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Das Schicksal klopft nicht an die Tür

Das Schicksal klopft nicht an die Tür

Anna Vanilla

 

1. Louann

Wenn ich so ernsthaft über das Leben nachdenke, dann hat eigentlich nie etwas einen Sinn ergeben. Ich komme zu dieser Devise, weil ich mich eigentlich jeden Tag wie jemand anderes fühle.

Für die einen bin ich Einweg-Lou, das Mädchen, das sich für jedes Wesen, das einen Penis besitzt, ausziehen würde und in ihren schwarzen Lederstiefeln und schwingenden Hüften durch die Flure der Schule schlendert.

Andere sehen in mir eine geldscheißende Zicke, deren Auffassung von Menschen grundsätzlich, die als Mittel zum Zweck ist.

Der Rest sieht in mir wohl einfach die Schwester von Pat, dem Möchtegern-Womanizer mit den dämlichen T-Shirts, die eigentlich nie jemand wirklich witzig gefunden hat.

Wir haben am gleichen Tag zur beinah selben Zeit das Licht der grellen Scheinwerfer im Kreissaal erblickt. Angeblich sind sich Zwillinge so ähnlich. Wir beide sind jedoch eher auseinanderdriftende Extreme. Pat hat wohl die Unbeholfenheit und das nicht gerade schmackhafte Aussehen geerbt, ich dagegen all die Reinheit, all das dahinter verborgene Böse.

Wer weiß schon, wer ich wirklich bin und ob ich je jemand war. Vielleicht bin ich am Ende nie Louann Glenford gewesen.

Ich sehe hinaus, in den schier endlosen Atlantischen Ozean. So viel Ungesehenes liegt jenseits. Ich blicke hinunter. An den Klippen entlang. Die steile Wand beginnt an meinen Zehenspitzen und endet im endlos tiefen Meer. Ich kenne die Weite nicht. Kenne die Weite nicht, die Tiefe dafür umso besser.

Bevor ich springe, denke ich noch kurz nach, wer mich überhaupt vermissen würde.

2. Narome

 

Wie jeden Freitagabend hocken Kendrik und ich bei Roet im Pavillon und rauchen, bis wir dem Dunst am Himmel Einhalt gebieten.

Unser letztes Jahr an der Highschool hat Anfang der Woche begonnen. Es ist Ende August und an der Küste South Carolinas auch noch in der Nacht herrlich warm.

„Auf jeden Fall hat Rome ein Gedicht für diese Nadia geschrieben.“ Kendrik lacht sich halb kaputt, als er das zerknitterte Stück Papier hier vor Roet auf den Tisch wirft. Sein makelloses Zahnpastalächeln kommt natürlich auch in dieser Situation gut.

„Das stimmt so nicht!“, verteidige ich mich. „Es ist kein Gedicht! Mehr so eine Widmung.“

„Klar!“ Kendrik grinst vielsagend. Es reicht bloß das Zucken seiner Mundwinkel und er sitzt am längeren Hebel. Das gilt auch, wenn es um das andere Geschlecht geht. Er hat den ganzen Aufwand, den ich so betreibe nicht nötig. Auch wenn er sich noch so idiotisch aufführt, sein selbstgefälliges Grinsen regelt das schon. Manchmal wünsche ich mir ein bisschen mehr so wie er oder mein älterer Bruder Pablo zu sein. Sie wissen einfach wie man sich selbst in ein gutes Licht rückt und einen vorteilhaften Auftritt bei den Chicas hinlegt.

„Gedicht hin oder her“, wirft Roet ein, „er hurt wenigstens nicht so in der Gegend rum.“ Sie sitzt gegenüber von mir und hat die Chipsschüssel zwischen ihre Beine geklemmt.

Aus der Bluetooth-Box auf dem Tisch dringt Chantaje von Shakira. Ich verstehe jedes Wort, das aus der Kehle der sexy Kolumbianerin kommt. Oft vergesse ich, dass nichts als spanisches Blut durch meine Adern fließt. Ich bin erst mit fünf hierher, an die Westküste Amerikas gezogen. „La tierra de los libres.“, hat mein Großvater früher immer gesagt. Das Land der Freiheit.

Jetzt wo ich hier bin, erscheinen mir die Worte meines Großvaters manchmal mehr als suspekt.

„Was soll das jetzt heißen?“, meint Kendrik irritiert, jedoch gleichermaßen ruhig, nimmt einen kräftigen Zug von seiner Zigarette.

„Dass dein Teil eigentlich schon längst hätte abfallen sollen.“ Sie grinst schelmisch in seine Richtung und zwinkert mir dann zu.

„Mein Teil?“ Er grinst wieder das Grinsen, das ihn einfach immer rettet. Würde ich genau dasselbe in so einer Situation sagen, würde man mir entweder vorwerfen, ich hätte einen kleinen Schwanz, oder ich wäre schlicht und einfach als schwul abgestempelt worden.

„Ja, dein Teil!“ Roet wartet herausfordernd auf eine Reaktion von Kendrik und zieht dabei an einer Kordel ihres Hoodies. Sie trägt eigentlich bloß diese Dinger. Als gäbe es keine andere Möglichkeit, sich zu kleiden. An deren Kordeln spielt sie dann immer so, als wären es ihre Haare, die sie so gut wie immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat oder zu einem unordentlichen Dutt.

„Wenn wir über mein Teil sprechen, werden bloß alle wieder neidisch, also zeige ich euch meine Großzügigkeit mit meinem weitherzigen Schweigen.“ Er lässt sich in seinen Sessel sinken. „Und wie läuft’s beim Ballsport?“, fragt er an Roet gewandt, die die Zweideutigkeit in seiner Stimme sofort erkennt und daraufhin gleich abwinkt.

„Weißt du, dass es zwei neue Schüler auf der Schule gibt?“, wendet sich Roet dann an mich.

„Nein... Ich war doch beim Laufen heute.“ Ich laufe im Team der Schule. Blöd nur, dass dies die Mädchen, im Gegensatz zum Basketballteam, ziemlich kalt lässt. Bei welchem Team Kendrik ist, ist wohl unschwer zu ahnen.

„Genau!“ Sie tippt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Sorry, ich wusste es doch! Aber du hast nichts verpasst, sie haben sich eh nur kurz die Schule angesehen und mit dem Direktor geredet. Am regulären Unterricht haben sie noch nicht nicht teilgenommen.“

„Und wie sind sie so?“

„Das Mädchen ist verdammt heiß!“, wirft Kendrik ein. „Ich glaub, die knall ich als Erster.“

„Also von der würd ich die Finger lassen“, rät ihm Roet. „Denk nur an die ganzen Geschlechtskrankheiten!“

„Du übertreibst es mal wieder!“, stelle ich klar.

„Ich meine es ernst.“ Sie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette.

Ich selbst rauche nicht. Dafür ist mir das Laufen viel zu wichtig. Höchstens dann und wann mal Gras.

„Und woher willst du wissen, dass sie mit jedem schläft?“, frage ich.

„Komm schon, das wittert man ja zehn Meter gegen den Wind!“ Sie greift mit der ganzen Hand in die Chipsschüssel und stopft sie sich in den Mund.

„Vielleicht irrst du dich ja und sie ist noch Jungfrau“, lege ich mein Veto ein.

Kendrik beißt sich mit aufblitzenden Augen in den Zeigefinger. „Das wäre so verdammt scharf!“, kommentiert er. „Ich hatte erst ein Mal eine Jungfrau.“

„Und du bist von wem entjungfert worden?“, stelle ich ihm die Frage zum gefühlt tausendsten Mal. Es ist beinahe Tradition geworden, das Zwiegespräch dieses Themas.

Roet lacht auf. „Ich tippe heute mal auf seine Grundschullehrerin. Was meinst du, Rome?“

„Hmmm...“, überlege ich grinsend „Sein Kindermädchen!“

„Purer Neid steht in euren Augen, ich sag’s euch, purer Neid“, sagt Kendrik, erhebt sich von seinem Sessel und drückt seine Kippe in den Aschenbecher. „Ich muss euch jetzt leider verlassen, Freunde. Morgen ist Spiel.“

„Wie schade“, flötet Roet schelmisch, doch ihr Blick geht zwinkernd in seine Richtung, „wir hätten dein charmantes Ego echt noch ein paar Minuten länger vertragen.“

„Sympathisch wie immer, Roet“, sagt er und macht den Kapitän-Gruß, den er häufig als Begleitung für ironische Aussagen benutzt.

 „Keine Ursache!“ Sie lächelt zuckersüß.

„Bye Ken!“ Ich weiß, dass er es hasst, so genannt zu werden.

Er wirft mir einen warnenden Blick zu und zeigt mit dem Finger auf mich. „Zweiter Strike diese Woche.“ Dann kommt er auf mich zu und ich stehe auf, um ihn auf diese Jungen-Art zu umarmen. „Bye Ken...drik.“

Er fokussiert mich mit seinen Augen und meint streng: „Zweiter Strike, ja?“ Und dann: „Bis morgen Alter.“

Dann wird er von der Nacht verschlungen.

Kurz ist es still zwischen Roet und mir. Wir sehen bloß in die Nacht und das Einzige, das man hört ist Roets knirschendes Kauen auf ihren Chips.

„Glaubst du, Kendrik wird die Neue als erster vögeln?“, frage ich und komme mir im selben Moment ziemlich blöd dabei vor.

„Wer weiß...“ Sie starrt noch immer geradeaus, den Mund voller knackender Kartoffeln.

„Und was denkst du über Nadia?“

„Lass die Finger von ihr!“

„Warum rätst du jedem, die Finger von allen Mädchen zu lassen?“, frage ich irritiert. „Man könnte fast meinen, Mädchen zu sein, wäre in deinen Augen eine Krankheit.“ Und als ich das sage tut es mir sofort leid. Diese Bemerkung könnte mehr als verletzend für sie sein.

Entgegen meinen Befürchtungen, mustert sie mich wenig beeindruckt. „In deinem Fall, weil du viel was Besseres als Nadia bekommst. Sieh dich an, du bist verdammt heiß! Angefangen bei deiner Karamellhaut und deinen sexy Schultern. Oh man, dein Sixpack hab ich doch glatt vergessen.“

Auch wenn ich es nie offen zugeben würde, hat Roet irgendwie Recht. Ich sehe schon ziemlich gut aus. Aber das bringt mir rein gar nichts, wenn Mädchen erst gar nicht Notiz von mir nehmen. „Aber Mädchen bemerken mich doch erst gar nicht!“, werfe ich ein.

„Ach, das bildest du dir nur ein!“, versucht sie mich aufzumuntern.

„Danke Mama!“, bemerke ich ironisch.

„Wie du meinst“, winkt sie ab und ich sehe ein, dass es sinnlos ist weiter darüber zu sprechen, also wechsle ich das Thema.

„Und wie läuft’s mit den Noten in Englisch?“

„Frag nicht“, entgegnet sie. „Es ist Freitag und ich will verdammt noch mal nicht über Miss Sunnavan und ihre präpotente Fresse reden!“ Und sie fügt noch hinzu „Präpotent, das einzige Fremdwort das ich kenne.“

Eigentlich hätte ich auch bei diesem Thema wissen müssen, dass ich in ein Minenfeld trete. „Okay, okay...“, sage ich beschwichtigend. „Reden wir über die Neue.“

„Sie mag zwar unglaublich hübsch sein, aber ich sag dir, lass die Finger von ihr!“

3. Kendrik

Erschöpft lasse ich mich auf meine harte Matratze fallen. Morgen ist Basketball-Turnier und dafür sollte ich fit sein. Ich muss mich von meiner besten Seite zeigen. Ich weiß, ich kann es schaffen, wenn ich es wirklich will.

Nur manchmal, nachts, klopft die Verzweiflung an meiner dünnen Zimmertür und legt sich beinahe unbemerkt neben mich, auf meine modrige Matratze und der Mut verlässt mich. In diesen Momenten, fällt es mir schwer zu glauben, ich könne meine Ziele jemals erreichen. Ich muss das Stipendium einfach bekommen! Ich hoffe so sehr, dass eines Tages alles besser wird. Es ist schwer genug, all die Mädchen glauben zu lassen, ich wäre reich und unzerstörbar.

Alles wäre so viel einfacher, wenn man reich wäre. Warum bloß kann ich nicht einfach reich sein, wie so viele andere auf der Schule und im Basketballteam? Ich weiß, sie wollen alle meinen Posten, dabei haben sie nicht die leiseste Ahnung, welch hohen Preis sie dafür bezahlen müssten, nur um ich zu sein.

 

4. Pat

Im Vergleich zu der alten Highschool ist die neue ziemlich klein und unspektakulär. Ein Schulwechsel mitten im Schuljahr, ist die Sache die es noch beschissener macht.

Aber vielleicht ist es auch von Vorteil der Neue zu sein. Hier kennt noch keiner meine Vergangenheit und meine Daten sind noch nicht abgespeichert und ausgewertet.

„Pat, hast du mal wieder meinen Aux-Kabel genommen?“

Meine bessere Hälfte kommt wie der Blitz zur Tür hereingeschossen. Ihr Gesicht ist feuerrot wie ihr Haar.

„Würde mir niemals einfallen, Schwesterherz“, flöte ich mit engelsgleicher Stimme.

„Jetzt komm, rück schon raus!“ Sie stürzt auf meine Stereoanlage zu und zieht den Aux-Kabel raus, der definitiv nicht meiner ist. »Lern doch mal zu lügen!«, schreit sie dann noch, ehe sie mit tobenden Schritten aus dem Zimmer stampft. Es kommt mir jedes Mal so vor als würde ein Hurrikan durch mein Zimmer wüten.

Ich schalte meine Bluetooth-Boxen ein und lasse meine „Computer–Musik“ laufen – so nennt meine Mutter meinen Musikstil.

Ich schwinge mich auf mein französisches Hochbett und starre gegen die hohe Decke.

Nach einer halben Stunde stehe ich auf und räume mein Zimmer auf. Außerdem gieße ich die Orchideen meiner Mutter. Wenn wir Kinder unaufgefordert solche Aufgaben machen oder gute Noten schreiben, bekommen wir Punkte, die wir dann gegen alles Mögliche einlösen können. Das sind dann kleine Sachen wie Schminkzeug, Gutscheine für einen Spieleabend mit der Familie, einen DVD-Abend, eine Stunde alleine mit Mama oder Dad, schwimmen gehen oder auch mal umwandelbar in Geld oder — wenn man ganz viel gemacht hat — auch ein neues Auto. Ich hab meine Punkte erst für einen neuen Sportflitzer eingetauscht und meine Schwester sucht sich dauernd teuren Schmuck aus.

Später kommt meine Mutter zur Tür herein. Ihr Ausdruck im Gesicht verrät mir, dass sie nicht gerade freundlich gesinnt ist. „Hast du meine Orchideen etwa gegossen?“, faucht sie.

Ich gebe alles dafür, um meine Hundeaugen aufzusetzen. „Ja...?“, entgegne ich unsicher.

„Aber Orchideen gießt man doch nicht! Man befeuchtet die Rinden im Topf!“

„Sorry Mum, aber woher soll ich das denn wissen?“ Ich zucke mit den Schultern.

„Du hast Recht“, sagt sie dann. Sie bemüht sich um ein Lächeln.

„War echt nicht meine Absicht, ich nimm dann auch keine Punkte“, entschuldige ich mich.

„Die Punkte bekommst du trotzdem“, sagt sie dann. „Die gute Absicht zählt.“

Dann schließt sie die Tür und geht vermutlich wieder in ihr Arbeitszimmer. Sie führt zusammen mit meinem Vater eine Kanzlei und muss deshalb oft bis spät in die Nacht arbeiten. Während er sein Büro aus geschäftlichen Gründen in einer anderen Stadt hat, arbeitet meine Mutter von zu Hause aus, um bei uns Kindern bleiben zu können. Ich werde ihr Aufgebautes wohl eines Tages weiterführen. Eigentlich ist das nichts für mich, doch Louann und ich sind leider nur zu zweit und ich bin eben das bessere Übel. Am liebsten würde ich einfach nur unser Ferienhaus in Bell Air erben und dort tagsüber in der Sonne Comics lesen und abends bis spät in die Nacht zocken und mir Startreck und Star Wars reinziehen. Das wäre ein Leben. Fern von allem.

 

5. Kendrik

Mein Atem ist gleichmäßig und tief, meine Hände aufs Knie gestützt. Meine Augen gehen gen Boden. Es ist einst polierter Parkett, der jetzt aber abertausende Gummistreifen von Turnschuhen abbekommen hat. Ich weiß um Gottes Willen nicht, weshalb ich genau jetzt an so unglaublich triviale Dinge denke. Ich weiß, dass die nächsten anderthalb Stunden mein Leben verändern können, zum Besseren, oder zum Schlechteren.

Mein Team versammelt sich in der Mitte und wir schließen uns zu einem Kreis. Ich warte nur noch auf den Startpfiff, den Startschuss; meine Erlösung. Das erste Viertel läuft gut. Martin passt mir oft den Ball und ich kann mich in einem guten Licht erscheinen lassen. Im zweiten Viertel beginnen jedoch die Komplikationen. Als ich bei Halbzeit vom Feld gehe, muss ich mich bemühen, nicht die Schultern hängen zu lassen. In der Kabine haue ich meine Faust gegen die Wand. „Verdammt!“, brülle ich.

„Es ist noch nichts verloren“, meint Martin und legt mit die Hand auf die Schulter.

Sofort schüttle ich seine Hand ab. „Wir liegen zwanzig Punkte hinten!“, brülle ich. Ich hasse ihn in diesem Moment so sehr! Er hat nichts zu befürchten. Er braucht kein Stipendium, um auf der Columbia University angenommen zu werden. Seine Eltern haben eben das nötige Kleingeld. Man kann es sich eben nicht aussuchen, in welche Familie man geboren wird und ob man überhaupt einen Vater hat.

„Alles okay, Ewen?“, fragt Luke, „du atmest so schnell.“

„Alles gut“, versichere ich ihm und wische mir den kalten Schweiß von der Stirn. Er ist mit mir der einzige in der Mannschaft, dessen Eltern nicht gerade das große Geld haben. Deshalb beruhige ich mich in diesem Moment ein bisschen.

„Wir liegen hinten, aber gerade jetzt brauchen wir dich! Ohne dich haben wir keine Chance!“, sagt Luke.

„Ja, Ewen!“, pflichtet ihm Martin bei. Auch die anderen stimmen ein.

Als unser Trainer, Mr. Colt, die Umkleide betritt, wird es still. „Euch ist schon klar, dass wir diese Punkte in den nächsten zwei Vierteln unbedingt aufholen müssen?“, beginnt er im strengen Ton. „Verdammt, wir müssen diese Idioten fertigmachen!“

Er erklärt uns schnell die weitere Vorgehensweise, wobei er mich ganz vorne positioniert, dann sieht er in die Runde. „Können wir das schaffen?“, brüllt er.

