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Dynastie Carducci
Band Eins - Der Gnadenstoß

 

geschrieben von Sophiamccarty.


© Alle Rechte vorbehalten

Prolog


La mia Sofia,


die Stunde meines Todes ist gekommen, der letzte Rest meiner Kräfte, welcher mir noch übrigbleibt, zerrt nun an mir. Aiutami, Dio! So selten habe ich ein Gebet gesprochen, dass ich fürchte, der Herr hat nicht einmal Kenntnis von meiner Existenz. Meine Aussichten auf das Leben schwinden mit jeder Sekunde, doch kann ich mich nicht erwehren, mein Ende zu fürchten. No, ich ersehne es ... Ich ersehne es, Sofia, wieder Mußestunden mit Euch zu verbringen. Eurer Stimme zu lauschen, Euer bewegtes Gesicht zu beobachten, wenn Ihr von den Dingen sprecht, die Ihr liebt. Tesora mia, Euer Antlitz wieder sehen zu können, das reicht mir, selbst wenn es mir nur für einen Augenblick gewährt ist. Sicher werdet Ihr beim Herrn sein, im ewigen Licht, doch bezweifle ich, dass Gott auch jenen Platz für mich bestimmt hat. Zu viele Sünden bestimmten mein Verbleiben auf dieser Erde. Nun, wo der Weg endet, wünsche ich mir so vieles anders gemacht zu haben. Für dich, mio amore Sofia, unserer Familie, und all jenen, die wir liebten. Die Erinnerungen an Euch sind es, welche mir die letzten Jahre Kraft gaben. Als wir jung waren, hatten wir all die Zeit der Welt, doch sahen wir sie nicht. Nein, mit Belanglosem hatten wir sie so oft vergeudet, und glaubet mir, hätte ich diese wieder, hätte ich Euch in jenen Stunden geliebt und das Bett nicht mehr verlassen. Eure vollen Lippen zu küssen, Euer gelocktes Haar, welches Kastanien im späten Herbst ähnelten, sich auf dem Kissen ergießen zu sehen, nichts bereitete mir mehr Freude im Leben. So viele Fehler taten wir, doch gab es nur jenen einen, welcher für die Ewigkeit nicht mehr gutzumachen war. So glaubet mir, ich leide.


Ich schließe nun Liebste, denn die Zeit ist mir knapp.

Für immer dein, meine geliebte Königin,

 

Matteo Carducci

Juni, 24. 1476


»Maledette!«, brauste der junge Carducci auf. »Was gibt es, Alec? Könnt Ihr mir nicht einen Tag Ruhe gönnen? Ihr verschafft mir Kopfschmerzen.«
Der blonde Bursche zuckte bei seinen Worten zusammen, so impulsiv und wahrhaftig waren jene. Wer stets den Umgang mit seiner Majestät pflegte, kannte sein Temperament bereits, doch war es jedes Mal aufs Neue erschreckend. Selbst für Alec Bianchi, des Königs engsten Freundes und Vertrauten.
Carducci ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, wohl wissend, dass sein Kammerdiener sogleich das scharfe Rasiermesser an seine Kehle legte und fast schon schweißgebadet die Klinge nach oben gleiten ließ. Alec beobachtete den jungen Knaben genau. Die Lippen waren zusammengepresst, die Stirn glänzte und trotz der Bemühungen des rotschöpfigen Burschen, seine Hand unter Kontrolle zu bringen, konnte Alec erkennen, wie jene leicht zitterte. Er wusste genau, eine falsche Bewegung und sein Verbleiben auf dieser Erde hätte ihr Ende gefunden. Immer wieder tauchte er das Messer in Wasser, um Stoppeln zu entfernen und die Klinge zu schärfen.
»Scusi. Aber ich muss Eure Majestät über das Neuste in Kenntnis setzen.« Alec Bianchis Stimme war derart leise, dass er dachte, sein Freund könne ihn gar nicht hören.
»Merda! Pass gefälligst auf, maldito bastardo!« Carducci sprang regelrecht von seinem Stuhl auf und verpasste dem Knaben eine Ohrfeige, welcher immer wieder um Verzeihung bat und fast schon um sein Leben heischte. Mit einer schnellen Handbewegung nahm der Dunkelhaarige, wessen schulterlange Haare zu einem kleinen gewellten Zopf gebunden waren, ein kleines cremeweißes Leinentuch vom Holztisch zu seiner Linken, und hielt jenes seufzend an die blutende Stelle seines Halses. »Verschwinde!«
Der Rotschopf verbeugte sich flüchtig und eilte aus dem Raum. Die Dienerschaft, welche das Schauspiel mit Belustigung verfolgte und an den kalten Steinmauern standen, konnten sich ein kurzes Glucksen über die Tölpelhaftigkeit des Burschen nicht unterdrücken.
»Lasst uns allein!«, verlangte der junge König mit einem bissigen Ton, seine Verärgerung war durchaus nicht zu übersehen. Ein schneller Knicks ihrerseits und auch jene waren durch die große dunkle Holztür, welche mit schnörkeligen Einritzungen verziert war, verschwunden. »Dummer Junge.«
»Doch wirst du ihn am Leben lassen«, wandte Bianchi ein und machte einen Schritt auf seinen Freund zu.
»Sí, cher ami.« Ein Seufzen seinerseits. »Er ist noch ein Kind.«
Matteo warf einen Blick in den Spiegel und musterte den Schnitt an der linken Fläche seiner Kehle. »Noch etwas tiefer und ich hätte nichts mehr zum Lachen.«
»Dann sollten wir feiern, dass Ihr wohlauf seid.« Carducci lachte auf und klopfte seinem blonden Vertrauten auf die Schulter.
»Wahrlich, Bruder.«
»Verzeiht mir, wenn ich Eure Majestät erst einmal unterbreche, aber muss ich Euch wirklich von den Neuigkeiten aus Ferrara unterrichten.«
Carduccis Miene verzog sich sofort und er hob eine Augenbraue an. »Prego?«
»Einige unserer Assassinen entdeckten ein kleines Gefolge templerischer Anhänger. Viele von ihnen sind gefallen, doch Übriggebliebene nahmen wir mit. Eure Majestät soll entscheiden, was ihr mit jenen machen werdet.«
Matteo grummelte und schürfte die Lippen. In Gedanken versunken schritt er ohne jegliche Route durch das Gemach. Fast schon wollte Alec ihn unterbrechen, da schnippte der Dunkelhaarige mit den Fingern.
»Richtet sie hin.«
»Momentino«, Alec schluckte, »alle?«
»Sí, habt Ihr Einwände?«
Bianchis argwöhnischer Blick galt seinem König, welcher die Stirn in Falten legte. »Unter den Gefangenen ist auch eine junge Dame.«
»Was kümmert mich diese Frau?«
»Sie ist nicht nur eine Frau. Ihr Name ist Sofia Brigham.«
Carducci japste nach Luft. »Brigham? So wie ...«
»Charles Brigham, sí.«
Abermals schnippte Matteo mit den Fingern. »Lasst sie am Leben, führt sie mir vor. Sie könnte uns als Geisel noch von Bedeutung sein. Ihr Vater wird mit Sicherheit antreten, um seine Tochter zu holen und das nicht ohne Gefolge, versteht sich.«
»Sí. Er wird unzweifelhaft nur wenige Männer daheim zurücklassen. Ein gewiss guter Zeitpunkt für uns.«
Matteo schritt zum großen Fenster vor ihm, den Blick auf das Geschehen außerhalb gerichtet. Ein großer Teich lag vor jenem Gebäude, inmitten eines schönen Gartens, welchen vereinzelte Tannen und andere Bäume, sowie Pflanzen säumten. Hofdamen spazierten umher und Kinder erhellten die Gegend mit Gelächter. Eine frische Sommerbrise zog durch das Gemach, als Carducci ein Fenster öffnete. Seine Miene zeichnete einen zufriedenen, jedoch zugleich in gedankenversunkenen Ausdruck.
»No, cher ami«, der junge König schüttelte den Kopf, »das wäre zu einfach.«
Alec Bianchi zog die Augenbrauen zusammen, Grübchen bildeten sich zwischen ihnen. Die Lippen presste er für einen Moment zusammen und sog jene nach innen ein, um leicht darauf zu kauen.
»Sí.«
»Dennoch«, Matteos Augen funkelten, »Diese Frau wird uns von Nutzen sein. Ob nun für jene Zwecke, oder ...«
»Dio mio, Ihr seid unmöglich!« Bianchi klopfte seinem dunkelhaarigen Freund gegen die Schulter, alsdann beide in kurzes, scherzhaftes Gelächter verfielen.

Italiens Abendsonne sank am rötlichgetauchten Himmel nieder, nicht eine einzige Wolke trat hervor. Nein, es waren die unzähligen Sterne, welchen jenen küssten und strahlen ließen.

Matteo starrte aus einem der vielen Fenster in der großen Pallazohalle hinaus, träumend für den Augenblick der Ruhe, welcher ihm so selten vergönnt war. Man schrieb Oktober, den Neunundzwanzigsten im Jahre vierzehnfünfundsiebzig, als Giuseppe Carducci an einer Lungeninfektion verstarb und sich Matteos Leben mit einem Schlag änderte. Die Dynastie der Carducci-Familie musste weitergeführt werden, die Krone im Schoße des rechtmäßigen Erbens. Wenn es nach Matteo ginge, würde sein um sechs Jahre älterer Halbbruder Juan Carducci auf jenem Throne sitzen, welchen der junge Fürst nun belegte. Doch ist er nur der Bastard seines Vaters, die Folge einer unwichtigen und schnell erloschenen Liebschaft, einer der so vielen, welche Giuseppe führte.

»Eure Majestät!« Die Stimme seines Sekretärs und engsten Vertrauten erhallte den großen Thronsaal, wessen Decken selbst mit alten Malereien verziert waren. An den Wänden hingen einige Knüpfwerke aus dem Orient, welche Matteos Mutter, Maria Carducci, mit Vorliebe sammelte. Besonders zu jenen Tagen nach dem Tod ihres Gatten tut ihr jüngster Sohn alles, um Italiens ehemaliger Königin Trost zu schenken.
»Eure Majestät!«, rief Alec Bianchi erneut durch die hellen Steinmauern und weckte Matteo aus seinen Tagträumen. Ein kurzes Zusammenzucken seiner Majestät und prompt trommelte Carducci mit den Fingern auf das alte Holz des Thronsessels, mit einem missbilligten Blick auf dem blonden Herrn vor ihm gerichtet. Ein Anheben seiner Augenbraue reichte, denn sofort sog Alec seine Lungen mit Luft voll und verbeugte sich. »Mein König. Buona sera!« Bianchis starre Haltung verflog sofort, ein sattes Grinsen legte sich auf seine spröden Lippen. Man sah ihm an, das er in den letzten Tagen viel gearbeitet hat. Die Hitze Italiens machte sich überdies zu jener Jahreszeit an jedem zu schaffen, sowohl Mensch, Vieh, wie auch Pflanzen. »Wie es Eurer Majestäts Wunsch war«, Alecs Augen funkelten bei ebendiesen Worten und mit einer raschen Bewegung erhob er seine Hand und deutete auf den bewachten Eingang, »Des Templers Tochter.«
Matteo musste schlucken, lehnte sich vor und stützte sich an den Knien ab, den Kopf schiefgelegt. Seine dunklen und kräftigen Augenbrauen zog er zusammen, ließ Grübchen zwischen ihnen entstehen. Stille lastete in jenem Augenblick, doch wurde sogleich von lauten Schritten und klirrenden Ketten unterbrochen. Einige Wachen schritten hervor, in der Mitte eine junge Frau, gefesselt wie ein Hochverräter.
»Bene«, seufzte Carducci zufrieden, erhob sich vom Königsstuhl und schritt die zwei kleinen Stufen vor ihm herunter, den Blick auf die Dame gerichtet. »Euer Name?« Der Dunkelhaarige schmunzelte innerlich, gewiss wusste er bereits, wer sie war, doch trachtete Matteo danach, den Klang ihrer Stimme lauschen.
Stillschweigen beherrschte den Saal, lediglich ein kurzes Klirren jener Ketten, welche an der brünetten Bankierstochter hingen, erhalte, als sie ihre Haltung streckte und Carducci mit einem Blick aufspießte. Dieser spielte mit seinen Fingern, ließ den rechten Mundwickel ungezügelt nach oben fahren und leckte sich über die Lippen. Es war ein Duell zwischen beiden, welches keiner Worte bedurfte. Assassine und Templerstochter. Matteos Blick vertiefte sich in den stechendgrauen Augen und für einen Moment war er der Annahme, er könnte sich in ihnen verlieren. Noch nie zuvor in seinem Leben hat der Sechsundzwanzigjährige solch eine helle Augenfarbe gesehen. Seine Schwester Livia Carducci, war die einzige Person, welche Matteo zuvor mit ihrer hellen und blauen Farbe in den Bann zog, doch gegen der Gefangenen vor ihm, waren jene nichts.
Alec Bianchi räusperte sich beabsichtigt und unterbrach das Schweigen. »Könnt Ihr Reden?« Seine Frage war gewiss nicht unbegründet, das wussten der Blondhaarige und seine Männer, denn die zierliche Frau mit dem hellbraunen Haar, welches Kastanien ähnelte, hatte noch kein einziges Wort gesprochen. Lediglich die wenigen Templer, welche ebenso als Gefangene in den Kerkern saßen und auf ihre Hinrichtung warteten, sowie eine Stickerei mit dem Emblem ihrer Familie, welches sie bei sich trug, verrieten ihre Herkunft. »Bene«, seufzte der junge Sekretär, »Was machen wir nun mit ihr?«
Carducci umschloss sein Kinn mit den Fingern und legte den Kopf schief. »Ihr seid Sofia, aus Hause Brigham, richtig?«, sprach der aufbrausende König im italienischen Dialekt. Sein Englisch war eingerostet vom wenigen Gebrauch, doch schien es die einzige Lösung auf Verständigung zu sein.
Miss Brigham jedoch verharrte in ihrer schweigenden Haltung, mit einem Ausdruck, welcher nur so vom Hass geprägt zu sein scheint. Alec Bianchi schritt alsbald, sichtlich genervt von der Starrköpfigkeit der Lady, zu Carducci und näherte sich seinem Ohr. Gerade als der junge Sekretär seinen Mund öffnen und sich äußern wollte, streckte Matteo seinen Arm und gab mit einer flüchtigen Handbewegung zu verstehen, die Gefangene abzuführen.
»In den Kerker, capisci?«, rief der sonnengebrannte König seinem Gesinde hinterher, ehe jene kehrtmachten und die Templerstochter mit Zwang an ihren Ketten mitzogen. Gewiss, sie war eine junge Dame, aber Templern konnte man nicht trauen, dessen war sich Matteo sicher, nichts anderes lehrte ihm sein Vater.


Die Sonne war bereits am Himmel verschwunden und Dunkelheit umgab das Land. Lediglich der hellestrahlende Mond, welcher Carducci an jenem Abend besonders groß erschien, beleuchtete schwach die Umrisse der Dächer und Häuser, sowie auch Matteo selbst, welcher starr auf dem großen Bett, inmitten des königlichen Gemaches, lag. Viel zu prunkvoll, fand er. Das Gemach gehörte noch seinem Vater in längst vergangenen Tagen, doch bisher war sein jüngster Sohn nicht dazu gekommen, dieses umzubauen. Viel zu schwer war er beschäftigt mit Plänen, Kriegen und anderer politischer Aufgaben. Die Krone tragen, das wollte er nie. Wie oft beneidete er seinen älteren Halbbruder Juan, welcher tun und lassen durfte, was ihm beliebt war. Doch weiter in Selbstmitleid zu versanken, brachte ihm nichts, daher ließ Matteo alle Luft aus seinen Lungen ausströmen und schloss die Augen. Schlaf würde jetzt Balsam für seine Seele sein.


Nebel umgab ihn und jene Nacht war so finster, dass er nicht einmal die eigene Hand vor seinen Augen erkennen konnte. Wolken lichteten sich und ließen den Mond sich hell am Himmel preisen, einen Pfad vor Matteo erscheinen. Dunkle Hecken säumten den Weg und er konnte sich nicht erwehren, seine Beine in Gang zu setzen. Die Neugierde überwog. Er musste wissen, was sich am Ende des Weges befand.


Die Luft war eisig, ließ seinen stockenden Atem sichtbar werden, doch spürte er jene Kälte nicht. Mit jedem Schritt löste sich der Nebel in der Ferne, und eine unnatürlich große Eiche stach in Matteos Augen. Um ihr herum fanden tausende von Narzissen ihren Platz. An einem großen Ast des Baumes, hing eine kleine hölzerne Schaukel hinab, welche hin- und herschwang, zugleich knarzende Geräusche hinterließ. Dem Italiener setzte das Herz für drei Schläge aus, als er die nackte Gestalt einer Frau auf jener sitzen saß, mit dem Rücken zu ihm gekehrt. Ihre gelockten, hellbraunen Haare wehten in der Luft und jeder Schwung der Schaukel ließ einzelne Strähnen, welche im Mondlichte strahlten, tanzen. Sie ließ ihren Blick über die Schulter fallen, und eisgraue große Augen durchbohrten die verkniffenen erzfarbenen des jungen Carduccis. Ein Grinsen lag auf ihren rosigen Lippen, welche sich für einen Augenblick gemächlich öffnen und mit ihrem Summen Matteo in den Bann zogen.


»Eure Majestät ...«

Juni, 27. 1476


Frischer Wind zog mit einem langen Pfeifen durch das noch am Morgen vernebelte Florenz. Trübe Strahlen der zur Stunde verblassten Sonne, welche in jenem Moment ihren Pfad am Himmel erklomm und sich aus dem Schatten befreite, lichteten Carduccis Leibe, welcher schnellen Schrittes den langen Korridor mit den vielen Fenstern entlangstampfte. Seine Miene war von einer Strenge geplagt, welche Matteo nur selten an den Tag legte, sichtbar für Freund und Feind.

 

»Aus dem Weg! Seine Majestät kommt!«, preschte es dem jungen König bereits aus der Ferne entgegen. Eilend, als würden sie um Leib und Besitz fürchten, drängelten sich Hofleute und Gesinde an die Mauern, um einen freien Gang in der Mitte entstehen zu lassen. Matteo legte die Stirn in Falten, sich in Gedanken fragend, ob er wirklich derart beängstigend auf andere wirkte. Gewiss war sein Vater Giuseppe Carducci ein König, welcher großen Wert auf Tradition, Loyalität und Gnadenlosigkeit legte, doch bei Gott kein Unmensch. Jedermann war für sein Handeln verantwortlich und musste für die Konsequenzen stehen, waren sie nun tugendhaft oder desaströs. Allein so hielt man die Krone und das Land aufrecht.


Mit einem Knarren öffneten Wachen die großen, schweren Türen des Ratsaales, welche mit eingeritzten Schnörkeleien und einem Adler, dem Wappenzeichen ihrer Familie, verziert waren, und ließen ihren Fürsten passieren, gefolgt von einer schnellen Verbeugung. Der Raum war nicht groß, er bestand lediglich aus wenigen Bücherregalen, einer Tischgruppe in der Mitte und einem kleinen Fenster, welches in jenem kaum Licht eintreten ließ.

»Eure Majestät«, es waren die Stimmen seines Sekräters Alec Bianchi und seinem Vater Edward, welche sogleich auch in einen schnellen Knicks fielen. Alleinig Juan Carducci, des Königs Halbbruder, blieb auf der Fensterbank sitzen und spießte Matteo mit einem rügenden Blick auf. Seine Seele von Neid zerfressen, konnte er die Krone auf dem Kopf seines Bruders noch immer nicht akzeptieren. Matteo privilegierte es, wie schon sein Vater in längst vergangenen Tagen, die Anzahl seiner Vertrauten so klein wie möglich zu halten.

»Bene«, ein zermürbtes Seufzen entfloh der Kehle des dunkelhaarigen Italieners und Matteo ließ seinen ermüdeten Körper auf einen der Holzstühle fallen, »lasst uns reden.«
Juan richtete sich gemächlich auf, schritt noch leicht torkelnd auf seinen Bruder zu. Er war ein kräftiger Mann von großer Statur, keineswegs schlecht aussehend, fand der jüngste Carducci, jedoch ließ sein geschundener Körper dieser Tage zu Wünschen übrig. Der Bastard mit den verkniffenen, dunklen Augen, welche an die des Königs erinnerten, und mit dem hellbraunen, kurzgeschorenem Haar, war ein Tölpel, welcher seine freien Stunden am liebsten in Freudenhäusern und Schankstuben verbrachte. Matteo war es Leid, nur auf Wunsch seines Vaters, welchen er ihm vor seinem Ableben versprach, duldete er seinen trunkhaften Halbbruder im Rat. Jedoch musste er sich selbst eingestehen, dass er oftmals Unbehagen verspürte, Juan in seinen Geheimnissen einzuweihen. Zu oft ist jener betrunken, ein leichtes Opfer für Spione und Intriganten.

Auf den Lippen der Bianchis zeichnete sich ein spöttisches Lächeln, als sie den angetrunkenen Mann beobachteten, einen geraden Weg zu Matteo einzuschlagen, jedoch vergeblich. Er stolperte über seine eigenen Füße und fing sich mit den Händen in letzter Sekunde am Tisch auf, welcher durch das Gewicht sofort ein knackendes Geräusch von sich gab.

»Maledette, Juan!«, brauste sein jüngerer Bruder sogleich auf, verdrehte die Augen und ließ alle Luft aus seinen Lungen ausströmen. »Ihr seid doch kein dummer Bauer!«

»Zu wenig Huren, zu viel Wein.« Der Bastard zog sich mit letzter Kraft in einen der Stühle, umspielte seine lächerliche Verfassung mit einem Grinsen und seufzte laut.

»Wenn das noch einmal vorkommt, entferne ich Euch aus dem Rat.«

»Das würdet Ihr nicht tun, Bruder.« Juans Augen funkelten bei jenen Worten. »Es war Vaters Wunsch.« Matteo zog die Lider zusammen, wohlwissend, dass die Zunge des Trunkenboldes die Wahrheit sprach. Er spielte mit ihm.

»Sí, doch hört jetzt, dies sei zugestanden, bin ich nun König, das Oberhaupt dieser Familie und jener dieser Menschen auf italienischem Boden, so sage ich Euch, Ihr werdet das tun, was ich sage, denn Vater ist nicht mehr hier.«

Stille lastete im Ratssaal, denn es war Matteos Ernst. Lediglich das stumpfe Trommeln von Alecs Fingern auf der hölzernen Lehne seines Stuhles vernahmen die Ohren dieser Runde.

»Bene«, entgegnete Juan mit einer Verärgerung in der Stimme, welche höchst gelegentlich zu überhören war.

»Es ist nun drei Tage her, ich werde heute einen Brief an Charles Brigham verfassen, welcher die Geiselnahme seiner Tochter und die Hinrichtung seiner Leute kundgibt.«

»Wir sollten noch warten«, wandte Alec Bianchi ein, ehe sein Vater seinen Worten zustimmte und Matteo einen strengen Blick zuwarf.

»Wir wissen nicht, wo sich Charles aufhält. Er könnte überall sein, wir sollten auf den Bericht unserer Spione warten.«

»Momentino, das ist der Punkt«, Carducci legte die Finger an sein Kinn, »Brigham könnte sich in diesem Moment bereits in Italia aufhalten, wenn nicht gar in Florenz.« Matteo wusste, dass Alec und Edward Recht hatten, doch ebenso er selbst. Sie mussten den richtigen Moment abpassen, um zurückzuholen, was seiner Familie gehörte.

»Eure Majestät, gebt unseren Augen noch einen Tag. Nur jenen einen. So eine Chance bekommen wir nie wieder«, heischte sein blonder Freund und blickte ihm starr in die Augen. »Ich bitte Euch, seid vernünftig.« Vernünftig, bei diesem Wort musste Matteo innerlich die Augen verdrehen. Wie viel Siegreiches geschah schon aus Vernunft? Es war allein der Krieg, mit welchem man es zum Triumph erreichte.

»Bene.« Mit einem leichten Nicken gab Carducci Alec zu verstehen, dass er sich seiner Bitte annahm. »Einen Tag, capisci?«

»Sí.«

Juan streckte die Arme aus, faltete jene am Hinterkopf zusammen, ehe ein lüsternes Hohnlächeln seine Lippen zeichnete. »Eine Nacht mehr Zeit, von dieser Templershure zu kost-« Matteo, welcher sich inzwischen von seinem Platz erhoben hat und hinter seinem Bruder trat, schlug ihm mit dem Handrücken auf den Hinterkopf.

»Idiota!« Er zog die Brauen zusammen. »Lass deinen Cazzo da, wo er hingehört.«

»Sí, zwischen den Beinen einer schönen Frau.« Juan konnte das Augenverdrehen des Königs nicht übersehen, als jener sich vor ihm einen Krug Wein einschenkte. »Ist das Weib überhaupt recht passabel? Immerhin - sie ist Engländerin. Ich bevorzuge Italiens Pfläumchen.« Matteo musste bei den Worten seines Halbbruders schlucken. Bestmöglich hatte er in den vergangenen drei Tagen versucht, die Lady aus seinen Gedanken zu verbannen, mit Mühe weit fortzuschicken, doch kratzte das Summen ihrer Stimme, ihr bewegtes Gesicht, der bleiche, zierliche und nackte Körper mit jeder Stunde zunehmend an die Oberfläche. Carducci konnte nicht anders, er musste für einen Atemzug an seinen Traum in jener Nacht denken, gleichwohl war er sich gewiss, welch Sünde ebendiese Gedanken für ihn bedeuteten. Sie war die Tochter eines Templers, allein durch ihre Existenz war das Weib seine Feindin. Ohne daran zu denken, dass Alec, Edward und Juan ihn beobachteten, schüttelte Matteo seinen Kopf und rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn, auf welcher sich inzwischen Schweißperlen sammelten.

»Seid Ihr erkrankt, mein Freund? Soll ich einen Medikus rufen?«, fragte Alec, mit einer angehobenen Augenbraue, Carducci ernst ins Gesicht blickend. »Matteo?«

Der junge Mann rang mit sich, mit Mühe versuchte er, Sofias Antlitz aus seinem Kopf zu kriegen. Alecs Worten hatte er keine Beachtung geschenkt. »Prego?«

»Ich rufe einen Medikus.« Als sich Alec Bianchi geradewegs zur nächsten Wache aufmachen wollte, welche vor der großen Ratstür standen, um einen Arzt schicken zu lassen, packte der Dunkelhaarige die linke Schulter seines Sekretärs.

»Nein«, Carduccis Miene zog sich erneut zu jener Ernsthaftigkeit zusammen, welche man es von ihm gewohnt war, »nein, mir geht es gut.«

»Seid Ihr sicher?«

»Sí«, es war ein unsicherer Ton in der Stimme des Italieners, welcher Alec mit Misstrauen und Unbehagen auf seinen König blicken ließ, »seid so gut, mein Freund, und gebt Sofia Brigham ihre Umstände bekannt. Nehmt etwas zu Essen mit, sie muss am Verhungern sein. Ihren Tod können wir uns jetzt nicht erlauben, capisci? Dann geht jetzt, ich brauche etwas Ruhe.«

»Va bene.«

Nach einer schnellen Verbeugung verließen die Bianchis den Ratssaal, jedoch weicht Alec seinem Vater im Korridor von der Seite ab und trat in den rechten Gang ein. Der blonde Bursche spazierte durch die vielen Vorplätze und Räumlichkeiten, erreichte anschließend die Küche und befahl einigen der Mägde, ihm einen Teller mit etwas Fleisch und Brot zu füllen.


Mit dem kleinen Mahl in der Hand, welches Sofias Magen ein wenig Füllen sollte, schritt Alec Bianchi zu den Verliesen. Dieser Ort war ihm bereits zu gut bekannt, doch bereitete jener ihm noch immer mit jedem Fuß, welchen er auf den Boden dieses Platzes setzte, Unbehagen. Er hob das Kinn und sog seine Lungen mit der noch süßen Luft voll, ehe er die kalten, steinigen und feuchten Treppen hinabstieg, während sich ein beißend fauliger Geruch in seine Nase drang. Bianchis Atem ging stockend, es war düster in den Kerkern, die Mauern ließen keinen Lichtstrahl durch, nur wenige Fackeln schenkten Helle und die Tatsache, dass der Gestank die Folge der am verwesenden Leichen war, beruhigte ihn nicht gerade. Hochverräter und Templer fanden in jenen Räumen ihr Ende. Wenn sie Glück hatten, fand ihre Hinrichtung außerhalb statt und es war ihnen gestattet, noch ein letztes Mal das Licht der Sonne zu erblicken.


Schnellen Ganges stapfte Alec an den Wachen vorbei, gewiss, man kannte sein Gesicht, jedoch hielt er nach einer Weile inne. »Sofia Brigham, wo ist sie untergebracht?« Bianchis Blick war zornig, er konnte sich nicht erklären weshalb, doch strahlte der vollbärtige Mann vor ihm etwas aus, gegen jenes er feindselig gesinnt war. »Antwortet!«

»Den Gang runter, erste Tür links.«

»Die Schlüssel?« Alec öffnete die Hand, nur um sie, als er den kalten Gegenstand auf der Innenfläche fühlte, ohne Zeitverzug wieder zu verschließen. »Bene.«

An Sofias Tür angelangt, steckte er den Schlüssel in das Schloss und öffnete diese mit einer gekonnten Handbewegung, gefolgt von einem lärmenden Knarzen. Alsbald stieg dem Blondhaarigen ein muffiger Geruch entgegen, welchen er den schimmligen Mauern zuteilte. Als Alec einen Blick hineinwagte, schluckte er.

Die Kammer war jämmerlich klein und finster, allein ein von der Türspalte ausdringender Lichtstrahl gaben Umrisse bekannt. Weder eine Liege, noch eine Decke befanden sich in dem Raum, lediglich ein wenig Stroh war auf dem Boden ausgelegt, auf welchem eine Frauengestalt saß. Bianchi stockte der Atem, denn er war keineswegs aus Stein gemeißelt. Ein junges Weib in derartigen Umständen zu sehen, ließ in Alec ein Gefühl aufkommen, welches er nur unüblich verspürte - Bedauern. Starr blickte der Blonde auf die Templerstochter hinab. Stumm, nach den richtigen Worten suchend. Stille lastete in diesem Augenblick, überwog alles andere.


