukis Fahrrad nirgendwo erblicken. Luki schien es aber nicht merkwürdig, dass sein Rad nicht da war. Stattdessen steuerte er zielstrebig auf seinen alten, blauen Skooter zu. Er zog den Schlüssel dafür aus den Hosentaschen, holte den Helm unter dem Sitz hervor und lies das Fahrzeug anspringen. Normalerweise hätte ich Luki folgendes nie gefragt, weil er den Führerschein in der dritten Mittelschule absolviert hatte und seither nicht mehr Motorrad gefahren war, doch jetzt hatte ich viel zu viel Angst um Pam. Was wenn sie nicht mehr auftauchen würde? Das Knattern der Maschine vor mir erinnerte mich Luki die Frage zu stellen.
»Darf ich mitkommen?«, schrie ich laut, sodass meine Stimme nicht vom Motorengeräusch übertönt wurde.
Luki nahm seinen Helm ab. »Hier nimm du, den!« Ohne Zeit zu verlieren, streifte mir Lukas den Helm über den Kopf.
Ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Die Straßen waren rutschig, weshalb Lukas besonders Acht geben musste. Ich hatte die Arme um seine Taille geschlungen. Ich spürte wie er am ganzen Leib zitterte. Während der Fahrt geisterten mir tausend Gedanken durch den Kopf. Pam. Hatte Max sie wirklich entführt? Aber das konnte doch nicht sein! Auch Max hatte heute Unterricht. Um ca. halb neun hatten ich und Jill die Nachricht auf dem Spiegel entdeckt, also konnte deren Verfasser nur etwa fünf Minuten davor hier gewesen sein, um die Botschaft zu schreiben… War Pam immer noch meine beste Freundin? Ich erinnerte mich wieder an all die schönen Momente, die wir zusammen erlebt hatten. Pam hatte in der Grundschule immer gepetzt, nur mich hatte sie nie verraten. Auch nicht als ich ihr einmal den pinken Glitzerstift gestohlen hatte. Da waren wir noch keine Freundinnen gewesen. Ich habe ihr den Stift wieder zurückgegeben und sie hat mir ihren anderen in Blau geschenkt.
»Der passt zu deiner Augenfarbe«, hatte sie gesagt. Von da an waren wir Freundinnen. So einfach war das.
Ich war oft neidisch auf Pam gewesen. Sie war immer hübsch und gut drauf gewesen. Wie sie es jetzt noch immer war. Was würde aus meinem Leben werden, ohne Pam? Ich fühlte nur Leere. Doch weil ich nicht am Durchdrehen war, schloss ich daraus, dass ich gar nicht in Betracht zog Pam zu verlieren. Ich konnte sie nicht verlieren.
Lukas hielt vor dem Battista-Alberti-Gymnasium, der Schule von Max. Er stellte den Skooter einfach auf den Gehsteig.
»Komm!« Er nahm mich an der Hand und zerrte mich mit. Der Wind blies mir das Haar ins Gesicht, während Lukas und ich über den Schulhof rannten. Wir wussten, wo das Klassenzimmer von Max war, weil wir ihn mit Pam einmal von der Schule abgeholt hatten. Luki steuerte so zielstrebig und schnell darauf zu, sodass ich beinahe nicht nachkam.
»Gleich kannst du was erleben, du Bastard!«, brummte Lukas wutschnaubend. Man merkte deutlich, wie schwer es ihm viel zu rennen und gleichzeitig zu sprechen. Am liebsten hätte ich ihn aufgehalten, doch das hätte höchstwahrscheinlich keinen Sinn ergeben, denn Lukis Gesichtsausdruck verriet, dass er Max in diesem Moment schier umbringen wollte. So voller Wut und Hass hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich glaubte nicht daran, dass es Max war. Und während ich das dachte, strömte eine eisige Schockflut durch meinen Körper. Lies das Blut in meinen Adern gefrieren. Jedes einzelne Härchen meines Körpers sträubte sich zu Berge. Wer war es dann? Vielleicht jemand, der im Stande war Pam zu töten? Ich hatte ja gedacht, dass das Blut nur zur Abschreckung dienen sollte, aber was wenn das wirklich Pams Blut gewesen war? Vielleicht war sie auch schon tot…vielleicht war es schon zu spät.
Fortsetzung bald erhältlich. Bei Nachfrage werde ich weitere Kapitel online stellen.
ACHTUNG: Dies ist nicht das Ende des ersten Teils!
WARNUNG: Der zweite Teil der Trilogie "Wasserblüten" (Klappentext eingeschlossen) könnte Spoiler enthalten!
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2017
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