„Ja!“, meinen wir alle entschieden.

„Was? Hat hier irgendjemand etwas gesagt?“, fragt Mr. Colt. „Ich hab nicht wirklich was gehört, ihr etwa? Ich frage euch noch ein Mal, können wir das schaffen?“

„Ja!“, brüllen wir jetzt alle lauthals.

„Ja verdammt!“, schreit er dann noch ein Mal.

Wenige Sekunden später haben wir uns wieder auf dem Feld aufgestellt. Als ich den Ball zum ersten Mal wieder in den Händen halte, merke ich, dass das mit meiner Faust gegen die Wand eine schlechte Idee war. Ich verfluche mich selbst für meine Wutausbrüche, die so ziemlich immer ihre Konsequenzen mit sich bringen.

Alle scheinen zu merken, dass irgendwas mit meiner rechten Hand nicht stimmt.

In der letzten zweiminütigen Pause ruft mich Mr. Colt, bevor ich in die Umkleide rennen kann, zu sich.

„Was hast du denn mit deiner Hand angestellt, Ewen?“, raunt er mir wütend zu.

„Nichts Schlimmes“, entgegne ich, „gestern hab ich ein paar schwere Kisten getragen“, lüge ich. Denn ich weiß, dass ich die Sache für mich behalten muss, wenn mir mein Medizinstudium wichtig ist. Ich kann nur hoffen, dass er nicht denkt, es sei was Ernstes, außerdem muss der Rest der Mannschaft die Klappe halten.

„Du weißt schon, dass der Direktor heute auf den Bänken sitzt und sich deine Leistung heute auf dein Empfehlungsschreiben auswirken wird?“

„Ist mir bewusst!“ Mehr, als Sie es sich vorstellen können!, ergänze ich in meinem Kopf.

Nach dem Schlusspfiff des letzten Viertels und somit dem Ende des Spiels, ist klar, wir haben verloren. Wir liegen sogar neunundzwanzig Punkte hinten.

Ich sage nichts mehr. Ich kann niemanden mehr ansehen. Der Jubel der Gastmannschaft macht mich noch krank.

„Ewen!“, ruft mir mein Trainer im strengen Ton hinterher, doch es ist mir in diesem Moment egal. Es ist ohnehin alles verloren! Ich kann mein Empfehlungsschreiben vergessen. Auf dem Parkplatz will ich schon in meinen Wagen steigen, als mich eine Hand am Arm packt.

„Kendrik!“, vernehme ich die Stimme von Roet.

Ich wende mich zu ihr um. „Was?!“, ertönt meine Stimme lautstark.

„Ich will dir nur mit dir reden!“ Ihr Gesicht ist besorgt, so gar nicht typisch für Roet.

„Ist mir scheißegal! Auf wiedersehen.“ Ich steige in den Pickup meiner Mutter und fahre davon. Eigentlich ist es jetzt auch egal, wo ich hinfahre. Meine Mutter ist für zwei Tage auf einem Fortbildungsseminar und so werde ich zu Hause wohl niemanden antreffen. Also biege ich in eine Tankstelle ein und gehe mit zwei Flaschen Eggnog zur Kassa. Der Ladenbesitzer fragt mich nicht nach meinem Ausweis. Ich bezahle und steige dann wieder in den Wagen.

Ich fahre ziellos durch die Straßen. Dann mache ich an einer Panneneinbuchtung halt und stelle den Motor ab. Rechts von mir beginnt der Wald. Ich steige aus dem Auto und vernehme sogleich den Geruch von Holz und Rinde. Ich setze mich hinten auf den Pickup und öffne die erste Flasche Eggnog. Die Spieler der Gastmannschaft werden gerade feiern und sich in einem Fast-Food-Restaurant einen Burger nach dem anderen reinziehen, denke ich.

Der Lack des Pickups ist bröckelig und porös, ich pule mit meinen Fingerspitzen den Lack ab. Als ich das tue, hasse ich dabei die ganze Welt. Das Leben ist so ungerecht, so verdammt unfair! Was habe ich in einem früheren Leben bloß falsch gemacht, dass meine Mutter bloß Grundschullehrerin ist? Warum nur müssen in dieser beschissenen Stadt alles reiche Säcke leben?

Mit diesen Gedanken bleibe ich hier sitzen, so lange bis es beginnt zu dämmern und die zweite Flasche Eggnog schon halbleer ist. Ohne lang darüber nachzudenken, fahre ich zu Roet. Ich versuche möglichst leise zu sein, als ich den Wagen in der Einfahrt parke.

Ich nehme meine halbleere Flasche Eggnog und eine Packung Kippen und marschiere Richtung Pavillon. Ich setze mich auf die lange, gepolsterte Bank und mache mir einen Glimmstängel an. Ich starre in das Gebüsch und die Bäume, und stelle beruhigt fest, dass meine Gefühle nun etwas betäubt sind. Ich denke nicht mehr viel nach, ich bin bloß da und sitze in einem Pavillon, qualme eine Zigarette nach der anderen und nehme ab und zu einen Schluck von meinem Eierlikör.

„Ist dir nicht kalt?“, vernehme ich die Stimme von Roet plötzlich in meinem Rücken, sie erschreckt mich kein bisschen. Ich drehe mich nicht um, sondern warte bis sie vor mich tritt.

„Nein!“, meine ich und nehme noch einen Schluck aus meiner inzwischen beinahe leeren Flasche. „Auch einen Schluck?“, frage ich an Roet gewandt, die sich in diesem Moment neben mich setzt.

Sie schüttelt stumm den Kopf.

„Ich würde es mir gut überlegen, das sind wertvolle Eiweiße und Kalzium und es ist der letzte Schluck.“

„Kendrik, hör mal, du kannst nicht einfach so aufgeben, nur weil es heute einmal nicht so gut gelaufen ist!“

„Du hast gut reden“, brülle ich plötzlich, „bei dir hängt nicht deine ganze Zukunft von ein paar Spielen ab!“ Sie macht mich so unglaublich wütend, sie hat keine Ahnung von meiner Welt. Wie auch?

„Ich weiß, ich weiß, aber trotzdem kannst du jetzt nicht einfach aufgeben! Das ist das Letzte, was du jetzt tun sollst.“

„Aber Roet, du verstehst nicht, dass dieses Spiel mitentscheidet, ob ich Arzt werde oder mein Leben lang in einem Diner Burger serviere und endlos Kaffee nachschenke!“ Ich vergrabe verzweifelt mein von Schweiß bedecktes Gesicht in meinen Händen. „Ich werde unglücklich sein, mein Leben lang, verstehst du?“

Roet packt meine Schultern und rüttelt mich. „Du laberst Scheiße, Ken! Scheiße!“

Sie weiß ganz genau, wie sehr ich es hasse, wenn sie mich so nennt, sie weiß es. „Verdammte Scheiße! Fuuuuuck!“, stoße ich mit arger Zurückhaltung aus.

„Was soll ich dir sagen?“, meint Roet, „vielleicht gehört das ja alles zu Gottes Plan!“

„Von wem hast du denn die Scheiße? Etwa von Rome?“

„Zufällig ja und ich finde, das macht irgendwie Sinn.“

Ich schüttle den Kopf und muss plötzlich lachen, es ist kein echtes Lachen. „Was hat er denn bloß immer mit seinem Jesus?“

„Es ist wichtig zu glauben, Kendrik!“, sagt sie streng.

Ich packe Roet an beiden Schultern und ich sehe wie sie zusammenzuckt, ich kann meine Kraft manchmal nicht dosieren. „Als würdest du an Gott glauben! Du weißt so gut wie ich, dass es keinen Gott gibt. Es gibt keinen Gott, Roet!“ Dann lasse ich sie los und beuge mich wieder hinunter, zu meinen Händen, vergrabe mein Gesicht in ihnen. „Ich bin bloß ein Idiot! So ein verdammter Idiot!“

„Das bist du nicht!“ Roet streicht mir über den Rücken. „Aber jetzt gerade, bist du vielleicht doch ein Idiot. Du machst dich fertig, bloß wegen eines Spiels das du verloren hast.“

Ich springe mit einem Satz auf, „Nur ein Spiel?“, schreie ich sie an. „Nur ein Spiel, sagst du?! Das Spiel war wichtig für mich, Mann! Verstehst du denn gar nichts?“ Ich nehme die Eggnog Verpackung und kicke sie in Roets Richtung, doch ich verfehle das Ziel nicht nur knapp und sie fliegt in hohem Bogen in die Dunkelheit hinaus.

„Die kannst du später wieder in meinem Garten suchen, das ist dir schon klar?“, höre ich Roet sagen.

Sie macht mich so wütend! Unglaublich, wie sie mich immer verrückt werden lässt.

„Weißt du, du kannst auch gleich wieder verschwinden! Ich wollte dir eigentlich anvertrauen, dass ich das Spiel mit größter Wahrscheinlichkeit gewonnen hätte, wenn ich meine Hand nach dem zweiten Viertel nicht vor Wut gegen die Wand gehauen hätte. Jetzt ist sie hin und ich kann für Wochen nicht spielen. Aber du musst mich ja immer provozieren!“

„Ich hab dein Problem erfasst!“, sagt Roet jetzt entschieden.

„Bitte, wie könntest du meine Probleme je eruieren?“

Sie beachtet meine Einwände gar nicht und spricht einfach weiter. „Seit du scharf auf dieses Stipendium bist, spielst du bloß für dich. Aber Basketball ist ein Mannschaftssport! Verstehst du, allein kannst du nicht gewinnen!“

„Mir wird das hier echt zu blöd! Denkst du echt, ich wäre so dumm und würde das nicht wissen?“ Ich blicke hinaus, in die Dunkelheit. Vor mir erscheint meine Zukunft als Tankstellen-Verkäufer, 24 Stunden. Ich würde 24 Stunden am Tag arbeiten. Das wäre schon okay, aber es ist nur so, dass der Tag nun mal nicht mehr als 24 Stunden hat.

Jetzt wende ich mich Roet zu. „Ich bin am Ende“, sage ich jetzt ruhig. „Roet, ich bin am Ende... Ich kann nicht mehr, ich glaub, es ist Zeit alles hinzuschmeißen.“

„Hör gefälligst auf, solche Dinge zu sagen! Es ist nicht aus! Du kannst es immer noch hinbiegen. Und weißt du was?“, schreit sie. „Du kannst meinetwegen aufgeben! Aber nicht jetzt. Du kannst aufgeben, wenn alles aus und vorbei ist, wenn du unwiederbringlich zerstört bist, wenn jegliche Hoffnung verloren ist. Aber doch nicht jetzt. Du wärst sonst echt ne verfluchte Pussy!“

Ich sehe Roet an. Sie atmet schnell, vom lauten Schreien. Ihr Bauch hebt uns senkt sich. Wir starren uns für einige Sekunden einfach nur an. Ich weiß nicht, wie Roet das angestellt hat, doch irgendwie geht es mir jetzt ein kleines Stückchen besser; es macht beinahe keinen Unterschied zu vorhin, doch irgendwie ist es wirklich besser. Ich kann es mir nicht erklären, denn eigentlich sagt sie ja alles andere als nette Dinge.

„Komm, ich bring dich nach Hause.“ Sie sagt das so, als hätte sie mich vor ein paar Sekunden nicht erst angebrüllt. Sie legt mir ihren Arm um die Schulter und begleitet mich zum Wagen. Ich leiste keinen Widerstand, ich lasse es über mich ergehen. Ich bin müde, und ich weiß, ich werde meine Kraft morgen brauchen.

 

 

 

6. Louann

Ich steige aus der Dusche und betrachte mein Gegenüber im gigantischen Spiegel, der sich über die gesamte Wand erstreckt. Das Mädchen vor mir hat schlanke, lange Beine und eine Wespentaille. Ich lasse meine Finger über meine straffen Brüste streifen. Die Brustwarzen hart vor Kälte, Gänsehaut überall. Sie sind kaum größer, als die der durchtrainierten Footballspieler an der alten Schule. Die Jungs, mit denen ich bis jetzt geschlafen hab, hatten nie etwas gegen meine Brüste, aber sie haben ihnen auch nie besondere Beachtung geschenkt. Ich frage mich seit Monaten, ob ich meine Punkte nicht auch gegen eine Brust-OP eintauschen könnte. Ich hab vielleicht ein bisschen Angst davor, was meine Mutter davon halten würde. Sie wird das bestimmt nicht verstehen – ihre Brüste sind ja auch drei Körbchen größer. Ich muss die von meinem Vater geerbt haben. Ich hätte eine Neunzig-sechzig-neunzig werden können, doch jetzt bin ich wohl eher eine Sechzig-sechzig-neunzig.

Ich denke wieder an den Augenblick, als ich vor der Klippe stand und über meine Zehen hinunterblickte. Vielleicht ist die OP eine mögliche Lösung für all meine Probleme. Vielleicht ist dies der Kieselstein, der alles zum rollen bringt. Der Wendepunkt.

Feuchte Tropfen lösen sich von meinen, vor Nässe, dunkelroten Haarspitzen und perlen über meine weiche Haut. Ich bin groß und schlank, reich, beliebt. Und doch ist da dieses Gefühl, dass etwas fehlt.

 

7. Narome

Am Montagmorgen stehe ich im Flur mit Roet und Kendrik, als sich die große Tür in der Eingangshalle plötzlich öffnet. Das grelle Licht des Morgens flutet die Halle; die sexy Silhouette reißt ein kohlschwarzes Loch ins strahlende Licht und marschiert auf mich zu. Es ist als würde vom einen auf den anderen Moment alles aufhorchen, alle Köpfe drehen sich in ihre Richtung. Als sich die Türen wieder schließen, geht das Schwarz in Farbe und Form über und die Silhouette nimmt Gestalt an.

Und was ich hier sehe ist das wohl schönste Wesen, das ich je zu Gesicht bekommen habe. Schimmernde Haut in Creme, ein weißes Sommerkleid und feuerrotes Haar, das sich wie ein Fächer um ihre Schultern legt. Mit zielstrebigen Schritten, kommt sie auf mich zu. Ich sehe in ihre smaragdgrünen Augen, die sie schmücken wie kostbare Edelsteine. Und dann steht sie vor mir – und mit einem selbstbewussten Lächeln auf ihren vollen Lippen, schweift sie an mir vorbei. Alles was bleibt ist das zarte unsichtbare Seidentuch aus Orangenblüte und Zimt in der Luft, das mich umhüllt.

Die Enttäuschung ist groß, doch im selben Moment wächst eine starke Erkenntnis in mir. Diese Frau ist unglaublich, ich muss sie für mich gewinnen. Vom ersten Augenblick an weiß ich, dass sie alles ist.

 

 

8. Louann

Die Englischlehrerin, Miss Sunnavan, erklärt gerade einen besonders wichtigen Vertreter der englischen Literatur. Ist wohl Shakespeare. Der schräge Typ interessiert mich echt einen Scheißdreck!

Gelangweilt blicke ich mich in der Klasse um. Weil ich in der letzten Reihe sitze, kann ich alle genauestens beobachten und jeden einzelnen analysieren.

Da wäre Muttersöhnchen-Paul, der immer zu ein weiteres Sandwich aus seinem Rucksack holt. Es ist offensichtlich, dass der X-Wert seiner Kleidergröße im drei- bis vierstelligen Bereich liegt.

In der ersten Reihe sitzt Doppel-D-Roet, die aber auch mal ein bisschen mehr mit ihrem Hüftgold sparen könnte. Außerdem könnte sie sich am Morgen die zwei Minuten für ihren schlampigen Pferdeschwanz sparen! Anscheinend glaubt sie, dass sowas wie ein „Messie-Pferdeschwanz“ existiert. Tja, falsch gedacht, sieht simpel und einfach scheiße aus.

Gleich hinter der Doppel-D-Schlampe sitzt der kleinwüchsige Chinese namens „Tsching-Tschong-Tschung“, der vermutlich nichts mehr sehen kann, wenn er die Augen zusammenkneift. Muss vom permanenten Reisfressen kommen.

Rechts vor mir erblicke ich einen sportlichen Typen mit hohen Wangenknochen und markanten Gesichtszügen. Er ist wohl im Basketballteam der Schule. Ich bin mir sicher, dass ihm genug naive Flittchen nachrennen, aber das ist nicht mein Problem, immerhin find ich Typen wie ihn ohnehin uninteressant. Ihr Ego ist meist größer als ihr angeblicher Penis – ihre Männlichkeit noch viel kleiner, als ihr tatsächlicher Penis. Solchen Typen sollte man mal eine Lektion erteilen. Die tun immer bloß so, als wären sie stark und selbstsicher; zu Hause sind das die präpotentesten Pussys, die einem je untergekommen sind. Glaubt mir!

„Miss Glenford, Sie können mir bestimmt zwei weitere bekannte Tragödien Shakespeares aufzählen! Romeo und Julia...“, beginnt Miss Sunnavan.

Ich blicke der Lehrerin missbilligend entgegen und kaue dabei auf meinem Kaugummi. „Erste Tragödie: Die Entstehung seiner unnötigen Werke. Zweite Tragödie: Wir müssen den Scheiß auch noch in der Schule durchkauen.“

Die ganze Klasse beginnt zu lachen. Einige drehen sich zu mir um, geben mir einen Daumen oder nicken mir anerkennend zu.

Empört blickt mir Miss Sunnavan entgegen. „Ich verbitte mir diesen Ton! Das werde ich dem Direktor melden!“

„Und wenn Sie’s der Präsidentin von Amerika melden“, sage ich und lehne mich entspannt zurück. Es ist mir egal, was andere von mir denken.

Miss Sunnavan schüttelt völlig entrüstet den Kopf. „Sie meint den Präsidenten, DEN!“ Die Klasse bricht wieder in Gelächter aus. Anscheinend kommt mein Verhalten entgegen meinen Erwartungen ziemlich gut, an dieser Schule. Kein Wunder, ist ja auch ein einziger Haufen an Spackos.

 

 

 

 

9. Kendrik

Louann Glenford sitzt links von mir. Ich spüre ihre Blicke auf mir ruhen. Ich weiß, sie steht auf mich. Wie könnte sie nicht? Immerhin bin ich die Legende der Schule. Schneller als mit mir könnte sie die Beliebtheitsskala nicht emporsteigen. Außerdem sehe ich wirklich, wirklich unglaublich gut…

„Ewen, vielleicht wissen Sie die Antwort auf meine Frage!“ Miss Sunnavan wendet sich jetzt an mich.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und blicke meiner Lehrerin mit einem herausfordernden Grinsen entgegen. „Wenn Sie die Frage für mich wiederholen würden.“

„Ich möchte, dass Sie mir zwei weitere Tragikomödien Shakespeares nennen. Kleiner Tipp: Romeo und Julia hatten wir schon.“

Mein Grinsen wird noch breiter. „Hamlet und Macbeth, oder ist Ihnen Julius Cäsar und Antonius und Cleopatra lieber?“, entgegne ich gelassen und lehne mich zurück.