Sofia saß regungslos da, kauernd in einer dunklen Ecke, sodass Bianchi für einen Moment glaubte, jegliches Leben hätte sie bereits verlassen. Die Beine fest an ihrem Körper angezogen, mit den Armen umschlungen, hatte sie den Kopf auf ihren Knien abgelegt. Alleinig ihr Dekolleté, welches sich hauchzart durch ihre Lungen auf- und absenkte, verriet ihre Anwesenheit. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, mit der Hoffnung, keine Ratte zu erwischen, schlich Alec zu ihr und hielt den Teller mit dem Essen direkt vor ihre Nase. Templer waren ihren Feinde, das predigte bereits Giuseppe Carducci, viel mehr noch Matteo. Sie waren hinterlistig, manipulativ und unberechenbar, doch fürchtete sich Bianchi nicht vor Sofia, weshalb auch, sie war nur ein junges Weib ohne Mittel und Wege, geschweige denn Freunde in diesem Land. Allein ihr Vater wäre Brighams Hoffnung auf Freiheit, welcher jedoch zu dieser Stunde noch nicht einmal zu wissen schien, dass sich seine Tochter in Carduccis Gewahrsam befand, dessen war sich Alec Bianchi gewiss.
Sein Blick schärfte sich, den Kopf schiefgelegt musterte er das unterjochte Mädchen. Sie wirkte auffallend verändert. Das kastanienfarbene Haar, welches an jenem Tag der Vorführung noch zu einer ansehnlichen Flechtfrisur hochgesteckt war, hing nun schlaff herunter und glänzte karg durch das Fett. Obgleich es nur drei Tage waren, ist ihr Leibe noch dürrer geworden und das Schlüsselbein stach hervor.

»Habt Ihr Hunger?«, fragte Bianchi mit seiner tiefen, rauchigen Stimme und streckte den Zeigefinger auf den kleinen Holzteller, welchen er soeben vor ihren Füßen abstellte. »Ihr habt seit Tagen nichts zu Euch genommen, Ihr müsst etwas essen.« Alec war ein gebildeter Mann, vom hohen Stand. Er war gut gelehrt, beherrschte mehrere Sprachen fließend, weshalb es für ihn kein Problem darstelle, sich mit Sofia zu verständigen. Er erwartete keine Antwort, seine Aufgabe war es nur, sie am Leben zu halten.

»Verschwindet.« Es war ein leises Summen, welches sich in Alec Bianchis Ohren drang. Sofort klappte dem jungen Mann der Mund auf, es war das erste Wort, welches er von ihr vernahm. Davor befürchtete er bereits, sie könne gar nicht sprechen. Es war eine zarte, recht mädchenhafte Stimme, jedoch nicht die, die eines Kindes gleichen würde.
Carduccis Sekretär rang mit sich, nicht wissend, was er sagen sollte und trommelte vielmehr mit den Fingern auf seinem Ledergürtel rum.

»Sagt mir, wann sterbe ich?«, unterbrach Sofia mit einem Ausdruck im Gesicht, welchen Bianchi nicht zuweisen konnte. Sie schien sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben.
Alec senkte den Kopf, um dem Blick der Gefangenen auszuweichen. Ihre Frage war keineswegs unbegründet, die Gnadenlosigkeit der Carduccis ist bekannt. Der junge Mann war sich fast schon sicher, dass seine Majestät einen Feind der Familie nicht einfach gehen lassen wird. Sie war lediglich das Mittel zum Zweck. Er schluckte.

»Mylady, ich versichere Euch, seine Majestät hat Eurem Vater einen Brief zukommen lassen, in welchem er euren derzeitigen Zustand kundgibt. Wir holen nur zurück, was unser ist.«
Sofias Lider zogen sich zusammen und ihre Augen funkelten. »Ihr seid töricht«, ihre Stimme zitterte vor Ungehaltenheit, der mädchenhafte Klang ging verloren und eine Raue trat hervor, welche Bianchi eine Gänsehaut überkommen ließ. »Meine Familie wird keine Sekunde ruhen. Sie werden ihre Augen bereits auf euch liegen haben. Ich spreche somit zu einem toten Mann.«

Juli, 03. 1476


Sacht perlte das Wasser von den getränkten Fingerspitzen ab und trennte sich in einzelne schimmernde Tropfen, welche den kleinen Lichtstrahl des Türschlitzes widerspiegelten, und sogleich im nächsten Augenblick den heubedeckten Boden küssten. Sofia liebte es, jenes noch so kleine Detail mit ihren leuchtenden Augen aufzufangen, schätzend und voller Neugierde jeden Moment ihres Lebens wach zu erleben.
Erneut tauchte sie ihre schmalen Finger in das schmächtige Holzschälchen und rieb sich die Innen- und Außenflächen ihrer wohlgeformten Hände, welche mit jeder Bewegung die Bleiche ihrer Haut preisgaben. Vom Dreck vermengt nahm das Wasser einen bräunlichen Ton an und vertrübte. Trotz ihrer Abneigung zum italienischen Land, der königlichen Familie und den verhängnisvollen Umständen, welchen die braungelockte Templerstochter aus tiefster Seele hegte, war sie für jenen Moment mit Dankbarkeit erfüllt. Nach etlichen Tagen war es ihr vergönnt sich zu waschen und ihren Körper zu reinigen. Die letzten Stunden und Nächte verbrachte Sofia damit, sich ihrer Seele Gott zu empfehlen, zum einen, um nicht der Geisteskrankheit zu verfallen, und zum anderen, war sie sich gewiss, jene Flure und Stufen nach draußen würde sie als Hochverräterin zu ihrem Henker beschreiten.

»Ist eine Nachricht meines Vaters eingetroffen?« Ihre Augen hafteten auf Alec Bianchi, dem blonden Tölpel, für welchen sie ihn hielt, der ihr zum heutigen Morgen der neunten Stunde den zweiten Besuch, seit ihrer Gefangenschaft, abstattete. Sofia bangte seit Tagen um ein Wort ihres Vaters Charles Brigham und war sich nicht zweifelsfrei, ob des Königs Sekretär sie lediglich an der Nase herumführte.

»Nein.« Es war ein kühler und abweisender Ton, welcher Sofia mitten ins Herz stach. Alsbald entstand ein Kloß in ihrem Hals, aus Sorge um das Leben ihres Vaters und ihr eigenes. Für einen Atemzug bröckelte ihre Fassung und sie rang mit sich den Silberstreifen am Horizont nicht aufzugeben. Trotz der Gewissheit über ihre wahrscheinliche Hinrichtung, war noch immer ein Funken Hoffnung in dem zierlichen Leibe, welcher Sofia den Mut gab, sich nicht endgültig zu beugen. Würde sie für geisteskrank erklärt werden, würde man ihre Exekution zwar retardieren und sie unter Hausarrest stellen, bis sie genesen genug für eine Verurteilung war, doch wollte Sofia den Erwartungen ihrer Familie nicht versagen, immerhin wurde sie stets zu einer starken Frau erzogen.

»Ich habe einen Brief geschrieben, für meinen Bruder.«

»Eurem Bruder?«

»Ja, meinem Bruder Henry. Wenn es seine Gnaden gestattet, bitte ich Euch, ihm diesen zukommen zu lassen.« Ihre Augen wanderten in der winzigen Zelle umher, angespannt und verkniffen, um in der Dunkelheit, welche jene Mauern umgab, das kleine Stück Papier zu finden, welches die junge Dame aus ihrem Gebetsbuch gerissen hatte. Eine Sünde die Sofia jedoch vom Herzen gern in Kauf nahm. In einer noch finsteren Ecke versteckte sich jenes vom Stroh bedeckt und verriet nur durch ein cremeweißes Stückchen, das herauslugte, seine Anwesenheit. »Kein Argwohn, lest, ich möchte ihm nur mein Wohlbefinden mitteilen.«

»Ich werde seine Majestät fragen«, versicherte Alec Bianchi während die Templerstochter durch den Raum schritt und den Brief aufhob. »Geloben kann ich Euch seine Zustimmung jedoch nicht.«

Von Schwäche geplagt, durch die wenige Nahrung, überreichte Sofia mit zitternden Fingern dem blonden Sekretär das Pergamentblatt. »Ich danke Euch.«

Alec musterte das brünette Weib mit argwöhnischer Miene, fragend, ob er seinen Augen trauen konnte. Erst vor sieben Tagen war er hier, Wort für Wort an gleicher Stelle und doch wirkte sie abermals auffallend anders. Sie war abgemagert, noch mehr als zuvor, das Unterkleid, welches sie nur noch trug, hing lose an ihr herab, die Haare diesmal streng zu einem Zopf gebunden. Es mangelte ihr definitiv an Nahrung. Alec schluckte.

»Ich lasse Euch etwas zu Essen bringen«, entgegnete er hastig, fast schon in nur einem Wort zusammengesprochen, und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Als er sich zur Tür wenden wollte, packte Sofia ihn prompt an den Arm.

»Halt«, ihre Augen bewegten sich schnell hin und her, tiefblickend in die grünen von Bianchi, »ich bitte Euch, so sehr Ihr mir im Mitgefühl verbunden seid, fleht seine Majestät um Gnade an. Lieber sei es mein Leben, als dieser Krieg.« Es herrschte ein Zittern in Sofias Stimme, welches sich in Alecs Ohren bohrte und für ihn kaum zu überhören war. Er zog die Augenbrauen zusammen, den Sinn in ihren Worten suchend, denn er verstand sie nicht. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihm gedroht und nun heischte sie um Waffenruhe. Alec war sich gewiss, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, doch wäre es ebenso vergebens, sie nach dem Grund ihrer Worte zu fragen. Sofia würde ihm keine Antwort geben. So wandte er seinen Blick von dem ihren ab und schritt ohne ein weiteres Wort aus der dunklen Zelle, ehe eine Wache die schwere Tür des Raumes hinter ihm verschloss.

 

»Mio dio, Ihr seht unmöglich aus!«

»Es ist auch schön, Euch wiederzusehen, meine liebste Schwester!«, rief Matteo und tänzelte schnellen Schrittes auf jene Frau zu, welche soeben aus der schwarzen Kutsche stieg und sich sofort in die Arme ihres Bruders warf. Hastig hob er sie mit Leichtigkeit hoch und drehte sich, die brünette Prinzessin fest an sich drückend. »Livia.« Es war ein voller Glück erfülltes Hauchen, das sich über Matteos Lippen schlich.

»Seht Euch an, mein Bruder, König von Italien.« Ihre großen, blauen Augen leuchteten, während sie den breitgebauten Mann vor sich beäugte. »Ihr seht vielleicht doch ganz passabel aus.«

»Nicht so gut wie meine Schwester.«

»Stets der Frauenheld, nicht wahr?«, scherzte sie und klopfte Matteo gegen die Brust.

»Es ist viel passiert, Livia. Nach Vaters Tod bleibt nicht mehr viel für die Töchter dieses Landes übrig. Komm.« Mit einem sanften Druck auf dem Rücken der Prinzessin zog er sie mit sich und spazierte über den Hof. »Doch Juan nimmt dafür umso mehr.« Ein kurzes Auflachen ließ auch die junge Frau kurz grinsen, ehe sich ihr Antlitz zu einem bedrückten Ausdruck abwandelte.

»Ihr müsst Verständnis für ihn zeigen, unser Bruder hatte es nicht leicht. Und jetzt nach Vaters Tod wirkt er noch lebloser als zuvor.«

»Ich wünschte, das könnte ich, aber er bringt meine Pläne in Gefahr und-«

»Pläne?« Livia riss die Lider auf und hielt abrupt vor ihrem Bruder inne. »Welche Pläne?«

Carducci schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln auf. »Nichts Wichtiges, Schwester. Lasst uns weiter.« Matteo wollte sie nicht belügen, doch hielt er es für besser, sie aus jenen Angelegenheiten rauszuhalten, zu ihrer eigenen Sicherheit. Des Weiteren kannte er Livias Standpunkt – sie sah stets das gute in Menschen, obgleich sie Feinde waren. Sie war gewiss eine gebildete Frau, doch oftmals sehr leichtgläubig und deshalb jenem freundlich gesonnt.

Nach einem Augenblick stimmte die Italienerin zu und setzte zusammen mit Matteo ihre Beine in Gang. Sie stiegen die in die Jahre gekommenen Stufen hinauf, welche zum breiten Eingangstor des Schlosses führten und schwiegen für jene Sekunden, den Moment des Wiedersehens genießend. Das Jahr über hatte Matteo seine Schwester nicht mehr in die Arme schließen können, nachdem sie fort war nach Spanien, um den Mann ihres Herzens heiraten zu können. Eine Ehe, welcher Giuseppe Carducci niemals zugestimmt hätte, doch Matteo konnte seine Schwester nicht klagen sehen und nach Vaters Tod, war es augenscheinlich die beste Entscheidung, sie in dem schwachen Zustand der Zeit fortzuschicken und in Sicherheit zu wissen.

»Erzählt mir, mein Herz, wie ist die Ehe?« Kaum hatte Matteo seine Worte zu Ende gesprochen, strahlte Livia über das ganze Gesicht.

»Anstrengend, verpflichtend, doch ... unfassbar schön. Ich bin Euch zutiefst verbunden, dass Ihr uns Euren Segen und die Erlaubnis gabt. Ihr seid meines Glückes Schmied.«

»Verzeiht mir nur, dass ich nicht zu Eurer Hochzeit konnte.« Matteo presste die Lippen zusammen und verzog sie zu einem vorsichtigen Lächeln. Gerne hätte er seiner Schwester beigestanden, doch war das Land nach Giuseppes Tod schwach und angreifbar. Eine zu große Gefahr und dennoch fühlte sich der junge König in Schuld verstrickt und wurde von einem schlechten Gewissen geplagt.

Livia legte ihre Hand behutsam auf die Wange ihres viel größeren Bruders, hatte Mühe diese zu erreichen und stellte sich dezent auf die Zehenspitzen. »Sorgt Euch nicht, Bruder. In meinem Herzen wart Ihr dennoch anwesend.« Tief atmete sie ein, füllte ihre Lungen mit der süßlichen Luft Italiens und sah Matteo tief in die Augen. Sie kannte seine Seele, seine Gedanken, seine Sorgen und Ängste.

»Das war ich«, wisperte dieser und legte seine Hand auf die ihre. Freude strahlte aus ihm heraus und für jenen Augenblick fiel die Strenge, welche Carduccis Antlitz für gewöhnlich plagte.


Mit schweren Schritten, welche im großen Korridor auf dem kalten Steinboden laut widerhallten, marschierte Alec Bianchi durch das Gesinde, bis seine Augen die kurvige Dame im apricotfarbenen Kleid erblickten. Der blonde Jüngling senkte den Kopf, die Aussicht dem Boden gewidmet. Seine Füße wurden eilender, wollten seinen Leib nur aus diesem Gang schaffen.

»Wenn das nicht Alec Bianchi ist«, erkannte die braungewellte Prinzessin, welch Haarpracht in einem weißen Haarnetz versteckt war, mit einem spottenden Ton.

Carduccis Sekretär verdrehte die Augen, wohlwissend, dass sie sein Gesicht nicht beobachten konnte. »Eure Hoheit.«

»Wie ich sehe, scheint Euch der Tod meines Vaters zugutegekommen zu sein.«

Alec hob den Kopf, ließ seine grünen Augen die ihre treffen. »Sí, meine Stellung verdanke ich Matteo.« Alec presste den Kiefer zusammen und seine Wangenknochen traten hervor. Er kannte Livia, seitdem sie ein kleines Kind war und doch waren beiden nicht gut aufeinander zu sprechen. Oft malte er sich aus, dass der Grund seine enge Freundschaft zu Matteo war, welche er hegte. Eifersucht trieb ihren Groll gegen Alec voran, dessen war Bianchi sich gewiss. »Doch auch Euch gratuliere ich zu Eurer Ehe, Herzogin von Cuenca.« Mit einer respektvollen Kopfverbeugung zur Prinzessin verabschiedete sich Alec von ihr und wollte soeben seine Beine in Gang setzten, als diese ihn am Arm festhielt.

»Halt«, sie deutete auf das Pergamentblatt in seiner linken Hand, »was ist das?«

Bianchi seufzte, zog die Augenbrauen krampfhaft zusammen und ließ Falten zwischen ihnen entstehen. »Ein Brief.«

»Ein Brief für wen?«

»Henry Brigham.«

»Henry?«, sie runzelte die Stirn. »Weiß Matteo, dass ihr ihm schreibt?«

»Ich schreibe ihm nicht, doch genau deswegen bin ich auf dem Weg zu ihm.«

»Und wer schreibt ihm?«

»Ihr klingt über diesen Namen nicht überrascht, Hoheit.«

Sie lachte auf. »Natürlich nicht, ich kenne Henry Brigham, wenn auch nur flüchtig.«

Alec Bianchi warf Livia einen skeptischen Blick entgegen, hob eine Augenbraue und nährte sich ihrem Gesicht. »Und weiß Matteo davon?« Es war ein neckischer Klang, welcher jene Worte umgab und der jungen Herzogin ein Schmunzeln auf die Lippen zeichnete.

»Mio dio, Ihr schlagt mich mit meinen eigenen Waffen.« Die Scharfsinnigkeit des blonden Burschen überraschte Livia jedes Mal aufs Neue. »Und wer schreibt ihm nun?«

»Ich schweige, wenn Ihr schweigt.«

»Ihr habt mein Wort, Euer Gnaden.«

Alec Bianchi zog die Herzogin mit einer gekonnten, jedoch sanften Bewegung an die Mauer, weg von Ohren, die zuhören könnten und näherte sich ihrem. »Sí, hört zu; Matteo hält Henrys Schwester Sofia Brigham in Gewahrsam. Der Brief ist von ihr.«

Augenblicklich entwich jede Freude aus Livias Miene und ihr Mund klappte auf. »Herrgott ...«

»Ihr dürftet das gar nicht wissen, aber der König plant einen Angriff.«

Schnell bekreuzigt sie sich, wendet ihre blauen Augen von dem Sekretär ab und schnappt nach Luft. »Das kann nicht wahr sein«, hauchte sie von Unglauben erfüllt, wandte sich von Alec ab, welcher noch im selben Moment müßig versuchte, sie aufzuhalten, und stürmte den langen Korridor entlang.

»Livia!« Doch die Rufe ihres Namens verstummten in den Ohren der Königsschwester. Es war ihre eigene Stimme im Kopf, welche Bianchis Worte übertönten. Aufgewühlt drängelte sie sich an den Wachen vorbei und öffnete die dunkle, verzierte Holztür zu Matteos Gemach, ehe sie in jenes hineineilte und auf ihren Bruder zuschreitet.

»Schwester, was möchtet Ihr-«, begrüßt Carducci sie, bevor er die kleinen Fäuste der dunkelhaarigen Dame auf seine Brust aufprallen fühlte.

»Wie könnt Ihr nur?«, schreit sie immer wieder und schlägt auf ihn ein. »Wie könnt Ihr das nur tun?«

Matteo versuchte, ihre zarten Hände zu fassen zu bekommen. »Beruhigt Euch!« Ernst sah der junge König seiner Schwester in die Augen, welche von Tränen erfüllt waren, die sogleich warm an ihren rosigen Wangen hinab rannen. »Was ist passiert?«

»Ihr habt es versprochen!«, tobte sie.

»Versprochen?« Kurz überlegte Matteo, ob er etwas vergessen hatte, doch fiel es ihm nicht ein. Zu gern würde er zu jener Sekunde in den Kopf seiner Schwester hineinschauen, nur um zu wissen, was sie von ihrem Leid erlösen würde, das sie im Moment plagte. Er schluckte, versuchte, dem Kloß in seinem Hals ein Ende zu setzen, da es ihm keineswegs leichtfiel, sie derart außer Fassung zu sehen.

»Ihr wisst es nicht mehr, oder?« Niedergeschlagen schüttelte sie leicht den Kopf, als Matteos Antlitz eine Ahnungslosigkeit zeichnete. Schnell wusch Livia sich undamenhaft mit dem Handrücken eine Träne aus dem Gesicht und wandte Matteo den Rücken zu, ihre Augen dem Boden gewidmet. »Wisst Ihr noch Bruder, damals im Hof?«, ihre Stimme versagte für einen Augenblick und Livia rang mit sich ihre Fassung zu bewahren. »Mutter hat uns zum Spielen rausgeschickt, doch sollten wir uns an jenem Abend nicht der dunklen Mauer nähern.« Matteo schluckte, denn er erinnerte sich genau an diesen Tag. »Doch wir waren Kinder und wie Kinder nun einmal sind, waren auch wir neugierig und gereizt vom Verbotenem.«

»Sí ...«, hauchte Carducci wie erstarrt, gefesselt in den Bildern vor seinem geistigen Auge.

»So taten wir genau das, was wir nicht sollten; kletterten auf diese verdammte Mauer.«

»Würde ich noch einmal zurückkönnen, bei Gott, ich wünschte, wir hätten es nicht getan.«

»Aber es ist passiert, Matteo«, sie biss sich auf die Lippe, drehte sich zu ihrem Bruder und hatte Mühe, etwas durch ihre Tränen erkennen zu können. Nahm seine rechte Hand in die ihre und strich leicht über das Lederarmband mit dem Adleranhänger an seinem Handgelenk. »Ihr habt mir versprochen, dass Ihr nicht so werdet.«

Juli, 05. 1476


Das schillernde Lachen der Herzogin von Cuenca erhellte die finsteren Mauern des Schlosses und setzte auch jedem in ihrem Umfeld ein Lächeln auf die Lippen. »Schaut Euch an.«

»Ganz toll«, begann Matteo zögernd, als er sich skeptisch im Standspiegel vor ihm betrachtete, »Ich denke, das habt Ihr gut hinbekommen, sorellina.« Voller Vorsicht versuchte er, seinen Leib zu drehen, um jeden Winkel des neuen Hemdes, welchen ihm seine Schwester nähte, zu begutachten – und dabei nicht zu lange auf den falschgesetzten Saum zu starren. Livia war gewiss nicht mit der Begabung des Nähen und Strickens gesegnet, doch ließ der junge Italiener sich diese Tatsache nicht anmerken und verzog seinen Mund zu seinem dankbaren Schmunzeln.

»Ihr seht gut aus! Ich finde, ich habe meine Arbeit gut hinbekommen, nicht wahr, meine Damen?«, fragte sie mit ihrer piepsigen Stimme und warf einen schnellen Blick über die linke Schulter, nach den Gesichtern ihrer Hofdamen suchend. Jene erstickten jedoch nur belustigt ihre nach oben zuckenden Mundwinkel und sanken kichernd ihren Kopf, während eine dezente Röte ihre Wangen färbte. »Bruder, kaum sind wir hier, verhalten sich meine Hofdamen wieder wie kleine Mädchen.«

Carducci schürfte die Lippen und zwinkerte den Frauen zu, wohlwissend, das jene mehr über das Hemd als über ihn in Schamesröte verfielen. Mittlerweile hatte sich Livia wieder besonnen und Matteo genoss die Gemütlichkeit zwischen ihm und seiner Schwester, jedoch dessen bewusst, dass es lediglich die Ruhe vor dem Sturm war. Mit Alec hatte er gewiss noch ein Hühnchen zu rupfen, doch traf er ihn nur flüchtig am Hofe und begünstigte es zu dieser Stunde, nicht das Gespräch zu suchen, da er ihm andernfalls den Kopf abgerissen hätte. Vertrauen stand für Matteo an erster Stelle, umso mehr frappierte es ihn, dass Livia die Neuigkeit nicht von ihrem trunkenhaften Bruder Juan erfuhr, sondern von seinem engsten Freund.

»Meine Damen«, gerade kam ihm ein Gedanke, welcher Matteo bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch den Streit mit seiner Schwester unterging, »Entschuldigt mich, aber würdet ihr mich jetzt kurz allein lassen? Ich habe noch etwas zutun.«

»Natürlich, Bruder«, lenkte Livia ein und drückte Carducci einen Kuss auf die Wange, ehe sie mit ihren Damen aus dem Raum stolzierte. Prompt schritt Matteo zu dem alten Kieferschreibtisch und ließ sich auf dem Stuhl vor jenem nieder. Es folgte ein lautes Aufstöhnen, als seine Augen auf dem Berg der Dokumente, Urteile und Briefe, lasteten. Sogleich streckte er den linken Arm und erfasste die kleine Pergamentseite, auf welcher Sofia Worte für ihren Bruder Henry Brigham verfasst hatte. Dieses Schreiben, er hatte es bereits vollkommen vergessen.


Matteo seufzte, hielt das Stückchen Papier zwischen den Fingern und doch galt seinem Blick der schlichten Dielendecke. Zu sehr brannte sein Inneres darauf, Sofias Zeilen mit seinen Augen zu erfassen, doch rang er mit sich jenes Weib aus seinem Kopf zu verbannen. Wenn sie fort war und niemand von ihr sprach, gelang es ihm, sie zu vergessen, doch nur ein Wort, nur eine Aussprache ihres Namens und der Teufel brodelte in seinem Leibe und überwältigte seinen klaren Verstand. Und gleichwohl konnte der junge Fürst sich nicht erwehren, sich mit unruhigen Fingern das Stückchen Papier vor die Nase zu halten, und mit schwer schlagenden Herzen seine Augen über die wenigen Zeilen zu schweifen.

 

Mein liebster Bruder Henry,

 

Wenn Ihr nur wüsstet, welch Pein ich zu jener Stunde auf mich nehme, um Euch zu schreiben. Ich wünschte, Ihr wäret bei mir, denn ich bange um Eure Sicherheit. 

Gott preist mir immer weniger Zeichen über das Leben Eurer und unserer Eltern. Ich erfuhr vor meiner Abreise, Ihr wäret verlobt, mit einer schönen Dame aus dem

Orient. Das Haar so schwarz wie die Nacht. Vielleicht habt Ihr nun Frieden gefunden, jenen, welcher uns auf dieser Erde zu unseren Lebtagen manchmal vergönnt

sein kann, wenn schon ich dieses nie kosten werde. Ich schreibe Euch aus dunklen Mauern und trotz meiner Umstände, verstimmt mich die Tatsache mehr, dass ich

nicht an Eurer Seite sein konnte, als Ihr die Frau Eures Lebens zur Hand nahmt. O Henry, doch gratuliere ich Euch, auch wenn es scheinbar einer der französischen

Damen war, für welche Euer Herz so hochschlug, doch so Gott will, trägt Euer Eheweib schon bald einen Knaben unter ihrem Herzen.

 

In Liebe,

 

Sofia Brigham.


Carducci schluckte, mittlerweile hatte sich ein Kloß in seinem Hals gebildet, welchen er vergeblich versuchte, zu beseitigen. Eine weitere Dynastie der Templer schritt voran, und er war sich nicht gewiss, was ihn mehr beunruhigte. Entweder die Tatsache, dass ihre Anhänger immer größer wurden, Henry Brigham eventuell einen Sohn erwartete und nur so von Macht protzte, während er selbst auf die dreißig Jahre zuschritt und keinen einzigen Erben hatte, oder dieser Brief. Warum sollte Sofia aus dieser dunklen Zelle ihrem Bruder derart freundliche Worte zu seiner Vermählung schreiben, während sie lieber um Hilfe heischen konnte. Irgendetwas lief hier mit falschen Dingen zurecht und die Luft war faulig. Matteo zog die Augenbrauen zusammen, wie erstarrt die Pergamentseite in seinen Fingern mit den Augen aufdolchend und lauschte dem Knistern des Kamins zu seiner rechten.
Für den Augenblick verharrend, nicht wirklich über etwas nachdenkend und gleichzeitig doch den Kopf darüber zerschlagend, welche Botschaft in dieser Nachricht sein könnte. Matteo kannte die Tricks der geheimen Nachrichtenübermittlung und wusste ebenso, wie man sie anwendete, doch sind jene Techniken zu verschieden. Zu sehr, als das es dem jungen König gelingen würde, die Schrift schnell genug zu entschlüsseln. Sie hatten nicht mehr langen Zeit, dessen war er sich sicher. Die Kundgebung über die Geiselnahme Brighams Tochter hatte Matteo bereits vor sieben Tagen dem Boten zukommen lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er von seinen Augen und Ohren die Bekundung bekommt, dass Charles Brigham mit seinem Gefolge auf dem Weg war, und wenn jene eintrafen, blieb ihnen nicht lange Zeit um die erste Heilige Schrift zurückzuholen – eher überhaupt keine.
Um der Stille, welche in jenem Gemach herrschte, zu entgehen, trommelte Matteo mit den Fingern auf den Kieferntisch und widmete seinem Blick dem Fenster. Die Mittagssonne preiste sich noch immer hell am Himmel, doch drohte zur nächsten Stunde unterzugehen, und jenen in ein rotgedämpftes Licht zu färben.
Ruckartig stieß er sich vom Tisch ab, richtete sich auf und schritt samt Brief mit schweren, lauten Schritten aus dem Zimmer. In Gedanken vertieft, hatte Matteo die Audienzen mit den Kardinälen des Papstes durch und durch vergessen und wiegelte jene mit einer schnellen Handbewegung ab.


An der Tür zu den Räumen seiner Schwester angelangt, klopfte er hastig und wippte ungeduldig auf den Füßen herum. Neugierde brannte in ihm, doch wollte er sich nicht eingestehen, ob es die Neugier über Sofia, oder einer geheimen Botschaft war. »Livia, mach die Tür auf.« Sogleich stieg ihm Gelächter von der Prinzessin und ihrer Hofdamen entgegen.

»Matteo? Seid Ihr es?«, ertönt es durch die Tür, und Matteo war fast schon gewillt, jene einfach zu öffnen und hineinzuplatzen.

»Ja.«

»Komm rein.« Alsbald öffnete er die Holztür mit einem lauten Knirschen und hastete über die Schwelle, bis hin zu seiner Schwester. Erneut sanken die Hofdamen, in ihren rosigen Kleidern, den Kopf und worden von einer Schamesröte geplagt. Matteo verdrehte die Augen, sich erinnernd, das Hemd immer noch zu tragen. »Verzeiht mir, Bruder. Manchmal kann ich Eure Stimme nicht von Juan ausseinanderhalten.«

»Soll ich das jetzt als Beleidigung auffassen?«, er legte den Kopf schief und hob eine Augenbraue. Livia lachte und wiegelte ihre Damen aus dem Gemach.

»Ach du lieber Gott, nein.« Ihre großen, blauen Augen, welchem dem Meer ähnelten, wanderten zu Matteos verkniffenen, dunklen. »Was gibt es?«

»Ich brauche Eure Hilfe.« Zögernd legte er ihr die Pergamentseite vor die Finger auf den Schminktisch. »Ihr kennt Euch mit so etwas aus?«

»Prego?«

»Eine geheime Botschaft.«

»Seid Ihr Euch sicher?«

»No, aber ich habe eine Vermutung. Könnt Ihr es?«

Livia nickte und erhob sich von ihrem Platz, schritt zu einer kleinen Truhe auf einer ihrer Kommoden und öffnete jene, ehe sie einen Berg von Holztafeln herausnahm.

»Was ist das?«

»Verschlüsselungstafeln. Sie werden benutzt um Nachrichten über einzelne Wörter an bestimmten Stellen, oder gar nur Buchstaben zu verfassen und zu überbringen.«

»Ihr habt einiges gelernt«, erkannte Matteo mit Staunen und stützte sich mit den Armen neben Livia am Tisch ab, welche sich soeben wieder auf ihren Platz setzte und direkt mit der Arbeit begann. »Erkennt Ihr etwas?«

»No, noch nicht. Ich weiß nicht, welche Verschlüsselung sie benutzt. Das könnte dauern.«

»Wie lange?«

»Ein paar Stunden werde ich brauchen.«

Carducci grummelte, wissend, dass er seine Schwester nicht unter Druck setzen wollte, doch zugleich, ihm jene Zeit fehlte. »Livia, ich möchte Euch nicht bedrängen, doch ich fürchte, mir läuft die Zeit davon.« Seine Schwester setzte ein bedrücktes Gesicht auf und blickte Matteo tief in die Augen.