„Bravo, bravissimo“, ruft Miss Sunnavan erfreut aus, „selbstverständlich bekommt Kendrik Ewen ein A+ für diese Antwort.

Ich sehe mit einem selbstgefälligen Grinsen zu Louann und verschränke dabei die Arme vor der Brust.

Sie schüttelt nur verachtend den Kopf, doch ich weiß, dass sie nur so tut und meinem Charme irgendwann nicht mehr standhalten kann.

 

Als es zum Stundenwechsel klingelt, richte ich mich auf und gehe zu Roet.

„Eines musst du mir schon einmal sagen, warum weißt du immer alles?“ Sie grinst widerspenstig. „Du bist so wie ein wandelndes Lexikon, oder wie tausend wandelnde Lexikons zusammen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß eben alles und noch viel mehr. Außerdem sagt man im Plural Lexika und nicht...“

„Du bist eigentlich ziemlich unsympathisch“, würgt sie mich ab, „hab ich das schon ein Mal erwähnt?“

„Zum gefühlt tausendsten Mal.“

Als wir auf dem Flur sind, trennen sich unsere Wege. Roet geht in ihren Biologie-Kurs, der ihr gehörig auf die Nerven geht und ich gehe zu meinem Anatomiekurs. Auf dem Weg dorthin, überholt mich eine schnell voranschreitende Gestalt. Sofort erkenne ich, dass es Louann, die Neue, ist.

„Hey, warte doch mal!“, rufe ich ihr hinterher.

Sie dreht sich mit einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht um. „Was?!“

„Du bist doch die Neue, richtig?“, sage ich und lasse dabei mein bekanntlich manipulatives Grinsen nicht außen vor.

„Ja, und?“, meint sie unbeeindruckt und will sich schon umwenden und weitergehen.

„Ich durchschaue dich“, sage ich dann.

Sie sieht mir genervt entgegen. „Ach wirklich?“ Dabei schwingen ihre glänzenden, feurigen Haare um ihren Kopf herum. Ich vernehme ihr teures Parfum.

„Ja, zufällig schon.“

„Dann sag mir mal, was ich denke!“

„Vielleicht, dass der Typ vor dir schon echt ziemlich heiß ist“, sage ich und grinse dabei.

Sie macht eine abwinkende Handbewegung. „Streber trifft’s eher.“ Und dann wendet sie sich wieder ruckartig um und hinterlässt dabei ihren unglaublich guten Duft in der Luft.

Ich beobachte sie, wie sie den Flur entlanggeht und tatsächlich die Tür zum Anatomiekurs öffnet. Wir haben also auch diesen Kurs zusammen.

Eine Sekunde später läutet es zur zweiten Stunde. Schnell mache ich die Tür zum Klassenzimmer auf und schiebe mich noch bevor die Klingel verstummt in den Raum.

„Pünktlich wie immer, Ewen“, bemerkt Mr. Adams, zwinkert mir dabei aber zu.

Ich will mich schon auf meinen Platz setzen, aber da ertönt Mr. Adams‘ Stimme erneut. „Du kannst dich gern neben Louann Glenford setzen, sie ist neu an der Schule und könnte von deinem umfangreichen Wissen sicherlich profitieren.“

Ich setze mich auf den freien Platz neben Louann in der dritten Reihe und knalle mein Heft und mein Buch neben ihr auf den Tisch.

Ich vernehme einen tiefen Seufzer seitens Louann, im selben Moment huscht mir ein Grinsen über den Mund. So langsam beginnt es mir Spaß zu machen, sie aufzuziehen und ihr genervtes Gesicht zu sehen, das stets wunderschön ist, auch wenn all ihre Züge verzerrt sind.

Mr. Adams beginnt mit seiner Präsentation über den Knochenaufbau des Menschen und ich öffne mein Heft und beginne zu schreiben. Louann dagegen klappt ihren Laptop auf und öffnet Facebook. Ich beginne sie zu beobachten. Wie sie dasitzt und gelegentlich so tut, als würde sie zuhören. Ihre vollen Lippen sind entspannt, ihre tiefen Augen auf den Bildschirm gerichtet. Zum ersten Mal sehe ich ihr Gesicht völlig entspannt. Und in diesem Augenblick ändere ich meine Meinung. Ihre entspannten Züge sind so viel bedeutungsvoller, von so unglaublicher Schönheit.

Ich wende mich also von ihr ab und beuge mich wieder über mein Heft. Sie ist gerade so schön, ich will es nicht zerstören. Und so schreibe ich weiter, aber ihre Züge schweben vor meinem inneren Auge weiter und ich weiß, dass sie gerade jetzt neben mir sitzt und genau so aussieht wie in meiner Vorstellung.

„Die menschlichen Knochen haben wir mit dieser Stunde abgeschlossen.

In den nächsten zwei Wochen werden wir uns intensiv mit dem Thema Organe beschäftigen. Dazu werden wir Gruppenarbeiten durchführen und sie dann in zwei Wochen vorstellen. Morison und Miller recherchieren die Leber, griechisch Hepar, Brown und Nickelson machen den das Herz, Ewen und Gelnford werden uns in zwei Wochen etwas über den Darm erklären…“

Den Rest höre ich nicht mehr. Ich bemerke nur Louann, die ein angeekeltes Geräusch ausstößt und den entsprechenden Gesichtsausdruck macht. „Ist ja ekelhaft“, murmelt sie.

Dann endet die Stunde und die Schüler quetschen sich aus dem Raum. Ich folge Louann. „Nur damit das klar ist“, sage ich, „ich mache nicht die ganze Arbeit und du schaust nur zu.“

„Dann hast du wohl was falsch verstanden“, entgegnet sie knapp.

„Mir ist meine Note in Anatomie egal, ich hab schon eine gute Note und mehr brauche ich nicht“, lüge ich. Ich brauche die gute Note sehr wohl, um an mein ersehntes Stipendium zu kommen, aber Louann gegenüber werde ich das nicht erwähnen. Mir gefällt es, am längeren Hebel zu sitzen.

„Na gut, dann sind wir eben beide am Arsch.“ Sie sagt das so, aber irgendwie fühlt sich das so an, als wären wir im selben Team – was wir ja auch irgendwie sind.

„Gut.“ Ich sehe sie mit meinem Grinsen an, drehe mich um und marschiere den Gang entlang. Oh Mann, sie ist ja viel heißer, als sie anfänglich gewirkt hat. Und ich weiß, sie will mich.

 

 

 

10. Louann

Ich hab‘s befürchtet, er ist ein Idiot. Wahrscheinlich der schlimmste von allen, die mir je in die Quere gekommen sind. Fehlt nur noch, dass er anfängt, über seinen „unglaublich großen Penis“ zu reden.

Ich lege meinen Finger auf den Scanner, um die Haustür zu öffnen. Drinnen stelle ich meine Pumps behutsam in den Schuhkasten. Neben dem Kasten, auf dem Boden stehen ein paar beige Espadrilles. Pat hat sich offenbar wieder neue Schuhe gekauft, die ziemlich schwul rüberkommen und zieht sie nicht an.

„Hallo“, rufe ich ins Haus, „ich bin da.“ Ich bin schon früher da, weil die letzten Stunden am Nachmittag entfallen sind (sind sie eigentlich nicht wirklich, aber das ist das, was ich meiner Mutter erzählen werde). Pat ist noch in der Schule und mein Vater ist wie immer bei der Arbeit. Also bin ich jetzt allein mit meiner Mutter. Vielleicht wäre es dann dann der richtige Zeitpunkt, um mit ihr über diese eine Sache zu sprechen.

„Mum?!“, rufe ich noch ein Mal. „Muuuuum!!!“

Keine Antwort.

Ich renne hoch bis vor ihr Schlafzimmer. Ja, meine Eltern haben getrennte Schlafzimmer.

Dort vernehme ich Stimmen. Die eine ist von meiner Mutter, die andere kann ich nicht identifizieren. Ich lege mein Ohr an die Tür.

„…bald gehen, Louann und Pat werden bald von der Schule heimkommen, ich will nicht, dass sie das mit uns mitbekommen…“

Mein Herz hämmert gegen meine Brust wie ein Presslufthammer. Ich halte meinen Atem an.

„Komm schon, Shane, mach dich einmal locker!“

Mein Herz rutscht mir in die Hose. Es ist die Stimme eines Mannes, den ich nicht kenne. Ich fasse mich zur Brust und renne den Gang entlang, in mein Zimmer. Dort schließe ich die Tür hinter mir und lehne mich keuchend gegen sie.

Ich weiß, dass meine Mutter gerne mal mit anderen Männern flirtet, doch dass sie wirklich… Ich kann nicht mehr klar denken. Das Bild der beigen Espadrilles schießt mir in den Kopf. Selbst Pat würde sich keine Schuhe kaufen, die wirklich so schwul sind. Ich kenne Pat, warum ist mir das nicht gleich aufgefallen? Warum?

Ich rutsche an der Tür herunter und sacke in mich zusammen. Ich hasse die Welt. Ich hasse es! Ich hasse jeden und alles. Warum nur mussten wir in diese Stadt ziehen? Mit all diesen Spackos? Menschen sind hinterhältig und böse. Genau wie ich.

Ich stehe mit einem Satz auf und schmeiße meinen Schreibtischstuhl gegen die Wand. Er kracht lautstark gegen das Foto mit meiner Mutter, Scherben zerspringen und das zerbrochene Bild liegt zusammen mit dem Schreibtischstuhl am Boden – so wie ich zuvor. Ich atme schwer, bekomme kaum Luft. Schweißperlen treten aus meiner Stirn.

 

 

11. Pat

Ich trage das T-Shirt mit der bedruckten Fliege und der Aufschrift: Sorry, aber mein Smoking ist in der Wäsche. Es ist eines meiner coolsten Shirts, die ich so trage. Die kommen hier sicher viel besser an, als auf meiner alten Highschool! Ich glaub, die Leute hier haben Geschmack.

In der ersten Stunde, begebe ich mich pünktlich in den Chemieraum und setze mich in die erste Reihe. Es ist noch fast leer im Klassenzimmer. Ich bin gespannt, wer wohl mein erster Kumpel wird. Nach und nach füllen immer mehr Schüler den Raum, doch keiner setzt sich neben mich. Ich bleibe also die ganze Stunde ohne Sitzpartner.

Auch in der nächsten wird es nicht besser. Ich setze mich extra nicht in die erste Reihe, doch daran hat es vorhin wohl nicht gelegen, im Chemiekurs.

In der letzten Stunde, bin ich froh, dass dieser Tag für heute bald vorüber ist. Mit gesenktem Blick setze ich mich in die erste Reihe. Jetzt ist es ohnehin gleichgültig, ob ich nun in der ersten sitze, oder in der letzten. Es wird sich ohnehin keiner neben mich setzen und so haben diejenigen wenigstens einen schöneren Tag, die nicht ganz vorne sitzen wollen.

Ich packe also meinen Laptop und mein Englischbuch aus und platziere beides auf meinem Tisch. Am Anfang fand ich es gut, dass Louann und ich die Englischstunde nicht zur selben Zeit haben, doch jetzt würde ich mir beinahe wünschen, sie säße neben mir – ziemlich erbärmlich, ich weiß.

Plötzlich vernehme ich ein Rascheln neben mir auf dem Stuhl. Ich sehe auf und muss lächeln, als ich in das Gesicht eines zarten Mädchens mit schwarzen, hinters Ohr gesteckten Haaren blicke. Sie trägt Leggins und ein einfarbiges T-Shirt. Sie ist nicht umwerfend hübsch, doch irgendwie ziemlich niedlich.

„Mein kleines Schwarzes ist auch noch in der Wäsche“, sagt sie mit einem breiten Grinsen.

„Zu blöd, wir wären beinahe im Partnerlook erschienen!“ Ich schüttle gespielt den Kopf und sauge die Luft zwischen meinen Zähnen ein.

„Wir könnten uns ja mal im Partnerlook treffen, wenn du willst.“

Hat sie mich grade wirklich nach einem Date gefragt? Einfach so? Nach ungefähr zehn Sekunden, in denen wir uns kennen? Ich versuche ruhig zu bleiben, auf meinem Stuhl. Pat, ganz ruhig! Hör endlich auf mit deinen Beinen zu zappeln und sag was!

„Ich schmeiß in nächster Zeit ne Party, also, wenn du Lust hast...“ Verdammt, warum nur hab ich das gesagt? Meine Eltern werden mich umbringen!

„Bist du nicht der Neue, von dem fast keiner was weiß? Alle reden bloß von der Neuen. Kennst du überhaupt genug Leute, um eine Party zu schmeißen?“

Sie ist ziemlich direkt, wie ich finde – fast ein bisschen zu direkt.

„Keine Sorge, das kommt dir nur so vor“, versichere ich ihr mit gespielter Überzeugung, „es wird die größte Party des Jahres, das kann ich dir versprechen!“ Pat, du bist so ein Vollidiot!

„Gut, ich freu mich drauf! Und was sagst du, lassen wir Kleid und Smoking noch eine Weile in der Wäsche?“

„Gute Idee“, entgegne ich und noch im selben Moment denke ich über die Idee eines Kumpels nach, und, dass ich diesbezüglich vielleicht einen kleinen Kompromiss eingehen kann.

 

Als ich nach Hause komme, ist es merkwürdig still. „Muum!“, rufe ich.

Keiner antwortet mir.

„Muuum! Louaaaann?!“

Ich gehe hoch. Eigentlich sollte ich einfach auf mein Zimmer gehen, ich weiß es ist das Beste. Doch nicht immer entscheidet man sich für das Beste.

Vor Louanns Zimmer bleibe ich stehen und überlege es mir noch ein zweites Mal, ob ich die Tür wirklich öffnen soll. Schließlich entscheide ich mich dafür, es zu tun. Ich klopfe nicht, lasse die Tür einfach auffliegen.

Mir bietet sich der Anblick von zersplitterten Bildern, zerfetzten Laken und zerbrochenen Vasen. Der Schreibtischstuhl liegt umgedreht auf dem Boden. Eine Weile stehe ich einfach nur so da und sehe in die Zerstörung. Blicke ihr entgegen, als wäre sie nichts, wofür man sich fürchten müsste. Die Angst ist allgegenwärtig, doch ich lasse nicht zu, dass sie mich durchbohrt. Das Zimmer ist leer. Eigentlich will ich es nicht betreten, doch es ist so, als würde mich eine unsichtbare Kraft in sein Inneres ziehen.

Die Splitter aus Glas und Keramik knirschen unter meinen Schuhen, die ich vergessen habe, auszuziehen. Mein Atem verstummt, als ich zwischen den Scherben eine kleine Blutlache entdecke. Sie hat es also wieder versucht, schießt es mir durch den Kopf.

Eigentlich will ich lauthals aufschreien und alles kurz und klein schlagen. Ich will so laut brüllen, dass das gesamte Haus in sich einstürzt, ich will auf alles und jeden einschlagen. Doch ich mache nichts von all dem.

Stattdessen gehe ich runter in die Küche und mache mir ein Sandwich.

 

 

12. Roet

Ich wische mir den heißen Schweiß von der Stirn und laufe weiter. Den Blick immer voll konzentriert auf den Ball gerichtet.

Der Abend ist lau und die Scheinwerfer sind auf den Fußballplatz der Schule gerichtet. Drinnen trainiert das Basketballteam. Das Prallen des Balls ist durch die offene Tür der Halle zu hören. Ich muss immerzu an Kendrik denken, der heute Abend nicht in der Halle anwesend ist.

Ich will gerade zum Schuss ansetzen, als mich eine meiner Mitspielerinnen unsanft von der Seite rammt und ich zu Boden stürze. Der Pfiff unseres Trainers ertönt sofort.

„Mann, kannst du nicht aufpassen!“, schreie ich Marcy wütend an.

„Du hast mir eben im Weg gestanden!“, behauptet sie schon beinahe schadenfroh und stützt die Hände in die Seite.

„Kein Grund, mich wie ein Trampel zu Boden zu reißen!“, fauche ich.

Mr. Dallas kommt auf uns zu gerannt. „Mädchen, so könnt ihr doch nicht mit euren Kammeraden umgehen! Sind wir ein Team oder was?!“, schimpft er und sieht dabei vorwiegend Marcy an.

Ich glaube schon, dass ich aus dem Schneider bin, doch da wendet er sich an mich. „Und du, Roet, kommst jetzt einmal mit mit mit!“

Wir begeben uns in sein kleines Büro neben der Turnhalle. Er schließt die Tür hinter sich, bevor er anfängt zu reden.

„Roet, ich weiß, dass es in der Mannschaft nicht immer einfach ist. Und versteh mich jetzt bitte nicht falsch, du bist eine der besten Spielerinnen im Team und ich halte dich auch sonst für sehr klug. Deshalb spreche ich jetzt auch mit dir. Wir sind ein Team, verstehst du? Und ein Team muss zusammenhalten. Und das hier auf dem Feld, gerade eben, sprach alles andere als für Zusammenhalt! Auch wenn du Marcy nicht angerempelt hast, so hast du sie doch in einem unangemessenen Ton angefahren!“

„Schon klar“, seufze ich resigniert, „ich werd mich in Zukunft zusammenreißen.“

Eigentlich ist das nur eine Halbwahrheit. Ich werde mit anderen Mädchen wohl nie so gut klarkommen. Ich kann sie einfach manchmal nicht ausstehen. Und manchmal bedeutet in diesem Fall sehr oft — oder besser gesagt — immer. Trotzdem hoffe ich, Mr. Dallas nicht enttäuschen zu müssen.

13. Narome

Ich mache mir Sorgen um Kendrik. Noch nie hab ich ihn so fertig gesehen. Und von dem, was mir Roet über ihn erzählt hat, kann einem wirklich übel werden.

Ich muss meine Gedanken im nächsten Moment auf die Seite schieben, weil es an der Tür klingelt. Ich habe ein Date mit Nadia, das Mädchen, dem ich ein Gedicht gewidmet habe. Jetzt tut es mir fast leid. Ich kann nicht aufhören, an Louann zu denken und Nadia habe ich schon längst vergessen. Es kommt mir so vor, als lägen Monate dazwischen, seit ich Nadia den Brief überreicht hab. Dabei sind bloß ein paar Tage verstrichen.

Ich spritze mir noch schnell ein bisschen Parfüm auf, bevor ich das Haus verlasse. Vor der Haustür begrüßt mich Nadia mit einer Umarmung. Dabei fällt mir auf, wie fest sie mich hält und wie sie über meinen muskulösen Rücken streicht.

„Hey Nadia“, sage ich und löse mich von ihr, um sie anzusehen.

„Hey, Narome.“ Sie trägt ein sonnengelbes Kleid, das wirklich gut zu ihren haselnussbraunen Haaren passt. Um den Hals trägt sie eine hübsche Perlenkette.