»Ich fürchte, dass trifft auf uns alle zu.« Carducci schluckte und ihm setzte das Herz für einen Moment aus. Er wusste, was Livia mit ihren Worten andeuten wollte - Sofia. Tief atmete er durch, ließ seine Lungen mit Luft vollströmen und senkte den Blick.

»Bene«, er zog die Lider zusammen, »ein paar Stunden.«


Die Sonne sank sich am italienischen Himmel über Florenz nieder und tauchte jenen in ein lindes Rot, doch Wolken trübten Sicht und Wärme. Ein säuerlicher Geruch stieg der Herzogin von Cuenca in die Nase, welche noch immer an der versteckten Botschaft jenes Briefes arbeitete, wissend, dass sich ein Gewitter aufzog. Schon vor zwei Stunden brachte sie das Feuerholz in ihrem Kamin zum Brennen, denn die Kälte des Regens außerhalb würde auch diese Mauern durchdringen. Sie griff zu ihrer Linken und wollte sich gerade noch ein Glas Wein einschenken, als sie mit Leichtigkeit den Krug anhob und sachte schüttelte. Leer.

»Herrin, ich hole sofort einen neuen«, vernahmen Livias Ohren sogleich die kratzige Stimme ihrer Hofdame Nan.

»Nein, ich wollte ohnehin noch einmal Luft schnappen, bevor das Gewitter beginnt. Geht ruhig ins Bett.« Ihr Lächeln brachte die alte Dame zum Schweigen. Sie war eine herzensgute Frau, welche die Herzogin bereits seid dem Kindesalter kannte und betreute.

Vielleicht konnte sie an der frischen Luft besser nachdenken und die Botschaft dieses Briefes herausbekommen, doch mit jeder Sekunde die verging, drang sich der Gedanke an die Oberfläche, dass es gar keine gab. Doch sie vertraute auf die Vermutung ihres Bruders und wagte es nicht, seine Bitte zu hinterfragen. Er tat so viel für sie, da musste sie ihm auch etwas zurückgeben, und wenn sie nun die ganze Nacht mit diesen Zeilen verbrachte.

Gemächlich richtete sie sich auf, warf sich den Abendmantel über die Schultern und steckte den Brief in die Manteltasche.

Fast schon schleichend verlässt sie den warmen Raum in den eisigen Korridor und stieg die Treppe zum Großen hinab.

Das Mondlicht ließ ihr hellbraunes Haar leuchten, welches sie nun offen über ihrem Rücken trug. Sie warf einen kurzen Blick nach links. In jenen Gängen befanden sich die Gemächer ihrer Mutter. Beschämt biss sie sich auf die Unterlippe. Bereits seit zwei Tagen war sie zurück an Hofe und noch immer hatte sie sich nicht getraut, ihrer Mutter gegenüber zu begegnen. Mit dem Tod ihres Vaters hat sie die Geistesschwäche eingeholt. Livias Ehe mit ihrem Gemahl Rodrigo tat den Rest. Sie war gegen diese Verbindung. Unbehagen machte sich in ihr breit. Sie würde sie morgen direkt besuchen, ganz gewiss.

»Es schickt sich nicht als verheirate Frau zu so später Stunde allein im Schloss umherzuwandeln.« Die lallende Stimme ihres Bruders Juan erschrak sie derart sehr, dass sie mit einem Laut aufzuckte und sich sogleich dem Torkelndem zuwandte.

»Juan!«, keuchte sie, »Du hast mich erschreckt.«

»Schlechtes Gewissen?«

»Weshalb sollte mich eines plagen, Bruder?«

»Wo wolltest du hin?« Der dunkelhaarige Trunkenbold lehnte sich gute drei Meter von Livia entfernt an einer Mauer ab und zog die Mundwinkel an.

»In den Garten, etwas Luft schnappen.«

»Der Garten liegt aber genau in der anderen Richtung.« Er zog die Lider zusammen.

»Ich war lange nicht hier, dann habe ich das verwechselt. Danke Bruder«, stotterte sie vor sich her und schritt mit den Augen an ihre Füße gefesselt an Juan vorbei. Doch dieser packte sie im selben Moment am Arm und zog ihren Leib an sich heran.

»Als ob du jemals diesen Garten vergessen könntest«, seine Augen funkelten, »Nicht wahr?«

Livia stockte der Atem, und sie wusste nicht genau, was sie tun und sagen sollte. Das Herz hämmerte ihr wie wild gegen die Brust und brachte ihr Dekolletee zum Beben.

»Hör auf«, wisperte sie, während sich ihre Augen schnell nach links und rechts bewegen, mögliche Ohren suchend, welche zuhören oder gar zur Hilfe eilen konnten.

»Wo wolltest du hin?«

»In den Garten.«

»Belüg mich nicht«, sein Griff um ihren Arm wurde stärker. »Es wäre nicht das erste Mal, dass dir deine Neugierde zum Verhängnis wird.«

»Juan, lass mich los!«, tobte die Herzogin und versuchte sich stürmisch aus seinem Griff zu wenden, doch der Bastard ließ nicht von ihr ab.

»Was haben wir denn hier?« Mit einem Mal zog er seine Hand aus ihrer Manteltasche, welche er unter ihren Windungen in jener vergrub und hielt den Brief der Templerstochter vor Livias Nase. »Gehört das nicht dieser Hure?«

»Matteo gab ihn mir!«

»Erzähl mir, Schwester.«, seine Miene verfinsterte sich, »Wir alle kennen deine übertriebene Hilfsbereitschaft. Ich weiß genau, dass du nicht in den Garten wolltest, sondern viel eher in die Verließe ... zu ihr.«

Livia keuchte auf und schüttelte den Kopf. Ihr Bruder war betrunken, man würde ihm ohnehin keinen Glauben schenken, doch kannte sie seinen Zorn über die Templer und auch jenen, die ihnen halfen. »Juan, bitte. Du tust unrecht!«

»Unrecht?« Er schubste Herzogin von sich weg und brauste empört auf. »Unrecht, sagst du?« Sein Ton war laut, forsch und kaum zu überhören. Sie befürchtete, dass Juan zu jedem Augenblick das gesamte Schloss weckte.

»Juan, beruhige dich!«

»Was steht da überhaupt drin?« Sein Blick wirkt starr und er hastete wie ein Wahnsinniger umher. Er schien seinen Verstand verloren zu haben. »Liebster Bruder ... Hochzeit ... Knabe?« Livia konnte erkennen, wie er mit sich rang und sie entsetzt ansah.

»Wie schade aber auch«, er hielt inne, wechselte im nächsten Moment das Schauspiel seiner Züge und lachte schadenserfreut, ehe Juan den Arm streckte und das Stück Papier mit Sofias Zeilen über eine Fackel an der Mauer hielt, »dass Ihr Bruder von ihren Worten nie lesen wird.«

»Juan nicht!«, heischte sie den Trunkenbold an, während dieser im selben Augenblick den Brief in Flammen auflassen ließ und Livia wie erstarrt auf das brennende Papier starrte, welches sich in ihre Augen bohrte.

Juli, 06. 1476


Livia Carduccis Hände zappelten unruhig auf ihrem Schoß auf und ab. Immer wieder verhakte sie jene ineinander und zog sie dann doch von neuem auseinander. Trotz der Eiseskälte, welche das Gewitter vom Vortag hinterließ, war ihr warm. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und sie senkte ihr Haupt bedrückt zu Boden. »Ich sagte es Euch doch, ich habe nichts getan.«

»Lügnerin!«, schrie Juan ihren Worten entgegen und schlug sogleich auf den dunklen Kieferntisch ein, welcher sofort zu knacken begann und die Stapel Dokumente von sich gleiten ließ.

»Juan!«, ermahnte Matteo, der sich derweil an einer der vielen Vitrinen abstütze und verloren aus dem Fenster sah. Er wusste nicht genau, wie er sich verhalten mochte. Er hatte ein wichtiges Dokument verloren, welches vermutlich eine unentbehrliche Botschaft enthielt, und doch kränkte ihm die Behauptung von Juan mehr, dass seine geliebte Schwester ihn versuchte zu betrügen.

»Ich hab sie genau beobachtet, Bruder. Mir erzählend, sie wollte in den Garten zu so später Stunde, und doch war sie genau auf anderem Wege, welcher zu den Verließen führte.«

»Das ist nicht wahr!«, beteuerte die Herzogin und spießte ihren Halbbruder mit den Augen auf. Sie kochte innerlich, zu groß war die Enttäuschung über Juan, gleichwohl über Matteo, welcher offenkundig Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit hegte. »Matteo, Ihr wisst das es nicht wahr ist.«

»Weiß ich das?«, der junge König ließ alle Luft ausströmen und drückte sich von der dunklen Vitrine ab, ehe er seinen Blick seiner Schwester widmete. »Seht mich an, wenn ich mit Euch rede!« Prompt hob Livia ihren Kopf und Tränen perlten von ihren Wangen, ehe jene auf ihre zitternden Hände tropften. Sie mochte es nicht ihren Bruder derart aufbrausend zu sehen, vielmehr, sie verabscheute es.

»Das hat doch keinen Sinn. Bruder, Ihr kennt ihre Einstellung.« Matteo nickte.

»Sí, und doch, kann ich dem nicht Glauben schenken. Keinem von euch.«

»Ich habe nichts getan!«, beteuerte Livia abermals und ihre Stimme krächzte vom Weinen. Die junge Dame war schon immer nah am Wasser gebaut, aber derartigen Verrat unterstellt zu bekommen, von ihrem eigenen Bruder wohlgemerkt, brach ihr das Herz.

»Es gibt keinen außer Euch selbst dem eine Schuld treffen könnte!«, ruckartig erhob sie sich von ihrem Stuhl und zielte auf Matteo. »Gewiss, ich versuche stets das für meinen Glauben richtige zu tun, doch hätte ich es Euch vorher gesagt, Ihr hättet es mir verwehrt.« Für einen Moment hielt sie inne, ihre Stimme versagte und sie wusch sich undamenhaft eine Träne von der Wange. »Würde Euer Verlangen nach Macht nicht so unendlich groß sein, hätten wir diese Probleme nicht. Verdammt, es war alles gut!« Tief atmete sie durch und versuchte das Beben ihrer Brust, durch das Schluchzen, unter Kontrolle zu bekommen.

Stille lastete in dem kleinen Raum und Carducci rang sichtbar mit sich, nach den richtigen Worten zu suchend. Immer wieder öffneten sich seine schmalen Lippen, doch brachten sie keine Worte hervor. Sein Antlitz hatte einen Ausdruck angenommen, welchen weder Juan noch Livia zuordnen konnten, doch es ließ seiner Schwester eine Gänsehaut überkommen. Für jenen Moment traute sich nicht einmal der Bastard etwas von sich zu geben.

»Alec?« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte, sodass der blonde Jüngling, welcher Matteo zu seiner Linken stand, sich ihm noch ein Bruchstück näherte. Matteo flüsterte ihm für wenige Sekunden ins Ohr und prompt schritt Bianchi aus der Tür und winkte zwei Wachen hinein. Carduccis Blick ruhte auf dem seiner Schwester, welche immer wieder abwechselnd zu den Wachen sah und sich unruhig mit ihren Fingern am Stuhl festklammerte.

»Bringt meine Schwester in ihr Gemach, sie steht unter Arrest. Lasst sie nicht hinaus.« Sein Ton war kühl und das Gesicht ohne jegliche Regung, noch immer mit den Augen auf seine Schwester gerichtet, ehe er jenen beschämt zu Boden gleiten ließ. Er konnte ihrem gebrochenen Blick nicht standhalten.

»Matteo?«, es war ein ungläubiges Heischen, das über ihre Lippen kam und sich in Cardducis Ohren drang, doch jener ignorierte dies. Als die zwei Männer sie unter den zierlichen Armen packten und mitzogen, windete sie sich unter den groben Griffen und kreischte. »Matteo, dass könnt Ihr nicht tun! Matteo! Ich bin Eure Schwester, dass könnt ihr nicht tun!« Die Wachen schliffen sie aus dem Raum und auf Juans Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. »Matteo! Ich habe nichts getan, ich bin unschuldig!«

Matteo sank den Blick und presste die Lippen zusammen. In jenem Moment überkam ihm ein Schuldgefühl, welches ihm unmöglich war, es zu unterdrücken. Er wollte das seiner Schwester nicht antun, doch blieb ihm im Moment keine weitere Möglichkeit.

»Und Euch ...«, seine Augen leuchteten als er zu dem Bastard sah, »Euch entferne ich aus dem Rat. Ich hoffe, Euer Gnaden, Ihr seid stolz auf Eure Taten.«

»Das wagt Ihr nicht!«, prompt packte ihn der Trunkenbold an der Schulter, als Matteo sich geradewegs zu Alec begeben wollte, und Carducci schlug seinen Arm stracks weg.

»Ich bin der König, ich kann alles!«, brüllte jener und schubste seinen Halbbruder von sich. »Verschwindet nun!«

»Wie Ihr wollt«, Juans Stimme wurde bissig und missfallend, »Majestät.« Aufbrausend schritt er aus dem Raum und warf Alec Bianchi noch einen missbilligenden Blick zu, als jener zu Matteo wallte.

»Alec, habt Ihr Nachricht von unseren Augen?« Der junge Herrscher stützte sich erneut an der Kommode am Fenster ab, denn er konnte den Gesichtsausdruck seines Freundes bereits erraten. »Sprecht.«

»Nein, Euer Gnaden.« Gemächlich begann Matteo zu seufzen, die Augen schließend um im nächsten Moment in ein spöttisches Gelächter zu verfallen und den Globus, welcher auf der Fensterbank stand, mit einem lauten Brüllen umzuschmeißen. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Mein Freund, beruhigt Euch.«, heischte Bianchi und packte Carducci an seinen Schultern, um ihn seinem Wahnsinn zu erlösen. »Gott wird die Bösen ebenso richten, wie die Guten.«

»Nennt mich nicht Euren Freund. Ist diesem Hurensohn seine Tochter egal?«

»Verzeiht mir, Eure Majestät. Vielleicht gab es Erschwernisse. Der Bote kann vom Weg abgekommen sein.«

»Das sind alles nur Vermutungen, Alec. Jene haben mir schon genug Fehltaten gebracht.« Carducci seufzte, in Gedanken bei seiner Schwester, und rieb sich den Hinterkopf.

»Livia wird darüber hinwegkommen, aber solange wir es nicht wissen, können wir kein Risiko eingehen.« Matteo nickte mehrfach und versuchte, sich einzureden, dass sein engster Vertrauter recht hatte. Das Risiko überwog, und sie konnten es sich nicht erlauben, die Templerstochter zu verlieren. Doch ihm brannte es auf der Seele, er musste wissen, weshalb sich Charles Brigham noch nicht bekanntgab, oder einen Gesandten schickte.

»Alec«, begann er zögernd, bloß von einer Entschlossenheit überwältigt, welche kaum zu überhören war, »Ihr begebt Euch nach England. Nehmt einige unserer Männer mit. Findet heraus, was dieser Bastardo treibt.« Bianchi schluckte und befeuchtete seine Kehle, nicht wissend, was er darauf antworten sollte.

»Ja, Majestät.«

»Ich setze mein Vertrauen in Euch, lasst es mich nicht bereuen.«

»Gewiss nicht, ich werde Euch nicht enttäuschen.«

»Ihr reitet noch heute Abend.« Er klopfte ihm auf die Schulter, ehe er ihm dankbar in die Augen sah und seinem Freund zunickte. Er schämte sich für seine vorherige Impulsivität in jenem Moment. »Du schaffst das.«


Der Mond preiste sich hell am Himmel, doch Wolken ließen jene Strahlen trüben und bedeckten ihn stellenweise. Alec Bianchi streichelte sein schwarzes Ross über die lange Mähne und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des Stallburschen auf sich zu ziehen.

»Du da.« Ein junger Mann mit zotteligen Haaren und staubigen Kleidern drehte sich zu Alec um und nickte respektvoll. Im Schein einer Laterne konnte Alec sehen, dass er ein müdes Lächeln auf den Lippen trug und Augenringe ihm die Anstrengungen des Tages verrieten.

»Ja, Herr?« Um sie herum war das Gestüt ruhig und dunkel, abgesehen von den sanften Geräuschen des Viehs, welches in ihren Boxen schliefen. Der Wind war erfüllt mit dem Duft von Stroh und Heu, jener von den angrenzenden Scheunen herüberwehte.

»Bereite die Pferde vor. Ich und meine Männer werden gleich ausreiten. Ich muss noch etwas erledigen.«

»Jawohl.« Nach einem eiligen Knicks gehorchte er den Befehlen seines Herrn und Bianchi stieg die wenigen Treppen zum Eingang des Palastes hinauf.

Ohne Umwege schlich er durch den großen Korridor, welcher von vielen bunten Fenstern geschmückt war, und die Sonnenstrahlen in Farben auf dem Boden tanzen ließen. Er bog nach rechts ab durch einen Torbogen und betrat den ausladenden Teich, welcher hinter dem Schloss lag. Es dauerte nicht lang, bis Alec jenen umrundete, doch konnte er sich nicht erwehren, einige Sekunden in das schimmernde Wasser zu starren und sich in den Bann ziehen zu lassen. Immer wieder schaute er nach hinten, ringsum um sich her, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. An diesem Hof gibt es zu viele Augen, doch Alec wusste genau, welchen Weg er besser mied, und welchen er bevorzugte.

Erschienen am Einlass der Burgverliese, atmete er abermals die frische Abendbrise ein, ehe sich die faulige Luft des Kerkers in seine Nase schlich, als Alec Bianchi die Treppen hinabstieg und sich eine der Fackeln, welche an den Wänden hing, in die Hand nahm. Dieser Geruch war streng und scharf, doch süßlich zugleich.
Ein Großteil der Wachen schliefen, sodass der blonde Sekretär problemlos an ihnen vorbei konnte. Er hatte Kenntnis über die schmalen Geheimgänge dieser Mauern, welche es ihm einfach machten, ohne gesichtet zu werden, zu Sofia Brighams Tür zu gelangen und jene mit einem leisen Quietschen zu öffnen. Hastig schloss er jene hinter sich und steckte die Schlüssel zurück in seine Manteltasche.
Sofia saß zusammengekauert in der Ecke, die Beine angewinkelt und ihren Kopf auf den Knien abgelegt, während sie jene mit den Armen umschlang. Er war sich nicht sicher, ob sie schlief, oder überhaupt noch am Leben war, wie bei seinem ersten Besuch. Vorsichtig tapste er über das Stroh, ehe sein Herz einmal aussetzte, und ein kleiner Ast unter seinem Fuß brach. Sofia zuckte augenblicklich zusammen.

»Wer seid Ihr?«, ertönte die mädchenhafte Stimme aus dem Winkel und Alec lichtete sein Gesicht langsam vor der hellen Flamme seiner Fackel, um sein Antlitz preiszugeben.

»Alec Bianchi.«

»Euer Gnaden?« Ihre grauen Augen leuchteten unter dem Schein des Feuers und Sofia war beeindruckt von der Helligkeit. Zu lange verharrte sie schon im Dunklen. »Was führt Euch zu mir?«

»Verzeiht mir, wenn ich Euch zu so später Stunde geweckt habe.«

»Ich weiß nicht einmal, welche Stunde wir schreiben.«

»Dreiundzwanzig.«

Sofia prustete und schaute betrübt herab. »Habt Ihr meinen Brief abgeschickt?«

»Ich bitte nochmals um Verzeihung, leider hat etwas meine Wege durchkreutzt.«

»Ah, ich verstehe. Seine Majestät gestattet es nicht.« Alec Bianchi schluckte und rang mich sich. Er wusste genau, die Gedanken, welche seinen Kopf zu jener Stunde plagten, waren Verrat.

»Nein, er wurde verbrannt, von seiner Majesäts Bruder.«

»Mylord, wenn Ihr nun gekommen seid, um mir dies zu sagen und mir noch mehr Unheil zu verschaffen, dann habt Ihr Euer Ziel erreicht. Ihr dürft nun gehen.«

»Hört zu«, seine Stimme war derart leise, dass selbst Sofia, welche jene Stille in diesen Mauern gewohnt war, Mühe hatte, sie zu verstehen. Kurz sah sich der blonde Mann um und lauschte in den Gängen hinein, um mögliche Ohren auszuschließen. »Ich werde heute Abend abreisen, nach England.«

»Das wird Euer Ende sein, Euer Gnaden.«

Bianchi ignorierte Ihre Worte, zückte aus seiner Manteltasche Papier, Feder und Tinte und übergab jenes der Templerstochter.

»Wenn Ihr Euch beeilt, dann werde ich Euren Brief übermitteln können. Ihr habt nur jenen Moment.« Kurz legte sie den Kopf schief, zog die Augenbrauen zusammen, denn sie war sich nicht sicher, ob sie dem blonden Herrn vertrauen konnte. Es könnte ebenso eine Falle sein, doch auch der einzige Moment, mit welchem sie ein letztes Mal mit ihrer Familie in Kontakt treten könnte. So nahm sie jene Sachen an sich und zeichnete eine Lilie auf das Blatt. Alec Bianchi betrachtete die Zeichnung mit einem argwöhnischen Blick.

»Eine Blume?«

»Mein Bruder wird es verstehen«, wisperte sie, denn in jenem Moment wollte auch sie nicht von unerwünschten Wachen gehört werden. »Sagt meinem Bruder, falls Ihr ihn trifft und noch am Leben sein solltet, dass ich ihm vergebe.«

»Vergebe?«

»Ja«, sie schüttelte mehrfach schwach mit dem Kopf, um ihren Worten Ausdruck zu schenken, und hatte Mühe ihre Tränen zurückzuhalten.

»Ich werde bald heim sein, mit der Nachricht Eures Bruders«, ohne noch auf eine Antwort der jungen Dame zu warten, schritt Alec Bianchi aus der finsteren Zelle und verschloss die Tür, ehe er durch die Geheimgänge zurück zum Vorhof schritt, wo bereits seine Männer auf ihn warteten.

»Alle bereit?«

»Ja, Euer Gnaden.«, ertönte es hallend von seinem Gefolge und Alec wollte sich soeben auf seinen Sattel schwingen, als eine Hand seine Schulter erfasste, und seine Ohren eine bekannte, raue Stimme vernahmen.

»Komm bald zurück.« Es waren Matteos Augen, welche tief in die von Alec sahen und fast schon Tränen aufkommen ließen. »Ich kann Euch nicht verlieren.«

»Das werdet Ihr nicht«, versicherte ihm sein Freund und schloss ihn ein letztes Mal herzhaft in die Arme, mit einem Klopfen auf dem Rücken und lächelte optimistisch. Prompt stieg er auf sein schwarzes Ross und hielt die Zügel, während er noch einmal auf Carducci sah.

»Lang lebe der König!«


Das Feuer knisterte und beleuchtete Matteos Leibe, welcher stillschweigend auf seinem Bett saß und an die Geschehennisse der vergangenen Tage dachte. Starke Zweifel machten sich im Inneren des Italieners breit und er hasste sich für einen Atemzug für das, was er seiner Schwester und dieser Dame antat. Doch schnell schüttelte er sein Haupt, versuchte, die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, und sich einzureden, dass dies alles Mittel zum Zweck sei. Es musste so sein, ohne Gnadenlosigkeit erreichte man nichts. Augenblicklich schluckte er.

»Du hast es mir versprochen...«, murmelte er leise vor sich hin und erinnerte sich an die Worte von Livia, welche an jenem Abend sein Verhalten missbilligte. Seinen Blick auf die Decke gerichtet, hob er seinen Arm und lugte nun auf das Lederband, welches sein Handgelenk schmückte. Jenes, mit dem leicht verrosteten Adleranhänger, und versank in Gedenken.


Eine warme Prise des Windes zog in den Gärten des Schlosses und betonte die sommerliche Dämmerung perfekt. Maria Carducci scheuchte ihre Kinder mit einem schallenden Lachen aus dem Haus.

»Geht, geht spielen, meine Kinder.«

»Spielst du mit uns, Mutter?«, fragte das kleine hellbraune Mädchen, welches sich wie ein Äffchen an Maria klammerte. »Bitte, spiel mit uns.«

»Heute nicht, ich habe noch viel zutun.«

»Morgen aber, oder Mutter?«, erklang die kindliche Stimme von Matteo, welcher sie mit großen Augen ansah. Schon seit Ewigkeiten versprach Mutter, mit ihnen zu spielen, doch versteckte sie sich nur wiederkehrend in ihren Gemächern.

»Ja, morgen.« Die Geschwister lächelten, auch wenn sie bereits wussten, dass es eine Lüge war, doch gab Livia die Hoffnung nicht auf. »Und nun geht, Kinder. Doch gebt Acht, ich untersage es euch zur Stunde, euch auch nur in der Nähe der dunklen Mauer aufzuhalten.«

Die beiden verstanden nicht weshalb, sie spielten dort gerne. Es gab hohe Hecken an jenem Platz, in denen man sich verstecken konnte, doch sie nickten lammfromm und stellten Maria nicht in Frage.

»Ja, Mutter«, ein schneller Knicks und sofort rannten beide in die Ferne der Gärten und spielten Räuber und Wächter. Matteo war als Erster dran, er war gut und der schnellste Läufer der Familie, doch wollte er seine Schwester nicht kränken. So verlor der Knabe fortwährend absichtlich, sodass Livia sich sogar beschwerte, warum er so trödelte. Doch diesmal nicht, heute würde er sie einholen.

»Hab dich!«, kicherte der kleine Junge, und Livia tat es ihm gleich. Sofort rannten sie weiter, vergaßen, was ihre Mutter ihnen sagte, und näherten sich der dunklen Mauer.

»Halt!« Matteo stoppte abrupt und rief nach seiner Schwester, doch hörte sie ihn nicht. Zu laut war ihr eigenes Gelächter, ihr Atem, ihr Puls.

An der Mauer angekommen, tappte sie in eine Sackgasse und hielt prustend inne. »Das ist unfair.«

»Wir sollten nicht hier sein, Liv«, Matteo blickte ängstlich umher, die Augen seiner Mutter suchend, und sich die Strafe ausmalend, welche sie bekamen, wenn Maria sie erwischte. »Komm.«

»Nein«, presste das Mädchen hervor. »Ich will nicht gehen. Bist du ein Angsthase?«

»Hörst du das auch?« Livia wurde plötzlich ganz still und spitzte die Ohren.

»Warum schreien die?«

»Ich weiß es nicht.« Matteo wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten, denn das Gebrüll der Menschen hinter der Mauer schien immer lauter zu werden. „Verräter" und Worte wie „Wird auch höchste Zeit", stachen in der Menge hervor. Ehe sich Matteo versah, kletterte seine Schwester an einem der Bäume hoch, welche den Wall säumten. »Livia!«
Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und ihm wurde heiß und kalt zugleich, ebenso brannte sich die Neugierde ihn ihm fest, was sich hinter der Mauer befand. Er überlegte nicht lange und kletterte die Äste des Baumes hoch, bis die kleinen Augen der Kinder die Menge der Menschen erblickten. Der Geruch von Schweiß und Angst hing in der Luft, während die Sonne langsam unterging und den Augenblick in ein warmes, rotes Licht tauchten. Überall war Geschrei und Protest und den Geschwistern stockte der Atem, als sie ihren Onkel Mario Carducci kniend vor ihren Vater sahen. Die Hände am Rücken zusammengebunden, und dem Blick der Menge widmend. In der Ferne hörte er das Klappern von Pferdehufen und das Kratzen von Wagenrädern auf dem Pflastersteinboden.

»Matteo?«, das kleine Mädchen zitterte in tausend Ängsten und krallte sich mit ihren schmalen Fingern in sein altweißes Leinenhemd. Ehe der Junge seine Lungen mit Luft füllen und die Augen seiner Schwester bedecken konnte, holte ihr Vater Giuseppe Carducci mit seinem Schwert aus und ließ jenes den Kopf seines Bruders mit einem Hieb von seinem Leibe trennen, während die Zeugen vor Wohlgefallen triumphierten und Stoff, wie Haar in Blut tränkten.

Juli, 14. 1476

 
Stillschweigend saßen sie in auf ihren Stühlen, lauschten dem knisternden Kamin, unfähig, Worte in den Raum zu werfen. Die Taten ihres Bruders grämten Livia noch immer, zugleich brach ihr das Herz bei dem Gedanken, dass ihm offenkundig kein schlechtes Gewissen plagte. Er verhielt sich kühl ihr gegenüber, kühler als er es jemals zuvor war, und es war beängstigend für sie.
Die Herzogin kannte ihren Bruder nicht in jener Verfassung. Trotz der Wut, welche sie aufgrund ihrer Umstände hegte, empfand sie dennoch Verständnis für ihn, da sie erkannte, dass er unter etwas litt. In den vergangenen Tagen dachte sie oft darüber nach. Zu gern wollte sie fragen, um ihrem Bruder zu helfen, doch traute sie es sich nicht. Seitdem Alec Bianchi nach England aufbrach, Matteo ihren Halbbruder Juan aus dem Rat entfernte und die Familie immer mehr in sich zusammenfiel, war er unberechenbar.
Seine Launen glichen einem betrunkenen Henker, jener einem selten die Sicherheit gab, woran man bei ihm war. In der einen Sekunde konnte er wie ein wahnsinniger ein Gelächter anstimmen, woraufhin er alsbald in eine Art Trance war, und sogleich im nächsten Moment in tiefes Elend oder Hader zu verfallen.
Es war derart totenstill in jener Stube, dass Livia selbst das Röcheln ihres Atems durch ihre Nase hören konnte. »Matteo«, begann sie zögernd und presste für einen Moment die Lippen zusammen, ehe sie das Kinn hob und Matteo tief in die Augen sah, »Was bedrückt Euch, Bruder?«

»Nichts.« Erneut diese kühle, abweisende Antwort, hinter welcher jedoch soviel mehr zu stecken schien, dessen war Livia sich gewiss.

»Ihr könnt mich nicht belügen, Bruder.«

»Dafür könnt Ihr es umso besser, Madam.« Sie ballte ihre Hände zusammen und biss sich auf die Zunge, um nicht sofort loszuprusten. Entsetzung, das war das richtige Wort, welches in jenem Moment auf die Herzogin zutraf. Lediglich helfen wollte sie, ihrem Bruder unter die Arme greifen, ganz gleich wie schwierig die Zeiten zwischen ihnen im Moment waren. Sie waren doch eine Familie und hatten einander da zu sein. Und doch wies er sie erneut ab, unterstellte ihr Dinge, die nicht stimmten. Nie hatte sie ihn belogen, dessen war sie sich sicher, stets die Wahrheit sagte sie ihm und hatte ihren Bruder gepriesen. Es gab keinen Grund, ihre Loyalität anzuzweifeln, doch glaubte ihr niemand.

»Bitte lasst mich Euch helfen«, ihre Stimme war flehend, zitternd. »Ich bin es doch, Eure Schwester. Eure Schwester Livia.«

»Geht, ich will allein sein.«

»Nein«, schoss es prompt aus ihr heraus und stur blickte sie ihm in die Augen. Matteo, welchem vor Überraschung ihres Widersetzens direkt die Kinnlade aufklappte, schluckte und wandte den Blick ab. »Bene, aber Ihr könnt mir nicht helfen.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« Die Herzogin legte den Kopf schief und erhob sich mit einer sanften Bewegung von ihrem Stuhl. Zärtlich griff sie in den feinen Stoff ihres rötlichen Satinkleides und achtete darauf, nicht auf den Saum zu treten. Fast schon schwebend, tapste sie auf Matteo zu, ehe sie sich an der Armlehne seines Stuhles, mit einer Hand, Halt verschaffte und vor ihm kniete. »Ich sehe Euch und Euer Leiden.«
Carducci schnaubte still und ließ eine Hand an Livias Wange Platz nehmen. »Nicht einmal so ein reines Wesen wie du, Schwester, kann meine verdorbene Seele aus den Zwängen des Teufels retten.«
Livia keuchte auf, die Worte ihres Bruders trafen sie zutiefst. Er war stets ein Mann, welcher stets gutmütig und optimistisch war, doch zu jener Stunde wirkte er wie ein anderer Mensch. »Matteo, wie kommt Ihr darauf, dass eure Seele verdammt sei?«

»Seht mich an, dann habt ihr die Antwort.«

»Ihr seid das Abbild unseres Vaters, Bruder. Ein König.«
Sofort lachte Matteo gehässig auf und nickte mehrfach mit dem Kopf. »Ja«, seine Augen leuchteten, »Ja, das bin ich.«

»Ich verstehe nicht, warum bekümmert Euch das so?«

»Livia«, fuhr er zögernd fort, »Denkt an Eure eigenen Worte, welche Ihr an jenem Abend Eurer Ankunft zu mir spracht.«
Ruckartig stockte der Herzogin der Atem. Sie wusste genau, was er damit andeutete. »Nein- nein, Bruder. Ihr mögt das Abbild sein, doch Eure Seele ist eine andere.«

»Macht Euch doch nichts vor, Ihr habt es mir selbst gesagt.«
In jenem Moment überkam es sie und sie erinnerte sich an die Worte, welche sie Matteo am Tag ihres Arrestes an den Kopf geworfen hatte. 'Machthungrig' und 'das nur ihm eine Schuld treffe'. »Matteo ...«

»Ist gu-«, noch bevor seine Majestät den Satz beenden konnte, wurde er von Pferdegetrabe und jubelnder Menge aus dem Hofe gestoppt. »Merda, was ist da los?«
Sofort sprang er von seinem Sessel und legte das Buch, welches er in der Hand hielt, jedoch nie draus las, beiseite. Es diente nur der Ablenkung, damit Livia ihn nicht ansprach. Mit schweren Schritten begab Matteo Carducci sich zum Fenster, gefolgt von seiner Schwester, welche dicht an ihm stand. Beide Augen blickten mit einer Anstrengung aus den beschlagenen Fenstern, und versuchten, im Morgengrauen etwas erkennen zu können, obgleich der Nebel es schier unmöglich machte.

»Momentino«, sprach der Dunkelhaarige, »das ist Bianchi.« Prompt zeichnete ein strahlendes Lächeln seine Lippen, und er dankte sogleich Gott, dass sein Freund am Leben war. Fest packte er die Herzogin an den Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Der Herr sei uns gnändig.«
Livia lächelte für einen Moment, verbarg es jedoch schnell wieder unter ihrer gefassten Miene und schritt mit Matteo aus der Stube hinaus.


Am Tor des Schlosses angekommen, stiegen sie eilends die wenigen Stufen hinab und Matteo schwirrte fast schon hüpfend vor Freude seine letzten Schritte zu seinem engsten Freund und schloss ihn in die Arme. »Dio ti guardi. Gott behüte dich«, flüsterte er ihm ins Ohr. Die Umarmung war fest und brüderlich, und es schien, als würden sie nie wieder voneinander lassen wollen. In den letzten Tagen merkte er, wie eintönig das Leben ohne seinen Vertrauten war, selbst als König war er nichts ohne ihn.

»Ich freue mich auch dich zu sehen, mein Freund.«

»Du musst mir alles erzählen.«
Kurz bevor Alec seinen Mund öffnen und reden wollte, unterbrach ein Pferdeanhänger, welcher mit einem Leinentuch bedeckt war, die Aufmerksamkeit der Carducci Geschwister.

»Was ist das?«, fragte Livia zitternd und bereute im nächsten Moment sogleich, ihre Frage gestellt zu haben, denn eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Hunderte von Männern haben sie gewiss umgebracht und allein bei der Vorstellung wurde der Herzogin schlecht. Darunter Väter, dessen Kinder und Frauen zuhause warteten und jenen nie wieder sahen. Verlobte, welche ihre Liebste nie ehelichen dürfen und Söhne, die nicht zurück zu ihren Müttern kehren werden. Livia schluckte schwer und spürte, wie eine Gänsehaut über ihre Haut lief. Sie konnte die Traurigkeit und die Verzweiflung nicht länger zurückhalten und Tränen begannen in ihren Augen zu brennen. Sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste, aber es war schwer, wenn sie so deutlich vor Augen hatte, was all diese Kämpfe und Konflikte wirklich bedeuteten.

»Die Frage ist eher, wer ist das«, stellte Carducci fest und warf Alec einen fordernden Blick zu. Mit Gefangenen hatte er gerechnet, doch nicht mit Leichen, welche sie auf italienischen Boden brachten.

»Eure Majestät«, begann Alec zögernd, »das ist Charles Brigham.« Sofort weiteten sich Matteos Augen und Livia hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.

»Was hast du getan?«, schrie sie ihn entsetzt an. Sie starrte wie in Trance auf die blasse Hand, jene unter dem Laken herauslugte und fasste sich ans Herz. Es schlug derart laut, dass sie dachte, es würde ihr jeden Moment aus der Brust springen. Charles Brigham, der Mann des mächtigsten Adels hinter der Templerlinie. Charles Brigham, das Gesicht, hinter des Raubes der letzten Schrift. Charles Brigham, ein Vater, dessen Tochter im Kerker auf Hoffnung wartet. »Du hast uns alle in Gefahr gebracht«, schrie sie. »Du hast uns alle in den Abgrund gestoßen!«

»Livia, beruhig dich!«, appellierte Carducci und ließ seine Augen über den Platz schweifen, um zu kontrollieren, wer die Hysterie seiner Schwester erfasste.

»Wie könnte ich zur Ruhe kommen, Matteo?« Livia krallte sich in den Satinstoff an ihrer Brust und kreiste unruhig um sich selbst. »Hier, nur wenige Schritte von uns entfernt, kauert seine Tochter in den Verliesen, welche darum bangt, ihren Vater in Bälde wieder in ihre Arme schließen zu können. Und ist ihr vermutlich nun nicht einmal das Begräbnis vergönnt!«

»Jenes Glück war uns bei Mario ebenfalls nicht gestattet«, reskribiert Carducci und weicht den entsetzten Blicken der Herzogin aus.

»Und dies ist der Grund, aus welchem ihr es dem gleichtun müsst? Verdammt, Ihr wisst, wie überaus wir gelitten haben!«, prompt verpasste sie Matteo eine Ohrfeige. »Ihr habt es mir versprochen!«
Matteo zog die Augenbrauen zusammen, knirschte mit den Zähnen und tat Mühe daran, in jenem Moment zu realisieren, was gerade geschah. Er war ungehalten, doch grämte ihn nicht seine Schwester, sondern vielmehr der Groll auf sich selbst und die Tatsache, dass Livia die Wahrheit kundgab.
Seit Anbeginn der Zeit hatte sie ihn stets mit größtem Respekt behandelt, doch nun verließ sie die stoische Haltung, und er war der Schuldtragende ihrer Taten. So war sie doch stets ein gesittetes Mädchen, welches ihren Pflichten nachging, ohne zu Hinterfragen und Matteo brach ihr Vertrauen.
Es war ein altes Versprechen, welches er brach. Matteo schwor ihr tausend Eide kein Herrscher zu werden, wie es Giuseppe Carducci war, welcher nicht einmal bei der eigenen Familie vor einer Todesstrafe halt machte. Nein, an dem Abend, als Livia und Matteo als Kinder im Garten spielten, und ihnen die Neugierde zum Verhängnis wurde, da hatte er sich das geschworen. Doch die Macht schien ihn aufzufressen, und er wurde immer hungriger, sie nagte an seinen Knochen. Immer höher wollte er hinaus, immer weiter und immer mehr wollte der junge König zuteilwerden.
Erschrocken sah das Volk um sie herum auf die Geschwister und warteten auf die Handlung ihres Königs, doch zog jener seine aufgelöste Schwester fest in seine Arme und fuhr mit seiner Hand durch ihr welliges Haar. »Es tut mir leid.«

»Nein Bruder, verzeih mir.« Abermals schüttelte Matteo den Kopf.

»Nein.« Sie verharrten für eine gefühlte Ewigkeit in diesem Moment und genossen die Versöhnung. »Sorellina.«


»Matteo?«, unterbrach Alec Bianchi die beiden zögernd, »Wollen wir?«
Carducci nickte, er hatte die Leiche bereits komplett vergessen. »Sí«, er warf einen Blick auf seine Schwester, »Livia, wir sprechen zum Abendmahl.«

»Kein Gedanke, ich werde mitkommen.«

»Ich fürchte, dass ist nicht Eure Angelegenheit«, unterbrach Alec, packte Matteo an die Schulter und wollte losschreiten, doch jener hielt inne.

»Nein, wenn es ihr Wunsch ist, dann sei es so.« Ein Lächeln zierte sich auf den Lippen der kurvigen Dame und sogleich vergaß sie für einen Moment die nächste Maßnahme - einen Blick auf Charles Brigham zu werfen.
Sie schritten dem Wagen hinterher, welcher die Leiche trug, und folgten diesem durch einen Torbogen hindurch in ein Nebengebäude, in welchem die drei anschließend allein waren.

Ein fauliger Geruch machte sich durch die Hitze bereits bemerkbar, und Carducci wurde klar, dass der Bankier nicht erst seit gestern entseelt war. Mit einem starren Ausdruck betrachteten sie den leblosen Körper und nicht nur Livia fühlte in diesem Atemzug Mitleid. Nein, es war ebenso Matteo, welcher in den Gedanken bei Sofia Brigham war. Selbige, die schwermütig auf ihren alten Herrn wartete, in diesem kargen Keller - vergeblich. Fortwährend bangend, für nichts.
Mit einem Mal überkam es Carducci und er konnte seinen Schuldgefühlen nicht länger standhalten. Seine Mauer, welche er nach so vielen Jahren aufbaute und bewusst hochzog, drohte einzureißen. Mit schweren Atemzügen atmete der junge König durch und versuchte, sich in eine andere Richtung leiten, woran er jedoch scheiterte. Der Anblick des Leichnams ließ ihn immer wieder an das Mädchen denken, auch wenn der dicke Mann vor ihm kaum eine Ähnlichkeit mit ihr hegte, außer das Haar.
Charles Brigham lag regungslos auf dem leeren Heuwagen, dessen braune Strohhalme sich um seinen leblosen Körper wanden. Sein hellbraunes Haar war fettig und klebte an seiner Stirn und seinen Wangen. Sein Gesicht war aufgedunsen und rot, die Augen geschlossen und die Lippen halb geöffnet. Eine tiefe Falte auf seiner Stirn verriet, dass er in seinen letzten Momenten Schmerzen gehabt hatte. Die Schönheit muss sie von ihrer Mutter abgekommen haben, dachte er sich und schluckte. Sofort versuchte er, diesen Gedanken wieder so schnell zu verbannen, wie er gekommen war. Sie war nicht hübsch, versuchte er sich immer wieder einzureden. Sie ist eine Templerin, nicht anders als all die anderen und es war schon die reinste Sünde nur an sie denken zu müssen.

»Wie ist er gestorben? Erzählt es mir«, begann er schluckend.

»Schnell. Ich nutzte den Moment.« Livia spießte Alec Bianchi zu diesem Zeitpunkt mit ihren Augen auf und wollte ihm am liebsten die Worte Mörder zuwerfen.

»Wenigstens etwas«, versuchte Matteo sich die Tat gutzureden. Er konnte nicht böse auf Alec sein, er hatte die Gelegenheit und früher oder später, hätten sie ihn ohnehin umgebracht.

»Ich habe noch etwas, mein Freund«, Alec griff in seinen Mantel hinein und zog ein Buch hinaus. »Ich glaube, dies gehörte Eurer Familie.« Alec Bianchi hielt das Buch mit einer gewissen Ehrfurcht und Respekt in seinen Händen, als er es Matteo übergab.

»Die erste Schrift«, hauchte Matteo und nahm das alte Buch an sich. Es war das erste Wort Gottes und wurde jahrzehntelang stets im Schoße der Familie aufbewahrt. Matteo musterte ungläubig das schwere Buch in seinen Fingern. Der Einband war aus dickem, handgeschöpftem Pergament gefertigt, welches mit kunstvollen Mustern und Ornamenten verziert war. Die Vorderseite des Buches wurde in einem tiefen Rot gehalten, jenes durch das Auftragen von Goldtinte zusätzlich veredelt wurde. »Ich stehe in Eurer Schuld.« Dankbar sah er zu dem blonden Jungen, welcher jedoch nur mit dem Kopf winkte.

»Nein, ich habe nur meine Pflicht getan. So der Herr uns gnädig ist, habt ihr bald kein Blut mehr an Euren Händen.« Er spielte ein bedrücktes Lächeln auf, senkte für einen Moment den Blick und sah dann wieder auf Charles Brigham. »Was machen wir mit dem Mädchen?«
Matteo schloss die Augen. Er kannte die Antwort, doch schaffte er es nicht, die Worte hinauszubringen. Er wollte es nicht, und doch blieb ihm keine andere Wahl.

»Tut was Ihr tun müsst, Alec«, wiegelte Matteo ab und eilte aus dem Raum, während er gleichzeitig bestmöglich versuchte, dem Flehen seiner Schwester zu entkommen, welches ihm in die Ohren drang.

»Das könnt Ihr nicht tun! Matteo!« Es war zu spät. Sie hatte recht, er war das Abbild seines Vaters.


Ihr Herz klopfte wie wild gegen ihre Brust und ließ ihr Dekolletee beben, als sie vor der breiten Tür zum Gemach ihrer Mutter stand. Seit dem Tod ihres Vaters hat sie Maria nicht mehr gesehen. Sie konnte nicht in diese enttäuschten Augen blicken und wusste genau, was auf sie zukommen würde. Die Angst fesselte sie über die Monate, doch sie fasste ihren Mut zusammen, holte tief Luft und klopfte.

»Mutter?«

»Wer ist da?« Livias Antlitz verzog sich zu einer bedrückten Miene. Mutter erkannte nicht einmal mehr ihre Stimme.

»Deine Tochter«, begann sie zögernd, »Livia.«

»Komm herein.« Langsam öffnete die Herzogin die Tür und trat mit gemächlichen Schritten hinein. Plötzlich wurde ihr ganz warm, doch ihr Teint immer blässer.
Nun stand sie da, vor ihrer Mutter, jene die Herzogin seit dem Tod ihres Vaters mied. Maria Carducci saß, lediglich im weißen Unterkleid bekleidet, in ihrem Sessel regungslos da, während ihre Zofe ihr rabenschwarzes Haar bürstete und eine Nachthaube aufsaß. Ihr Gesicht war eiskalt und sie blickte auf ihre Tochter hinauf, als wäre sie eine Fremde.

»Mutter?«, fragte die Herzogin mit einem zittern in der Stimme, doch jene gab kein Wort von sich. Stille lastete in diesem Raum und es bereitete Livia ein Unbehagen, welches durch ihren ganzen Körper strahlte. »Erkennst du mich?«

»Nein«, Maria schüttelte verbittert den Kopf, »Nein, du bist nicht meine Tochter.« Prompt schritt Livia auf sie zu und warf sich vor ihre Knie. Ihre Atmung wurde unregelmäßig und sie legte ihre Hände in Marias.

»Madre, ich bin es. Livia.«

»Gott behüte.« Tränen sammelten sich in den Augen der Prinzessin und sie begann unaufhaltsam zu schluchzen. Sie hatte bereits von Matteo erfahren, welch Wahnsinn in ihrem Kopf herrschte, doch es nun mit eigenen Augen zu sehen, machte sie untröstlich. »Meine Tochter ist vor langer Zeit gestorben.«

»Verzeiht mir, Mutter, aber ich bin hier.« Maria Carducci wandte ihre Augen von Livia ab und blickte starr zur Wand vor ihr. »Schaut mich an, Madre. Ich bin es.«

»Ich habe keine Tochter mehr«, verharrte Maria abweisend und warf ihrer Zofe einen Blick zu. »Caterina, führt diese Dame bitte hinaus.« Marias Blick war leer und ihr Gesichtsausdruck wirkte verzerrt, fast schon entstellt. Immer wieder murmelte sie leise vor sich hin und scheint völlig abwesend zu sein.
Heiße Tränen rannen über die Wangen der Prinzessin und ihre Miene zog sich zusammen. Die Iris ihrer Augen suchten abwechselnd in allen Richtungen Halt. Pein beherrschte ihr Gesicht und sie ließ alle Luft nach außen dringen. Sie war zu lange fort.
Livia Carducci nickte stumm, erhob sich und knickste vor der alten Dame, ehe sie von der Zofe aus dem Gemach geführt wurde. Hilflosigkeit und Schuld überwältigten ihr Herz. Sie hatte in einer Sache versagt, doch gab es eventuell etwas, was sie noch in Ordnung bringen konnte. Ihren Bruder. Diese Familie drohte auseinanderzureißen und Livia fühlte sich, als würden alle Stricke an ihr herumreißen. Sie war die Marionette, von jener alle Welt ein Seil in der Hand hatte.
Die Herzogin von Cuenza betrat den großen Korridor, ließ die warme Mittagssonne auf ihre blasse Haut strahlen und schritt durch die Menschengruppen hindurch, als wäre sie unsichtbar. Wie oft fühlte sie sich genauso. Nicht anwesend, doch irgendwie da, nur nicht von Bedeutung. Die ungewollte Tochter, denn sie war nur ein Mädchen.

Livia bog rechts ab, schritt die Wendeltreppe in den ersten Stock hinauf, wo sich die Gemächer von ihr und seiner Majestät befanden. An seiner Tür angekommen erblickte sie Edward Bianchi, der ergraute, alte Mann, allein im Bettgemach ihres Bruders. Hastig lehnte sie sich an die Tür, versteckte sich, um nicht von ihm gesehen zu werden. Warum hielt Alec Vater sich hier auf, ohne Matteo? Sie schluckte, versuchte, ihren Atem anzuhalten, denn es war derart still, dass sie befürchtete, allein durch ihren Atem erwischt zu werden. Vorsichtig warf sie einen Blick in das Gemach.
Edward Bianchi war an Carduccis Schreibtisch, durchforstete die einzelnen Dokumente, welche auf jenem gestapelt lagen, wie auch Schubladen. Ihr Herz klopfte wie wild und sie konnte das nicht durchgehen lassen. Prompt schritt sie auf ihn zu.

»Maestro, was soll das werden?«

»O-«, sofort wandte sich Edward zu ihr und unterbrach sein Suchen, »Entschuldigt, meine Schöne. Ich suche nur etwas, seine Majestät hat Kenntnis darüber.« Ungesäumt lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken. Sie konnte diesen alten Mann noch nie leiden, er war haarsträubend.

»Tut er das?«, erkundigte sich die Prinzessin in einem dunklen Ton und legte den Kopf schief.

»Sí.«

»Bene, dann werde ich ihn über die Angelegenheiten unterrichten.«

»Tut das, meine Teuerste«, er schritt auf sie zu und reflexartig wich Livia zurück, »ich wäre Euch sehr verbunden, wenn ihr Matteo das geben würdet.« Er hielt ihr ein Pergamentblatt hin.

»Was ist das?«

»Das Hinrichtungsurteil für Lady Sofia Brigham.« Ihr stockte der Atem und ihre Augen wurden glasig. »Euer Bruder muss nur noch unterschreiben.«

»Das würde er nicht tun.« Edward lachte kurz auf.

»O seine Entscheidung hat er schon gefällt.« Mit einem Ruck riss Livia Edward das Dokument aus den Händen.

»Wo ist er?«

»Am Teich, meine Herrin.«

Ohne ein weiteres Wort an den alten Mann zu verlieren, rannte die Herzogin schier zu ihrem Bruder. Die Wendeltreppe hinunter, den großen Korridor entlang nach rechts und durch den Torbogen. Auf dem Weg stieß sie wiederkehrend einige Menschen an und schenkte gekonnt den Beschwerden keine Beachtung. Livia konnte das nicht zulassen. Als sie Matteo Carducci zusammen mit Alec Bianchi am Teich spazieren sah, wurden ihre Füße eilender und der viele Sauerstoff, durch das Hecheln, benebelte ihre Sinne.

»Matteo!«, schrie sie mit aller Kraft über den Teich, hob das Kleid gelinde an, um noch zügiger marschieren zu können. Angekommen sah sie ihm flehend in die Augen und krallte sich in seine Arme. »Ich bitte Euch, ich bitte Euch inständig!«
Matteo schien sofort zu wissen, worum es ging, und als er das Papier in ihren Händen sah, zog er Livia mit sich mit.

»Entschuldige, Alec. Wir sehen uns später.«

»Eure Majestät.« Mit einer schnellen Verbeugung verabschiedete sich dieser und schritt zurück zum Schloss.

»Mio dio, Livia! Bist du des Wahnsinns?«

»Das müsstet ihr besser wissen, als ich!«

»Ich habe deinem Verhalten gegenüber bisher viel Geduld aufgebracht, aber ich kann das nicht mehr länger tolerieren.«

»Matteo, macht die Augen auf! Das seid doch nicht Ihr!«, sie streckte ihm das Urteilsschreiben geradewegs vor den Augen. »Sagt mir, was hat Euch diese Frau getan?« Matteo schluckte, biss sich für einen Moment auf die Zähne, denn auch er kannte die Antwort auf ihre Frage nicht.

»Ihr Ursprung liegt in einer Familie, die uns schon lange im Wege steht.«

»Welcher nun tot ist!« Er weicht ihrem Blick aus und wandte sich von ihr ab, machte Anstalten in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, bloß weg von seiner Schwester. »Sie hat Euch nichts getan, sie ist unschuldig! Diese Anschuldigungen gegen sie sind unrecht!« Matteos Schritte wurden schneller, und Livia lief ihm außer Atem flehend hinterher. »Eure Majestät!«, rief sie immerdar von Neuem. Nach einigen Metern konnte sie nicht mehr, sie war völlig außer Kraft, das schwere Kleid machte ihr zu schaffen und sie ließ sich auf die Knie fallen. »Eure Majestät, ich flehe Euch an!«


Schleifende Tritte erhellten in den tiefen Mauern auf dem feuchten Steinboden, als Alec Bianchi mit schweren Beinen jenen entlangschlich. Diesmal war er nicht verdeckt Vorort, es war Matteos Befehl, sie über den Tod ihres Vaters und ihre anstehende Hinrichtung zu informieren, auch wenn Matteo jenes Urteil noch nicht unterschrieben hatte. Selbst Alec war sich nicht gewiss, wie er mit der Situation umgehen sollte, auch wenn sein Vater, Edward Bianchi, immer wieder auf Matteo einredete, die Frau hinzurichten. Unbehagen breitete sich in seinem Körper aus und am liebsten hätte er diese Aufgabe wem anderes übergeben. Oftmals war ihm seine Stellung am Hofe mehr eine Bürde als sein Glück. Er war dafür verantwortlich.
Die Mauern schienen an jenem Abend noch fauliger zu riechen, als sie es sonst taten.
Wolken ergossen sich durchgehend in den vergangenen Nächten und dies machte sich unterhalb bemerkbar. Es war entsetzlich kalt und die Mauerwerke schimmelten durch die Feuchtigkeit zunehmend.
Etliche der Gefangenen sind unter den Umständen erfroren und für eine Sekunde hatte auch Alec die Sorge, dass Sofia es wäre. Doch wäre es zumindest ein leichterer Tod gewesen, als die Enthauptung oder gar Verbrennung, welche ihr bevorstehen würde.
An ihrer Tür angekommen, starrte er auf das fade Holz von jener. Für einen Menschen mit der Kraft eines Schmiedes, wäre es ein leichtes, jene aufzubrechen, doch eine zierliche Dame wie Sofia dürfte geschwächt sein von den letzten Tagen.
Für einen Augenblick zögerte Alec, nur diese verdammte Tür anstarrend und nach den richtigen Worten suchend. Er wollte es nicht. Der Herr war sein Zeuge, er wollte das nicht. Schlag auf Schlag war ihm klar, dass er seinen Blick senken, und seine Ohren bestmöglich verschließen wird, um das trauernde Mädchen nicht ertragen zu müssen. Nach einem Atemzug kramte er den Schlüssel zu ihrer Zelle aus dem Schlüsselreif und steckte jenen in das Schloss, ehe er die Tür mit einer gekonnten Bewegung öffnete.
Als er in den engen, finsteren Raum hereintrat, wollte Alec am liebsten wieder gehen und seine Augen abwenden. Sofia Brigham saß abermals eingekauert in jener Ecke, erneut die Beine angewinkelt, den Kopf auf den Knien abgelegt und die Arme um die Beine geschlungen. Ihm entstand ein riesiger Kloß im Hals. Entweder schien sie das Essen verweigert zu haben, oder sie bekam eindeutig zu wenig. Von der schönen Frau am ersten Tag war nur noch ein Häufchen Elend übriggeblieben und es fiel ihm schwer, sie so zu sehen. Er konnte ihren Atem hören, krächzend und schwer, viel lauter als sein eigener.
Noch einmal setzte er einen Fuß hinter sich, um eine Fackel von einer der Fassungen an der Mauer zu entnehmen und die kleine Zelle zu beleuchten.
Trotz dem Knarzen der Tür, das Knacken des Strohs unter seinen Füßen und das Knistern des Feuers, regte sich Sofia nicht. Lediglich ihr Atem ließ ihre Präsenz deuten.

»Miss?«, fragte Alec zögernd, »Miss Brigham?« Stille. Als noch immer keine Antwort ihrerseits ertönte, schritt Alec näher an sie heran und hockte sich vor der Gefangenen hin und hielt die Fackel neben ihr Gesicht, um sie genauer betrachten zu können. Sie lebte noch, eindeutig. Die Haut war von einer Blässe gezeichnet, wie Alec sie noch nie zuvor bei Lebenden gesehen hatte. Gewiss waren sie blass die Engländer, doch Sofia wirkte einfach nur siech. Die Wangen waren eingefallen, das Haar von Talg und Unrat befallen, die Haut verunreinigt. Einzelne Strähnen hingen ihr lose ins Gesicht. »Miss?« Vorsichtig fasste er ihr ans Knie.

»Nein, nicht!«, schrie sie auf und ihre Augen weiteten sich, umgehend schreckte sie zurück. Alec schluckte. Er wollte ihr keine Angst einjagen.

»Beruhigt Euch!«, er fasste ihr ans zierliche Ärmchen, »Vergebt mir, ich bin es.«

»Sir Bianchi?«

»Sí.« Sie hatte Mühe darin, mit ihren eingerissenen und trockenen Lippen ein schwaches Lächeln zu formen, ehe sie darin versagte. Als Alec realisierte, wie kalt sie war, und seine Augen ihren zitternden Kiefer vernahmen, zog er sogleich seinen Mantel aus und warf ihn über das verfrorene Mädchen vor ihm. »Hergott, Ihr seid dem Tode nah.«

»Hab-Habt Ihr-«, stotterte sie mit klirrenden Zähnen, »habt ihr meinem Bruder die Nachricht überbracht?« Alec zog für einen Moment nachdenkend die Augenbrauen zusammen. Nein, hat er nicht. Henry Brigham war nicht in England anwesend, und er hatte ebenso keinen Boten gefunden, welcher die Nachricht freiwillig zu den Templern schickte und seinen Kopf dafür riskierte.

»Gewiss, Mylady«, Alec setzte ein gespieltes Lächeln auf, welches Sofia aber nicht aufzufallen schien. Das ärmliche Ding tat es ihm bescheiden nach und ließ ihren Kopf in den Nacken fallen, ehe sich ihre Augen schlossen. Auf Anhieb rüttelte Alec sie wach. »Miss, nicht. Ihr dürft jetzt nicht Schlafen!« Er wusste, dass es den sofortigen Tod bedeuten würde, und auch, wenn dieser der Leichtere wäre, hatte Alec doch im Stillen noch immer Hoffnung, dass jemand seine Majestät umstimmen und um ihr Leben heischen konnte. Sie war unschuldig.
Sein Vater Edward Bianchi hatte auf dem Dokument falsche Anschuldigung unterstellt, damit die Hinrichtung für das außenstehende Volk gerechtfertigt wäre und niemand Fragen stellt. Hochverrat und die Planung eines Anschlags auf den König, sei das Urteil. Prompt rüttelte Alec an ihren Schultern und tätschelte ihre Wange.

»Mylady! Bleibt wach.«

»Ich bin so müde«, murmelte diese leise.

»Mylady, bleibt wach!« Er sah sich um, versuchte, eine Lösung zu finden, und nahm das Einzige, was ihm übrigblieb. Seine Hand umgriff ihren Arm fester, zerriss den feinen Stoff an jenem, sodass nur noch Haut frei lag, ehe das Feuer der Fackel sie berührte. Ruckartig zuckte sie zusammen, schüttelte ihren Arm und keuchte vor Schmerzen auf.

»Verflucht!«, stöhnte sie und rieb sich über die Brandverletzung. Schockiert starrte sie auf Alec Bianchi, welcher erleichtert in ihr waches Gesicht blickte. Der Duft ihres eigenen verbrannten Fleisches zog ihr in die Nase.

»So höre ich Euch lieber.« Nach einer Weile runzelte sie die Stirn, zog anschließend die Augenbrauen zusammen und senkte den Blick.

»Ich danke Euch, Euer Gnaden.« Sofort nahm sie ihn an den Händen. »Das Ihr mir das Leben rettet, es muss etwas bedeuten, oder?« Ihre Augen waren von Hoffnung gezeichnet, bewegten sich scharf nach links und rechts, um Halt in denen von Alec zu suchen, und das Herz schlug ihr wie wild in der Brust.
Am liebsten würde Alec Bianchi jetzt wegschauen, ihr sagen, dass sie nichts zu befürchten hätte, doch das konnte er nicht. Im Gegenteil, er musste ihr nun die schlimmste Botschaft überbringen, welche er nur machen konnte. Bianchi atmete tief durch.