„Na, dann wollen wir mal“, sage ich schließlich und begleite sie zu meinem Wagen. Es ist eigentlich der von meinem Vater, doch ich finde, er ist mit dem hochpolierten schwarzen Lack weitaus schicker, als mein Pickup. Er ist meines Vaters ganzer Stolz. Sein Beweis, dass er es in Amerika zu etwas gebracht hat.

Ich bemerke Nadias beeindrucktes Gesicht, als sie den Wagen erblickt.

Sie nimmt auf dem Beifahrersitz platz und wir fahren zu einem kleinen Restaurant, in dem man gut italienisch essen kann.

Wir bekommen einen kleinen Tisch, nahe am Fenster. Eine Kerze brennt auf dem Tisch. Es hätte das perfekte Date werden können. Ich hätte sie angesehen und ich hätte gewusst, dass ich mich in sie verlieben kann. Ich hätte, wie jetzt ihre Hände gehalten und mein Herz hätte dabei viel schneller geklopft, als es jetzt in Wirklichkeit tut.

Und all dies wegen Louann. Sie hat mir den Verstand geraubt. Sie ist eine Göttin. Verdammt noch mal, ich kann sie nicht Göttin nennen, es gibt nur einen Gott!

„Jedenfalls war das die Geschichte, wie ich mal ein Mädchen geküsst habe.“

„Wirklich offen, bist du!“, versuche ich freundlich zu sein. Und im nächsten Moment stelle ich mir vor, das Mädchen wäre Louann gewesen. Stopp! Ich muss mich zusammenreißen!

„Ich weiß, das ist vielleicht nicht so ideal, dir das zu erzählen, ich hab gehört wie religiös du bist. Also wenn ich damit zu weit gegangen bin, bitte entschuldige.“

„Nein, ist schon okay, küssen ist auch bei uns Katholiken erlaubt“, versuche ich die Stimmung etwas aufzuheitern.

Nadia lacht zu meiner Erleichterung auf und berührt mich dabei am Arm. „Du bist echt witzig!“ Dann fängt sie sich wieder. „Aber jetzt mal im Ernst, wie sieht dein Leben als Strenggläubiger so aus?“

„Naja, nicht viel anders, als bei jedem anderen auch“, entgegne ich, „nur, dass ich eben an Gott glaube.“ Ich entscheide mich dazu den Teil wegzulassen, bei dem ich ihr sagen würde, dass ich jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Gebet zum Himmel schicke.

Nadia lacht wieder und wirft dabei ihr langes Haar in den Nacken. So langsam geht es mir auf die Nerven. Ich kann unmöglich so lustig sein. Kann es etwa sein, dass sie... Ich schiebe den Gedanken schnell beiseite, bevor ich ihn zu Ende denken kann.

Als der Kellner kommt, übernehme ich die Rechnung, und dann setzen wir uns wieder in meinen Wagen.

Ich stecke den Zündschlüssel ins Schloss und will schon den Wagen starten, als ich eine Hand auf meinem Oberschenkel fühle. Ich zucke wohlig zusammen. Ich spüre wie sich meine Muskeln anspannen, spüre meine Erregung, die aber nicht von Nadia kommt, sondern vom vielen Denken an Louann. Die Hand gleitet immer weiter meinen Oberschenkel hoch. Ich sehe sie an und in ihren blauen Augen erkenne ich pures Verlangen.

„Nadia...“, will ich beginnen, doch sie legt mir ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Schhhhhht“, macht sie verführerisch, „schließe deine Augen!“, befiehlt sie mir dann.

Ich weiß nicht, warum ich ihr gehorche, ich weiß nicht, warum ich in diesem Augenblick meine Augen schließe. Vielleicht sind es die schwachen Laternen, die zu uns hereinscheinen, der verlassene Parkplatz, auf dem ich allein, mit einer Frau im Auto bin, die ihre Hand auf meinen Oberschenkel legt.

Ich denke an Louann, ich stelle mir vor, es wären ihre zarten Finger, die jetzt auf meinen Oberschenkeln liegen und immer weiter nach oben wandern, ich stelle mir vor, es wäre ihre Stimme, die mir jetzt ins Ohr flüstert: „Und jetzt zähle bis drei.“ Ich halte die Luft an.

Eins.

Zwei.

Drei.

Und dann fühle ich ihre Hand, die meinen Penis umschließt. Unwillkürlich muss ich aufstöhnen. Ich muss ihr sagen, sie soll aufhören!, schießt es mir durch den Kopf, doch im nächsten Moment, macht sie Bewegungen mit ihrer Hand, die mich erneut zum aufstöhnen bringen. Bald schon sitzt sie rittlings auf mir und greift mir unter den Pullover. „Gott, deine Muskeln sind so hart“, seufzt sie und will mir schon die Hose aufknöpfen.

„Warte, Nadia!“, unterbreche ich sie jetzt, „das geht alles ein bisschen schnell“, keuche ich atemlos.

Nadia blickt mich mit aufgerissenen Augen an. „Was?!“, fragt sie mich jetzt. Ich kann ihr ihre empörte Reaktion echt nicht übelnehmen. Ich hör mich echt an wie ein Mädchen! Ich muss mich konzentrieren, schnell, mir muss eine Ausrede einfallen! Ich brauche mein Blut im Kopf!

„Das glaub ich jetzt einfach nicht!“, zischt sie kopfschüttelnd und löst sich von mir. Sie macht die Wagentür auf und steigt aus.

„Shit!“, entfährt es mir. „Nadia, jetzt warte doch mal!“, rufe ich ihr hinterher. Ich laufe ihr quer über den Parkplatz nach, doch sie dreht sich nicht um. „Nadia, bitte komm zurück! Es ist das Auto von meinem Vater, ich kann das doch nicht im Wagen meines Vaters machen!“

Jetzt bleibt sie endlich stehen und ich atme erleichtert auf. Ich gehe auf sie zu. Als ich bei ihr bin, sehe ich in ihre noch immer wütenden Augen.

„Kommst du mit ins Auto?“ Ich greife widerwillig nach ihrer Hand, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Ihr Vater bringt mich um, wenn ich sein Mädchen nicht sicher heimbegleite, außerdem würde mein Vater dasselbe tun, wenn er nur dahinterkäme und mein schlechtes Gewissen wäre von allen ohnehin der schlimmste Richter.

Also gehen wir Hand in Hand zum Auto zurück. Die ganze Fahrt über schweigen wir. Als ich vor ihrem Haus halte, steigt sie nicht gleich aus. Offenbar will sie mir noch was sagen.

Stille.

Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf und ich ärgere mich, dass ich nicht logisch nachdenke, sondern stattdessen Louann immer wider vor meinem inneren Auge auftaucht.

„Was hab ich falsch gemacht?“, fragt sie mich jetzt.

Verdammt, auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet!

„Ich meine, schließlich hast du mir ein Gedicht geschrieben und jetzt willst du mit mir nicht einmal rummachen...“

„Aber das ist doch wegen dem Wagen...“, versuche ich mich rauszureden, doch ich hab irgendwie so das ungute Gefühl, dass Frauen Unwahrheiten, wie ein subtiler Lügendetektor aufspüren können.

„Gut“, sagt sie, „dann können wir ja noch zu mir gehen, meine Eltern sind nicht zu Hause, dann könnten wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.“ Ihre Stimme wird wieder verführerisch, rauchig und sie lässt mir Einblick in ihren sündhaft tiefen Ausschnitt. Ihre prallen Brüste strecken sich mir förmlich entgegen.

Ich muss mich konzentrieren! Diese Frau macht mich noch wahnsinnig!

„Tut mir leid, aber...“, will ich ansetzen, doch sie unterbricht mich mit ihrer temperamentvollen Stimme.

„Schon gut, Narome, ich weiß jetzt, du willst nichts von mir. Weißt du, ich hab gedacht, du magst mich wirklich, wegen dem Gedicht und so. Aber stattdessen machst du mich ganz scharf, um mich dann abblitzen zu lassen. Weißt du, ich hätte dich rangelassen, und das beim zweiten Date. Sowas wiederfährt dir nie wieder. Hast du gehört? Du hast gerade die Nacht deines Lebens verpasst!“

„Nadia...“, versuche ich es noch einmal.

„Nichts da, es ist aus und vorbei, du kannst mich mal mit deiner Religion und deinen Paradigmen und deinem Jesus. Ich hoffe, du erstickst an deiner verfickten Askese!“ Dann knallt sie die Autotür mit voller Wucht zu. Ich zucke vor Schreck zusammen. Nicht etwa, wegen dem plötzlichen lauten Geräusch, eher, weil ich Angst um Vaters Wagen habe.

Mein schlechtes Gewissen erwacht in diesem Moment. Also reiße ich die Autotür noch ein Mal auf. „Ich hab das doch alles nicht böse gemeint!“, rufe ich ihr noch nach.

Sie dreht sich tatsächlich um. Entgegen meiner Vorstellung zeigt sie mir aber den Mittelfinger und ruft dann noch. „Und falls du’s noch nicht wusstest, Magdalena war eine Hure!“

Ich lasse meine Hände sinken. Ich bin aber froh, dass sie weg ist.

Ich setze mich in den Wagen und fahre so schnell ich kann los.

Zu Hause, steige ich nicht gleich aus dem Wagen, sondern starre erst noch kurz geradeaus. Ich atme tief ein und aus und ich könnte mich dafür ohrfeigen, weil ich für einen kleinen Moment daran denke, was ich jetzt wohl gerade täte, wenn ich Nadia nicht abgewiesen hätte. Was ist nur los mit mir?

 

Ich liege in meinem Bett und kriege meine Augen nicht zu. Mein Herz klopft viel zu schnell und ich kann noch immer nicht glauben, was heute passiert ist.

 

Lieber Gott, beginne ich mein Gebet.

Ich weiß, dass ich heute gesündigt habe. Zum einen hätte ich Nadia nicht verletzen sollen und zum anderen hätte ich es gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen.

Ich weiß, ich war heute ein schlechter Mensch, aber könntest du mir mit Louann ein wenig helfen? Sie ist alles, was ich will, ich verspreche, wenn ich sie bekomme, werde ich dich nie wieder um etwas bitten.

Ich bete auch für Kendrik, möge er einen deiner Pfade finden.

 

„Rome, du bist wirklich so süß!“, ertönt plötzlich die Stimme von Roet.

Erschrocken springe ich mit einem Satz auf. „Roet! Mann! Musst du mich so erschrecken?!“

„Mach ich doch gern.“ Sie zwinkert mir zu und springt dann mit ihren Hip-Hop-Klamotten auf mich.

„Was hast du alles gehört?“, ächze ich unter ihrem Gewicht. Sie riecht nach ihrem Kirschdeo und ein bisschen nach ihr, weil sie geschwitzt hat.

Sie zuckt unschuldig mit den Schultern und setzt sich in meinem Bett neben mich. 

„Komm schon, lass das! Ich hab ein Recht darauf, es zu erfahren!“

„Den Teil mit Kendrik.“

„Wirklich nicht mehr?“

„Ich schwöre“, sagt sie und macht den Kaptaingruß, den sie immer macht, wenn sie etwas schwört.

Ich blicke ihr tief in die Augen. „Gut, ich glaube dir.“

„Ist das, was du davor gesagt hast etwa so schlimm?“

„Nein, Mann.“

„Doch ist es, rück raus mit der Sprache!“

Ich seufze auf, denn in diesem Augenblick weiß ich, dass ich es ihr erzählen muss, weil sie sonst niemals aufhören wird mir auf die Nerven zu gehen. Und dann erzähle ich ihr die Geschichte. Als ich fertig bin bereue ich meine Entscheidung zutiefst.

Roet kriegt sich vor Lachen kaum noch ein. „Du...du wurdest fast von einem Mädchen vergewaltigt!“ Tränen schießen aus ihren Augen.

„Dir ist schon klar, dass ich dir nie wieder was erzähle?“, entgegne ich grimmig.

„Und...und sie hat echt gesagt, Magdalena war eine Hure? Ich feier’ dieses Flittchen.“

„Ja genau, das ist sie, ein Flittchen!“

„Musst du jetzt nicht schleunigst beichten gehen, wenn du solch böse Worte in den Mund nimmst?“

„Halt einfach deine Klappe, Roet!“, zische ich und dann werfe ich mich auf sie und fange an sie zu kitzeln.

„Hör auf Rome!“, kreischt sie, „du weißt genau, dass ich vom kitzeln immer pinkeln muss!“

14. Louann

Sie sieht mich an, im gefrorenen Glühbirnenlicht, mit ihren entgeisterten Augen. Ich sehe nichts als Enttäuschung in ihren Augen. Aber das ist nicht weiter schlimm, denn Enttäuschung kenne ich bereits. Ich begegne ihr jeden Morgen im gigantischen Spiegel im Badezimmer. Ich bin mir jedoch sicher, dass sich bloß ihre Enttäuschung in meinen Augen widerspiegelt. Ich weiß, dass ich im Recht bin. Meine Eltern sollten alles daransetzen, um mich glücklich zu machen, stattdessen verwehren sie mir den Zugang zu all den Dingen, die mich zu meinem Glück führen können.

„Es ist deine Entscheidung“, flüstere ich mit meiner Maske und lächle böse. Dabei ist sie die giftige Schlange von uns beiden. Sie hat unsere Familie zerstört. Wäre blöd, wenn für mich dabei nichts rausspringen würde.

Ich beobachte, wie sich die niedlichen Nasenflügel meiner Mutter weiten. Ich weiß, dass sie jetzt am liebsten etwas Böses sagen würde, doch sie schluckt es runter, wie immer. Sie spielt bloß an ihrer Platinkette von Tiffany aus der Victoria Collection. Eine schimmernde Flussperle ist in eine filigrane Diamantfassung eingelassen. Mutters berühmt berüchtigte Kette, die ihr mein Vater zum zehnten Jahrestag ihrer Hochzeit geschenkt hat. Am liebsten hätte ich sie ihr vom Hals gerissen, doch ich tue es nicht. Es steht etwas auf dem Spiel.

Gerade als meine Mutter dazu ansetzen will, etwas zu sagen, kommt die Krankenschwester durch den Vorhang, der mein Bett abtrennt und würgt ihr somit das Wort ab.

„Die Wunde an der Stirn wird schnell wieder verheilen“, sagt die junge Frau im weißen Kittel, die eher so aussieht, als würde sie gleich im Schullabor ein paar simple Experimente durführen.

Ich ringe mir mit Mühe ein falsches Lächeln ab. „Wenn ich darüber bitte mit dem leitenden Arzt sprechen könnte.“

„Louann!“, zischt meine Mutter zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Dann wendet sie sich an die Krankenschwester. „Bitte entschuldigen Sie, meine Tochter wird gerne mal etwas vorlaut.“

Die junge Frau lächelt unsicher entgegen. „Ich kann Ihnen den Arzt aber gerne rufen, wenn Sie möchten.“ Sie rennt denn Gang hinunter.

Ich weiß weshalb sie so zuvorkommend ist, so eingeschüchtert. Ich habe sie vorhin genau beobachtet, als sie das Dolce-Kleid meiner Mutter inspiziert hat. Das ist eben so, wenn die Leute wissen, dass man auf einem Berg aus Gold sitzt, werden sie plötzlich so zuvorkommend und lesen einem jeden Wunsch von den Augen ab. Ich genieße es förmlich, wann immer ich ihre neidischen Blicke bemerke und ihre Ehrfurcht. Es ist das herrliche Gefühl von Kontrolle und Macht.

Der behandelnde Arzt der Abteilung wirft den Vorhang schwunghaft auf, als wäre er auf der Bühne. „Stellen Sie mir Ihre Fragen, junges Fräulein.“ Er begrüßt uns nicht einmal, sondern kommt mit diesen Worten einfach so lässig ans Bett heran. Er ist ziemlich gutaussehend und jung. Dreitagebart, Sommersprossen und helles Haar.

„Denken Sie, es bleibt eine Narbe?“

Er lacht auf. „Oh, das ist natürlich das einzige, das dich interessiert.“

Es ärgert mich, dass er mich als Mädchen sieht und nicht als junge, attraktive Frau. Wäre meine Mutter nicht hier, würde er sich mir gegenüber bestimmt anders verhalten.

„Bleibt mir nun eine Narbe oder nicht?“, frage ich jetzt etwas verärgert.

„Wäre möglich.“ Dann wendet er sich an meine Mutter. „Sie können ihr in der Apotheke eine nicht rezeptpflichtige Narbensalbe holen, Ma’am. Das fördert zusätzlich die Wundheilung. Sie kann sich jetzt umziehen, ihre Tochter ist entlassen.“

Meine Mutter steht vom Stuhl auf und schüttelt lächelnd seine Hand. „Vielen Dank Doktor...“ Sie lässt seine Hand nicht los, wartet auf seine Worte.

„...Darmon.“ Als er das sagt lächelt er ihr ebenfalls entgegen.

Na toll, will sie sich an diesen Kerl auch noch ranschmeißen?

Bevor er wieder hinter dem Vorhang verschwindet, zwinkert er mir noch ein Mal lächelnd zu. Das lässt meine Wut zumindest um ein kleines Bisschen verrauchen. Als ich aufhöre in mich hineinzulächeln, sehe ich zu meiner Mutter.

Sie bedenkt mich mit einem äußerst strengen Blick. Normalerweise würde mir meine Mutter für diese Aktion mindestens zwanzig Punkte abziehen, doch ich weiß diese Sache, von der sie will, dass sie verschwiegen wird und genau so wie Worte hat auch eisernes Schweigen seinen Preis.

 

 

15. Pat

Als Mum und Louann vom Krankenhaus kommen, hängt etwas zwischen ihnen in der Luft. Sie sprechen nicht und auch sonst scheinen sie einander völlig zu ignorieren. Mum setzt sich mit angewinkelten Beinen, ihren Kindle in der Hand, auf die gigantische Ledercouch im hohen, hellen Wohnzimmer, die vom Ausmaß eher einer Indischen Großfamilie entsprechen würde. Louann hingegen hat nicht vor sich noch viel länger im gemeinsamen Wohnbereich aufzuhalten. Sie nimmt sich wortlos eine Cola Light Dose aus dem Kühlschrank und begibt sich mit zielstrebigen Schritten in den ersten Stock. Ich stehe bloß ratlos da, dort wo das Wohnzimmer in die geräumige Küche übergeht. Langsam nähere ich mich dem Sofa und setze mich neben meine Mutter.

Im ersten Moment wirkt es so, als würde sie mich ebenfalls ignorieren, doch sie legt ihren E-Reader beiseite und sieht mich an. „Sie ist eben so, wir können nichts tun...“

„Du willst es einfach so hinnehmen?“, frage ich empört. „Ihr alles durchgehen lassen? Du hast ihr doch Punkte abgezogen, oder?“ Eigentlich weiß ich gar nicht, was sie wieder angestellt hat, aber ich muss sie das nicht fragen, weil ich Louann kenne, sie versucht zu jeder Zeit alles zu zerstören.