»Mylady«, begann er zögernd, »Ich muss Euch etwas mitteilen.« Er stand auf, und half auch Sofia, sich aufzurichten. Er wollte sichergehen, dass ihr Körper in Bewegung blieb und nicht wieder aufgab.

»Sagt es mir.« Ihre Finger krallten sich in die Stofffetzen ihres Kleides.

»Es geht um Euren Vater.« Unbesehen fing ihr Herz an, sich zu überschlagen, und Alec konnte sehen, wie stark ihr Dekolletee bebte. »Er ...«

»Was ist mit meinem Vater?«, hakte sie hektisch nach und bereits in jenem Moment füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Sagt es mir!«
Bianchi schnaubte bedrückt. »Euer Vater ist gefallen.« Sofort hielt Sofia inne, nicht einmal atmend, sie stand nur regungslos da und starrte dem jungen Sekretär in die Augen. In genau die Augen, welche in Charles Brighams Augen sahen, während Alec ihm das Schwert ins Herz rammte. Er schluckte kräftig.
Sofia begann nur derealisiert den Kopf zu schütteln und schluchzte still.

»Nein ...«, hauchte sie voller Unglauben. »Nein, nein, nein, nein«, übergangslos war es ein Schreien, welches so laut war, dass es auch die Ohren der Wachen außerhalb betäubte und Sofia ließ sich kreischend auf die Knie fallen. Sie wollte die Wahrheit nicht annehmen. Ihr Vater war ein starker Mann, er konnte nicht tot sein. Wo waren seine Männer? Wo war ihr Bruder Henry zu jener Zeit? Wie konnte das passieren? Ihr Flehen war so laut, dass Alec glaubte, ihm würde das Trommelfell zerreißen und er würde taub werden. Sogleich im selben Moment hoffte er, dass genau dies eintreten würde, sodass er immerhin die drängenden und verzweifelten Schreie der jungen Frau nicht ertragen musste.

Diese Laute waren seine Schuld. Alec versuchte, dem Moment zu entfliehen, und seinem Herzen keine Chance zu lassen nachzugeben. Er setzte seine gemütsarme Fassade auf und blickte ausdruckslos auf die junge Frau hinab, welche sich auf den blutigen Knien vor und zurück wippte, nicht imstande noch ein Wort zu sagen. Alec versuchte, seinen Blick zu senken, wegzudrehen, einfach nur weg von ihr. Er konnte es nicht ertragen, ganz gleich wie kalt sein Antlitz oberflächlich war, sein Herz war es nicht. Bianchi ertrug es nicht, nur einen Moment länger in diesem kargen Raum mit ihr zu verbringen, er konnte ohnehin nichts tun. Er durfte keine Schwäche zeigen, schon gar nicht für sie. Es wäre tödlich für ihn.
Er kehrte dem weinenden Mädchen den Rücken zu und schritt zur Tür, ehe er plötzlich innehielt und seine Augen aufriss. Es war das Klirren seines Dolches, welches seine Ohren urplötzlich vernahmen, als Sofia für einen Moment verstummte. Er hatte es völlig außer Acht gelassen, dass sich jener in seinem Mantel befand, den er Sofia umlegte.

»Mylady, nicht!«, flehte er und wandt sich zu ihr um. Sie blickte ihm fassungslos in die Augen. Es war ein Gesicht, welches Alec Bianchi seinen Lebtag nicht mehr vergessen wird. Von der einen Sekunde zur anderen schien sie vollkommen mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben, und ihre Augen brannten sich ins Alec Seele.

»Eher richte ich mich selbst, bevor ihr es tut«, stammelte sie hervor. Sofias Worte durchdrangen Alec wie scharfe Messer und er erstarrte. Noch bevor er sie erreichte, rammte sie sich den kleinen Dolch im nächsten Moment in den Bauch, gefolgt von einem gurgelnden Glucksen, als Sofia dickes Blut erbrach.

»Sofia!«, prompt rannte Alec zu der blutüberströmten Frau, welche glucksend und zitternd in sich zusammensackte. Ein Schrei entfuhr ihm, als er sie blutüberströmt und zitternd am Boden liegen sah. Sein Herz raste und er kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu überwältigen drohte. Alec kniete sich neben sie und drückte seine Hände auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. »Sofia, bleib bei mir!«, flehte er, während sie glucksend und keuchend nach Luft rang.
In einem Moment purer Verzweiflung und Angst hob er ihren schlaffen Körper auf seine Arme und rannte, so schnell er konnte, aus dem düsteren Gemäuer. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und seine Kleider waren blutgetränkt. Er wusste, dies war sein Tod, doch er konnte nicht anders. Wenn das seine verdammte Seele retten konnte, dann tat er es vom Herzen gern. Alec schrie um Hilfe, während er durch die finstere Nacht eilte.

»Einen Medikus!«

Blutbesudelt rannte er vollkommen außer Atem über den Hof, während kalter Regen auf sie hinabfiel. Seine nassen Haare hingen ihm im Gesicht und es fiel ihm schwer, etwas sehen zu können. Er stieg die wenigen Treppen hinauf und lief in den Korridor, in jenem das Gesinde ihn nur erschrocken musterten.

»O mein Gott!«, schrie Livia auf, welche die beiden erblickte. »I-Ist das?« Alec nickte prompt, es blieb keine Zeit für antworten.

»Einen Medikus! Ich brauche einen Medikus!«

Juli, 20. 1476


Matteo Carducci verharrte in seinem prächtigen Vorzimmer, das von einem unnachahmlichen Gefühl von Eleganz und Raffinesse erfüllt war. Sein Blick streifte den Boden, während sein Geist rastlos von einer düsteren Vorahnung heimgesucht wurde. Der Raum war von erlesenen Möbeln und Kunstgegenständen bevölkert, die von einer Zeit zeugten, in der Handwerk und Stil noch von unermesslichem Wert waren.
Die Wände waren von sinnlichem, dunkelrotem Samt umhüllt, durchzogen von goldenen Ornamenten, die im flackernden Kerzenschein verführerisch glitzerten. Im Herzen des Raumes thronte ein monumentaler Mahagoni-Schreibtisch, auf dem Bücher und Schriftstücke sorgsam und mit Bedacht platziert waren. Zu beiden Seiten erhoben sich majestätische Bücherregale, die bis zur Decke emporragten und von Lederbänden, antiken Manuskripten und wertvollen Schriften bevölkert waren.
Doch trotz der betörenden Schönheit des Raumes fand Matteo keine Ruhe. Seine Sorgen und Ängste lähmten ihn, ließen ihn unruhig durch den Raum schreiten, als trüge er die Last der Welt auf seinen Schultern. In seinem Inneren wütete ein Sturm aus glühender Hitze und eisiger Kälte, der jede Faser seines Seins zerdrückte, zerfetzte und zerriss. Seine Gedanken waren trügerisch und doch zugleich so unerbittlich real, dass sie ihn aus dem Schlaf rissen und ihn in die dunkelsten Tiefen der Verzweiflung stürzten.
Die Kerzen an den Wänden tanzten im sanften Luftzug, der durch das geöffnete Fenster in das Zimmer drang. Die Luft war von dem betörenden Duft von Lavendel und Zitrusfrüchten erfüllt, die sich in prächtigen Vasen auf der Fensterbank befanden. Doch selbst diese wohltuenden Aromen vermochten es nicht, Matteos zerrissenes Herz zu beruhigen.
Ein gequältes Seufzen entfuhr ihm, und seine Schultern sanken unter der Last der Schatten, die auf seiner Seele lasteten. Sein Verstand war umnebelt von dunklen Gedanken, die ihn unerbittlich in den Klauen des Teufels gefangen hielten.
Unaufhörlich drängten sich die schrillen, verzweifelten Schreie von Alec Bianchi in sein Ohr, begleitet von den flehenden Hilferufen und dem erstickten Wimmern von Sofia, die er vor sechs Tagen aus seinem Fenster vernommen hatte. Die feinen Härchen auf seiner Haut sträubten sich, während die Erinnerungen an jene grausame Nacht ihn verfolgten.
Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, schritt Matteo zum offenen Fenster und starrte auf die dunkelroten, beinahe bräunlichen Flecken auf dem Boden, die von der Erde und den Steinen aufgesogen wurden. Hier, genau hier, musste er entlanggelaufen sein, Sofia in seinen Armen haltend, während das Blut hinter ihm eine Spur des Schreckens zog.
Für einen flüchtigen Moment hielt Matteo inne und neigte seinen Kopf, als wäre er in einem inneren Dialog gefangen. Falten bildeten sich zwischen seinen Brauen, und sein schmaler Zeigefinger strich nachdenklich über seinen dunklen Bart.
Er konnte die Gedanken an jene Nacht nicht abschütteln. Sie verfolgten ihn wie ein unentrinnbarer Alptraum, der ihm jede Chance auf Frieden und Erlösung raubte. Matteo wusste, dass er sich der Wahrheit stellen musste, dass er sich dem Teufel entgegenstellen und das Unrecht wiedergutmachen musste, das geschehen war.
Mit einer Entschlossenheit, die aus den Tiefen seiner zerrissenen Seele kam, ballte Matteo seine Hände zu Fäusten und schwor sich, dass er nicht länger vor den Dämonen seiner Vergangenheit fliehen würde. Er würde die Wahrheit ans Licht bringen, koste es, was es wolle, und damit den Schatten, die sein Leben verdunkelten, ein Ende setzen.


Ein Klopfen an der Tür, so zart und zaghaft, als stamme es von einem verängstigten Kind, riss Matteo aus seinen düsteren Gedanken. Hastig trat er vor den prunkvollen Spiegel und betrachtete sein Abbild, während er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Erniedrigend...«, hauchte er fast lautlos und schüttelte verächtlich den Kopf, sein Spiegelbild direkt in die Augen starrend. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Von dem einst mächtigen König war nichts mehr übrig. Langsam begann er sich zu fragen, ob er jemals wirklich existiert hatte.
Seine Finger zupften die Falten seiner Tunika zurecht, bevor Carducci sich ein letztes Mal mit der Hand übers Gesicht fuhr und die Haut straff zog. Er musste stark erscheinen. Wenn seine Diener von seinem inneren Zustand erfuhren, wären seine Tage gezählt.

»Herein.« Leicht knarrend öffnete sich die Tür, als hätte sie aus einem tiefen Schlaf erwachen müssen.
Plötzlich erblickte er Alec Bianchi im Spiegel, wie er den Raum betrat, und ein unwillkürliches Zucken durchfuhr Matteos Körper. Carducci eilte zu seinem Schreibtisch, klammerte sich an eine Schreibfeder und betrachtete den Stapel unerledigter Dokumente. Zorn loderte in dem jungen Italiener auf, als er den Verräter erblickte, der vor ihm stand. Sein Herz raste und seine Hände waren feucht vor Angst. Er wusste, dass er ihn vor Gericht stellen sollte, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Doch sein Verstand war verwirrt. Wie oft hatte Alec ihm in der Vergangenheit geholfen und wie oft hatte er Matteo vor Schlimmerem bewahrt? Schlagartig trieben seine Gedanken weiter, wie ein Schiff ohne Kapitän. Er hatte Sofia gerettet.
Carducci ließ die Hand seufzend über das erschlaffte Gesicht gleiten, sodass es schmerzte. Verflucht sei dieses Weib. Sie war die Hexe, die seinen Verstand benebelte. Sie war die Sirene, die den Kapitän von seinem Schiff lockte.

»Mein Freund«, begann Alec zögerlich, und Carducci schloss müde die Augen, »ich bitte um Eure Vergebung und Gnade.« Sogleich trat der blonde Jüngling näher an seinen Herrscher heran und fiel auf die Knie, sodass sie hörbar knackten. »Nehmt mir meine Stellung, mein Hab und Gut sowie meinen Platz am Hofe.« Alecs Stirn berührte Matteos Schuhe.

»Gnade?«, spottete er und streckte sich auf. »Andere würden dafür ihren Kopf verlieren, Euer Gnaden!« Es war ein impulsives Schreien, das seine Stimme übernahm und Alec einen Schritt zurückweichen ließ. Wahrlich, er hatte recht. Von dem Moment an, als Alec Sofia half, wurde er selbst zu einem Feind seines Reiches.

»Seid froh, dass Ihr Eure Stellung schon habt, Bianchi, denn andernfalls würde ich sie Euch kein weiteres Mal geben, soviel sei sicher« sagte Matteo mit Nachdruck. Kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, da überkam ihn bereits das schlechte Gewissen, und er wandte seinen Blick ab.
Alec’s Gesichtszüge entgleisten, und seine Miene fiel herab. Matteo konnte im Augenwinkel erkennen, wie verletzt sein Gegenüber war. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, erhob sich der Sekretär langsam vom Boden, das Kinn auf die Brust gesenkt. Für einen Moment, der in Wahrheit nur wenige Sekunden dauerte, aber wie eine Ewigkeit anmutete, herrschte eine drückende Stille im Raum, in der beide Männer verharrten, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.
Schließlich verbeugte sich Alec ehrerbietig vor Carducci und machte kehrt, um die königlichen Gemächer zu verlassen. Als seine Finger den hölzernen Türknauf umfassten, entwich Matteo ein leises Murmeln.

»Wie-«, er räusperte sich nervös, »wie steht es um die Gefangene?« Er ließ seinen Blick erneut von Alec abwandern, nur um ihn dann doch wieder zu beobachten, gespannt auf dessen Antwort.

»Ihr Zustand verbessert sich, dank Eurer Fürsorge. Euer Leibarzt Nicolò Contarini versicherte, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden. Ihr Glück scheint wahrlich von höheren Mächten gesegnet.«

»Welches Glück?«, fragte Carducci missbilligend, während er die Stirn finster in Falten legte.

»Noch am Leben zu sein, Eure Majestät.«

»Um zu genesen und sodann ihrem Henker entgegenzutreten.« Schockiert klappte Alec Bianchi der Mund auf. Er hatte gehofft, dass Matteo seine Meinung nach dem Vorfall überdacht hätte.

»Matteo, das könnt Ihr nicht ernst meinen.«

»Glaubt Ihr, ich sei Eurem Hohn ausgesetzt?« In diesem Moment hätte der blonde Jüngling am liebsten mit den Schultern gezuckt, denn die Antwort kannte er nicht. Er wusste schon lange, dass etwas mit seiner Majestät nicht stimmte, seit dem Tage von Sofias Ankunft. Er war ein Wechselbad der Gefühle. »Dann lasst sie doch genesen.« Carducci setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen und blieb am Schreibtisch stehen. »Aber ich will sie tot sehen. Ich fordere, dass dem allem ein Ende gesetzt wird.« Seine Hand zögerte kurz, bevor er entschlossen zur Feder griff und sie ins Tintenfass tauchte. Die dunkle Flüssigkeit sickerte langsam in die Rillen der Feder, und er ließ sie über das Papier gleiten, als besiegelte er das Schicksal von Sofia Brigham höchstpersönlich.
Die Stille im Raum war erdrückend, lediglich das leise Kratzen der Feder auf dem Papier durchbrach sie. Als er seine Zeilen beendet hatte, hob Matteo das Papier empor und betrachtete es eingehend, bevor er es mit einem ungestümen Ruck zur Seite schleuderte.

»Was habt Ihr getan...«, flüsterte Bianchi fassungslos und blickte wie erstarrt auf seinen Freund.

»Verschwindet aus meinem Anblick!«, brüllte der zornentbrannte Italiener, der einem Henker glich. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schleuderte der König den massiven Tintenfasshalter gegen die Wand und wandte sich dann wutentbrannt den Regalen zu. Seine Hände zitterten vor Erbitterung, als er begann, jedes einzelne Buch und jede Schriftrolle in rasender Geschwindigkeit herunterzureißen und wahllos durch den Raum zu schleudern. Einige Regale brachen unter der Wucht seines Unmutes zusammen, während andere mit donnerndem Krachen umstürzten und auf dem steinernen Boden zerbarsten.
Alec trat näher an die Tür, sein Kiefer bebte unkontrolliert. Er wollte den Worten in seinem Herzen Ausdruck verleihen, doch es schien, als wäre er in sich selbst gefangen. Seine Beine fühlten sich an wie die festen Wurzeln eines mächtigen Baumes, und sein Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte lediglich fassungslos zusehen. Bianchi hatte seinen Herrn falsch eingeschätzt, und selbst wenn Sofia genesen sollte, war sie zum Tode verurteilt.


Verbittert schritt er anschließend aus Matteos Gemach, wo er auf halber Stufe zu seiner Kammer mit Livia zusammenstieß. Ein Keuchen entfloh seiner Kehle.

»Alec«, begrüßte diese ihn mit einem zaghaften Lächeln, doch seine Miene blieb steif. Nach dem Vorfall vor sechs Monden zog er mit der Herzogin an einem Strang. Eine Wendung ihrer Bekanntschaft, von welcher er nie dachte, dass er sie mal benötigte. Livia kniff die Augen zusammen und musterte den Blondschopf, ehe sie ihn an seinem Mantel packte, um ihn anschließend näher an die Wand zu ziehen. Hastig bewegte sie ihren Kopf nach links und rechts, um mögliche Ohren auszuschließen.

»Ihr wart bei ihm oder?«, flüsterte sie und näherte sich noch ein Stück weit seinem Gesicht. »Mio dio, werdet Ihr vom Hofe verbannt?«

»Das ist es nicht«, wiegelte Alec ab und windete sich aus Livias Griff. Diese aber eilte seinem Schritt nach und schubste ihn forsch gegen das Mauerwerk. Platzierte einen Arm neben sein Ohr und die andere Hand gegen Alecs Brust.

»Maledette! Jetzt macht doch keinen Hehl daraus.«
Alec legte den Kopf in den Nacken, ehe er sprach. »Es ist vorbei, Livia.«

»Ihr redet doch Unfug«, ihre Stimme versagte und ein Kratzen machten sich in ihrem Hals bemerkbar. Ihre Augen funkelten betrübt, als sie erkannte, dass nicht Alec sein Urteil erhielt, sondern die Engländerin.

»Ihr werdet darüber hinweg kommen«
Livia schüttelte ihren Kopf und starrte ihn ungläubig an. »Das kann er nicht tun. Sie ist auf dem besten Wege der Genesung.«

»Madam, die Entscheidung seiner Majestät ist nicht verhandelbar.« Alec presste den Kiefer zusammen, und seine Wangenknochen traten markant hervor.

»Habt Ihr so schnell Euren Mut verloren?« Ihre Stimme zitterte vor Wut.

»Ihr wollt es nicht verstehen, oder?«, brauste er auf und seine Augen trafen direkt in die ihre. »Seht euch lieber vor, andernfalls riskiert Ihr Euren Hals.« Sein Ton war scharf und bissig, fast schon peitschend betonte er das Ende und ließ Livia zusammenzucken. Alec rümpfte die Nase und drückte Livia kalt von sich. Er konnte das Schleifen seines Mantels am Mauerwerk hören, als er an ihr vorbei stampfte und an den restlichen Treppen hinab verschwand.


Livia spürte, wie die Verzweiflung schwer auf ihrem Herzen lastete, während sie bedächtig die steinerne Wendeltreppe hinaufstieg. Die Stufen ächzten leise unter ihren Füßen, doch der Klang drang kaum zu ihr durch. Ihre Gedanken waren viel zu sehr von Sorge und Wut erfüllt, um auf solche Nebensächlichkeiten zu achten.
Mit jedem Schritt, den sie der Treppe höher stieg, wuchs der Drang, ihrem Bruder die Leviten zu lesen. In ihrem Kopf formten sich immer wieder neue Argumente und Vorwürfe, die sie ihm entgegenschleudern wollte. Doch sie wusste, dass sie in seiner momentanen Verfassung gegen eine Wand reden würde. Ihre Wut und Frustration galt es zu zügeln und zu kontrollieren, um nicht noch mehr Unheil anzurichten.
Tief durchatmend versuchte sie, ihre aufgewühlten Emotionen zu beruhigen. Das sanfte Flackern der Kerzen, die die düsteren Winkel der Treppe erhellten, schien beinahe ihre eigene innere Unruhe widerzuspiegeln. Livia musste sich eingestehen, dass es nicht einfach sein würde, ihren Bruder umzustimmen, und dass sie klug und besonnen vorgehen musste, um ihn zur Vernunft zu bringen.


Als die Herzogin den zweiten Stock erreichte, betrat sie den Bereich, der den Gemächern der höheren Bediensteten vorbehalten war. Hier waren die Zimmer geräumiger und komfortabler als die der einfachen Bediensteten, die in den unteren Etagen untergebracht waren. Die Wände waren mit kostbaren Wandteppichen verziert, die den Flur in ein warmes, einladendes Licht tauchten. In diesen Gemächern wohnten Kammerdiener, Leibwächter, persönliche Sekretäre und andere Vertraute des Adels, die das tägliche Leben am Hofe ermöglichten und organisierten.
Die höheren Bediensteten genossen nicht nur die Annehmlichkeiten ihrer Räumlichkeiten, sondern auch einen gewissen Status innerhalb der Palasthierarchie. Sie bildeten die wichtige Schnittstelle zwischen den Adeligen und dem Rest des Hofpersonals. Ihnen oblag die Verantwortung, die Anweisungen ihrer Herren auszuführen und dafür zu sorgen, dass alles reibungslos funktionierte. Sie waren sowohl Verbündete als auch Spione, und ihre Loyalität war von unschätzbarem Wert.
Inmitten dieser Räumlichkeiten befand sich auch das vorübergehende Gemach von Sofia Brigham. Livia bewegte sich behutsam durch den langen Flur und lauschte dabei auf die Geräusche der Bediensteten, die hinter den Türen ihrer Zimmer leise miteinander sprachen oder ihren Pflichten nachgingen. Sie spürte die Anspannung in der Luft, ein stummes Zeugnis für die Sorge und Unsicherheit, die viele am Hof wegen Sofias Schicksal empfanden.
Kurz verharrte sie und erinnerte sich mit kristallklarer Klarheit an jenen Abend, der das Schicksal von Sofia und das Leben am Hof so tiefgreifend verändert hatte. Alec war, bleich vor Schreck und mit bebenden Armen, in den Palast gestürmt, die blutüberströmte Frau fest an sich gepresst. Sofias Kleidung war zerrissen, ihre Haut von unzähligen Wunden übersät, und aus einer tiefen Verletzung in ihrer Mitte quoll das Blut unaufhaltsam hervor. Der Schmerz und die Angst in ihren Augen sprachen Bände.
In jenem Moment hatte Livia, ohne an die möglichen Folgen zu denken, all ihre Kraft und Entschlossenheit aufgeboten, um Sofias Leben zu retten. Sie hatte sofort Anweisungen gegeben, einen Medikus zu rufen, und die Bediensteten um sie herum in Bewegung gesetzt, um alles Notwendige für die Erstversorgung der Schwerverletzten bereitzustellen.
Es war ein Wettlauf gegen die Zeit gewesen, und Livia hatte mit angehaltenem Atem beobachtet, wie der Medikus hastig seine Instrumente auf dem Tisch ausgebreitet und sich an die lebensrettende Arbeit gemacht hatte. Mit geübten, aber zitternden Händen hatte er die klaffenden, tiefen Wunden genäht und die weniger schweren Verletzungen mit brennendem Alkohol gereinigt, um eine Infektion zu verhindern. Livia erinnerte sich an den beißenden Geruch, der die Luft erfüllt hatte, und den schmerzerfüllten Schrei, der Sofias Lippen entkommen war, als der Medikus die glühende Zange an ihre blutenden Wunden gesetzt hatte, um das Fleisch zu versiegeln und den Blutfluss zu stoppen.
In jener schicksalshaften Nacht war Livia an Sofias Seite geblieben, während der Medikus unermüdlich arbeitete, um ihr Leben zu retten. Trotz der Schwere ihrer Verletzungen und der Tortur, die sie durchlebte, hatte Sofia sich langsam erholt. Livia hatte sie dabei unterstützt, wo sie konnte, und hatte sich geschworen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um die junge Frau vor weiterem Leid zu bewahren.
Tage und Nächte vergingen, in denen Livia Sofias Lager umsorgte, ihre Verbände wechselte und sie mit sanften Worten und wacher Aufmerksamkeit ermutigte. Sie saß oft stundenlang an ihrem Bett, hielt ihre Hand und lauschte den leisen, aber kräftiger werdenden Atemzügen der jungen Frau. Mit jedem Tag, der verstrich, kehrte ein wenig mehr Farbe in Sofias bleiches Gesicht zurück, und langsam begann sie, die schwere Last der Schmerzen hinter sich zu lassen.


Behutsam öffnete die Herzogin die schwere Holztür und betrat vorsichtig das Gemach. Der Raum war nur spärlich beleuchtet, die flackernden Kerzen warfen zarte Schatten auf die Wände und ließen die edlen Stoffe der Vorhänge sanft schimmern. Als sie eintrat, trafen sofort Sofias müde Augen die der Herzogin, doch sogleich senkte die junge Frau ihren Blick wieder und widmete ihre Aufmerksamkeit den zarten, von Narben gezeichneten Händen, die auf ihrer Bettdecke lagen.
Die dunklen Schatten unter Sofias Augen und die bleiche Farbe ihrer Wangen zeugten von den Strapazen und Schlaflosigkeit, die sie in den letzten Tagen durchlebt hatte. Doch Livia wollte sich nichts anmerken lassen. Sie zauberte ein besonnenes Lächeln auf ihre Lippen und begab sich mit ruhigen, bedächtigen Schritten zum großen Bett, das majestätisch in der Mitte des Raumes an der kalten Steinmauer stand.
Die prächtige Bettstatt war mit aufwendig bestickten Kissen und Decken geschmückt, die das Licht der Kerzen einfingen und in warmen Goldtönen erstrahlen ließen. Livia setzte sich behutsam auf den weichen, mit Samt bezogenen Bettrand, und betrachtete Sofia mit liebevoller Sorge.

»Wie geht es Euch heute?«, erkundigte sich Livia sanft.

»Gut.« Es war dieselbe Antwort wie an den Tagen zuvor. Eine Antwort, die weitere Fragen abblocken sollte. Eine Antwort, die darauf abzielte, in Ruhe gelassen zu werden. Es war eine Lüge.

»Das freut mich zu hören. Fühlt Ihr Euch etwas besser?«

»Gewiss.« Sofia sehnte sich danach, die wenigen kostbaren Momente der Ruhe und des Alleinseins genießen zu können. Doch man ließ sie nicht aus den Augen, nicht einmal zum Schlafen war sie allein. Sobald ein Diener ermüdete, wurde er ausgetauscht. Sie hasste das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Tausend Augen schienen ihr zu folgen, wohin sie auch blickte. Der Tod wäre eine Option gewesen, die Sofia bevorzugt hätte.
Die Herzogin ahnte, dass sie log, das war unverkennbar. Sie berührte ihr Kinn und strich einen Moment über ihre Lippen, als wollte sie die richtigen Worte mit ihrer Hand aus ihrem Mund ziehen.

»Mylady«, begann sie zögerlich und kniete sich vor die Bettkante. Sofias Blick war kalt und müde, erschöpft von dieser Welt. »Euer Vater wurde gestern zur letzten Ruhe gebettet.«

»Beigesetzt?«, wiederholte Sofia, und Tränen traten in ihre Augen. »Auf italienischem Boden.«
Die Trauer in ihrer Stimme war unüberhörbar, und Livia spürte, wie ihr eigenes Herz schwer wurde.

»Nein«, erwiderte Livia kopfschüttelnd, »man hat ihm ein Feuerbegräbnis gegeben.« Sofias Augen füllten sich bitter mit Tränen, und ihr Blick schien Livia in diesem Moment zu durchbohren.

»Mein Vater war stets ein tief gläubiger Christ, und dann habt Ihr nach seiner Ermordung auch noch die Respektlosigkeit, ihm kein christliches Begräbnis zu gewähren, das seiner würdig ist?« Ihr fehlten die Worte, und sie schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, in diesem Moment ihren Tränen freien Lauf zu lassen, überrascht, dass sie überhaupt noch welche hatte. Untröstlich drehte sie ihren von Schmerz gezeichneten Körper zur Seite, um Livia nicht länger ansehen zu müssen. Sie mochte sie als einen freundlich besonnenen Menschen, aber in diesem Moment verabscheute sie jeden Angehörigen dieser Familie, jeden Bewohner dieses Schlosses und jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf diesem Land. Sie schluckte und schob ihre Hände unter ihr Kopfkissen.

»Bitte, geht.« Livia wusste, dass eine Antwort nichts bringen würde, und so verabschiedete sie sich mit einer respektvollen Kopfverbeugung, zur Überraschung des Gesindes im Raum, bevor sie sich erhob und den Raum verließ.
Als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, kauerte sich Sofia nur noch mehr zusammen, zog die Decke über den Kopf und weinte bitterlich. Sie konnte nicht länger stark sein, diese Fassung aufrecht erhalten, es gelang ihr nicht.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie leise zu sich selbst. »Es tut mir so leid, Vater, dass ich gerade nicht die starke Tochter sein kann, die du großgezogen hast.« Je mehr sie weinte und schluchzte, desto stärker spürte sie die Wunde in ihrem Bauch, doch sie empfand diesen Schmerz beinahe als tröstlich. Er war erträglich, leicht und vorübergehend, während die Pein ihrer Seele anhielt und immer unerträglicher wurde.


Matteo Carducci war angespannt, seine Finger krallten sich in das schlichte Holz des Stuhles und sein Atem ging stockend. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und seine Gedanken schienen sich im Labyrinth seiner Sorgen zu verlieren. Er fühlte sich verloren.

»Was soll ich tun, Madre?«, flehte er, während seine Augen seine Mutter suchten, die mit einem bitteren Ausdruck auf ihrem Gesicht auf ihn herabsah.
»Bitte sagt es mir.«

»Nichts kannst du mehr tun«, antwortete sie und legte den kleinen Handspiegel, den sie in der Hand gehalten hatte, auf den Schminktisch zu ihrer Linken. »Es ist zu spät. Schau dich an, du bist bereits wie er ... dein Vater.« Ihre Worte waren zögerlich und schneidend, der Ton voller Spott. Die alte Dame mit dem rabenschwarzen Haar hustete für einen Moment und Matteo sprang sofort von seinem Stuhl und umklammerte Maria, ihr auf den Rücken klopfend. Sie schaute zögernd zu ihm hinauf, ihre Miene konnte Matteo in jenem Moment nicht deuten. »Und dennoch«, sie legte ihre kleine Hand auf seine Brust, »du hast das Herz am rechten Fleck, das weiß ich.« Er ließ sich auf seine Knie fallen.

»Glaubt Ihr, das weiß ich nicht? Ich fühle es, schlagend, schmerzend, brechend voller Pein. Es zerreißt mich, von Stunde zu Stunde, Tag zu Nacht. Diese blutigen Tage brechen mir das Herz. Ich habe alles, doch bleibt mir nichts.« Matteo fasste sich an die Stirn und Maria nahm das Gesicht ihres Sohnes in ihre Hände.