„Du weißt, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn ich sie bestrafe?“

„Ja, vielleicht im ersten Moment, aber dann wird sie schnell merken, dass ihr Verhalten inakzeptabel ist“, versuche ich ihr zu erklären. Dann gehe ich in Richtung Küche, die Mum selten anrührt. Sie kocht nicht besonders gern.

Auf halben Weg hält mich meine Mutter auf. „Patrick?“ Sie sagt nicht oft meinen vollen Namen.

Ich drehe mich zu ihr um.

„Du bist ein guter Sohn.“ Sie lächelt gar nicht, in ihrem Gesicht findet sich bloß hundertprozentige Ehrlichkeit.

Ich jedoch lächle und drehe mich dann schnell um. Es ist ein kleines Lächeln, doch es steckt Schmerz dahinter und das will ich ihr nicht zeigen. In der Küche hole ich mir eine Tüte Tortilla-Chips und eine Literflasche Fanta. Damit gehe ich über die glattgeschliffenen, modernen Nussholztreppen nach oben.

16. Roet

„Ich bring dich um die Ecke, wenn du noch länger brauchst, das ist dir schon klar Lily?“, rufe ich mit hämmernden Handflächen gegen die Badezimmertür.

„Ich hab gesagt, ich bin’s in zwei Sekunden!“, schreit mir meine Schwester mürrisch entgegen.

»Das sagtest du bereits!«, schreie ich. »Vor einer halben Ewigkeit.« Mit wütenden Schritten stampfte ich zurück in mein Zimmer. Ich würde mich vor dem Tanz-Training wohl mit einer französischen Dusche begnügen müssen. Ich rannte zu meinem Sportbeutel und sprühte mir die kühle Flüssigkeit unter die Arme.

Meine Schwester ist etwas kleiner und drei Jahre jünger als ich. Sie hat blonde quirlige Löckchen, die ihr vom Kopf  wie Korkenzieher baumeln. Vergleichsweise haben wir von Außen betrachtet schon ein paar Gemeinsamkeiten, innerlich sind wir aber grundverschieden. Ich bin eher so der sportliche und unkomplizierte Typ, während meine Schwester stundenlang dem Badezimmerspiegel schöne Augen machen könnte. Vielleicht liegt das daran, dass sie und meine noch jüngere Schwester Ella, streng gesehen nur meine Halbschwestern sind. Während meine Mutter mit ihrem Julian der glücklichste Mensch auf Erden ist, hat das mit meinem Vater wohl nicht so ganz geklappt. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn ich mag Julian, der eigentlich mehr mein Vater ist, als mein leiblicher Vater es je sein wird. Gottseidank hat er den Sorgerechtsstreit vor sechzehn Jahren längst verloren. Seither hat er sich nicht mehr blicken lassen. Aber das ist mir egal, ich kann mich sowieso nicht an ihn erinnern. Meine Mutter hat mir auch so gut wie nicht über ihn erzählt.

Manche könnten vielleicht denken, ich würde mich hier ein bisschen ausgeschlossen fühlen, weil ich eben die einzige Tochter bin, die nicht denselben Vater hat, aber das ist nicht so. Wenn wir uns mal nicht streiten, verstehe ich mich mit Lily und Ella genauso gut wie sie sich untereinander auch — wenn nicht sogar ein bisschen besser. Ich bin eben viel unkomplizierter und nicht so zickig wie Lily. Auch Ella ist manchmal ziemlich launisch und weint oft. Sie ist aber erst fünf und da darf man sich das gelegentlich noch leisten. Julian ist wie seine beiden Töchter auch ziemlich schmächtig und wehleidig. Meine Mutter lacht oft über ihn, wenn er sich mal wieder den Fuß verstaucht hat und für ein paar Wochen jegliche sportliche Aktivität ablehnt. Manchmal sagt meine Mutter, ich sei der einzige Kerl hier im Haus. Das hätte mich wirklich verletzen können, aber ich bin eben nicht so. Darüber hinaus bin ich es gewohnt wie ein Kerl behandelt zu werden. Warum auch nicht? Ich gehe zum Fußballtraining, trage meine Haare nie offen und den Inhalt meines Kleiderschranks könnte von meinem älteren nicht existenten Bruder geerbt haben.

Das Einzige, was Menschen gelegentlich an meine Weiblichkeit erinnert sind meine großen Brüste und meine schmale Taille. Ich mache mir aber eigentlich so gut wie nie die Mühe auch nur eines der beiden Körperteile zu betonen. Viel lieber wäre mir die schmalere Figur meiner Mutter, die auch Lily und Ella geerbt haben. Wobei ich mir aber nicht ganz sicher bin, ob sie die nicht doch von Julian haben. Die kleinen praktischen Brüste ohne Zweifel.

Ich werfe mir meine Sporttasche über die Schulter und verlasse das Haus. Draußen steige ich in den roten Dodge Caliber meiner Mutter und starte den Motor. Eminems Stimme erfüllt den Raum, als ich aus der Ausfahrt starte. Anscheinend hat den Wagen niemand benutzt seit ich letztens zu Narome gefahren bin, um ihn zu überraschen. Ich gebe zu, dass ich gehofft habe, ich könne ihn auf diese Weise erschrecken — was mir dann auch ziemlich gut gelungen ist.

Bei der Schule angekommen, stelle ich den Wagen auf einen freien Parkplatz und schließe ab.

»Na, ist Roet wieder einmal unterwegs?«, vernehme ich eine provokante Stimme hinter mir.

Langsam und mit einem Grinsen auf dem Mund drehe ich mich zu Kendrik um. »Sieht man dich hier auch mal wieder«, entgegne ich und im nächsten Moment tut es mir leid. Ich weiß wie sehr Kendrik in den letzten Tagen gelitten hat. Obwohl…wenn man es genau nimmt, ist er irgendwie selbst daran Schuld.

»Du bist aber auch nicht netter geworden seit dem letzten Mal!«

»Wie tragisch!«, flöte ich. »Ich sehe auch, dass du heute gar kein Auto hast. Sportlicher Typ, das muss man dir lassen.«

»Wie hab ich deine leeren Komplimente vermisst«, grinst Kendrik.

Zusammen gehen wir in Richtung Turnhalle. Meine Tanzgruppe probt in einem eigenen Raum daneben.

»Hast du das von Narome und der Verrückten schon gehört?« Kendrik kriegt sich kaum ein vor Lachen. »Er hat sich doch tatsächlich von der an seinem besten Stück herumbasteln lassen und ist dann wie ein Mädchen weggestürmt. Herrlich!«

»Klar«, entgegne ich und muss auch anfangen zu lachen. »Er war am Abend noch ganz verstört als ich zu ihm gefahren bin.«

»Wahrscheinlich hat er seinen Keuschheitsgürtel zu Hause vergessen… Meine Scherze werden immer besser, ich sollte mir ein paar davon aufschreiben.«

»Träum ruhig weiter, Ewen!«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen und biege zum Tanzraum ab.

»Nein sie ist nicht netter geworden«, murmelt er vor sich hin, als er sich in Richtung Turnhalle entfernt.

»Das hab ich gehört«, schreie ich über die Schultern, doch er ist schon bei seinen Basketballkollegen und hört mich wegen der aufprallenden Bälle und den lauten Stimmen nicht mehr. Aber ich bin jetzt beruhigt, denn ich kann endlich ein bisschen aufatmen. Kendrik kann wieder lachen und obwohl mir sein selbstgefälliges Grinsen immer auf den Zeiger geht, bin ich froh es wieder an ihm zu sehen.

Mit einem Blick in den Proberaum, weiß ich, dass ich die Letzte bin. Meine drei Mädels, die beiden Jungs aus dem Junior Jahrgang und die Sophomores Valery und Gabi.

»Entschuldigt die Verspätung, wir fangen gleich an.« Ich werfe meinen Hoodie in eine Ecke und stelle mich ganz vorn mittig vor den großen Spiegel. »Tara, du kommst hier links vorne neben Anja hin, dahinter in der Mitte Barbara und an ihrer Seite Todt und Mike. Und hinter ihnen Valery und Gabi. Ist das so okay für euch?«, frage ich und sehe durch den Spiegel in die Runde.

»Also für mich geht das klar«, sagt Mike gelassen.

»Ich finds auch gut«, bestätigt Samantha, die in meinem Englischkurs ist.

Die anderen nicken bloß und murmeln etwas, das wie ein Ja klingt. Gabi und Valery scheinen nicht so begeistert zu sein, ganz hinten tanzen zu müssen, aber wenn wir ehrlich sind, haben die anderen beim Vortanzen auch mehr glänzen können. Außerdem sind alle anderen schon seit letztem Jahr dabei. Also kann ich beginnen. Ich schalte die Anlage ein und rufe »Na dann, fangen wir mal an! Für Valery und Gabi: Zuerst machen wir immer ein Aufwärmtraining. Dann zeige ich euch die neue Choreo, die wir dann am Ende des Jahres, zusammen mit den drei anderen Choreos vorführen werden.«

Nicken geht durch den Raum. »Können wir dieses Jahr auch ein bisschen Modern Dance einbringen und nicht immer nur dieses Gangster Hip-Hop und die Breakdance Moves?«, fragt Samantha.

»Ich werde sehen, was ich machen kann«, entgegne ich und wende mich wieder an alle. »Noch Fragen?«

Ich vernehme mehrere Neins, also kann ich jetzt mit dem rhythmischen Einwärmen beginnen. »Und fünf, sechs, sieben, acht!«, rufe ich.

17. Kendrik

Ich glaube nicht an Schicksal oder an sonst was in die Richtung. Ich vertraue da eher der Ursache und der Wirkung. Ich hab mal an das Schicksal geglaubt, aber das war lange bevor mich das Leben daran erinnert hat, dass es kein Schicksal gibt.

Ich laufe in die Küche und steuere auf den Kühlschrank zu. Es ist früh am Morgen und meine Mutter sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung. Als sie mich bemerkt, schaut sie auf. »Hallo, mein Schatz.«

»Morgen«, raune ich nur. Aber meine Mutter weiß, dass ich so früh nicht gut zu sprechen bin. Jetzt bin ich noch in der Denkzone. Ich denke an Louann und überlege mir eine Strategie wie ich sie heute vielleicht schon zu einem Date überreden könnte. Ich öffne den Kühlschrank.

»Pfannkuchen?«, fragt meine Mutter. Erst jetzt bemerke ich den unwiderstehlichen Duft nach ihren leckeren Pfannkuchen am Morgen. Ich setze mich zu ihr, gieße mir ein Glas Milch ein und schaufle mir ein paar Mini-Pfannkuchen auf meinen Teller. Meine Gedanken wandern zu Roet.

Gestern haben wir uns noch nach dem Training gesehen, weil ich früher Schluss hatte. Normalerweise geht das Basketballtraining etwas länger als die Tanzstunde. Die Treffen von Roets Gruppe finden auch nicht jeden Tag statt. Gestern sind wir uns also seit langem wieder einmal nach dem Training begegnet.

»Hat die Verwaltung euren Trainingsplan gekürzt?«, rief mir Roet über den Parkplatz zu.

Ich kam zu ihr rüber. »So wie sie deinen schon längst gekürzt hat, Roet?« Ich grinste.

»Wir schaffen eben mehr in kürzerer Zeit«, entgegnete sie zufrieden.

»Genug der Diskussion, ich wollte fragen, ob du mit Narome und mir heute noch zum Pavillon kommst.«

»Ich weiß nicht, ich bin schon irgendwie müde…«, sagte sie. »Und dann muss ich auch noch duschen und so, weil meine Schwester mal wieder so lange gebraucht hat, um sich die Arroganz runter zu waschen.«

»Deine Schwester ist aber schon irgendwie scharf!«, kommentierte ich.

Roet verdrehte genervt die Augen. »Geht das schon wieder los?«, murmelte sie etwas mehr zu sich selbst als zu mir.

»Okay, okay, ich hör schon auf damit«, gab ich nach. »Aber nur weil ich weiß, dass du mich jetzt zum Pavillon fährst.«

»Steig ein!« Sie grinste.

Also fuhren wir gemeinsam zu ihr nach Hause. Ich hatte Narome vorhin eine Nachricht geschrieben und er würde auch noch vorbeikommen.

Weil er aber noch zehn Minuten brauchte, ging ich erst einmal mit zu Roet hinauf und warf mich auf ihr französisches Bett. »Dann gehst du noch mit runter?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort darauf bereits kannte.

»Weißt du, ich bin heute zu müde, um dir alles dreimal zu erklären, Ken«, seufzte sie.

»Du hast Glück, dass das dein erster Strike heute ist«, erklärte ich.

Sie beachtete meine Aussage nicht, sondern fing an in ihrem Kleiderschrank zu wühlen. »Du kannst doch mit Rome nachher runtergehen und ich bin das nächste Mal wieder dabei.« Sie ging ins Badezimmer und ließ die Tür einen Spalt offen, damit ich noch mit ihr reden konnte.

»Komm schon, ich schenk dir auch eine Packung Zigaretten!«, bettelte ich. Und dann, im nächsten Moment erstarrte ich, denn ich blickte durch den Spalt in der Tür. Ich konnte Roet durch den Spiegel gegenüber der offenen Tür sehen. Noch nie hatte ich sie zuvor in Unterwäsche, geschweige denn nackt gesehen. Ich sah sie bloß für eine  Sekunde von der Seite, ehe sie aus meinem Blickwinkel verschwand, doch das Bild, das sich mir gerade eben geboten hatte, würde sich wohl ewig in meinem Kopf einbrennen.

Ober ihrer schmalen Wespentaille erhoben sich ihre vollen runden Brüste, die sich von ihrem Körper weg streckten. Weiter unten ging die Taille in ihren runden und großen Hintern über. Sie hatte die Figur einer Südländerin. Ich konnte mich noch gut an die spanischen Mädchen am Strand während meinem letzten Urlaub in Andalusien erinnern. Es war kaum zu glauben, dass sie dies all die Jahre unter ihren zu weiten T-Shirts und zu langen Hoodies verbergen konnte.

»Kendrik?!«, hörte ich Roet vom Badezimmer her mit Nachdruck rufen. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Äh, was hast du gerade gesagt?«, stotterte ich verwirrt.

»Dass ich auf eine Zigarette runter komme.« Jetzt lehnte sie sich mit einem Handtuch um ihren Körper gegen die Badezimmertür.

»Ach so das«, winkte ich lässig ab. »Ich hab dich nur nicht so gut verstanden, weil ich gerade die Mitteilung von Narome gelesen hab«, log ich gekonnt.

»Und was sagt er?«

»Er kommt ein bisschen später. Weißt ja, die Spanier und ihre Fiesta«, erklärte ich und hoffte, dass Narome tatsächlich zu spät kam. Ich brauchte nur sehr viel Glück, denn das unverkrampfte Verhältnis zu Schlaf, Nichtstun und Unpünktlichkeit der Spanier wollte auf Narome nicht so ganz zutreffen. Wir zogen ihn lediglich damit auf, wenn er dann und wann auch nur eine Minute zu spät kam.

»Gut, dann kann ich mir ja noch die Haare föhnen«, entgegnete Roet und schloss die Tür hinter sich.

»Noch etwas Kaffee?«, fragt meine Mutter und wirft mich in Sekundenschnelle aus meinen Gedanken. Sie kommt mit der Kanne neben mich.

»Ja, ich glaub, den kann ich heute gut gebrauchen!«, entgegne ich wahrheitsgemäß.

Als ich wenig später aus der Tür gehe, ruft mir meine Mutter noch nach. »Ich hab dir dein Pausenbrot noch in den Rucksack gesteckt falls du noch vor dem Mittagessen Hunger bekommst.«

»Danke!«, rufe ich noch und lasse die Tür ins Schloss fallen.

Heute nimmt mich wieder einmal Narome mit zur Schule, weil meine Mutter ihr Auto braucht. Pünktlich wie die Schweizeruhr hält er vor unserer Wohnung.

»Heute einmal pünktlich, Spanier?«, begrüße ich ihn, als ich zu ihm in den Wagen steige.

»Gleichfalls hallo«, entgegnet er. »Und Alter, nicht cool man. Du hast mir gestern im Pavillon noch versprochen, dass du das mit den Spanier-Witzen lässt.«

»Tja, dann hatte ich wohl einen Filmriss«, tat ich unschuldig.

»Das wundert mich nicht, von deinem Billigen Kartonwein. Wer trinkt so was? Mein Vater würde mich enterben, wenn er wüsste, dass ich den Scheiß von dir getrunken habe.« 

»Wenn ich’s dir sage, wenn man den in Glasflaschen umfüllen würde, würde es keiner bemerken.«

»Ach ja?« Narome runzelt die Stirn.

»Ich kann’s dir garantieren. Ach ja, und wie läuft’s mit deiner Nadia?«, frage ich so beiläufig wie möglich, und bereue es, nicht schon gestern danach gefragt zu haben.

»Nichts läuft, sie ist ne Verrückte!«, erklärt er mir und weitet seine Augen. »Sie hat mir schon gestern und vorgestern geschrieben. Fehlt nur noch, dass sie mich anfängt zu stalken.«

»Aber hallo«, lache ich provokant, »so böse Worte von einem, der in absoluter Askese lebt.«

»Ich fahr gleich das Auto gegen einen Baum, wenn du nicht aufhörst mich zu diskriminieren und du weißt, ich mache keine Scherze!«, droht er mir, doch ich kann das Zucken in seinen Mundwinkeln erkennen.

»Ist ja schon gut«, lache ich. »Aber nur damit das klar ist, ich höre nur auf, weil ich weiß, wenn wir beide draufgehen kommst du in den Himmel und ich lande in der Hölle.«

»Da spricht nichts dagegen!«, pflichtet er mir bei und lenkt den Wagen auf den Schulparkplatz.

18. Narome

Während Kendrik und ich so über den Schulparkplatz schreiten, macht sich in mir ein komisches Gefühl breit.

Ich hätte Nadia etwas Netteres schreiben können, als ihr wahrheitsgemäß zu sagen, dass sie nicht mein Typ ist — das heißt, nicht mehr, seit Louann hier aufgetaucht ist. Ich hätte ihr noch sagen können, dass ich sie trotzdem hübsch finde »und ein bisschen uninteressant«, ergänzt meine innere Stimme, die mehr als ehrlich ist. Neben der wilden exotischen Blütenpracht Louann ist Nadia nicht mehr als eine Narzisse oder ein Veilchen.