»Du kannst es nicht rückgängig machen, was passiert ist. Doch kannst du in der Gegenwart für die Zukunft wirken. Jeder ist für sein Handeln verantwortlich und muss die Konsequenzen daraus ziehen, mein Sohn. Seien sie nun-«

»Gut oder schlecht«, beendete Matteo ihre Worte. Zu oft belehrte sie ihn bereits als Kind mit ihnen, und erst jetzt erkannte er wirklich, welch Wahrheit hinter ihnen steckte. Er hatte Ratsvorsitzende, Vertraute, Freunde, Familie, und doch war es nur er am Ende, der allein blieb und mit den Konsequenzen rechnen musste. »Ich weiß, Mutter.«

»Angst zu haben ist keine Schwäche, im Gegenteil, sie macht dich stark. Wo der andere blind hineinläuft und sein Leben verliert, hörst du auf dein Herz und rettest deines.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch länger schaffe.«

»Dir bleibt nichts anderes übrig, mein Kind. Du der Herrscher dieses Volkes. Du musst. Wenn nicht du, wer dann? Für die Menschen um dich herum ist kein Platz für deine Gefühle.« Für einen Moment hielt Matteo inne. Ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz, denn sie waren von einer Wahrheit berührt, die Matteo lange zu vermeiden versucht hatte. Sie hatte recht. Er könnte schon morgen sterben und die Krone ohne einen Erben zurücklassen. Sie würde an seinen Bruder Juan gehen, der das Land in den Abgrund stürzen würde. Er schluckte.
Doch vielleicht wäre Juan tatsächlich ein besserer König als er selbst, obwohl sein Halbbruder für seine ausschweifenden Gelüste und sein ungestümes Temperament bekannt war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Juan selbst einen Bastard zeugen würde, und dass dies noch nicht geschehen war, grenzte für Matteo an ein Wunder. In seinen Gedanken vermutete Matteo häufig, dass Juan sich damals möglicherweise die gefürchtete französische Krankheit zugezogen hatte, die ihn möglicherweise unfruchtbar gemacht hatte.
Juan war für sechs Wochen spurlos verschwunden gewesen, und niemand wusste genau, warum oder wohin – außer ihrem gemeinsamen Vater, der die Gründe für Juans Abwesenheit stets für sich behielt. In diesem Moment, als Matteo die Worte seiner Mutter verinnerlichte, wurde ihm schlagartig klar: Eine Vermählung war unabwendbar, und das bald. Er musste für einen rechtmäßigen Erben sorgen, um Italien vor der drohenden Ungewissheit zu bewahren, die eine Regentschaft Juans mit sich bringen würde.


Der Mond stand prächtig am nächtlichen Himmel und tauchte Carduccis Gestalt in ein silbriges Licht, während er in den späten Stunden durch den langen Korridor mit seinen zahlreichen Fenstern schritt. Sein Atem stockte, und er fühlte sich von seinen eigenen Gedanken und Empfindungen verfolgt. Schlafen konnte er nicht, wie schon in der Nacht zuvor, obwohl die bleierne Müdigkeit ihm schwer auf den Lidern lastete. Er konnte nicht schlafen, weil ihn die Gedanken wachhielten, doch die Müdigkeit trieb ihn zugleich immer tiefer ins Grübeln, sodass er in einem endlosen Kreislauf gefangen schien.
Zu dieser späten Stunde waren nur noch wenige Bedienstete und einige Wachen auf den Gängen unterwegs. Carducci schritt die gewendelte Treppe hinauf, bog diesmal rechts statt links ab und stieg weiter hinauf in den zweiten Stock. Er wusste, dass hier die Gemächer des Gesindes lagen, doch in manchen Nächten konnte er der Versuchung nicht widerstehen, von einem der Balkone aus die Dächer von Florenz zu betrachten.
Er lehnte sich an das schmiedeeiserne Geländer und ließ seinen Blick über die vielen Häuser und engen Gassen schweifen. Kaum jemand war noch draußen unterwegs: Nur vereinzelte Huren, unter denen sich möglicherweise auch sein Bruder befand, und Matrosen waren zu sehen, die gerade die letzten Ladungen von den Schiffen löschten. Hier oben fühlte sich Carducci gleich besser, er war allein, und doch irgendwie auch nicht. Die Stille, die zugleich gar keine war, beruhigte ihn. Hier draußen, über den Dächern der Stadt, schien die Welt noch in Ordnung zu sein.
Der nächtliche Wind strich sanft durch sein Haar, während er die eindrucksvolle Silhouette der Stadt bewunderte, die sich wie ein Gemälde vor ihm ausbreitete. In diesen Momenten konnte er sich der Schönheit und der Magie von Florenz nicht entziehen und fühlte, wie sein Herz, trotz aller Sorgen und Ängste, wieder leichter wurde. Es war ein Ort, der ihm Kraft schenkte und ihm die Zuversicht gab, dass es einen Weg gab, die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern und das Schicksal seines Landes zum Guten zu wenden.
Unvermittelt drangen die Klänge eines Cembalos an seine Ohren, das zarte Klirren einzelner Tasten, die in harmonischen Melodien zu ihm emporstiegen. Es musste das Cembalo seiner Mutter Maria sein, auf dem sie in jüngeren Jahren noch gespielt hatte. Von Nostalgie ergriffen, ließ sich Matteo für einen Moment in die Vergangenheit entführen, in eine Zeit, als die Welt noch unbeschwert und unkompliziert erschien.


Er sah sich und Livia als Kinder auf dem Boden sitzen, umgeben von den warmen, goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen. Sogar Juan war dabei, damals noch ein unbekümmerter Junge, der auf der Fensterbank saß – ein Platz, der bis heute sein bevorzugter Rückzugsort geblieben war. Ihre Mutter Maria Carducci saß am Cembalo, ihre zierlichen Finger bewegten sich mit anmutiger Leichtigkeit über die Elfenbeintasten, während sie ihnen das Lied »Scarborough Fair« vorspielte. Ihre süße, klare Stimme erfüllte den Raum und entführte ihre Zuhörer in die Geschichten und Legenden, die sich um das alte englische Volkslied rankten.
Matteo erinnerte sich an das Gefühl von Geborgenheit und Liebe, das sie damals umgeben hatte, und spürte, wie ein Lächeln seine Lippen umspielte. Die Erinnerung an diese glücklichen Momente schenkte ihm Trost und ließ ihn für einen Augenblick die Schwere der Verantwortung vergessen, die nun auf seinen Schultern lastete. In jenem Raum, erfüllt von der Magie der Musik und der Wärme ihrer Mutter, hatte er sich einst sicher und unverwundbar gefühlt.


Nun jedoch war es nicht Maria, die die Tasten des Cembalos zum Klingen brachte. Stattdessen erklang ein unregelmäßiges Klirren, das keiner klaren Melodie folgte. Es schien, als würde jemand willkürlich und ohne Sinn für Harmonie auf die Tasten drücken. Matteo atmete noch einmal die süße, würzige Luft Florenz ein, bevor seine Neugierde die Oberhand gewann und er sich entschloss, der Ursache dieses seltsamen Spiels auf den Grund zu gehen.
Die schmalen Gänge waren düster, trotz der vielen Fackeln, die an den Wänden flackerten. Mit vorsichtigen, fast schon schleichenden Schritten bewegte er sich vorwärts, vorbei an den kühlen, uralten Steinmauern. Er nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung, um seinen Weg besser erhellen zu können. Matteos Atem ging stockend und keuchend, während er in Gedanken bereits mit einer angemessenen Strafe für denjenigen spielte, der es wagte, das Cembalo zu solch später Stunde zu benutzen. Es musste mit Sicherheit einer der Bediensteten des Hauses sein.
Mit jedem Schritt, den er tat, wurden die unharmonischen Klänge lauter, und Matteos Ohren lauschten aufmerksam. Er vernahm keine Stimmen, es herrschte Stille. Lediglich das leise Klimpern der Tasten verriet die Anwesenheit einer anderen Person.
Da fiel ihm plötzlich auf, dass ihm diese Szenerie seltsam vertraut vorkam, als er seinen Blick auf das kleine Fenster zur Linken richtete und den von Nebelschleiern umgebenen Mond betrachtete. Er hatte dies bereits einmal erlebt – in einem Traum. Dieser düstere Gang, der sich allmählich aufhellte, der abendliche Nebel, der hoch am Himmel stehende Mond. Matteo schluckte. Konnte das wirklich wahr sein?
Er verlangsamte seinen Schritt, trotz der Neugier, die in ihm aufwallte. Er zögerte, wollte es nicht wissen, und dennoch zog es ihn magisch an. Er musste weitergehen. Dennoch senkte er den Kopf und wandte seinen Blick nicht von den Bodenfliesen ab. Es war albern, aber er begann, die Steinplatten auf seinem Weg zu zählen. Erst eine, dann fünf, dann ein Dutzend und schließlich hundert, bis er am Rande seines Blickfeldes den kleinen Torbogen entdeckte.
Er atmete tief durch, das unharmonische Klirren der Tasten war nun kaum mehr zu überhören. Er konnte nicht länger zögern, hob das Kinn und ließ seine Augen über den Boden gleiten, bis sie auf den Fuß des Cembalos fielen und an ihm emporwanderten. Sein Herz setzte für drei Schläge aus, und er starrte unvermittelt in die funkelnden, grauen Augen der Tochter des Feindes – Sofia. Matteo stand wie angewurzelt da, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Ihre Miene wirkte blass und erschrocken, als sie in die Augen des jungen Königs blickte, der die Brauen zusammenzog.
In diesem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, schienen Raum und Zeit stillzustehen. Eine unerklärliche Verbindung entstand zwischen ihnen, eine unsichtbare Brücke, die ihre Schicksale miteinander verknüpfte. Matteo spürte, wie sein Herz wieder zu schlagen begann, wild und ungestüm, als wäre es von einer uralten Sehnsucht erfüllt. In Sofias Augen erkannte er eine ähnliche Regung, eine stumme Bitte um Verständnis und Nähe.

»Eure Majestät ...« Es war ein leises Raunen, das sich sanft in sein Gehör schlich, ähnlich wie in seinem Traum an jenem Abend. Sofia saß anmutig auf der Cembalobank, die Eleganz ihrer Haltung verriet ihren adligen Ursprung. Ihr langes, dunkles Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern, umrahmte ihr fein geschnittenes, elfenbeinfarbenes Gesicht. Ihre grauen Augen funkelten, und trotz des Leidens, das sie umgab, lag eine bezaubernde Intensität in ihrem Blick. Die Kerzen in dem Raum warfen ein warmes, schmeichelndes Licht auf ihre Haut und betonten die feinen Schatten, die ihre Wangenknochen und ihre zarte Nase hervorbrachten.
Sofias Lippen waren voll und leicht geöffnet, als suchte sie nach den richtigen Worten, und ihre Hände ruhten sanft auf den Cembalotasten. Sie trug ein schlichtes, aber dennoch elegantes Kleid, das ihre schmale Taille betonte und ihre weiblichen Kurven zur Geltung brachte. Die Farbe des Kleides war ein tiefes Blau, das perfekt mit dem nächtlichen Himmel harmonierte, der durch die Fenster zu sehen war. Eine zarte Spitze umschloss ihren Hals und unterstrich ihre Anmut.
In diesem Moment wirkte die Templerstochter verletzlich, aber gleichzeitig voller Stärke. Es war, als hätten ihre inneren Kämpfe und ihr Schicksal sie zu einer noch eindrucksvolleren Persönlichkeit geformt. Ihr Antlitz strahlte trotz der Schwere ihrer Situation eine unbeschreibliche Schönheit und Würde aus, die Matteo faszinierte und zugleich berührte.
Er schritt behutsam weiter in den kleinen Raum hinein, jener von zahlreichen Fenstern geschmückt war. Fast schon offenherzig würde Matteo diesen Raum bezeichnen, von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht auf die Stadt, ohne auf einen Balkon hinaustreten zu müssen, und dennoch zog er Letzteres vor. Er schätzte die scheinbare Stille, die in Wahrheit gar keine war. Kurz neigte Matteo fragend den Kopf.

»Solltet Ihr nicht im Bette ruhen?«

»Meine letzten Lebenstage im Bett zubringen? Nein. Verzeiht mir, doch keine Seele vermag mich zu täuschen. Ich weiß wohl, in welcher Lage ich mich befinde.« Matteo schluckte. Es waren die ersten Worte, die die beiden miteinander wechselten, und obgleich er am liebsten gehen würde, konnte er nicht anders.

»Nein, das würde ich auch nicht tun.« Er legte die Fackel beiseite, zurück in eine der zahlreichen Wandhalterungen und strich sich nachdenklich über den dunklen Bart. »Und warum seid Ihr gerade hier?«

»Kummer quält meine Seele, und obgleich ich nicht mit der Fertigkeit des Spielens dieses Instruments gesegnet bin, hilft mir die Musik, es für einen Moment zu vergessen.« Sofia blickte empor und richtete ihre Augen auf das gedankenverlorene Antlitz von Matteo, der ihr zustimmend zunickte. »Ihr versteht, wovon ich spreche, nicht wahr?«
Ja, das verstand er in der Tat. Bereits in jungen Jahren lehrte seine Mutter ihn das Spielen des Cembalos, und noch heute griff er zu den Tasten, wenn ihn etwas grämte.

»Sí«, antwortete er leise, fast schon ehrfürchtig, »Musik ist wahrlich Balsam für die Seele.« Er bewegte sich mit bedächtigen Schritten auf sie zu, verharrte am Flügel und ließ seine Fingerspitzen sanft über das alte, edle Holz gleiten, während er gelegentlich ein leises Trommeln erklingen ließ. In Matteos Innerem herrschte ein merkwürdiges Gefühl, denn er befand sich nun an dem Ort, an dem er ursprünglich nicht sein wollte – bei Sofia. Gleichwohl schien es, als ob ihre Nähe, ihr ausdrucksstarkes Antlitz und ihre wohlklingende Stimme ihm eine Art Trost spendeten. In diesem Moment fühlte er, wie eine kleine, aber dennoch gewichtige Last von seinen Schultern genommen wurde.

»Ich hatte die Engländer stets für gebildet gehalten. Warum brachte man Euch nicht das Cembalospiel bei?«, fragte er neugierig.

»Nun, Euer Majestät«, begann sie zögerlich, »in Anbetracht meiner Lage ist das jetzt nicht mehr von Bedeutung.«

»Es ist niemals zu spät, etwas Neues zu erlernen«, entgegnete Matteo weise.

»Welchen Nutzen hätte es?«, fragte Sofia resigniert.

»Es ist der gegenwärtige Moment, der zählt und aus dem heraus wir unsere Zukunft gestalten, ganz gleich, wie lange sie währt«, erwiderte er und zitierte dabei erneut die weisen Worte seiner Mutter. »Selbst in diesen Sekunden«, fügte er nachdenklich hinzu.
Sofias Gesichtsausdruck verriet eine sichtbare Rührung, und sie strich behutsam eine Haarsträhne aus ihrem Antlitz.

»Nun denn«, sagte sie vorsichtig und blickte zu Carducci, »könnt Ihr mir etwas vorspielen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt Matteo behutsam näher auf Sofia zu, die daraufhin unaufgefordert auf der schmalen Bank nach links rückte. Sein Herz pochte heftig gegen seine Brust, sodass er beinahe befürchtete, einen Herzanfall zu erleiden. Doch er vermochte es nicht, diesen drängenden Impuls zu unterdrücken.

Zögerlich nahm er auf dem freien Platz neben Sofia Platz, ihr beinahe gefährlich nahe, sodass er den betörenden Duft ihres Körpers wahrnehmen konnte. Er biss sich nervös auf die Unterlippe und versuchte, die aufkeimenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen – doch in jenem Moment erwirkte er es nicht. Es war eine Sünde, dessen war er sich schmerzlich bewusst; jedoch war es ihm für diesen Augenblick, diese Nacht, gleichgültig. Er wollte einfach nur hier sitzen, spielen und Sofia den zauberhaften Klängen seines Stückes lauschen lassen.
Behutsam platzierte er die Fingerspitzen auf den kühlen Elfenbeintasten – Daumen, Zeigefinger und kleinen Finger. Er ließ sie über das Cembalo gleiten, drückte, hielt, spielte schnell und dann wieder langsam. Trotz allem war es ein ruhiges Stück, das er zuvor noch nie gespielt hatte. Nein, er hatte nicht einmal Kenntnis davon, welches Stück er eigentlich spielte. Es trug keinen Namen, es war lediglich sein Herz, das durch die silberhellen Klänge des Flügels Ausdruck fand. Es war ihre gemeinsame Melodie – eine Komposition, welche ihre Seelen in jenem Moment miteinander verband.

 

Juli, 21. 1476


Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, saß Matteo am Tisch, das unberührte Mahl vor ihm – ein Hähnchen mit Erbsen und Kartoffeln, eine Speise, die er eigentlich sehr schätzte.

»Matteo?«, seufzte Livia, während sie versuchte, ihren Bruder aus seiner Abwesenheit zu erwecken, auf den ihre bisherigen Rufe keinen Eindruck machten. Entschlossen schlug sie mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr mit lautem Klirren erzitterte und den jungen König augenblicklich aufschrecken ließ. »Um Himmels willen, was habt Ihr die ganze Nacht getrieben?«
Seine müden Augen ruhten fast leblos auf seiner Schwester, die ihm einen zornigen Blick zuwarf. Bis zum Morgengrauen hatte Matteo mit Sofia am Klavier gesessen und gespielt. Sie sprachen kaum, sondern lauschten einfach der Musik. Matteo genoss diese Stunden, in denen sein Geist für einen Moment befreit war. Die kurze Zeit mit Sofia erlaubte ihm, neue Kraft zu schöpfen – zumindest für seine Seele. Sein Körper hingegen war erschöpft und verlangte dringend nach zwei Tagen ununterbrochenem Schlaf. Dennoch fühlte er sich gut, zum ersten Mal seit langer Zeit, und dies schien auch Livia sofort zu bemerken.


Matteos müde Hand streifte unachtsam den langstieligen Weinkelch, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die geschwungene Silhouette des Glases geriet ins Wanken, tänzelte unsicher am Rande des Gleichgewichts. Die anderen Anwesenden hielten den Atem an, als ob sie das drohende Unglück abwenden könnten, indem sie die Luft anhielten.
Mit einem klirrenden Laut kippte der Kelch schließlich um, der rubinrote Wein ergoss sich über die Tischdecke und bildete eine sich ausbreitende Lache, die den Tisch in ein sattes Rot tauchte. Die Flüssigkeit drang in das feine Leinen ein und hinterließ dort eine bleibende Spur der Unachtsamkeit.
Alle Blicke richteten sich auf den König, erwartungsvoll und besorgt. Würde er nun in Zorn geraten, seine Stimme erheben und seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen? Doch zu ihrer Überraschung lächelte Matteo lediglich, und in seinen Augen blitzte ein Hauch von Amüsement auf, als er die kleine Katastrophe mit Gelassenheit hinnahm. »Mhm, ich fürchte, Juan wird heute mit einem Liter weniger Wein auskommen müssen.«

»Bruder, geht es Euch gut?«, fragte Livia, während sie den Kopf schief legte und eine Augenbraue hochzog. »Ihr seid so ...«

»Es könnte nicht besser sein«, entgegnete er mit einem Anflug von Heiterkeit in der Stimme, was Livia mit sichtlicher Verwunderung und Erleichterung zur Kenntnis nahm.

»Dann freut es mich, dies muss wahrlich am heutigen Sonnenschein liegen.«

Matteos Zufriedenheit spiegelte sich in seinen Augen wider, als er seiner Schwester einen warmherzigen Blick schenkte. Sein Ausblick wanderte langsam zum Fenster, durch dessen Scheiben er die prächtige Landschaft draußen betrachtete. Wie von Zauberhand hatte sich der Nebel aufgelöst, und die Sonne erstrahlte in einer solchen Pracht, dass das Licht, das durch das Fenster fiel, den Raum in ein goldenes Schimmern tauchte. Es war, als hätte die Natur selbst sich entschlossen, diesen Tag zu etwas Besonderem zu machen.


Die anmutigen Bäume und die saftig grünen Wiesen draußen schienen Matteo förmlich einzuladen, die Schönheit des Tages in vollen Zügen zu genießen. In diesem Moment durchzuckte ihn der Gedanke an die Jagd – an das Gefühl von Freiheit und Abenteuer, das er so lange vermisst hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich seiner Schwester zuwandte und sie neugierig fragte: »Schwester, wann wart Ihr zuletzt auf der Jagd?«

»Jagen?«, entfuhr es Livia, beinahe am zähen Fleisch erstickend, als Matteo diese Worte sprach. Mit überraschtem Ausdruck wandte sie sich ihrem Bruder zu. »Nun, es ist schon eine Weile her. Zuletzt als junges Mädchen, gemeinsam mit unserem Vater.«

»Gut, wir gehen heute.« Entschlossen trat er näher an das Fenster heran und ließ seinen Blick über die prächtigen Gärten schweifen, die sich vor ihm erstreckten.

»Ich fürchte, ich muss Euch absagen«, erwiderte Livia und kaute bedächtig auf ihrem Essen herum. »Ich wollte Lady Sofia ein wenig ins Tageslicht führen. Sie erscheint mir ein wenig zu blass.« Unvermittelt biss Matteo auf seine Lippen. Vielleicht war es besser, wenn er sich während dieser Zeit nicht am Hofe aufhielt, dennoch konnte er den Wunsch, Sofia wiederzusehen, nicht unterdrücken. Gleichwohl schmerzte es ihn, dass seine Schwester absagte. Schon lange hatten die beiden nichts mehr gemeinsam unternommen, und es blieb nicht mehr viel Zeit, bis sie zu ihrem Ehemann zurückkehren musste.

»Zumindest wenn Ihr es gestattet, mein Bruder«, fügte sie vorsichtig hinzu.
Caruddi nickte ernsthaft. »Va bene, aber«, sein Blick wandte sich besorgt zu seiner Schwester, »haltet Euch im Verborgenen. Niemand darf Euch sehen.«

»Das war mir bewusst.«

»Ich meine wirklich niemanden, Livia.« Matteos Gesichtszüge verhärteten sich und ein Schatten fiel über seinen sonst so ausdrucksstarken Blick. Er wusste, dass er die Gesellschaft Sofias außerordentlich genoss, doch niemand durfte davon erfahren, nicht einmal Sofia selbst. Sie würde es wahrscheinlich als bloßes Mitleid oder eine andere belanglose Regung betrachten und keinesfalls als innige Zuneigung erkennen.


Während Livia ihn aufmerksam beobachtete, schüttelte Matteo unwillkürlich den Kopf, als wollte er die aufkommenden Gedanken vertreiben. Zuneigung? Wie konnte er es wagen, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen? Nein, gewiss hegte er keine derartigen Gefühle für sie. Sein Verstand war lediglich von den Tücken des Teufels und der Erschöpfung geblendet, sodass er nicht mehr klar denken konnte. Was auch immer es war, es konnte nur eine vorübergehende Verwirrung sein, die durch die Umstände hervorgerufen wurde.
Matteo kämpfte gegen die inneren Zweifel, die in ihm aufstiegen, und versuchte, sich von diesen verbotenen Gedanken zu distanzieren. Doch je mehr er sich von ihnen entfernen wollte, desto hartnäckiger schienen sie sich in seinem Geist festzusetzen.

 

»Bruder, ist wirklich alles in Ordnung?« Livias Stimme erklang sanft und mit einem Hauch von Sorge, die sich in ihre Worte mischte. Sie hatte beobachtet, wie Matteos Gedanken abgeschweift waren, und konnte nicht umhin, sich Gedanken über seinen Gemütszustand zu machen.
Matteo zuckte leicht zusammen und bemühte sich, die innere Unruhe, die ihn in diesem Moment heimsuchte, zu verbergen. »Sí«, erwiderte er knapp und versuchte, seine Stimme gefasst klingen zu lassen.
Die Herzogin musterte ihn jedoch weiterhin mit einem misstrauischen Blick, ihre dunklen Augen suchten in den seinen nach Anzeichen dafür, dass ihr Bruder nicht die ganze Wahrheit sagte. Sie kannte Matteo gut genug, um zu wissen, dass er manchmal dazu neigte, seine wahren Gefühle hinter einer Maske zu verbergen, besonders wenn er glaubte, dass sie eine Schwäche offenbaren könnten. Doch sie war seine Schwester und wollte nur das Beste für ihn, auch wenn das bedeutete, dass sie manchmal beharrlich nachhaken musste, um ihm beizustehen.

»Bruder, Ihr könnt Euch mir anvertrauen«, drängte die Brünette einfühlsam und legte ihre Hand auf seine, um ihm zu zeigen, dass sie für ihn da war.

»Wenn Euch etwas bedrückt, dann teilt es mit mir. Wir sind Geschwister, und wir sollten einander beistehen.«
Ein Moment der Stille breitete sich zwischen ihnen aus, und Matteo spürte, wie seine Abwehr langsam bröckelte. Es fiel ihm schwer, die Worte zu finden, die seine verwirrenden Gedanken und Empfindungen adäquat auszudrücken. Schließlich atmete er tief durch und entschied sich, zumindest einen Teil seiner Sorgen mit seiner geliebten Schwester zu teilen.

»Es ist nur...«, begann er zögerlich, »ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll. Es ist alles so verworren, und ich fürchte, dass meine Entscheidungen und Handlungen uns alle in Gefahr bringen könnten.«
Die Herzogin blickte tief in die Augen ihres Bruders und erkannte die innere Zerrissenheit, die in ihm schwelte. Sie konnte nicht länger zusehen, wie er sich quälte, und wusste, dass sie ihm ihre Unterstützung und ihr Vertrauen zeigen musste. Behutsam nahm sie seine zitternden Hände in ihre, ihre Finger verflochten sich mit den seinen in einer liebevollen Umarmung.

»Bruder, ich weiß, dass Ihr Euch große Sorgen macht und Euch für das Wohlergehen von uns allen verantwortlich fühlt. Doch Ihr müsst wissen, dass ich immer für Euch da sein werde, in guten wie in schlechten Zeiten. Wir sind Geschwister, und das Band, das uns verbindet, ist stärker als jedes Unheil, das uns drohen mag.«
Ein Lächeln umspielte Livias Lippen, während sie ihrem Bruder Mut zusprach. »Ich vertraue Euch vollkommen, und ich weiß, dass Ihr alles in Eurer Macht Stehende tun werdet, um uns zu beschützen.«
Die Augen des Herrschers füllten sich mit Tränen, als er die aufrichtigen Worte seiner Schwester vernahm. Mit einem tiefen Atemzug und einem raschen Lidschlag vertrieb er jene und bemühte sich, seine Stimme gefasst klingen zu lassen

»Wie dem auch sei«, er fuhr sich nachdenklich über den Bart und richtete seine Schultern auf. »Wenn meine Schwester an solch einem herrlichen Tag nicht mit mir ausreiten möchte, dann werde ich mit Alec gehen. Ich habe ohnehin noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Zudem kann ich mich kaum erinnern, wann wir zuletzt etwas gemeinsam unternommen haben; es muss jedenfalls vor Vaters Tod gewesen sein. Jedenfalls - beherzigt meine Worte.« Ausdrucksvoll kniff er das Auge zu einem Zwinkern zusammen.

»In der Tat, mein Bruder«, erwiderte sie mit einer liebevollen Stimme.

»Meine kostbare Schwester«, Matteo trat behutsam an Livia heran und ergriff ihre Hand mit der zärtlichsten Geste, bevor er seine Lippen sanft auf ihre Fingerknöchel legte. »Nehmt stets Obacht auf Euch selbst.«
Livias Augen weiteten sich vor Überraschung, und ein Hauch von Rührung mischte sich in ihren Blick. Sie war nicht in der Lage, ihre Verwunderung zu verbergen, doch Matteo wählte, dies zu übersehen. Mit eiligen Schritten entfernte er sich von seiner Schwester und durchquerte den kleinen Torbogen, der den Flur vom Esszimmer trennte, entschlossen, sich auf die bevorstehende Jagd vorzubereiten.


Als wäre es eine Fügung des Schicksals, erblickte Matteo seinen Freund Alec am Ufer des Teiches, der sich im Korridor befand, in Begleitung einer bezaubernden, rothaarigen unbekannten Schönheit. Ein breites, warmes Lächeln breitete sich auf Matteos Gesicht aus, das bis tief in seine Wangen reichte, wie es schon seit langer Zeit nicht mehr der Fall gewesen war.
Mit beschwingten und beschleunigten Schritten näherte er sich seinem Freund, das freudige Kribbeln in der Magengegend kaum zu ignorieren. Als er Alec schließlich erreichte, überraschte Matteo ihn mit einem kräftigen Schulterklopfen von hinten, welches seinen Freund unweigerlich zum Zusammenzucken brachte.

»Eure Majestät«, keuchte Alec erschrocken auf und legte sich eine Hand auf die Brust. »Ihr scheint wahrlich guter Laune zu sein.« Bei dieser Feststellung schlich sich auch auf Bianchis Lippen ein warmes Lächeln.

»Und wer, darf ich fragen, ist diese entzückende Dame?« Matteo deutete auf die bezaubernde Frau vor ihm, die in ihrem grünen Kleid wie angewurzelt dastand.

»Das ist -«

»Elizabeth Farnese«, unterbrach sie den blonden Mann rasch und verneigte sich elegant, »Eure Majestät.« Matteos Augen funkelten vor Neugier.

»Nun, Elizabeth. Ihr seid offenbar neu am Hofe? Euer Name kommt mir bekannt vor.«

»Ja, Euer Gnaden. Mein Vater ist Kardinal Francis Farnese.«

»Ah!«, erwiderte Matteo, während er verständnisvoll nickte. In Wahrheit wusste er nicht, von wem sie sprach, doch erhoffte er sich, durch ein wenig harmlosen Spaß von den Intrigen und von Sofia abzulenken. »Seid Ihr denn ebenso fromm wie Euer Vater?« Sie lachte leise.

»Das plant er.«

»Welch ein Jammer, Ihr seid viel zu anmutig, um hinter Klostermauern verborgen zu bleiben.« Sogleich färbten sich Elizabeths Wangen in einem zarten Rosa, und sie senkte verlegen den Blick.


In diesem Moment erstrahlte die Dame in einer Schönheit, jene dem jungen König den Atem raubte. Ihr langes, feuerrotes Haar schimmerte im Licht der Nachmittagssonne und fiel in weichen Wellen über ihre schmalen Schultern. Ihre großen, smaragdgrünen Augen funkelten vor Lebensfreude und schienen ihn direkt in die Seele zu blicken.
Ihr grünes Kleid umschmeichelte ihre zierliche Figur und betonte ihre grazile Taille, während der weiche Stoff sanft in der leichten Brise wehte. Der tiefe Ausschnitt gewährte einen dezenten Einblick in die zarte Rundung ihres Halses und ließ ihre elfenbeinfarbene Haut verführerisch schimmern.
Elizabeths feine Gesichtszüge waren von einer natürlichen Schönheit geprägt, die sie zugleich erhaben und doch gänzlich unberührt erscheinen ließ. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, und das zarte Lächeln, das sie Matteo schenkte, ließ ihr Gesicht aufleuchten wie das einer Madonna.
Als sie den Kopf senkte und die langen Wimpern ihre Wangen berührten, zeichnete die Schamröte auf ihren zarten Wangen ein Bild von Anmut und Verletzlichkeit.