Obwohl ich weiß, dass ich kein Unmensch bin, kommt es mir so vor, als würden die Leute über mich reden. Als wir an unseren Spinden angekommen sind und ich die Unterlagen für meinen BWL-Kurs herausnehme, vernehme das Kichern mehrerer Mädchen. Als ich mich umsehe, verstummt es abrupt. Kann es wirklich sein, dass die Leute über mich reden? Und wenn sie über mich reden, dann ist es bestimmt nichts Gutes. Aber sicher bilde ich mir das nur ein, denn ich tendiere dazu mehr zu sehen, als da ist.

»Hey, Mann!«, begrüßt Kendrik einen seiner Basketballkollegen gut gelaunt. Es ist so, als hätte er sich nie quälende Gedanken über sein Stipendium gemacht.

Und dann kommt Louann Glenford den Gang entlanggelaufen. Ich kann nicht anders, als sie anzusehen. Jedoch fällt mir auf, dass sie mir diesmal nicht so freundlich entgegenblickt. Sie kommt immer näher und näher, mit ihren Highheels und dem kleinen Laptop unter dem Arm.

»Hey Lou!«, begrüßt Kendrik sie und baut sich vor ihr auf, damit sie gar nicht anders kann, als stehenzubleiben.

Auf ihrem Gesicht macht sich ein spöttisches Grinsen breit. »Keiner nennt mich Lou!«, sagt sie knapp und will sich schon abwenden, doch Kendrik lässt sie nicht vorbei.

»Und du hast mit mir noch ein Referat vorzubereiten«, erinnert Kendrik sie.

»Tja, ich denke, dass du die gute Note nicht brauchst«, flötet sie und sieht ihm herausfordernd entgegen.

Allmählich wird mir klar, dass der Böse Blick vorhin, Kendrik und nicht mir galt.

»Gut, das war mein letztes Angebot. Glaub mir, es wird dir noch leidtun, dass du es ausgeschlagen hast.« Mit diesen Worten stellt er aus und lässt sie vorbei.

Sie bleibt aber noch einen Moment stehen und dreht sich zu mir. Sie scheint mich erst jetzt zu bemerken. »Hi, ich bin Louann und neu hier an der St. Bluffton High.« Sie lächelt freundlich.

Augenblicklich merke ich wie ich rot anlaufe und gegen meinen plötzlich auftretenden Schwindel ankämpfen muss. »Hey, ich bin Narome«, entgegne ich dann selbstbewusster als erwartet und strecke ihr die rechte Hand entgegen.

Sie lächelt noch breiter und ich kann ihren unglaublich guten Duft riechen. »Hi, Narome.« Dann lässt sie meine Hand los und läuft weiter.

»Alter, du machst ein Referat mit Louann Glenford?«, frage ich begeistert, sobald sie außer Hörweite ist.

»Ja Mann, aber die ist richtig anstrengend«, sagt er und verdreht die Augen, doch dann fügt er noch hinzu »aber sie ist auch genau so heiß, dann ist das schon okay.«

»Das sah aber gerade nicht danach aus, als würdet ihr in Zukunft noch an irgendwas arbeiten…«, kommentiere ich und im selben Moment verfluche ich mich dafür. Es fühlt sich so an, als würde ich ihn hintergehen, weil er ja gar nicht weiß, dass ich sie mindestens genauso heiß finde und ich ihn sozusagen gerade schlecht mache, um mich an sie ranzuschmeißen. Natürlich würde ich das nie tun, Kendrik ist mein bester Kumpel, aber es fühlt sich trotzdem so an.

»Rome, du weißt ja, was sich neckt, das liebt sich«, winkt Kendrik gelassen ab.

»Da hast du wohl recht!«, stimme ich ihm zu und wünsche mir in diesem Moment überraschenderweise tatsächlich, dass er recht hat. Zur selben Zeit, kann ich nicht aufhören an Louann zu denken. Was hatte das eben für eine Bedeutung? Findet sie mich attraktiv?

»Du sag mal«, reißt mich Kendrik aus meinen Gedanken, »kommt es dir auch so vor, als würden die Leute uns aus irgend einem Grund alle so komisch anschauen?«, raunt mir Kendrik jetzt zu. »Zuerst dachte ich, sie reden mal wieder über die Basketball-Legende der Schule«, er zeigt demonstrierend auf sich selbst, »doch jetzt glotzen sie sogar für meine Verhältnisse ein bisschen viel.«

In diesem Moment rutscht mir das Herz in die Hose. Während meiner gesamten Highschool-Karriere hat man mich noch nie komisch angesehen, oder groß über mich geredet. Ich ermahne mich ruhig zu bleiben, doch mir wird im selben Moment ganz heiß.

»Keine Ahnung was da abgeht, Mann«, raune ich ihm nervös unter zusammengebissen Zähnen zu und versuche es nicht so aussehen zu lassen, als würden wir flüstern. Schließlich befinden wir uns mittlerweile in einer Art Käfig, wo wir von allen Seiten betrachtet werden können — das heißt, ich befinde mich in diesem Käfig.

»Dann werden wir das mal ganz schnell ans Licht bringen«, entgegnet Kendrik entschlossen und klingt dabei wie ein schonungsloser FBI-Agent. »Hey! Hey!«, ruft er einem Kerl hinterher und berührt ihn an der Schulter.

Der Typ will sich schon aufregen, doch als er erkennt mit wem er es zu tun hat, wirkt er augenblicklich ein bisschen eingeschüchtert. »Hey, Mann!«, begrüßt er Kendrik. Er sieht echt nicht schlecht aus und wirkt durchaus so, als würde er über die neusten Geschehnissen an der Highschool Bescheid wissen.

»Du kannst mir doch ganz bestimmt sagen, über was die Weiber hier alle so unsympathisch kichern!«, sagt Kendrik geradeaus.

»Ähmm…ich sag’s ja nur ungern, aber die kichern wohl wegen deinem indischen Freund.«

Kendriks Ausdruck im Gesicht verdunkelt sich sofort und er sieht zu mir und dann wieder zu dem Kerl. »Also erstens, wenn du dir einen Scherz erlaubst, dann kann ich alles Nötige tun, um dir deinen Ruf an der Schule zu ruinieren«, droht er ihm mit seiner tiefen Stimme. »Und zweitens frage ich mich ob du nicht ein kleiner Intelligenzallergiker bist, wenn du Rome als Inder bezeichnest.«

Im Gesicht des Kerls zeichnen sich schon beinahe Schweißperlen und sein Kopf hat mittlerweile den ungesunden Ton eines hochroten Ziegelsteins angenommen. »Ich mein’s ernst, ohne Scheiß, die reden über ihn.« Er wirft mir einen mittleidigen Blick zu.

»Und was ist über ihn im Umlauf?«, hakt er nach.

»Ähmm, d…dass«, stottert er und seine Stimme wird leiser. »Dass sein bestes Stück wohl nicht länger als acht Zentimeter sei.«

Als ich das höre, denke ich, entgegen allen Vermutungen, nicht an all die anderen, nicht an all die Dinge, die sie über mich denken könnten. Ich denke nur an Louann und, dass ich mir jetzt eine Chance bei ihr für alle Zeiten verspielt habe. Jetzt muss ich mit ihr abschließen, auch wenn ich ihr vermeintlich schon ein Stück näher gekommen bin. Aber ich muss mir eingestehen, der Traum, an Louann Glenford zu gelangen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Schon allein deswegen, weil ich weiß, dass sie sozusagen für Kendrik reserviert ist. Es mag vielleicht danach aussehen, als würde sie ihn hassen, aber Mädchen wie Louann kommen früher oder später immer mit den Captain des Footballteams zusammen oder, in diesem Fall, mit dem des Basketballteams. 

»Wer hat dir bloß diese kollektive Scheiße eingebrockt?«, zischt Kendrik.

Es braucht keinen Sherlock Holmes, um herauszufinden, wer hinter all dem steckt. Wut wächst in mir, eine derart große Wut wie ich sie bei mir sonst nicht kenne. Diese Nadia ist echt das Letzte! Aber im nächsten Moment muss ich mich rügen, weil sie ja auch nur ein Mensch ist und sie schon ihre Gründe haben wird. Gott will nicht, dass wir die Menschen hassen. Und heute habe ich vor Wut schon einige Dinge über Nadia gesagt, die ich bereue.

Der Kerl steht noch immer ratlos neben uns, doch Kendrik beachtet ihn nicht mehr.

»Könnte gut sein, dass die Verrückte Nad was mit dem Gerücht zu tun hat«, überlegt er und knallt seinen Spind zu. Ich folge ihm den Gang runter.

»Es könnte nicht nur sein«, flüstere ich ihm im Gehen zu, »es ist sogar ganz gewiss sie!«

»Komm schon, sag mir, was ist zwischen euch noch vorgefallen, was hast du ihr gestern und vorgestern zurückgeschrieben?«, fragt er seufzend und bleibt stehen. Als ich nicht gleich was sage, wird er ungeduldig. »Alter Rome, wenn ich dir helfen soll, dann musst du mir schon die ganze Geschichte erzählen!«, fordert er.

»Ich hab ihr eventuell geschrieben, dass sie nicht mein Typ ist…«, gebe ich zerknirscht zu. »Aber das kann doch nicht so schlimm sein, ich meine, das sagt ja im Prinzip, dass sie schon hübsch ist und toll… Sie ist eben nur nicht mein Typ…«, verteidige ich mich.

»Dein Ernst, Mann?«, mahnt er mich. »Miss-nicht-mein-Typ gehört genau in die selbe Schublade, wo sich all die Mauerblümchen, Mannsweiber und Telefongesichter befinden. Es ist ganz eindeutig ein Synonym für scheiße!«, erklärt er mir. »Ich muss jetzt dringend in meinen Mathekurs, aber in der Mittagspause treffen wir uns bei der Kirche, okay?« Mit diesen Worten kehrt er mir eilig den Rücken zu und läuft den Gang runter.

»Geht klar, Mann!«, ruf ich ihm nach.

Mit einem tiefen Seufzer mache ich mich auf dem Weg zu meinem BWL-Kurs und hoffe, dass mich die Blicke der anderen nicht zu Staub zerfallen lassen. Obwohl das in meiner Situation gerade echt von Vorteil sein könnte.

In der nächsten Stunde habe ich Gottseidank Physik mit Roet. Sie erwartet mich schon, als ich den Klassenraum betrete.

»Alles okay?«, fragt sie besorgt, als ich mich zu ihr setze.

Ich nicke. »Hast du es etwa auch schon mitbekommen?«, flüstere ich, doch im nächsten Moment weiß ich, dass das albern ist, weil sich Gerüchte auf der Highschool wie der schwarze Tod im tiefen Mittelalter verbreiten. Besonders wenn es sich um das beste Stück eines heißblütigen Südländers handelt.

»Ja, das war wohl kaum zu überhören, aber in einer Woche gibt es wieder ein neues Gerücht oder ein paar Nacktbilder, über die sich dann jeder das Maul zerreißt«, versucht sie mich zu trösten.

Ich wage es nicht, mich in der Klasse umzuschauen, das ist auch nicht nötig, ich spüre die bohrenden Blicke auch so im Rücken.

Irgendwie schaffe ich es durch den restlichen Vormittag zu kommen, ohne groß blöd angemacht zu werden.

Als ich kurz vor der Pause zu meinem Spind laufe, vernehme ich jedoch erneut Gekicher und als ich näher trete, sehe ich auch woran das liegt. Auf meinem Spind kleben unzählige bunte Post-it mit Sprüchen wie »Die Würze liegt in Kürze« oder »Das Schönste im Leben sind doch die kleinen Dinge«.

Anstatt mich groß aufzuregen oder anzufangen hektisch die Zettel zu entfernen, öffne ich den Spind einfach und kicke meine Sachen rein. Dann mache ich mich auf den Weg zur Kirche gleich neben der Schule. Dort halten sich während der Mittagspause auch nicht so viele Schüler auf.

Als ich über die Straße laufe, sehe ich schon Kendrik auf dem klapprigen weißen Zaun sitzen. »Na, war das Getuschel groß oder klein?«, ruft Kendrik mir entgegen.

»Wenn du auch noch damit anfängst, können wir das auch alles lassen!«, entgegne ich barsch und ich merke wie mir dieser Tag allmählich ordentlich zusetzt.

»Nein Alter, das war doch nur ein Scherz«, entgegnet Kendrik sofort entschuldigend.

»Ja ein peinlich schlechter auch noch!«

»Ich dachte ich mach mal einen Witz, nur so zur Lockerung der Stimmung.«

»Ist schon gut«, antworte ich und ich weiß, dass er es ernst meint. Ich gehe mit ihm auf die Kirche zu und wir hocken uns auf die letzte freie Bank daneben, die etwas Abseits steht.

Kendrik reicht mir ein Brot. »Das ist noch von vorhin übrig, wenn du Hunger hast«, bietet er mir an.

»Nein danke, lass mal, ich hab keinen Hunger.«

»Hey Rome, du musst was essen, sonst bringt dich der Tag noch um!«

»Gut, dann lass mal einen Biss machen«, gebe ich mich geschlagen und beiße in das Brot. Ich merke in diesem Moment erst wie großen Hunger ich eigentlich habe.

»Also«, beginnt Kendrik, »ich hab schon so einen Plan wie wir deinen Ruf wieder aufbauen.«

»Man kann einen Ruf nicht wieder aufbauen!«, widerspreche ich und es ist sehr ungewöhnlich, dass ich solche Dinge sage.

»Du hast recht, man kann seinen Ruf auf der Highschool nicht wieder aufbauen«, stimmt er mir zu. Doch dann macht sich sein, für ihn typisches, selbstgefälliges Grinsen auf dem Gesicht breit. »Aber da du mit mir befreundet bist, hast du hier auf der St. Bluffton High grenzenlose Möglichkeiten.«

»Ach ja?«, entgegne ich unbeeindruckt, aber mir huscht ein Schmunzeln über die Lippen.

»Entschuldige wenn ich das sagen muss«, sagt er dann lachend, »aber ich bin sowas wie der Gott auf dieser Highschool.«

»Das ist nicht cool, Mann! Echt nicht cool«, ermahne ich ihn. »Und schon gar nicht vor der Kirche hier.«

»Okay, dann bin ich eben der Diktator«, gibt er sich geschlagen.

»Ich sag’s dir nur mal so vorsichtshalber, aber mein Vater würde dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn er hört, dass du denkst, Gott sei so was Ähnliches wie ein Diktator«, warne ich ihn.

»Jaja, ich bin der Captain. Gut?«

»Das ist wahr! Schon mal ein guter Anfang«, lobe ich ihn mit einem Grinsen im Gesicht.

»Rome, du musst einfach eine Party schmeißen und die ganze Schule einladen. Ihr Spanier badet ja so gern in Gesellschaft. Und dann wenn du betrunken genug bist, sehen ein paar besoffene Hühner rein zufällig dein Teil und dann werden sie überall herumerzählen wie gut bestückt du bist. Du bist doch gut bestückt, oder?«

»Hey Mann, du kannst das nicht einfach deinen Kumpel fragen!«, rege ich mich auf.

»Das war doch nur ne Frage.«

»Schon gut!«, beruhige ich ihn. »Aber hast du nicht vielleicht eine bessere Idee?«

»Hmm… du müsstest einfach taffer werden und irgendwie versuchen doch noch ein Mädel rumzukriegen. Am besten so ein Schnabelflittchen wie Nadia, damit sie den Rest der Schule vom Gegenteil überzeugen kann. Oder!« Seine Augen beginnen zu funkeln. »Oder, du nimmst genau diese Nadia.« Kendrik ist davon überzeugt, dass er auf einen genialen Plan gestoßen ist.

Ich schüttle entschieden den Kopf. »Das kannst du vergessen, mit der will ich nichts mehr zu tun haben!«

»Liebe deinen Nächsten ist jetzt plötzlich nicht mehr so einfach, was?«, fragt er dann amüsiert.

Ich lache kurz bitter auf. »Es wird schwerer und schwerer«, pflichte ich ihm bei.

»Du bist einfach nicht tough genug!«, sagt er dann. »Du musst dich einen Dreck darum kümmern, was andere denken und mit erhobenen Schultern durch die Flure der Schule gehen. Ich meine, du siehst gut aus und auf Südländer stehen die Chicks nun mal. Du hast also leichtes Spiel.«

»Hey Leute«, begrüßt uns Roet die sich erschöpft und mit weit geöffneten Beinen neben mich auf die weiß lackierte Holzbank fallen lässt. »Diese Gerüchte machen ja die Runde«, sagt sie.

»Vielen Dank, dass du mich wieder dran erinnerst«, beschwere ich mich bei ihr, doch ich meine es nicht so ernst. Ich will nur, dass dieser Tag so schnell wie möglich zu Ende ist.

»Rome, ich sag’s dir ja nur ungern«, sagt Roet dann, »aber ich hab dir gesagt, lass die Finger von ihr.« Sie macht einen tiefen Griff in die Chipstüte in ihrer Hand.

»Ach, komm schon, Roet, du rätst uns das doch bei jedem Mädchen!«

»Sie steht heimlich auf uns«, bemerkt Kendrik mit seinem Grinsen und hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja klar, ich steh auf euch!«

»Aber jetzt mal im Ernst, was hast du eigentlich gegen diese wunderbaren weiblichen Geschöpfe?«

»Durch Nadja sieht man ja wie wunderbar sie sind!«, kommentiert sie.

»Es sind längst nicht alle so!«, widerspricht ihr Kendrik. »Meine Hühner sind einfach die besten.«

»Ist ja ekelhaft!«, bemerkt Roet.

»Oder einfach nur bewundernswert«, ergänzt Kendrik.

»Weißt du, dass du manchmal einfach nur anstrengend bist?«, sagt sie jetzt. Dann wendet sie sich an mich. »Auch ein paar Chips?«, nuschelt sie mit vollem Mund.

»Ich lass sie dir«, entgegne ich und muss ehrlich zugeben, dass mich ihre Art, Essen zu sich zu nehmen, manchmal schon ekeln kann. In dieser Hinsicht ist sie einfach wie ein Kerl.

»Gut, dann bleibt eben mehr für mich«, gluckst sie zufrieden und leert die ganze Packung in ihren Mund.

»Sag mal, ernährst du dich eigentlich auch noch von was anderem, oder bist du zu sowas wie einem Kartoffelchipsaner mutiert?«, fragt Kendrik belustigt.

»Was soll den ein Kartoffelchipsaner sein?« Roet runzelt die Stirn.

»Ich schätze mal, einer der sich nur von Kartoffelchips ernährt«, entgegne ich. »Ich meine, heute gibts ja alles, angefangen bei diesen Gemüse-Taliban und diesen Verrückten, die warten bis die Früchte vom Baum fallen.«

»Ganz richtig«, stimmt Kendrik mir zu. »Und du bist so einer.«

»Oh mein Gott, ich muss mein Leben ändern, weil zwei Idioten mich auf mein Essverhalten aufmerksam gemacht haben!«, bemerkt Roet ironisch. Dann blickt sie zu ihrem Schoß und sieht hier noch ein paar Chips liegen. »Und ich dachte schon, die wären alle!«, sagt sie erfreut und stopft sich die restlichen in den Mund.

»Sie ist eindeutig ein Kartoffelchipsaner!«, stelle ich fest.

»Ja, das, oder ein Kerl!«, ergänzt Kendrik mit einem erschrockenen Blick.

Alter!, ermahne ich ihn geräuschlos mit meinen Lippen, ohne, dass Roet es mitbekommt.

Der zuckt verwirrt mit seinen Schultern. So, als würde er sagen Was hab ich denn falsch gemacht?

Er kann sie nicht einfach so als Kerl bezeichnen. Ich weiß, dass Roet immer so tut, als würde ihr das alles nichts ausmachen, als wäre sie unzerstörbar. Doch wer weiß, was sie sich insgeheim denkt?

Nach einer Weile gehen wir wieder Zurück in die Schule und als ich vor meinem Spind stehe, sehe ich dass kein einziger Zettel mehr dort hängt.

»War das einer von euch?«, frage ich an Roet und Kendrik gewandt.

Roet schüttelt mit weit aufgerissenen Augen den Kopf.

»Anscheinend hat es sich deine Nadi anders überlegt«, entgegnet Kendrik schmunzelnd.

»Siehst du, das gibt sich alles schneller als du denkst!«, versucht mich Roet aufzumuntern. »Nur muss ich jetzt leider los in den RWK-Kurs. Der Lehrer ist echt ein Diktator!«, bemerkt sie mit rollenden Augen.

»Bye, bis später«, rufe ich ihr noch nach.

Kendrik und ich schlendern lässig zu unserem Bioethik-Kurs. Der Professor in diesem Fach, kümmert sich nicht darum, ob man mal zehn Minuten zu spät kommt. Also können wir uns Zeit lassen.

»Du sag mal«, meint Kendrik dann. »Warum hast du mich vorhin eigentlich so komisch angesehen?«

»Warum denn wohl? Du könntest Roet damit verletzen, wenn du sie immer als Kerl bezeichnest!«

»Wir nennen dich doch auch ständig ein Mädchen und dir macht das auch nichts.«

»Du hast recht, aber was ich sagen will ist, dass ich ein Kerl bin und mir das zusammen mit Vaters spanischen Telenovelas so ziemlich am A vorbeigeht. Aber Roet ist eben ein Mädchen, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«

 

19. Pat

Wie so oft gehe ich in die Küche und mache mir ein Sandwich. Ich schneide dann immer die Ränder von den Scheiben ab und kicke sie in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Wenn ich das Brot mit Käse belege, schieb ich es zum Schluss kurz in die Mikrowelle.

Während ich auf das Piepsen der Mikrowelle warte, starre ich gedankenverloren auf die Kücheninsel, auf der sich unter anderem der große, flache Induktionsherd befindet. Kaum zu glauben, unsere Putzfrau muss auf dem Herd Staubwischen, um ihn sauber zu halten. Tja, Mum kocht eben nie. Für sie ist unsere hoch moderne Küche, die mit weißem Glas verkleidet ist, mehr Teil ihrer Deko. Weil ich die Süß-Sauer-Soße zum dippen nicht finde, laufe ich den Gang runter, zu Mums Arbeitszimmer. Als ich dort ankomme, vernehme ich eine rege Unterhaltung. Die Tür ist einen winzigen Spalt offen.

Ich presse mich an die Wand neben dem Schlitz und lausche angestrengt.

»…fass es nicht, dass du dir es einfach so anders überlegst! Ich hab leicht genug Punkte, um mir eine Brust-OP zu kaufen!«, vernehme ich die schrille Stimme von Louann.

»Für einen derartigen Eingriff wirst du niemals genug Punkte haben!«, höre ich die strenge Stimme meiner Mum. »Ich will doch nicht, dass man meine Tochter für ein Freudenmädchen hält!«

»Weißt du was?« Louanns Stimme klang jetzt bedrohlich. »Wenn du mir die OP verbietest, prostituiere ich mich einfach so lange, bis ich mir selbst eine Operation leisten kann. Und du weißt, wozu ich fähig bin!«

»Als ob du das tun würdest. So eine Schande würde ich selbst dir nicht zutrauen, Louann.«

»Das werden wir ja noch sehen«, zischt sie. »Und das mit dir und dem anderen Mann sage ich Vater, nur damit du es weißt.«

»Bitte!«, sagt meine Mutter abwertend. »Ich weiß selbst gut genug, dass du nicht so dumm wärst, um deine eigene Familie zu zerstören. Ich hätte dir beim ersten Mal auch nicht glauben dürfen.«

»Diese Familie ist doch längst schon kaputt«, brüllt Louann jetzt. Dann stampft sie mit wütenden Schritten auf die Tür zu. Ich halte den Atem an, als sie die Bürotür hinter sich zuknallt.

Im ersten Moment glaube ich, sie hätte mich bemerkt, doch sie läuft mit stampfenden Schritten den Gang hinunter.

Ich realisiere gar nicht, wie lange ich in meiner Position verharre. Das Gehörte fühlt sich einfach nicht echt an, nicht so als wäre auch nur eines dieser Worte wahr.

 

Nach einer Weile kann ich mich endlich aus meiner Schockstarre lösen. Mit weichen Knien schleppe ich mich langsam den hohen, hellen Flur entlang. Doch aus irgend einem mir unergründlichen Antrieb, zieht es mich zurück in die Dunkelheit. Ich muss einfach zurückgehen. So stehe ich nach wenigen Sekunden im Arbeitszimmer meiner Mutter. Ich stehe einfach so vor ihr und sie sieht mich an.

Sie blickt mir mit geschockten Augen entgegen. »Was ist denn los?«, fragt sie besorgt.

Ich kann nichts sagen, meine Stimmbänder sind gelähmt.

»Sie hat es dir gesagt, oder?«, flüstert sie dann.

»Warum? Warum hast du einen anderen geküsst?«

»Schätzchen, dein Vater ist nie zu Hause…«, setzt sie an, doch ich weiß wie sehr sie sich in diesem Moment selbst hasst.

Aber ich schüttle nur meinen Kopf. »Nach allem was er für diese Familie getan hat…«

»Pat…«

»Was?«, zische ich scharf. »Willst du dir jetzt vielleicht auch einen anderen Sohn zulegen?« In meiner Stimme ist nichts als Verachtung.

»Pat, was redest du denn da?« Jetzt steht sie auf und kommt um den Schreibtisch herum auf mich zu.

Aber ich weiche ihr aus.

»Patrick«, sagt sie dann sanft, sie nennt mich nicht oft so »wenn du einmal älter bist und jemanden liebst, wirst du merken, dass ein kleiner Kuss nichts bedeutet«, versucht sie mich zu überzeugen, aber diese Worte machen mich so verdammt wütend. Ich kann sie nicht einmal mehr ansehen.

»Weißt du was? Ich glaube, ich verstehe mehr von dieser Liebe, als du je begreifen wirst!«

Mit diesen Worten stürme ich aus dem Raum.

Sie ist immer diejenige gewesen, zu der ich aufgeschaut habe. Und jetzt weiß ich nicht mehr, zu wem ich noch aufblicken soll.

20. Roet

Ich muss etwas dagegen tun! Denn eigentlich hätte ich diejenige sein sollen, die die Schilder an Naromes Spind abmacht. Ich bin seine beste Freundin und muss mich mehr um ihn kümmern. Schließlich ist er immer für mich da.

Was ich mich nur frage ist, wer es denn eigentlich war, der die Zettel vom Spind gerissen hat. Eine Lehrperson oder ein Schuldiener kann es fast nicht gewesen sein. Die Sprüche hörten sich ja alle nicht wie Gemeinheiten an. Auf keinem Zettel stand eine Beleidigung. Sie waren so konzipiert, dass nur wer wirklich wusste, was abging, deren wahre Bedeutung begriff.

Ich werfe mich auf mein französisches Bett, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre gegen die Decke. Ich muss an das Gespräch mit Narome heute vor der Kirche denken. Ich nehme eine Hand hinter dem Kopf hervor und führe sie zu meinen Brüsten. Ich schiebe mir die Hand unter mein weites T-Shirt und meinen Sport-BH und nehme eine Brust in meine Hand. Sie ist so voll, dass meine Hand zu klein ist, um die ganze in ihr halten zu können. Ich beginne sie zu kneten und lasse meine Finger dann hinunter zu meiner schmalen Taille gleiten. Wenn ich sie dorthin wandern lasse, fühle ich wie ich erheblich breiter werde. Dann gehe ich wieder zu meinen Brüsten und halte jetzt mit jeder Hand eine Brust. Sie sind unglaublich weich und rund.

Und dann, plötzlich fliegt meine Zimmertür auf und Lily kommt hereingeplatzt. Mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem starrt sie auf mich und dorthin, wo meine Hände sind.

Augenblicklich schrecke ich hoch und ziehe meine Hände unter meinem Shirt hervor. »Kannst du nicht anklopfen?«, schreie ich sie an.

»Ich kann ja nicht wissen, was du da tust!«, brüllt Lily zurück und stürmt aus dem Zimmer.

Es ist nicht, das wonach es aussieht!, will ich ihr noch nachrufen, doch sie ist schon verschwunden. Und das Frustrierendste daran ist, dass es wirklich nicht das ist, was sie denkt.

Ich sehe gerade, dass sie die Tür offengelassen hat und stehe dann auf, um sie mit einem kräftigen Stoß zuzuschlagen. Ich bin so verdammt wütend.

Ich ziehe mir einen Hoodie über, obwohl mir eigentlich viel zu heiß ist. Ich bin froh, dass ich bald zum Fußballtraining muss. So kann ich meinem Ärger Luft machen.

Ich gehe zu meinem großen Fenster, setze mich auf die Fensterbank darunter und blicke hinaus. Eine Weile lang lasse ich mich einhüllen in die Stille und beobachte die Sträucher, die mal von Vögeln besucht, mal vom Wind gewiegt werden.

Und dann hüpft die Tür mit einem Mal wieder auf.

»Verdammt, Lily!«, schreie ich so laut ich nur kann. Doch als ich mich umdrehe steht da nicht Lily. Es ist Kendrik, der etwas verdutzt im Türrahmen steht. Aber ich weiß, dass er im nächsten Moment wieder so selbstgefällig grinsen wird. Und ich weiß, dass ich es jetzt nicht ertrage, wenn er das tut.

Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich ihn noch so an, den Atem angehalten. Ich sehe sein weißes T-Shirt, dass sich über seine muskulösen Oberarme spannt. Auf seinem Kinn und an seinen Wangen entdecke ich die Bartstoppeln und ich sehe auch seine hohen markanten Wangenknochen und die geschwungenen Lippen. Ich weiß nicht warum, aber wenn ich ihn so ansehe, werde ich noch viel wütender.

»Was machst du denn hier?«, schnauze ich ihn an.

»Ich hole dich ab.« Jetzt grinst er und ich will gar nicht mehr hinsehen. »Bist du irgendwie wütend?«

»Weißt du was, verschwinde einfach!«, zische ich jetzt.

»Was ist denn los mit dir?«, fragt er dann verwirrt und seine ausdrucksstarken Augen sehen mich durchdringend an.

»Bist du schwer von Begriff? Verschwinde einfach!«, mache ich ihm mit Nachdruck klar.

Er hebt unschuldig die Hände. »Was hab ich denn getan?«

»Ich sagte, raus hier!«, brülle ich jetzt und knalle ihm die Tür vor der Nase zu. Ich lehne mich gegen sie und ich kann nur das Geräusch meines schnellen Atems und das Klopfen meines lauten Herzens hören.

Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Woher kommt nur diese verdammte Wut? Ich mache einen Schluck von der Glasflasche auf meinem Nachttisch. Ich hole ein Mal lang und kräftig Luft und lasse meine Anspannung beim Ausatmen von mir weichen. So ganz funktioniert das nicht, aber ich merke, wie ich so langsam wieder zur Vernunft komme.

Sofort stürme ich aus dem Zimmer und renne aus dem Haus. Gottseidank, er ist noch da. »Kendrik, warte!«, rufe ich, als er unsere Auffahrt runtergeht.

Er dreht sich zu mir um. Seine wuscheligen dunkelbraunen Haare werden vom lauen Wind zerzaust.

Ich renne auf ihn zu. »Tut mir leid, meine Schwester hat mich heute mal wieder auf die Palme gebracht. Es ist wohl einfach mit mir durchgegangen«, erkläre ich ihm entschuldigend. Es ist nicht einmal wirklich gelogen, rede ich mir ein.

Auf Kendriks Gesicht macht sich ein verschmitztes Grinsen breit. »Dann nehme ich mal an, dass dies einer dieser ganz besonderen Tage im Monat ist.«

»Sei einfach froh, dass ich dich zur Schule fahre!«, entgegne ich und meine Mundwinkel zucken verdächtig. »Ich geh nur noch schnell mein Zeug fürs Training holen.«

Dann laufe ich die Auffuhrt hoch und überlege mir währenddessen, warum mich seine Bemerkung über meine besonderen Tage im Monat nicht wütend gemacht hat. Mit solchen Sprüchen kann er mich sonst zur Weißglut bringen. Kopfschüttelnd stopfe ich meine kurzen Trainerhosen in den Stoffbeutel und hoffe, dass morgen alles wieder beim Alten ist.

21. Louann

Ich weiß, dass meine Mutter tatsächlich denkt, ich würde mich nicht trauen, sie bei meinem Vater zu verraten, doch da hat sie sich geirrt. Natürlich werde ich vor meinem Vater nur einen Kuss erwähnen, um noch etwas Weiteres gegen sie in der Hand zu haben.

Aber bevor ich die vierstündige Fahrt auf mich nehme, um zu meinem Vater in die Kanzlei zu kommen, muss ich erst noch in die Schule, um zu verhindern, dass meine Mutter Verdacht schöpft. Seit ich das letzte Mal geschwänzt habe, traue ich ihr ruhig zu, dass sie in der Schule anruft.

So steige ich frühmorgens aus meinem babyblauen VW New Beatle Cabrio und schließe ihn im Gehen mit einem Druck auf den Schlüssel ab.

Heute ist meine erste Pädagogikstunde, die meine Eltern mit Absicht für mich ausgesucht haben. Ich soll wohl ein bisschen freundlicher im Umgang mit anderen werden. Ob ich das in diesem Kurs tatsächlich lernen werde ist mir eigentlich völlig egal! Ich bezweifle es aber stark. Tja, Pech gehabt, Mutter. Ich weiß, dass es meinem Vater insgeheim egal ist. Er ist auch kaum zu Hause.

Ich trage heute ein ärmelloses Top mit sündhaft tiefen Blick in meinen Ausschnitt. Meine hohen Absätze betonen meine Hüften und meinen Knackpo. Ich weiß, dass ich unglaublich gut aussehe und, dass sich alle nach mir umdrehen. Das bin ich schon gewohnt.

Letztens meinte ein Mädchen auf dem Klo, dass wegen mir sogar all die Nerds aus ihren Löchern gekrochen kämen. Die Flure der Highschool, seien plötzlich viel überfüllter und enger. Sie hatte dunkelbraune Korkenzieherlocken und eine typische Opferfresse. Kein Wunder, dass sie nach meiner Aufmerksamkeit durstet.

Ich gehe also zu meinem Spind und öffne die Tür. Im Inneren befinden sich mein kleines goldenes MacBook und ein paar Briefumschläge, die mir wohl ein paar meiner stillen Verehrer durch die Luftschlitze im Spind geworfen haben. Ich vermute mal, es waren ein paar von den Clearasil-Testgeländern, von denen das Korkenzieher-Ding im Klo neulich gesprochen hat.

Als ich meinen leichten Laptop herausnehme und meine Spindtür zuschlage, verbirgt sich hinter ihr ein mir leider bekanntes Gesicht. Kendrik Ewen. Er blickt mir mit seinem siegessicheren Grinsen entgegen.

»Du schon wieder«, seufze ich und drehe mich weg, um nicht länger in seinen scheiß eingebildeten Ausdruck blicken zu müssen. Ich gehe zügig in Richtung Pädagogikkurs und der Idiot läuft mir wieder hinterher. 

»Falls du’s schon vergessen hast, wir haben immer noch ein Referat vorzubereiten.«

»Du weißt doch bereits wie ich dazu stehe«, sage ich tonlos geradeaus, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Na gut, ich geb’s auf«, meint er resigniert. »Wahrscheinlich wäre mir dein Beitrag auch keine Hilfe gewesen. Ich mach’s einfach allein und du kannst dann selbst schauen, was du auf die Beine stellst.«

»Meinetwegen«, sage ich noch und ergreife die Türklinke zum Pädagogikkurs.

»Du auch Pädagogik?«, fragt mich Kendrik jetzt mit einem schadenfrohen Grinsen.

»Na toll!«, seufze ich und betrete den Raum. Bis auf zwei nebeneinender stehende Bänke in der hintersten Reihe, sind bereits alle besetzt.

»Guten Morgen, nehmt platz!«, begrüßt uns der Professor, ein kräftig gebauter Mann Mitte dreißig.

»Guten Morgen«, grüßt ihn Kendrik freundlich zurück.

Ich sage nichts und setze mich auf eine freie Bank.

Kendrik setzt sich neben mich und ich bin mir auch sicher, dass er sich neben mich gesetzt hätte, wären noch andere Bänke frei gewesen. Wie unausstehlich muss ich denn noch werden, um diesen selbstgefälligen Tumor endlich loszuwerden?

»Wie ihr alle gesehen habt, haben wir eine neue Mitschülerin, Miss Louann Glenford.«

Alle drehen sich zu mir um und glotzen mich an. Ich setze ein schwaches Lächeln auf. Als würden die mich alle zum ersten Mal sehen!

»Ich bin Professor Burton und unterrichte in den Fächern Pädagogik und Biochemie.«

Ausgezeichnete Wahl!, denke ich spöttisch, behalte es aber für mich. Ich nicke so freundlich es geht und lasse ihn mit dem Unterricht beginnen.

»Wir also wieder zusammen in einem Kurs«, raunt Kendrik in meine Richtung. »Dasselbe gilt für den Anatomie- und auch den Astronomie-Kurs nachher, hab ich gesehen. Man könnte fast meinen, du hast dir diese Kurse absichtlich ausgesucht, weil ich sie mache.«

»Träum weiter, es war nur nichts mehr anderes frei. Außerdem hab ich vor einer Woche noch gar nichts von dir gewusst und was für eine Arschkrampe dieser Kendrik Ewen ist.« Und dann füge ich mit bedauerlicher Stimme noch hinzu »Leider weiß ich es jetzt.«

»Arschkrampe, was für ein kreatives Kompliment!« Er grinst.

»Du bist ja auch ziemlich kreativ im Arschsein!«, schieße ich zurück.

»So schöne Komplimente bekomme ich sonst nie«, flötet er.