»Ich danke Euch, Euer Majestät«, hauchte sie zart, wie feine Seide.

»Bitte entschuldigt uns, Elizabeth. Wir sehen uns später, am Gestade vielleicht?«

»Möglicherweise«, hauchte sie schüchtern und verneigte sich zum Abschied, bevor sie den Teich umrundete und aus dem Blickfeld verschwand. Matteo beobachtete sie noch für einen Moment und musste unwillkürlich schlucken.

»Mio dio ... wo findet Ihr nur all diese bezaubernden Damen?«, fragte Matteo, immer noch beeindruckt von Elizabeths Schönheit.

»Würdet Ihr Euren Blick nur gelegentlich von Euren Pflichten lösen, so würdet Ihr erkennen, dass sie überall sind«, erwiderte Alec schelmisch.

»Plant Ihr, Euch mit Lady Elizabeth zu verabreden?« Matteo lachte leise.

»Zumindest hege ich solche Absichten, Bruder. Sie besitzt eine gewisse Anziehungskraft, die mich fasziniert.«

»Was ist es? Ihre flammend roten Locken oder ihr üppiges Dekolleté?«, neckte Matteo, woraufhin Alec den Kopf schüttelte, begleitet von einem breiten Grinsen.

»Nein, nein. Natürlich erfreue ich mich an ihrer Schönheit, doch da ist noch etwas anderes, das ich schwer in Worte fassen kann.« Er klopfte Matteo leicht auf den Rücken. »Aber Ihr werdet kaum nachvollziehen können, was ich meine.«
Für einen Moment verharrte Matteo, während seine Gedanken ihn in die vergangene Nacht entführten. Er erinnerte sich an das sanfte Schimmern von Sofias Augen im Kerzenschein und die warmen Emotionen, die er für sie empfand. Er spürte ein Gefühl, das über die bloße Anziehungskraft hinausging, etwas, das sein Herz auf unerklärliche Weise berührte. Matteo setzte ein gezwungenes Lächeln auf, um seine inneren Gedanken vor Alec zu verbergen, doch in Wahrheit wusste er genau, was sein treuer Freund meinte. Dieses schwer zu fassende Etwas, das eine besondere Verbindung zwischen zwei Menschen schuf, war ihm keineswegs unbekannt.

»Ich fürchte, Ihr irrt Euch, Bruder.« Er blieb abrupt vor dem blonden Sekretär stehen. »Wie dem auch sei, der Grund für mein Hiersein ist die Jagd.«

»Prego?«, fragte Alec verwundert und legte den Kopf schief.

»Möchtet Ihr mir etwa sagen, Ihr hättet auch Pläne?«

»Nein«, erwiderte Alec und hob eine Augenbraue. »Ich bin lediglich überrascht. Was hat Euch denn zu dieser plötzlichen Idee bewogen?«

»Darf ich nicht einmal mit meinem Freund auf die Jagd gehen, ohne dass man mir Hintergedanken unterstellt?«, entgegnete Matteo schmunzelnd, während er mehrmals nickte und die Lippen schürzte.

»Gut, treffen wir uns in einer Stunde am Hof.«

»Va bene«, stimmte Alec zu und besiegelte die Hatz.


Ein kräftiger Wind zog durch Matteos dunkle Haare und wirbelte einzelne Strähnen auf, obwohl er sie kurz vor dem Ausritt sorgfältig zusammengebunden hatte. Sein Pferd, schnell wie der Wind im Galopp, eilte durch den dichten Wald, während Matteo versuchte, die vorbeihuschenden Bäume im Auge zu behalten. Er bangte, dass sein dunkles Ross, das er Diablo getauft hatte, bei der atemberaubenden Geschwindigkeit gegen einen Baum prallte. Das Pferd war so schnell und temperamentvoll wie der Teufel selbst, und seine lange, seidige Mähne, die an die Haarfarbe des Königs erinnerte, peitschte gegen Matteos Unterschenkel. Doch durch die schützende Reiterhose spürte er das kaum.
Plötzlich drang das Zischen eines Pfeiles an sein Ohr, und er hatte keine Chance, den Pfeil mit bloßem Auge zu verfolgen, so schnell wie er dahinsauste. Lediglich das Winseln eines getroffenen Tieres verriet ihm die Richtung, aus jener das Geschoss gekommen war. Neben ihm jubelte Alec auf, sein Gesicht von Stolz und Freude erfüllt.

»Volltreffer!«, rief er triumphierend, während er sein Pferd verlangsamte und zum Halten brachte, um den Erfolg seiner Jagd zu begutachten. Matteo folgte ihm, sein Herz noch immer rasend vom rasanten Ritt durch den Wald, und konnte nicht umhin, seinen Freund für seine beeindruckende Treffsicherheit zu bewundern.

»Ihr scheint wahrlich ausgeschlafen zu sein, Euer Majestät«, scherzte Carducci mit einem spöttischen Lachen. Er wusste genau, dass Alec ein schlechter Verlierer war, und so erlaubte er ihm, seinen Erfolg in vollen Zügen zu genießen. Acht stattliche Rehe hatte Alec bereits erlegt, während Matteo nur zwei zur Strecke gebracht hatte. Doch das störte den König keineswegs.
Er betrachtete Alec, wie dieser mit triumphierendem Lachen von seinem stattlichen Ross sprang und auf das erlegte Tier vor ihnen zuging. In der warmen Sonne, die durch das dichte Blätterdach des Waldes brach und die Szene in goldenes Licht tauchte, strahlte Alec eine unbändige Lebensfreude und Stolz aus. Matteo konnte nicht umhin, ein Lächeln aufzusetzen, als er die Freude seines treuen Freundes und Beraters teilte.


Das erlegte Reh lag inmitten der dichten Waldvegetation, die von den warmen Strahlen der Sonne durchdrungen wurde. Sein rotbraunes Fell schimmerte seidig, die weiße Schwanzspitze hob sich deutlich von dem dunkleren Haarkleid ab. Die zarten, langen Beine waren elegant gefaltet unter dem schlanken Körper, dessen Rippen leicht unter der Haut hervorschimmerten.
Die großen, bernsteinfarbenen Augen des Rehes waren halb geschlossen, als hätte es den Moment des Todes im Schlaf gefunden. Sein sanftes Gesicht war von einer stillen Ruhe umgeben, die das Reh trotz des plötzlichen Endes fast friedlich erscheinen ließ. Die langen Wimpern und die feinen, weißen Flecken im Gesicht und am Hals verliehen dem Tier eine fast mystische Schönheit, die selbst im Tod noch zu erkennen war.
In der Nähe des Rehes waren einige der prächtigen Blätter und Gräser leicht mit dem getrockneten Blut bespritzt, das aus der kleinen, fast unsichtbaren Wunde hervorquoll, die der geschickte Pfeil Alecs verursacht hatte. Das Tier war schnell und ohne unnötige Qualen gestorben – ein Zeichen für die Treffsicherheit und das Können des Schützen.
Inmitten der unberührten Natur, umgeben von den Klängen des Waldes und der tiefen Verbundenheit, die zwischen ihnen beiden bestand, fühlte der Italiener für einen Moment alle Sorgen und Verpflichtungen des Königtums von sich abfallen. Hier, in der Wildnis, konnte er einfach Matteo sein – ein Mann, der die Freuden des Lebens und die Kameradschaft mit seinem engsten Freund genoss. Es war ein seltener und kostbarer Augenblick, den er tief in seinem Herzen bewahren würde.

 

»Nummer Neun, mein Freund!«, verkündete Alec stolz und hob das majestätische Tier mit einer beeindruckenden Kraftanstrengung empor. In diesem Augenblick schien die Zeit für Matteo stillzustehen, als wäre er in einer trägen, schwerelosen Welt gefangen. Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen.
Für diese kurze Zeitspanne war er befreit von den Fesseln seiner königlichen Verantwortung, vereint mit seinem treuesten Gefährten und weit entfernt von den komplizierten politischen Verstrickungen, die seinen Alltag bestimmten. Sein Blick glitt empor, folgte dem stetigen Lauf der Sonne, die langsam am Himmel herabsank und sich allmählich hinter den stolzen, hoch aufragenden Baumwipfeln verbarg.
Die goldenen Strahlen des scheidenden Lichts durchbrachen das dichte Blattwerk und verliehen der Szenerie eine magische, fast unwirkliche Atmosphäre, die Matteos Herz mit einer unbeschwerten Freude erfüllte. Dieser Moment war kostbar und selten, und er war entschlossen, ihn bis zum letzten Atemzug auszukosten.

 

»Wir sollten uns auf den Rückweg machen, Alec.«

»Bereits jetzt?«, fragte Alec mit leicht enttäuschtem Unterton.

»Habt Ihr nicht etwas Wichtiges im Gedächtnis verloren?« Matteo sah seinen Freund fragend an, der offensichtlich nicht wusste, worauf er hinauswollte.

»Euer Rendezvous mit Mistress Farnese.«
In diesem Augenblick schien das Gesicht von Alec von den Wolken gefallen zu sein, und sein Mund öffnete sich ungläubig. Bestürzt über seine eigene Vergesslichkeit, schlug er sich mit der Hand an die Stirn. »Santissima Vergine!«

»Macht Euch auf den Weg, mein Freund«, sprach Matteo mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. Sein Blick schweifte über die malerische Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete. »Bis zum Gestade ist es von hier aus nicht mehr weit.«

»In der Tat, das sollte ich wohl tun. Morgen sehen wir uns dann, in alter Frische!« Alec erwiderte das Nicken seines Freundes, und mit einer entschlossenen Geste spornte er sein Pferd an. Im Nu setzte das Tier seine Hufe in Bewegung und trug seinen Reiter mit kraftvollen Schritten in Richtung des verabredeten Treffpunkts am Ufer.


Die Ferne schälte sich aus dem Zwielicht, und Carducci konnte die Mauern seines Schlosses erkennen. Wachleute, welche seine Ankunft bereits erahnten, befahlen das schwere Tor zu öffnen, ehe Matteo hindurchritt. Als er den Hof erreichte, stieg er von seinem Pferd, wo er sogleich vom Gesinde in Empfang genommen wurde. Sie kümmerten sich um die Jagdbeute, die auf den Pferden der Wachen geschnallt war, welche Alec und Matteo begleitet hatten.

»Wie war die Jagd, Euer Majestät?«, erkundigte sich einer der Stallburschen.

»Vortrefflich«, erwiderte der junge König und lächelte warm. Der Ausritt hatte ihm wohltuend gutgetan. Selbst wenn es nur wenige Stunden gewesen waren, so hatte es ihm die dringend benötigte Energie geschenkt, um einmal aus diesen Mauern herauszukommen. Seit Giuseppe Carduccis Tod hatte er sich fast ausschließlich in den Räumlichkeiten des Schlosses aufgehalten, um politischen und militärischen Angelegenheiten nachzugehen.


Der Mond thronte nun hell am Firmament, während die Sonne gänzlich verschwunden war. Unzählige Sterne durchbrachen die Dunkelheit und funkelten in der klaren Nacht. Es war ein wahrhaft zauberhafter Anblick, der Matteo für einen Moment vergessen ließ, welche Sorgen und Pflichten ihn erwarteten, sobald er die Schwelle des Schlosses wieder betreten würde.
Matteo setzte seinen Fuß behutsam vor den anderen, während er auf dem knirschenden Kiesweg schritt. Die feinen Kieselsteine verrieten jeden seiner Schritte, als er die majestätische Treppe hinaufstieg, die zum Eingang des Schlosses führte. Die Gänge schienen wie ausgestorben; kaum eine Seele war unterwegs, obwohl es noch nicht allzu spät war. Matteo schätzte, dass es wohl die neunte Stunde sein mochte.
Er verspürte keine Lust, bereits jetzt ins Bett zu gehen – nicht, nachdem er endlich wieder einen Hauch von Vitalität in sich gespürt hatte. Er beschloss, die gewonnene Zeit zu nutzen und ein wenig durch die nächtlichen Anlagen des Schlosses zu schlendern, um die frische Luft in vollen Zügen zu genießen.


Mit bedächtigen Schritten wandelte er entlang der prächtigen Gartenanlage, die selbst in der Dämmerung noch eine unbeschreibliche Schönheit offenbarte. Die sanfte Brise ließ die Blätter der Bäume leise rascheln und trug den Duft der Blumen zu ihm.
Gerade als Matteo durch den beeindruckenden Torbogen schreiten wollte, der zum idyllischen Teich im hinteren Bereich des Anwesens führte, begegneten ihm Livia und Sofia. Sein Atem stockte unvermittelt. Im silbernen Schein des Mondlichts schimmerte Sofias blasse Haut in unzähligen Facetten, als wäre sie von einem geheimnisvollen Zauber umgeben. Ihre Lippen leuchteten verführerisch rot, und die Wangen zeigten eine zarte Röte, die von der kühlen Abendluft hervorgerufen wurde.
Sofia trug ein elegantes hellblaues, ins Graue übergehendes Kleid, das auf raffinierte Weise mit ihren eisblauen Augen harmonierte. Ihre gewellten, seidigen Haare fielen offen über ihre Schultern, lediglich der vordere Teil war kunstvoll nach hinten gesteckt, sodass ihr bezauberndes Antlitz vollkommen zur Geltung kam. Matteo konnte sich nicht länger dagegen wehren, sich einzugestehen, dass Sofia von einer betörenden Schönheit war, die ihn in ihren Bann zog.
In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihn faszinierte und wie schwer es ihm fiel, seine Blicke von ihr abzuwenden. Die Begegnung mit Sofia, inmitten der nächtlichen Gartenpracht, ließ in Matteo unerwartete Gefühle aufwallen, die er bisher gekonnt verborgen hatte.

»Verzeiht mir, Matteo«, flehte Livia hastig, in der Annahme, ihr Bruder würde in sein altes Verhaltensmuster zurückfallen und sich auf Sofia stürzen.

»Wir wollten gerade ins Innere zurückkehren, niemand hat uns bemerkt.« Doch Matteo schenkte den Worten seiner Schwester keine Beachtung.

»Sofia«, hauchte Matteo und verlangsamte seinen Schritt, als er Sofia gegenüberstand. Mit einer wohlüberlegten, aristokratischen Geste senkte er leicht seinen Kopf und neigte ihn zur Seite, während seine linke Hand unmerklich zur Brust ging und den Stoff seines Gewands zart berührte. Seine Augen blieben dabei kurz auf Sofia gerichtet, bevor sie respektvoll abwanderten, als Zeichen der Demut und Anerkennung. In dieser feinen, zurückhaltenden Verbeugung spiegelte sich die Würde und Eleganz eines Königs wider, der es verstand, Achtung und Respekt zu zeigen, ohne dabei seine eigene Erhabenheit einzubüßen.

Sofias Augen weiteten sich überrascht und sie zögerte einen Augenblick. Dann, mit einer Anmut, die sowohl ihre natürliche Grazie als auch ihre bescheidene Eleganz widerspiegelte, senkte sie ihren Kopf und neigte ihn leicht zur Seite. Ihre rechte Hand glitt behutsam an ihre Brust und berührte das leichte Tuch ihres Kleides, während ihre linke Hand sich anmutig an ihrer Seite hielt. Brighams Augen sanken ehrfurchtsvoll zu Boden, bevor sie kurz aufblickten, um einen flüchtigen Blickkontakt mit Matteo herzustellen. »Eure Majestät.«
Matteo schluckte. Die Worte, die von ihren Lippen kamen, klangen wie eine zauberhafte Melodie, von der er nicht genug bekommen konnte. Der Klang ihrer Stimme war süß und mädchenhaft, zugleich aber auch verführerisch und weiblich. Vielleicht war dies das unbekannte Etwas, das sie für ihn so unwiderstehlich machte.
Doch er durfte sich diese Empfindungen nicht anmerken lassen. Er war ein König, sie eine Templerin, eine Gefangene – eine solche Verbindung war undenkbar. Er konnte sich keinen Moment der Schwäche erlauben, er musste die Fassung bewahren.

Ein Hauch von Sorge durchzog Livias Gedanken, als sie die Intensität des Blickkontakts zwischen den beiden bemerkte und die ungewöhnliche Stille, jene die Luft erfüllte. Ihre Augen wanderten zwischen ihrem Bruder und Sofia hin und her, während sie die subtilen Nuancen ihrer Mimik und Gestik aufzufangen versuchte.
Mit einem letzten, abschließenden Blick, der sowohl Zuneigung als auch eine Spur von Unbehagen in sich trug, wandte sich Matteo von seiner Schwester ab und verließ den Korridor. Anstatt jedoch den Weg zum Teich fortzusetzen, wie er ursprünglich vorgehabt hatte, änderte er seine Richtung und schlug einen anderen Pfad ein.


Eine in Dunkelheit gehüllte Gestalt ritt in der Nacht auf einem düsteren Ross, Alec Bianchi, der sich dem Lago di Bilancino näherte. Doch als der Wind am Ufer des malerischen Sees heftiger wurde, entriss er Alec die Kapuze und ließ sie nur noch lose hinter ihm flattern. Eine üppige, helle Haarpracht kam zum Vorschein, die im silbernen Mondlicht noch strahlender erschien als sonst. Man könnte es beinahe als weiß bezeichnen – sein Äußeres unterschied ihn gewiss von den anderen Italienern und verlieh ihm eine besondere Ausstrahlung.
Trotz des starken Windes, der an diesem Ort wehte, lag das Wasser des Sees ruhig und spiegelglatt da, als wäre es von einer unsichtbaren Kraft geschützt. Das Mondlicht tanzte auf der glänzenden Oberfläche und erweckte den Eindruck von unzähligen funkelnden Sternen, die in der Tiefe des klaren Wassers verborgen lagen. Dieser See war so rein und ungetrübt im Gegensatz zu vielen anderen Gewässern, die Alec auf seinen Reisen gesehen hatte.
Mit eiliger Geschwindigkeit ritt Alec über die sanft geschwungenen Hügel, während der See vor ihm stetig größer erschien. Geschickt navigierte er sein Pferd durch den dichten Wald, vorbei an zahlreichen Bäumen und dichtem Unterholz, stets auf der Suche nach der Dame, die hier auf ihn warten sollte. Mit jedem Herzschlag wuchs seine Sorge, dass er bereits zu spät sein könnte. In diesem Moment verfluchte er Matteo, denn nur wegen ihm drohte er seine Verabredung zu verpassen.


Als er endlich einen passenden Ort erreichte, zügelte Alec sein Pferd und stieg bedächtig ab. Er blickte sich um, immer noch nach der erwarteten Dame Ausschau haltend. Er band die Zügel seines Pferdes an einem kräftigen Baumstamm fest, den er zuvor auf seine Stabilität geprüft hatte, indem er sein ganzes Gewicht dagegen stemmte. Das sollte halten. Zärtlich strich er über die Mähne des treuen Rosses und klopfte ihm anschließend auf die Schulter, um ihm zu signalisieren, dass es nun ruhen konnte.
Mit wachsamen Augen und lauschenden Ohren durchstreifte Alec die Umgebung, in der Hoffnung, endlich auf seine Verabredung zu treffen. Jedes Rascheln im Laub, jedes Knacken eines Zweiges ließ ihn zusammenzucken, immer bereit, im nächsten Augenblick der ersehnten Elizabeth gegenüberzustehen.


Nur wenige Atemzüge verstrichen, bis Bianchi sich aus dem dichten Gestrüpp befreit hatte und das Knirschen von Sand unter seinen Stiefeln erklang. In einiger Entfernung entdeckte er das flatternde smaragdfarbene Gewand einer Frau. Sie war tatsächlich noch hier. Mit hastigen Schritten eilte er auf die rothaarige Dame zu, darauf bedacht, nicht über den unebenen Untergrund zu stolpern. Ihre vollen, rosigen Lippen formten ein Lächeln, das er unwillkürlich erwiderte.

»Elizabeth«, hauchte er erleichtert, sie noch anzutreffen, und nahm ihre zierlichen, zarten Hände in die seinen. »Welch ein Glück, dass Ihr noch hier seid.«

»Gewiss bin ich das. Ich würde so lange auf Euch warten, wie es nur nötig wäre«, entgegnete sie und biss sich schelmisch auf die Lippe. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich für einen Moment befürchtete, Ihr hättet mich vergessen.«
Verlegen rieb er sich den Hinterkopf und lachte leise. »Wie könnte ich Euch nur vergessen? Es gibt nichts Wichtigeres«, versicherte er ihr. Außer einem Jagdturnier mit Seiner Majestät, dachte er sich und verdrehte innerlich die Augen.

»Ihr schmeichelt mir«, erwiderte sie neckisch.

»Es ist nur die Wahrheit, Mylady«, entgegnete Alec und streichelte behutsam ihre Arme. Seine Hände glitten sanft höher, bis sie ihren Hals erreichten. Mit seinem Zeigefinger folgte er der Kontur ihres Halses und verweilte schließlich an ihrem Kinn. »Könntet Ihr mir einen Gefallen tun?«
Unter Alecs zärtlichen Berührungen schloss Elizabeth schwer atmend die Augen. »Alles«, hauchte sie verführerisch, ihre Lippen leicht geöffnet. Alec ließ die Fingerspitze seines Daumens sanft über ihre Lippen gleiten, während seine anderen Finger zärtlich ihr Kinn umschlossen. Die Intensität ihrer gegenseitigen Zuneigung verlieh dem Moment eine betörende Magie, die sich in der Stille der Nacht noch zu verstärken schien.

»Ich kann Euch doch vertrauen«, murmelte Alec eindringlich, während sich seine Lider verengten und ihr feuchter Atem seine Haut umschmeichelte.

»Oder?«

»Ja, Euer Gnaden«, hauchte Elizabeth ehrfürchtig.

»Euer Vater hat doch Kontakte zu Henry Brigham, richtig?« Alecs Frage ließ sie abrupt ihre Augen öffnen und einen Schritt zurückweichen.

»I-Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, stammelte die Kardinalstochter, während sie ängstlich zu Boden blickte.

»Elizabeth, Ihr braucht nicht so scheinheilig zu sein. Ich weiß es«, entgegnete Alec bestimmt.

»Bitte, mein Herr«, flehte sie und sank auf die Knie, »habt Gnade, sagt es seiner Majestät nicht! Mein Vater ist alles, was mir von meiner Familie noch übrigbleibt. Sie werden ihn hinrichten.«

»Na-na«, beruhigte Alec sie und ergriff sanft ihre Oberarme, um sie wieder auf die Beine zu ziehen. »Ich werde nichts verraten, aber ich brauche Euren Vater.«

»Ich verstehe nicht ...«, murmelte Elizabeth verwirrt.

»Charles Brigham ist tot, und die einzige Tochter, Sofia, wird von seiner Majestät gefangen gehalten. Nicht mehr lange, und ihre Hinrichtung steht bevor. Ich vertraue auf Euer Können; ich muss Henry treffen!« Elizabeths Gesicht zeigte eine Fassungslosigkeit, die sie kaum begreifen konnte. In ihrem Inneren kämpfte sie mit der Entscheidung, ob sie Alec in diesem gefährlichen Unterfangen unterstützen sollte.

»Über seinen Tod wurde gar nicht berichtet!« rief Elizabeth entsetzt aus, worauf Alec zustimmend nickte.

»Könnt Ihr das klären?« fragte er sie mit eindringlichem Blick.

»Ich denke schon, Euer Gnaden. Ich werde mein Bestes geben«, versprach sie entschlossen.

»Gut«, flüsterte er und strich liebevoll über ihre rosige Wange. Einen Augenblick verweilte er, während er tief in ihre smaragdgrünen Augen eintauchte.

»Wo waren wir?« Seine Frage entlockte Elizabeth ein schelmisches Lächeln, dem Alec nicht widerstehen konnte.


Behutsam fuhr er mit seiner Hand durch ihre rotgelockte Haarpracht, umschloss sie zärtlich und zog ihren Kopf langsam an seinen heran. Zaghaft legte er seine Lippen auf die ihren und küsste sie mit einer Leidenschaft, die er sonst für keine andere empfand. Ohne zu zögern, erwiderte Elizabeth den Kuss und begann gleichzeitig, das Schnürwerk ihres Korsetts zu lösen.
Alec raunte leise, als er das smaragdgrüne Kleid behutsam von Elizabeths Schultern strich und es zu Boden gleiten ließ. Der seidige Stoff schmiegte sich an ihre zarte, blasse Haut, während er sie mit bewundernden Augen betrachtete. Der Anblick ihrer schönen, wohlgeformten Brüste entfachte in ihm eine sehnsüchtige Begierde, die schon den ganzen Tag in ihm geschlummert hatte. Endlich konnte er die Dame seines Herzens begehren, wenn auch nur für diesen flüchtigen Moment.
Alec küsste liebevoll ihren Hals, wanderte hinab zu ihren Brüsten und liebkoste sie zärtlich. Elizabeth stöhnte leise, und Bianchis Ohren lauschten begierig auf die verführerischen Töne. Ihre Küsse wurden fordernder, ihre Zungen umschlangen sich in einem leidenschaftlichen Tanz. Alec ließ seine Hände über die sanften Rundungen ihres Körpers gleiten, ein tiefes Grummeln in seiner Kehle.
Er biss sich auf die Lippe und blickte seiner Angebeteten fest in die Augen, ein freches Lächeln umspielte seine Lippen. Schnell entledigte er sich seines Hemdes und seiner Hose. Mit spielerischer Leichtigkeit hob er Elizabeth hoch, während sie ihre schlanken Beine um seine Hüften schlang. Er trug sie ins kühle Wasser des Sees, das ihre Körper umspielte und sie zum Aufstöhnen brachte.


In dieser Nacht, unter dem weiten Himmel und dem silbernen Mondlicht, gehörten sie einander vollkommen. Versunken in ihrer tiefen Liebe und Leidenschaft, bildeten sie eine Einheit, die von nichts und niemandem getrübt werden konnte.

 

Juli, 28. 1476

 

»Schach!« Ein dezent triumphierendes Lächeln zierte die vollen, rubinroten Lippen der jungen Lady Sofia Brigham. Es war ein Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte, es entfaltete sich ganz von selbst. Innerlich hatte sie sich dagegen gesträubt, eine Freundschaft mit Livia einzugehen, doch deren charmante Gesellschaft und warmherziges Wesen brachten einen Hauch von Sonnenschein in ihren trostlosen Alltag.

Sofia war sich bewusst, dass diese Zeit nicht von Dauer sein würde, und obwohl sie sich gegen ihren Willen hier befand und praktisch auf ihren Henker wartete, war sie entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diese kostbaren Momente noch zu genießen. Sie wollte die bittersüße Freude auskosten, die Livia ihr trotz der düsteren Umstände gewährte.
Die beiden jungen Damen verbrachten viele Stunden damit, Schach zu spielen, und Lady Brigham fand in der Herzogin eine ebenbürtige Gegnerin. In den strategischen Manövern auf dem Schachbrett fanden sie eine Form der Ablenkung, eine Möglichkeit, dem düsteren Schatten, der über ihren Köpfen lastete, zumindest für einen kurzen Augenblick zu entkommen.
Die Gedanken von Lady Sofia schweiften zu jener Nacht zurück, als sie am Ufer des Celambo saß und der König ein bezauberndes Musikstück spielte. Die Melodie erklang noch immer in ihren Ohren, als hätte sie eine magische Kraft, die sie für einen Moment aus dieser Welt entführte und sie an einen anderen Ort brachte. An einen Ort, an dem alles in Ordnung war, ihre Familie noch lebte und sie frei war. Nichts wünschte sie sich sehnlicher auf dieser Welt, als dass dieser Traum Wirklichkeit werden könnte. Doch wie seine Majestät bereits bemerkte, konnte man die Vergangenheit nicht ändern, sondern lediglich die Zukunft beeinflussen.
Doch was konnte sie innerhalb dieser tristen und monotonen Mauern bewirken? Das Urteil war gefällt, und es schien nichts zu geben, was sie dagegen unternehmen konnte. Und dennoch beschäftigte sie die Frage, warum der junge König trotz der Umstände so gütig und freundlich gesinnt war, wenn er in ihrer Gegenwart weilte.
Die wohlwollende Haltung des Monarchen stellte ein Rätsel dar, das Sofia nicht lösen konnte. Waren seine freundlichen Gesten ein Zeichen aufrichtiger Sympathie, oder verbarg sich dahinter ein undurchsichtiges politisches Kalkül? Vielleicht hoffte er sogar, in ihr eine Verbündete zu gewinnen oder ihren Widerstand zu brechen, indem er ihr Vertrauen erschlich.

»Ihr seid wahrlich geschickt«, bemerkte Livia und runzelte erstaunt die Stirn, »das muss ich zugeben.«

»Mein Vater bestand darauf, dass ich, obwohl ich ›nur‹ eine Frau bin, eine gute Bildung erhalte. Er pflegte zu sagen, dass es die einzige Waffe sei, die uns Frauen auf ewig gewährt ist.«

»Weisheit wächst stetig, und man lernt stets dazu.«

»In der Tat – und neben der Schönheit. Doch Schönheit verblasst mit der Zeit, und am Ende bleibt nur der Verstand.«

»Euer Vater war wahrlich ein weiser Mann.«

»Ja«, erwiderte Sofia mit einem bedrückten Lächeln und senkte für einen Moment den Blick auf ihre Hände. Die Erinnerung an ihren Vater schmerzte so sehr, dass sie ihre Gefühle kaum in Worte fassen konnte. »Wisst Ihr«, zögerte sie, bevor sie Livia wieder ansah, »das Einzige, was mich mit einem frohen Herzen sterben lässt, ist die Gewissheit, dass ich sie alle im ewigen Frieden wiedersehen werde.«
Livia stockte der Atem und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie verzweifelt zu verbergen suchte. In ihrer Kehle bildete sich ein gewaltiger Kloß, den sie vergeblich zu schlucken versuchte. In diesem Moment verfluchte sie Matteo, wie sie es schon so oft zuvor getan hatte. Nein, sie hasste ihn in diesen Sekunden zutiefst.

»Ja...«, hauchte sie leise.

»Doch lasst uns nicht darüber grämen. Noch bin ich am Leben, und wahrlich, ich möchte nicht in Trauer verweilen.« Sie versuchte Livia ein leichtes Lächeln zu schenken, das ihr jedoch nur mühsam gelang. »Könnten wir vielleicht erneut spazieren gehen?«

»Es tut mir leid, aber heute muss ich mit meinen Damen auf den Markt; zum Schneider und Kleider für die Maskerade besorgen.«

»Ein Maskenball? Wie wundervoll. Ich freue mich für Euch.«

»Sie sind eigentlich gar nicht so aufregend«, versuchte Livia zu scherzen.

»Nun, ich war noch nie auf einem, daher kann ich es nicht beurteilen, meine Dame.«

»Wirklich noch nie?«

»Mein Vater hielt es für klüger, mich von solchen Veranstaltungen fernzuhalten. Er meinte, dort wären nur Männer, die mir die Röcke lüften wollen«, Sofia lachte auf.