Mir geht langsam die Geduld aus, aber ich versuche ruhig zu bleiben.

»Die Pädagogik findet sich nahezu überall in unserem Leben«, erklärt der Lehrer mit ziemlich viel Enthusiasmus. Lehrer, die sich übertrieben für ihr Fach begeistern gehen mir immer besonders auf die Nerven. Die kann man so gut wie nie manipulieren. Die haben ihre Prinzipien und so einen Scheiß. »Angefangen bei uns Lehrern«, redet er weiter. »Was mache ich, wenn einer meiner Schüler mich beleidigt? Begegne ich ihm mit einer Beleidigung meinerseits? Ignoriere ich ihn?«

Kendrik hebt eifrig die Hand.

So ein prätentiöser Streber! Ich seufze zum gefühlt tausendsten Mal in diesem Raum.

»Ja, Ewen?«

»Miss Glenford hat eine interessante Hypothese zu ihrer Frage.« Er deutet auf mich.

»Ja, ich habe allerdings etwas beizutragen«, entgegne ich mit einem Lächeln auf dem Mund und wende mich dann nach rechts zu Kendrik. »Kendrik, du bist der Tinnitus meiner Ohren, der Star in meinen Augen, der Tumor meines Herzens. Kendrik, du bist ein Hurensohn!«

»Miss Glenford, halten Sie es für angebracht, so mit Ihrem Mitschüler zu reden?«, fragt der Lehrer ruhig.

»Entschuldigung«, ich wende mich wieder an Kendrik. »Mr. Ewen, Sie sind ein Hurensohn!« Ich sage das und sehe ihn dabei mit meinem falschen freundlichen Gesicht an. Kendrik grinst noch immer. Ich könnte ihm den Kopf einschlagen!

»Das reicht, Miss Glenford!«, sagt der Professor jetzt streng. »Ins Direktorzimmer.«

Mit einem zufriedenen Grinsen stehe ich langsam auf und stakse in meinen Highheels aus dem Raum. Nichts ist mir zu blöd, vor all den Hackfressen an dieser Schule.

Beim Direktor werde ich gleich zur Schulpsychologin bestellt. Ich setze mich also in den kleinen Raum, der mit vielen geschmacklosen Postern ausgekleidet ist.

Eine junge Frau mit blonden, glatten Haaren sitzt mir hinter dem kleinen Schreibtisch gegenüber. Sie ist nicht besonders hübsch, auch nicht geschickt geschminkt.

»Hallo Louann. Was hat dich dazu veranlasst, deinem Mitschüler ein solch schreckliches Wort an den Kopf zu werfen?«, fragt sie mich.

»Ich will, dass Sie mich siezen!«, sage ich im etwas provokanten Tonfall und lehne mich im Stuhl zurück.

»Sobald du mir den nötigen Respekt entgegenbringst, mach ich das gerne.« Sie lächelt ihr scheiß freundliches Lächeln und das macht mich nur noch wütender.

Eine Weile rede ich mit ihr diesen alternativen Pädagogen-Kram — das heißt, sie redet und ich nicke — und dann lässt sie mich gehen. Ich bin für drei Tage suspendiert.

Wenn man für diese »Unannehmlichkeiten« auch noch belohnt wird, kann ich das ruhig wiederholen!

Mit diesem Gedanken lasse ich mir mein Ticket am Bahnhofsautomaten machen und steige in den nächsten Zug.

Ich setze mich in ein leeres Abteil und schaue aus dem Fenster. Ich lasse meinen Blick schweifen, über die vorbeiziehenden Landschaften. Der Zug fährt durch eine kleine Siedlung. Schon verrückt, dass manche Menschen genau an diesem Ort leben und genau dieses eine Leben führen. Ihr Leben ist genau so real wie meines, das des Mädchens, das genau in diese Stadt gezogen ist und genau dieses Leben führt.

Unwillkürlich muss ich an Pat und mich denken, als wir noch kleiner waren. Ein Mal, als wir das erste Jahr zur Schule gingen, hab ich das ganze Zimmer von Pat verwüstet, weil ich eifersüchtig war. Meine Mutter hatte ihm wieder ein Mal viel mehr Punkte, als mir gegeben. Und das, obwohl ich mich genauso sehr angestrengt hatte wie er. Ich bin also in Pats Zimmer und hab alles kurz und klein geschlagen. Ich hab die Familienfotos von den Wänden gerissen und sie auf dem Boden zerbersten lassen. Die blaue Kindertapete hab ich runtergerissen. Ich hab seine Bettdecke zerschnipselt und zerfetzt. Ich weiß noch, durch die ganzen Daunen sah es nachher aus wie nach einem Schneesturm. 

 Als mein Vater die unglaubliche Sauerei erblickte, zog er mich am Ohr unsanft aus dem Zimmer und zerrte mich ins Wohnzimmer, wo Pat und meine Mutter auf dem Sofa saßen. Als sie mich erblickten sahen sie auf. Ich kam mir vor wie vor dem Gericht.

»Seht euch die Verwüstung an, die Louann hinterlassen hat!«, brüllte er wütend. »Das Mädchen ist von allen guten Geistern verlassen, Shane! Ich hab sie nicht so erzogen.«

Als sie uns folgten und ins Zimmer blickten, machte sich Entsetzen auf dem Gesicht meiner Mutter breit.

»Louann, das gibt Minuspunkte, das sag ich dir!« Sie bedachte mich mit einem unglaublich enttäuschten Ausdruck. »Das gibt ordentlich Minuspunkte! So viele, dass du mit deinen Punkten unter Null gehst!«

Angstvoll blickte ich ihr entgegen. Meine Hände zitterten. Mir tat alles nur noch so schrecklich leid und ich wünschte mir, ich hätte niemals auch nur eine Sache zerstört. Ich schämte mich so sehr.

Und als ich schon dachte, dass mir alles weggenommen werden würde; dass ich ab sofort kein Teil dieser Familie mehr war, meldete sich Pat zu Wort. Seine Stimme war ganz leise und unscheinbar. »Ich war’s«, flüsterte er.

Mutter und Vater blickten ihm mit geweiteten Augen entgegen. Meine Mutter atmete tief ein. »Gut, dann wirst du eben so lange bis das Zimmer fertig ist, in einem Gästezimmer schlafen müssen!«, sagte sie streng. Mit diesen Worten verließ sie mit Vater das Zimmer.

Pat und ich blieben im Türrahmen stehen. Er lächelte sein liebes Lächeln. Ihm fehlten bereits ein paar Milchzähne. »Ich wollte eh ein neues Zimmer«, sagte er.

Ich weiß, ich war damals noch sehr klein, aber doch hab ich verstanden, dass er bloß wollte, dass ich mich besser fühle. Eigentlich wollte ich mich bei ihm entschuldigen und ihm sagen wie dankbar ich ihm war und wie gütig ich das eben von ihm gefunden hatte. Doch ich konnte es nicht. Nicht, nachdem ich gesehen hatte, wie meine Mutter auf sein Geständnis reagiert hatte.

»Sie mögen dich viel lieber, hab ich recht?«, fragte ich dann. Es war mehr ein Flüstern.

»Mum sagt doch, dass sie uns beide gleich lieb hat.«

Ich weiß, dass ich nicht halb so talentiert oder halb so klug bin wie Pat. Ich bin auch nicht so kreativ oder so einfallsreich wie Pat und auch nicht so liebevoll. Aber eine Sache, in der war ich schon immer besser als er, nämlich Wahrheiten von denen zu unterscheiden, die keine sind. Und so wusste ich auch, dass meine Mutter in diesem Punkt log. Es gibt schließlich einen Unterschied zwischen ehrlichen Taten und leeren Worten.

Später am Tag hat Pat eine Matratze von einem der Gästezimmer in meines gehievt und hat dann für Wochen in meinem Zimmer geschlafen.

Und jetzt bin ich hier, auf dem Weg zu meinem Vater um meine Mutter zu verraten, um Pats Familie zu zerstören. In mir gibt es eine Stimme, die all dies als falsch empfindet, aber sie ist so leise, dass ich sie kaum hören kann.

Denn ich bin nicht mehr die von damals, die all diesen Schmerz zulässt. Ich bin stärker geworden und ich weiß genau, was ich will und wo ich stehe. Ich hab alles im Griff, mir kann niemand mehr was anhaben.

22. Pat

Als Louann am Abend endlich wieder nach Hause kommt, höre ich noch ein zweites Paar Schuhe, das über den glatt polierten Fliesenboden schreitet. Erst denke ich, dass es der Direktor von der Schule oder sonst wer von dort ist, weil mir Mum gesagt hat, dass die Schule ihr mitgeteilt habe, Louann sei suspendiert worden. Aber ich habe irgendwie so das Gefühl, dass die Lage noch viel brisanter ist, als ich dachte.

Als ich meinen Vater in seinem schwarzen Anzug im Flur stehen sehe, bestätigt sich diese Annahme. Er ist in den letzten sieben Jahren nie vor Samstag nach Hause gekommen. »Patrick!« Er setzt sein typisches Herrenlächeln auf und breitet die Arme aus.

»Hey, Dad« Ich umarme ihn kurz und ernte ein paar Klopfer auf den Rücken. Anscheinend machen das Geschäftsleute so.

Louann geht mit einem zufriedenem Grinsen an uns vorbei. Während mein Vater zu meiner Mutter ins Arbeitszimmer geht, eile ich ihr nach und packe sie an ihrem dünnen Arm. »Du hast es ihm nicht gesagt, oder?«

»Von was redest du, Pat?«, flötet sie unschuldig und so, als hätte sie von nichts eine Ahnung. Aber ich weiß, dass sie lügt, ich habe gehört, mit welchen Worten sie Mum gedroht hat.

»Komm schon, du weißt genau, wovon ich spreche!«, zische ich.

»Du kannst Mutter und Vater ja sicherlich ausrichten, dass ich jetzt eine sehr lange Dusche nehme«, entgegnet sie, ohne auf unser Gespräch weiter einzugehen.

Wie kann man nur so egoistisch sein? Schönheit führt anscheinend zu bösen Taten… Mein Kopf schmerzt von all der Aufregung. Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll. Ich dachte immer, unsere Familie wäre nicht wie diese reichen Familien im Fernsehen.

Obgleich ich weiß, dass es mich wahrscheinlich an den Rand meiner Beherrschung bringen wird, gehe ich den breiten Gang hinunter zu Mums Arbeitszimmer.

Auch wenn ich noch längst nicht angekommen bin, höre ich bereits laute Stimmen, die auf eine energische Diskussion hindeuten. Mir entfährt unwillkürlich ein tiefer Seufzer. Ich weiß, ich sollte nicht näher treten. Doch ich kann gar nicht anders, ich werde immer näher in Richtung ihres Arbeitszimmers gezogen. Die Stimmen weisen mir den Weg, wie das gleißende Licht einer Motte ihn ihr weist. Die Artikulation wird immer lauter, ich kann die Worte schon fast verstehen.

Und dann stehe ich plötzlich da, an die Tür gelehnt, lauschend.

»Shane, ich weiß nicht, was ich dir noch sagen soll. Das Mädchen ist verrückt.«

Ich höre meine Mutter seufzen. »Ich weiß auch nicht mehr, was wir mit ihr machen sollen. Sie wird immer bösartiger.«

»Sie hatte ja auch die beste Lehrerin«, kommentiert Dad. »Ich kann es nicht fassen, dass du einen anderen Mann geküsst hast…«

Eigentlich weiß ich, dass ich jetzt nun wirklich gehen sollte, doch es ist wieder so, als wäre ich gelähmt, ich kann mich nicht rühren.

»Karl, ich kann das erklären! Du bist doch kaum noch zu Hause«, erklärt sie mit reuevollem Unterton in der Stimme und fügt dann noch hinzu »Aber der Kuss hatte nichts zu bedeuten.«

»Tut mir leid Shane, aber ich muss das jetzt verarbeiten«, höre ich meinen Vater sagen. Dann bewegen sich seine Schritte auf die Tür zu.

Augenblicklich schrecke ich hoch und stolpere gegen die Wand daneben.

Mein Vater tretet auf den Flur und sieht mich da so auf wackeligen Beinen, halt suchend an der Wand.

Ich erwarte mir eine Moralpredigt, doch er schließt nur die Tür hinter sich und sagt »Es tut mir aufrichtig leid, mein Junge.« Dann klopft er mir auf die Schulter und geht den Gang entlang.

Ich sehe ihm noch nach und höre dabei seine schwarzen Lederschuhe, die immer wieder auf dem Marmorboden auftreffen.

 

Beim Abendessen sitzen wir alle am langen Tisch im großzügig verglasten Esszimmer. Mrs. Rodriguez, unsere beinahe unbemerkte Hausfrau, bringt nach und nach das Essen auf den Tisch.

Der Kronleuchter an der Decke wirft das Licht in formenreichen Schatten in den offenen Raum zum Wohnzimmer. Es ist still, nur das Klappern des Bestecks auf dem Porzellan ist zu hören.

»Patrick, Louann, wir haben euch was zu mitzuteilen«, beginnt mein Vater schließlich.

Meine Mutter wischt sich mit der Serviette den Mund ab.

»Euer Vater und ich haben nach langer Diskussion beschlossen, am nächsten Wochenende eine Paartherapie in Huston zu machen.«

»Die Therapie wird sich über das ganze Wochenende ziehen. Ihr seid also auf euch gestellt. Mrs. Rodriguez wird euch natürlich jederzeit zur Seite stehen.«

»Find ich gut, dass ihr das macht!«, kommentiere ich aufrichtig. Ich hoffe inständig, dass alles so bleibt wie es war und dass Mum und Dad sich nicht scheiden lassen.

Nach meinem Beitrag ist es wieder still. Louann hat sich nach ihren Worten einfach wieder voll und ganz dem Essen zugewandt. Sie isst einfach weiter und ihr scheint alles um sie herum so ziemlich egal zu sein. Am liebsten würde ich ihr den Teller vom Tisch schlagen. Ich meine, was bildet sie sich eigentlich ein?

»Ich hab gehört, in der Schule läuft’s super«, wendet sich mein Vater jetzt an mich.

Ich schlucke das stück Fleisch und antworte. »Die Kurse sind auch toll, ihr hattet wirklich recht, dass sie an dieser Highschool eine breite Auswahl an Fächern anbieten. Die Schule ist klein, aber sie gehen auf den Einzelnen viel mehr ein.« Ich versuche ihnen so viel wie nur möglich zu erzählen, um nur diese unerträgliche Stille zu durchbrechen.

»Wir haben nicht ohne Grund einen Ort mit der best bewerteten Highschool im Umkreis von fünfhundert Kilometern ausgesucht«, entgegnet mein Vater zufrieden. »Besonders das Rechtswissen ist hier auf dem höchsten Niveau.«

»Die ersten Stunden waren bis jetzt ganz vielversprechend«, versichere ich meinem Vater, der dies mit einem freudigen Gesicht quittiert.

Dann richtet er sich an Louann. »Und wie läuft’s bei dir?« Sein Gesichtsausdruck ist plötzlich angespannt und seine Stimme klingt nicht mehr wirklich freundlich.

»Die Basketballspieler sind ganz reizend, Vater«, entgegnet sie spitz und mit einem künstlichen Lächeln im Gesicht.

»Nur damit dir das klar ist, an dieser Highschool kann ich deinen Chemielehrer nicht mehr für ein B+ bestechen, junge Dame«, erwidert er streng und legt sich noch etwas gegrilltes Gemüse auf den Teller.

»Wenn ihr mich entschuldigt«, sagt sie jetzt unterkühlt, ohne jemanden anzusehen und schiebt ihren Stuhl zurück. Sie verlässt den Raum.

Kaum ist sie verschwunden, fängt mein Vater auch schon wieder zu reden an. »Das Mädchen verhaltet sich inakzeptabel, Shane!«, regt er sich kopfschüttelnd auf. »Alles, was sie interessiert sind Männer, Klamotten und Geld. So kann es nicht weitergehen. Wenn du nicht etwas unternimmst, werde ich sie persönlich enterben.«

Meine Mutter fasst sich an die Brust. »Du schiebst mir die Schuld zu, dass sie so geworden ist?«, entgegnet meine Mutter völlig perplex.

»Du warst doch immer bei den Kindern!«

»Und wie erklärst du dir dann dass Patrick so ein wunderbarer Junge ist und Louann…« Sie findet nicht das richtige Wort.

»Würde mich nicht wundern, wenn sie eine Sonderbehandlung nötig hätte«, sagt mein Vater jetzt mehr zu sich selbst als zu ihr.

»Mrs. Rodriguez, wären Sie so nett und würden schon mal den Tisch abräumen?«, fragt er sie in unnatürlich höflichen Spanisch.

Die gebürtige Mexikanerin macht sich an die Arbeit und räumt Tablet für Tablet in die Küche.

Ich hätte mir eigentlich erwartet, sie würden die ganze Zeit über ihre Eheprobleme streiten, doch sie reden eigentlich bloß über Louann und wie schrecklich sie doch ist.

Weil ich das hier nicht länger ertrage, stehe auch ich auf und gehe Richtung Wohnzimmer.

»Wo willst du denn hin, Patrick?«, ruft mir meine Mutter hinterher.

»Hausaufgaben«, lüge ich, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Als ich im Flur angekommen bin, sehe ich Louann, die auf einer Stufe der Treppen in den ersten Stock sitzt. Sie starrt geradeaus und ihr Blick ist und leer. Als sie mich bemerkt, sieht sie auf. »Du kannst von Glück reden, dass Mrs. Rodriguez so gut wie kein Englisch versteht«, sagt sie tonlos.

Für einen Moment sehen wir uns bloß an und ich könnte schwören, dass ich in ihren Augen für den Bruchteil einer Sekunde wieder die kleine Louann gesehen habe.

»Du hast alles mitgehört?«, frage ich erschrocken und ich merke wie meine Wut auf sie kleiner wird. Sie sieht mich wieder an, wie auch sonst immer.

»Dieses Haus hat eben nicht sehr viele Wände.« Dann steht sie auf, wendet mir den Rücken zu und schreitet in ihren Sandalen mit Absatz die Treppen nach oben. Ich bleibe noch einige Sekunden hier sehen, ehe ich auch nach oben in mein Zimmer gehe.

Dort setze ich mich an meinen PC und klicke auf das World-of-Warcraft-Item. Ich muss meinen Kopf abschalten und nur in diesem Spiel kann ich meinen Ausschaltknopf finden.

Aber ich ertappe mich dabei, wie ich kurz vor dem Eintreten in das Spiel, an das niedliche Mädchen aus dem Englischunterricht denken muss. Ich denke daran, dass ich sie gern außerhalb der Schule treffen möchte. Ich hasse mich dafür, dass ich darüber nachdenke, das Wegbleiben meiner Eltern ausnutzen, um eine riesengroße Party zu schmeißen. Ich hasse mich so sehr dafür.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.08.2017

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