»Dann wart Ihr nicht einmal verlobt – oder gar verliebt?«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf, »aber es gab einmal einen Mann, den ich sehr gern hatte. Doch er musste in die Schlacht ziehen und kehrte nie zurück.« Livia brach es fast das Herz. Wie viel Leid musste Sofia noch ertragen? Rasch versuchte sie, abzulenken.

»Was möchtet Ihr in der Zeit tun, während ich fort bin? Ich kann sicherlich etwas arrangieren.«

»Ich denke, mit geistiger Nahrung würde ich mich zufriedengeben.«

»Oh, wenn dem so ist... bleibt heute ruhig in meinen Gemächern. Wie Ihr seht, verfüge ich über eine Vielzahl an Büchern, und darunter nur die erlesensten.« Sie zwinkerte Sofia zu und ließ ihre Hände sanft über die Buchrücken gleiten. Die Tochter des Templers nickte lediglich und lächelte. Sie war zutiefst dankbar. Ihre Verletzung war weitestgehend verheilt und bereitete ihr kaum noch Beschwerden, weshalb sie schon längst wieder in dem düsteren Kerker hätte schmachten können. Es waren die kleinen Annehmlichkeiten, die für sie jedoch einen großen Wert besaßen, und sie empfand Dankbarkeit für jedes noch so kleine Geschenk, selbst wenn es nur eine Stunde mehr in ihrem Leben war, in der sie lesen oder tanzen durfte.


Oh, wie sehr vermisste sie das Tanzen, insbesondere mit ihrem Bruder Henry, der jedoch aufgrund seiner Ungeschicktheit stets stolperte und alle zum Lachen brachte. Wie innig liebte sie jene Augenblicke, in denen sie so herzhaft mit ihm lachte, dass sie sich vor Bauchschmerzen kaum mehr rühren konnte und ihre Mutter tadelnd darauf hinwies, dass sich das für eine Dame ihres Standes nicht ziemte. Doch Sofia war nicht so, sie wollte auch nie eine jener vornehmen Damen sein, die teetrinkend an ihren Tischen verweilten und sich mit ihren Fächern kühlenden Hauch ins Antlitz zufächelten. Mit den weißgepuderten Gesichtern, den eng geschnürten Kleidern, in denen man beinahe erstickte, und den eitlen Herren. Nein, das war nicht ihre Welt.
Sofia sehnte sich nach einer Welt, in der sie ihre wahre Persönlichkeit ausleben konnte – eine Welt, in der Lachen und Fröhlichkeit geschätzt wurden, und in der sie nicht in die Zwänge der Etikette gezwungen war. Eine Welt, in der sie frei war, zu lieben, zu lachen und zu leben, ohne die ständige Sorge um gesellschaftliche Konventionen. Doch in den düsteren Mauern, die sie nun umgaben, schien diese Welt in unerreichbarer Ferne zu liegen.


Sofia richtete sich auf, als Livia sich mit warmen Worten von ihr verabschiedete. Ihr Blick fiel auf das Schachbrett, auf dem ihr König siegreich dastand, stolz und unerschütterlich. Doch in diesem anspruchsvollen Spiel der Strategie und Taktik war es die Königin, die tatsächlich über die größere Macht verfügte.
Während der König lediglich einen Schritt in jede Richtung machen durfte, konnte die Königin mehrere Felder ziehen, diagonal, horizontal und vertikal, und somit ihre Gegner überraschen und überwältigen. Sie war stets wendig und flexibel, ihrem Gegenüber immer einen Schritt voraus, bereit, entscheidende Züge zu vollführen und das Schicksal des Spiels zu beeinflussen.


Die Templerstochter wandte ihren Blick von dem Schachbrett ab und sah sich erstaunt in dem prächtigen Raum um. Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest, dass keine Wachen im Inneren der Gemächer standen; sie schienen lediglich außerhalb positioniert zu sein. Doch Sofia hatte nicht die Absicht, sich selbst Schaden zuzufügen. Im Gegenteil, sie schätzte jede wertvolle Sekunde ihres Lebens und in ihr erwachte plötzlich ein brennendes Verlangen, jedes erdenkliche Wissen in sich aufzunehmen.


Mit bedächtigen Schritten näherte sie sich den zahlreichen Bücherregalen und bewunderte deren imposante Größe sowie die beeindruckende Höhe der prunkvoll gestalteten Decke. Alles war mit kunstvollen Gemälden verziert, deren filigrane Details Sofia in ihren Bann zogen. In ihrem Haus in London hingegen war das Interieur eher schlicht und zurückhaltend gestaltet. Gemälde schmückten nur in Form von Familienporträts die Wände, sonst nichts. Gelegentlich stellte ihre Mutter Malerei einer Vase im Flur auf – eine Kleinigkeit, die Sofia als Höhepunkt des Jahres in ihrer bescheidenen Umgebung betrachtete.
Ein leises Kichern entwich ihr, als sie an diese liebenswerten Albernheiten zurückdachte. Obwohl sie nun in einer ganz anderen Welt zu sein schien, vermisste sie jene vertrauten Eigenheiten und die Geborgenheit, die ihr Zuhause ihr einst bot.
Die Fingerspitzen der Templerstochter streiften behutsam die einzelnen Buchrücken entlang, auf denen sich Staub abgelagert hatte. Mit einem sanften Hauch pustete sie die feinen Staubpartikel fort und beobachtete, wie sie in der Luft tanzten und sich langsam auflösten. Es musste eine gewaltige Aufgabe für die Bediensteten sein, jeden Winkel dieses gewaltigen Anwesens in makellosem Zustand zu halten. Doch es schien, als hätte die Herzogin schon seit geraumer Zeit keines dieser Bücher mehr in die Hand genommen.
Die Bücher präsentierten sich in einer Vielzahl von Farben und Größen. Einige waren rot, blau oder schlicht in Leder gebunden. Sofia zog das auffälligste Exemplar heraus, das ihr ins Auge stach – ein purpurfarbenes Buch, verziert mit weißen Ornamenten. Schon der Titel bereitete ihr Kopfzerbrechen: ›Philomela‹.

Sofia wusste nicht, welche Bedeutung sich hinter dem Werk verbarg, doch sie fühlte sich unwiderstehlich zu diesem geheimnisvollen Buch hingezogen. Behutsam nahm sie es an sich und begab sich zu dem imposanten Tisch, jener majestätisch in der Mitte des Raumes stand. An diesem Prunkstück fanden mindestens vier Personen Platz – ideal für Livia und ihre drei Hofdamen, um gemeinsam zu speisen oder zu konferieren.
Mit zarten Fingern strich Sofia über den antiken Umschlag, bevor sie das Buch vorsichtig aufschlug. Ihr Blick fiel auf die kunstvolle und leserliche Schrift, die den Autor verraten konnte. Diese Bücher erschienen ihr wie Schlüssel, die den Zugang zu den Seelen ihrer Verfasser ermöglichten. Doch ihr fehlte der Schlüssel, der ihr den Zugang zu den verborgenen Weisheiten in diesem Buch eröffnen würde. Mit einem Seufzen stellte sie fest, dass keines der Bücher in ihrer Muttersprache Englisch verfasst war.
Da sie als Protestantin aufgewachsen war, hatte sie nie die Gelegenheit gehabt, Latein zu erlernen – ein Privileg, das den Katholiken oftmals von Kindesbeinen an gewährt wurde. Trotz dieser sprachlichen Barriere fühlte Sofia sich jedoch nicht entmutigt.

Kaum hatte Sofia diese Entschlossenheit in sich entfacht, da klopfte es unvermittelt an der Tür, und sie zuckte überrascht zusammen. Wer mochte das sein? Livia hatte sie hier allein zurückgelassen, in der Erwartung, dass niemand sie stören und sie ungestört lesen könne. Mit unerwartetem Besuch hatte sie wahrlich nicht gerechnet.
Ohne jegliche Ankündigung schwang die Tür auf, und vor ihr stand der düstere König, der sie mit seinen durchdringenden Augen direkt ansah. Sofia saß wie angewurzelt auf dem Stuhl und erwiderte seinen verwunderten Blick. In seinen Augen lag ein Ausdruck, als hätte er am liebsten sofort kehrtgemacht. Seine Haltung hatte etwas Schamhaftes, fast schon Demütiges an sich.
Dennoch wich Sofia seinem Blick nicht aus. Im Gegenteil, sie starrte ihn noch intensiver an, denn sie spürte, dass sich Matteo in ihrer Gegenwart merkwürdig verhielt, und sie brannte darauf, herauszufinden, warum. Dieser Mann hatte ihre Hinrichtung angeordnet, und dennoch zeigte er ihr gegenüber eine unerklärliche Güte.
Matteo hielt inne, sichtlich unschlüssig, was er sagen sollte. Lady Brigham konnte beobachten, wie er mit sich selbst rang, als ob er zwischen verschiedenen Gedanken und Emotionen hin- und hergerissen wäre. Seine sonst so selbstsichere Haltung schien in diesem Moment zu bröckeln, und er stand da, als wäre er ein Fremder in seinem eigenen Reich.

»Was treibt Ihr hier?«, erkundigte er sich schließlich, während er die Tür behutsam hinter sich schloss, um sicherzustellen, dass selbst die Wachen draußen nichts von ihrer Unterhaltung mitbekämen. »Wo ist Livia?«

»Sie ist auf dem Markt, um Vorbereitungen für den Maskenball zu treffen«, antwortete Sofia und fügte hastig hinzu: »Sie hat mich hier zurückgelassen, damit ich in Ruhe lesen kann. Wenn Euch das missfällt, werde ich sofort gehen.« Sofias Hand lag bereits am Rand des Stuhls, um sich zu erheben, doch in diesem Augenblick gebot ihr Matteo mit einer beschwichtigenden Geste Einhalt.

»No, bleibt sitzen«, wiederholte Matteo, während er zögerlich einen Schritt auf Sofia zu tat. »Meine Schwester hat einen... eigenwilligen Geschmack, was ihre Lektüre betrifft. Es handelt sich meistens um Liebesromane, die mit einer gewissen Prise an Erotik gewürzt sind.«
Sofia senkte verlegen den Blick und spürte, wie eine dezente Röte ihre Wangen überzog.

»Ich weiß es nicht, Euer Gnaden«, erwiderte die Engländerin, während sie die Bücher betrachtete. Matteo schaute sie einen Moment lang nachdenklich an, bevor er seinen Kopf schief legte und realisierte, dass die Bücher in Livia's Sammlung vermutlich hauptsächlich in Italienisch oder gar Latein verfasst waren.

»O- verzeiht meine Unachtsamkeit«, entschuldigte sich Carducci rasch.

»Da gibt es nichts zu verzeihen ... habt Ihr auch welche in meiner Sprache?«, fragte Sofia neugierig.

»Ich denke schon, aber es reizt doch viel mehr, etwas Neues zu entdecken.« Ja – das tat es. Dieser Reiz, ihr Verlangen nach Wissen, brannte so unermesslich in ihr, dass sie es kaum aushielt, und doch war sie unwissend und konnte es nicht verstehen. Sie seufzte innerlich.

»Könnt Ihr mir vielleicht...?« Sofia brach mitten im Satz ab und schüttelte prompt den Kopf. »Verzeiht, vergesst es. Ich spreche da, wo ich schweigen sollte.« Sofort wollte sie aufstehen und das Buch erneut zurück ins Regal legen, doch Matteo legte seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft zurück in ihren Platz.
Er rang nach Atem, und sein Herz schien auszusetzen, so heftig pochte es in jenem Augenblick. Als er die nackte Schulter berührte, die durch das tief ausgeschnittene Kleid entblößt war, durchfuhr ihn ein elektrisierendes Gefühl, das er nicht zu beschreiben vermochte. Es war eine Empfindung, die er zuvor noch nie erlebt hatte, und er atmete schwer, bemüht, seine innere Erregung zu verbergen. Wiederum verspürte er diese Freiheit in ihrer Gegenwart und kostete sie aus, auch wenn er heimlich versuchte, sich in Gedanken dagegen zu sträuben - es war so verboten, und dennoch fühlte es sich so unbeschreiblich richtig an.

Ihre grauen, strahlenden Augen durchdrangen gleich Dolchen seine Seele, und er fing sie mit seinen dunklen, zusammengekniffenen Blicken auf. Eine Gänsehaut breitete sich über seinen gesamten Körper aus, die jedoch von seiner Kleidung geschickt verdeckt wurde, sodass niemand von außen etwas davon bemerkte. Erneut schien jene Sekunde, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen. Es existierten nur er, der junge König, und seine Gefangene – zwei Seelen, die in diesem verbotenen Moment unverhofft miteinander verschmolzen.

»Nein«, begann er fast schon flüsternd, »Ihr sollt ungezwungen und frei aus Eurem Herzen sprechen dürfen.« Sofias Antlitz zeigte Rührung, und sie runzelte verwundert, aber dankbar die Stirn. Sie verstand nicht, warum er sich so verhielt, und um ehrlich zu sein, verstand es Matteo noch viel weniger. Alles in ihm sträubte sich gegen dieses Verlangen, und doch trieb es ihn dazu, Dinge zu tun und zu sagen, die er sonst nie wagen würde. Gott, wie er sich selbst in diesem Moment verachtete. Er schluckte, ließ seine Augen heimlich über das anmutige Mädchen gleiten, bis er an ihren zarten Fingern verweilte und das rotgebundene Buch in ihrer Hand bemerkte. »Ah ...«, er lächelte, »Philomela«. Sofia neigte den Kopf fragend, und Matteo griff nach einem Stuhl, auf den er sich sogleich setzte und näher an Sofia heranrückte. »Nachtigall«, erläuterte Carducci.

»Das kommt mir bekannt vor«, formten ihre Lippen ein bezauberndes Lächeln, das in Matteos Körper ein Kribbeln auslöste und eine bisher unbekannte Wärme in ihm entfachte.

»Eine einfache Frau, die nichts besaß außer ihrer wundervollen Stimme–«

»Und die sich damit in die Herzen der Menschen sang«, vollendete sie seinen Satz und biss sich dabei lächelnd in die Lippe.

»Sí, woher wisst Ihr das?«

»Ich konnte es mir denken, es war relativ einfach.«

»Bene, im Denken seid Ihr gewandt, doch wie steht es um das Verstehen?«

»Wenn ich lerne, verstehe ich.«

»Gut, dann lernt«, raunte er und schlug die erste Seite auf, die Sofia zuvor schon betrachtet hatte. Der erneute Anblick ließ die junge Lady das Gesicht verziehen. »Es ist gar nicht so kompliziert. Lest.« Er fuhr mit seinen Fingern über die ersten Worte.

»C'era una volta«, brachte sie stockend hervor und blickte Matteo beschämt an, der sie mit einer Handbewegung dazu ermunterte, es noch einmal zu versuchen, was sie auch tat.

»Es war einmal«, erläuterte er und wies sogleich auf die nächsten Worte, die die englische Dame vorlesen sollte. Er betrachtete ihr angestrengtes, aber lebhaftes Antlitz mit wachsender Begeisterung. Sie tat nichts Besonderes, und doch gleichzeitig so viel, um unzählige Facetten in ihm zum Leben zu erwecken.

Alec Bianchi schritt an jenem Abend bedächtig über den schmalen Pfad, der den malerischen Teich umrahmte. Das silberne Licht des Mondes spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und ließ es in einem tänzerischen Schimmern erstrahlen, das sein Herz berührte. Er konnte nicht umhin, die Schönheit der Natur in diesem Augenblick zu bewundern. Doch plötzlich wurde er unerwartet von hinten angestoßen und zuckte erschrocken zusammen, seine Gedanken jäh unterbrochen.

»Euer Gnaden, Alec Bianchi?«, fragte eine Stimme hinter ihm, sanft und doch eindringlich. Er drehte sich um und nickte, als er in das von Falten gezeichnete Gesicht des Kardinals blickte. »Kardinal Francis Farnese.«

»Sì, ich weiß, wer Ihr seid. Habt Ihr ihn ausfindig machen können?« Der Kardinal trat näher an den Sekretär heran und blickte sich vorsichtig um, seine Sorge um Diskretion spiegelte sich in seinen wachsamen Augen wider. Er war sich der allgegenwärtigen Augen und Ohren an diesem Ort ebenso bewusst wie Bianchi.

»Ja. Er hält sich derzeit in Konstantinopel auf.«

»Prego? Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Alec entgeistert aus, während er versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen.

»Nein, Euer Gnaden«, erwiderte der alte Mann ruhig und schüttelte den Kopf, »Er hat erst kürzlich geheiratet.« Alec verschränkte unruhig die Hände hinter seinem Kopf, seine Gedanken wirbelten wie ein Sturm.

»Maledette! Wie soll ich denn nach Konstantinopel gelangen?« Francis zuckte mit den Schultern, bevor er seine Finger an seinen weiß-grauen Bart legte, als suchte er dort nach einer zündenden Idee.

»Moment mal, da fällt mir ein. Einige unserer Kardinäle begeben sich demnächst auf eine Amtsreise zum Sultan. Ihr könntet sie begleiten. Als Geleitschutz?«, schlug er vor, ein aufkeimendes Lächeln auf seinen Lippen. Alec legte nachdenklich die Finger an sein Kinn, seine Stirn in Falten gelegt.

»Wenn Seine Majestät dem zustimmt.«, entgegnete er vorsichtig, denn er wusste, dass die Zustimmung des Königs keineswegs selbstverständlich war.

»Ich werde ihn morgen früh umgehend fragen, Euer Gnaden!«, versprach der Kardinal eifrig und verbeugte sich respektvoll, seine Augen voller Entschlossenheit und Loyalität.
Alec nickte dem Kardinal mehrmals verschmitzt zu, während seine Augen einen drohenden Ausdruck annahmen. »Ach – ehe ich es vergesse ...«, sagte er beiläufig und legte seine Hand fest auf die Schulter des älteren Mannes, sodass dieser zusammenzuckte. Er sah ihm tief in die Augen, und die unheilvolle Stimmung lag schwer in der Luft.

»Ja, Euer Gnaden?«, begann Kardinal Farnese, doch bevor er seine Worte vollenden konnte, schlug Alec ihm unerwartet und mit großer Wucht in den Bauch. Der Kardinal krümmte sich vor Schmerzen und hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er prustete, als ihm die Luft aus den Lungen entwich, und begann heftig zu husten, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Alec hockte sich herab, um näher an das Ohr des gebeugten alten Mannes zu gelangen, und flüsterte mit eisiger Stimme: »Verschwendet nicht einmal einen Gedanken daran, mich zu verraten. Ich werde Euch und alles, was Euch lieb und teuer ist, zunichtemachen, wenn Ihr es wagt, mich zu hintergehen.«

 

Juli, 29. 1476

In den frühen Morgenstunden, als das trübe Grauen sich über die Stadt legte, verweilte Alec Bianchi verschlafen in seinem prächtigen Schlafgemach, das sogar größer war als das des Königs selbst. Matteo, so wusste Alec, zog die Behaglichkeit kleinerer Räumlichkeiten vor. Mit dem Arm unter seinem Kopf als Stütze, öffnete Alec mit einem leisen Stöhnen seine Augen, um aus dem Fenster auf das triste Wetter hinauszublicken.
Der Morgen war von dichtem Nebel umgeben, der die Welt in ein ungewisses Zwielicht tauchte. Schwere Wolken bedeckten den Himmel, verhüllten die Sonne und entzogen der Stadt das Licht, das ihr sonst zustand. Für einen Moment schloss Alec seine Lider erneut und genoss die Stille, die ihn umgab. Im Laufe des Tages würde er stets auf den Beinen sein und sich um die Belange anderer kümmern. Ein Seufzer entwich seinen Lippen.
Oftmals empfand er diese Verpflichtungen als belastend, doch für seinen Freund Matteo nahm er diese Aufgaben gerne auf sich. Er schätzte die wenigen Augenblicke des Friedens und der Ruhe, bevor der hektische Alltag wieder seinen Lauf nahm. In dieser stillen Zwischenzeit erlaubte er sich, noch einmal kurz in die Welt der Träume abzutauchen, bevor er sich den bevorstehenden Herausforderungen stellen würde.

Es war ein ohrenbetäubender Lärm, der Bianchi aus seinem unruhigen Schlummer riss. Die Tür war mit solcher Gewalt aufgerissen worden, dass sie gegen die steinerne Wand krachte und einen tiefen Riss in das Mauerwerk schlug. Alec fuhr erschrocken hoch, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er spürte, wie der kalte Schweiß auf seiner Stirn stand. Er warf die dünne Decke von sich, die ihn kaum vor der nächtlichen Kälte geschützt hatte, und sprang aus dem Bett, jenes in der Mitte seines Gemaches stand. Er war bereit, sich jedem Angreifer zu stellen, der es wagte, ihn zu bedrohen. Doch seine Glieder waren wie gelähmt vom Schlaf, er taumelte und klammerte sich an der Kommode fest, die das einzige greifbare Möbelstück in seiner Nähe war. Er wusste, dass er ständig in Lebensgefahr schwebte. Er hatte keinen loyalen Beschützer, der ihm Tag und Nacht zur Seite stand und sein Leben für ihn hingeben würde, wie Matteo. Nein, er war kein König. Er war nur ein armseliger Schreiberling im Schatten seines Freundes. Und diese schmerzhafte Erkenntnis nagte oft an seiner Seele.

»Erhebet Euch, Ihr Tagedieb!«, donnerte ihm die rauhe und tiefe Stimme seines Freundes Carducci entgegen. Alec blinzelte verschlafen und ließ seine Arme schlaff herabhängen.

»Ernsthaft?« Alec kniff die Augen zusammen. »Was ist geschehen? Ist Unheil im Anmarsch?« Carducci schüttelte lachend den Haupt und trat an das Fenster. »Nein, aber Ihr müsset Euch kleiden. Nur noch zwei Stunden sind Euch vergönnt, dann sollt Ihr Euer Gepäck bereit haben und zum Aufbruch gerüstet sein.«

»Zum Aufbruch? Wohin denn?« Verwirrt hob er den Kopf, nicht verstehend, was der Italiener von ihm begehrte.

»Kardinal Farnese war bei mir – Ihr wisst schon, der Vater von der holden Elisabeth.«
Abermals kniff Alec die Augen zusammen, er duldete es ungern, wenn sein Freund so über die Frau sprach, welche er liebte. Offenbar wusste Matteo nicht, wie sehr ihm die Dame ans Herz gewachsen war, doch wie sollte er auch? Selbst wenn er es ihm noch deutlicher sagen würde, es würde nichts nützen, er könnte ohnehin nicht nachempfinden, wie sich das anfühlte. »Ihr sollt den Klerus beschützen – auch wenn unsere dunkelhäutigen Genossen uns freundlich gesinnt sind. Ich habe Euch noch ein paar meiner Knechte zur Seite gestellt. Ich vernahm auch, dass sich Henry Brigham dort aufhalten soll. Seid auf der Hut, um Euer Leben und ebenso um Kunde.«

»Ihr kennt mich, Matteo. Dies bedarf keiner Mahnung.« Carducci nickte, zuversichtlich, dass sein Freund lebend zurückkehren würde, mit Kunde, die ihnen weiterhelfen würde. Wenn sie die Templer erst einmal vernichtet haben, wird das alles ein Ende haben und die Dynastie der Carduccis wird in Sicherheit sein.
Doch in jenem Moment verzog Matteo das Antlitz. Einen Punkt hatte er bei der Sache übersehen. Wenn er den Thron nicht seinem törichten Bruder überlassen wollte, musste er sich eine Frau suchen – eine Gemahlin.
Bei Gott, das vermochte er nicht. Nicht einmal einen Hauch von Gedanken an solch eine Lage verschwenden. Sich vermählen, das war das letzte, was ihm im Sinne stand, wenn er es vermeiden konnte. Vor wenigen Tagen noch, schien es ihm fast schon beschlossen, dass er sich eine Frau nehmen würde, als er mit seiner Mutter gesprochen hatte, doch nun – nun, da er mit Sofia an jenem Abend geredet hatte und am Cembalo gespielt hatte, genau da wusste er, er konnte es nicht. Nicht, solange sie noch atmete. Er schluckte schwer, denn es war ein Grund mehr, der für ihren Tod sprach. Er begehrte es, bei Gott, ja. Er wollte sie tot sehen, dann wäre er frei, doch zum anderen zerrte sein Herz an ihm. Es lechzte nach der Liebe und nach der Gunst von ihr. Es war hingerissen, gleich was sie tat, gleich was sie sprach – selbst wenn es über ihre Sippe war. Er konnte ihr stundenlang lauschen oder in Gedanken für sie schwärmen, wie in jenem Moment. Vergessend, was um ihn herum geschah.

»Matteo?«, Alec rüttelte den jungen König aus seinen Träumereien.

»Verzeiht, habt Ihr was gesprochen?«

»Ich bat Euch, ob Ihr mich nun allein lassen könntet, ich würde mich gerne rasch zurechtlegen.«
Matteo nickte hastig und legte ein schalkhaftes Lächeln auf seine Lippen. »Benissimo« Ohne noch einmal zu seinem Freund zu blicken, der sogleich anfing, sich zu entkleiden, begab sich Matteo aus seinem Gemach in den kleinen Gang im Erdgeschoss. Es war derselbe Flügel, in dem sich seine Mutter befand, sowie Edward Bianchi. Manchmal fragte er sich, ob er Maria nicht lieber umquartieren lassen sollte, doch waren dies die größten Kammern im Schloss, und Mutter brauchte dieselben für ihre Sammlungen, die Matteo ungern überall im Schloss verstreut haben wollte. Er liebte seine Mutter von Herzen, gewiss, doch musste er als Gebieter auch Grenzen setzen. Es genügte, wenn einige ihrer Teppiche aus dem Morgenland dort hingen. Wäre Maria Carducci noch gesund genug, würde Matteo sie mit auf die Fahrt schicken, nach Konstantinopel, an den Ort, wo sie geboren war.


In dem kurzen Gang hielt er in der Mitte inne, wandte sich nach links und betrachtete das große Bildnis seines Vaters. Er war dort noch jung, gute fünfundzwanzig. Sein dunkles, volles Haar war noch vorhanden, wo zu jenen letzten Tagen eine Kahlheit war. Die Augen waren dieselben wie Matteos. Beim Anblick seines Vaters wusste Matteo nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Stets hatte er ihn für einen guten Herrscher gehalten, welcher er gewiss auch war, doch ebenso für gütig. Schonungslosigkeit lehrte Giuseppe Carducci seinem Sohn seit frühesten Tagen, was Matteo formte. Nachdem er die Hinrichtung seines Onkel Mario sah, rissen bei ihm alle Fäden. Er gelobte sich, nie so zu werden, bei seinem eigenen Leben und all jenen, die ihm lieb und wert waren. Er gelobte es für sich, seinem Volk und seinem Haus. Doch die Zeiten wandelten sich, er wurde dazu gezwungen der zu werden, von dem sein Vater wollte, dass er es wird. Er hatte keine freie Wahl und verflucht, er hätte Sofia Brigham sterben lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch je weiterer Tag, der verging, brodelte in ihm die Furcht auf, dass sie bald wahrlich auf dem hölzernen Gerüst stand, kniend, der Menge und ihrem Scharfrichter preisgegeben – und Matteo musste zusehen, wie einst schon die Hinrichtung seines Onkel. Fernbleiben durfte er nicht, es würde Schwäche zeigen, und das konnten sie sich zu diesen Stunden nicht leisten. Er wusste, die Hinrichtung wird stattfinden. Sofia ist förmlich des Hochverrats bezichtigt, Gnade gewähren konnte er nicht mehr, dann würde ihn niemand mehr ernst nehmen. Seine Gefühle waren hin und her gerissen.


Matteo schritt durch den weiten Gang, das fahle Licht, welches die Sonne durch die vielen Wolken hindurchließ, fiel auf seinen Leib, doch ließ ihn nicht glänzen. Wenigstens war dieses Licht heller, als das der Fackeln, welche an den Wänden brannten. Trotz der frühen Stunde, waren bereits viele Leute unterwegs. Scharen vom Gesinde oder der Kardinäle hatten sich ausgebreitet, doch hatte Matteo keine Not, sich hindurchzubahnen, wie auch seine Schwester, welche ihn sogleich abfing.

»Bruderherz.« Sie strahlte so hell, dass Matteo fürchtete, sich an ihrem Glanz zu verbrennen.

»Sorellina«, er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, »was macht dich so fröhlich am frühen Morgen?«

»Nun, ich vernahm, dass Alec abreist, das trägt seinen Teil bei.« Sie lachten zusammen.

»Ihr habt euch doch in den letzten Tagen gut vertragen.«

»Sí, eine verzwickte Situation. Wir waren einmal einer Meinung.«

»Welch ein Wunder«, spottete Matteo und wollte sich schon abwenden, doch hielt Livia seine große Hand fest.

»Bruder?«, fragte sie zögerlich. »Ihr wisst, in zwei Wochen ist der Ball.«

»Und?« Matteo hob eine Braue und überlegte, wie viel Gold sie diesmal für ihre kostbaren Gewänder verlangen würde. Der alljährliche Maskenball war eine Tradition, die auch ihren Preis hatte - zumindest für ihn. Schon früher hatte sie nicht den Vater gebeten, sondern ihren Bruder. Ihre Gewänder waren teuer und prächtig, doch hoffte Matteo insgeheim, dass sie durch ihre Vermählung nun ein größeres Einkommen hatte, auch wenn es ihr Gemahl verwaltete. Doch Rodrigo war ein guter und freigebiger Mann.

»Nun …«, sie biss sich auf die Lippe, suchte sichtlich nach den rechten Worten und schweifte mit ihren Augen umher, um Matteos Blick zu meiden.

»Nun sprich schon, Livia. Wie teuer ist dein Gewand?«

»Ich wünsche mir, dass Sofia Brigham mich zum Ball begleitet«, stieß sie hastig in einem Atemzug hervor und schloss die Augen fast. Langsam öffnete sie sie wieder, blickte ihren Bruder gespannt auf seine Antwort an. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass er es ablehnen würde, doch hegte sie einen Funken Hoffnung in ihrem Herzen, da sich Matteo in letzter Zeit so anders gebärdete. Er wurde freundlicher, bedächtiger und ruhiger. Da Matteo sie nur missmutig anblickte, atmete sie noch einmal tief ein. »Es ist ein Maskenball, Matteo. Niemand wird sie erkennen. Ich flehe Euch an, gönnt ihr noch diese eine Freude. Sie hat so etwas noch nie erlebt.«

»Es tut mir leid, ich kann Euch nicht erhören.« Sogleich verlor Livia ihren fröhlichen Ausdruck und sah ihren Bruder fassungslos an.

»Warum nicht?«

»Auch wenn sie niemand erkennen würde, sie könnte entfliehen. Die Gefahr ist zu groß.«

»Ich hüte sie doch, und es sind doch überall Wächter!«

»Und wie gedenkt Ihr das zu tun?«, er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Allen Wächtern sagen, dass ich der Verräterin gestatte mit einem feinen Gewand auf dem Ball zu schweben, lachend, speisend, während andere in ihren Kerkern schmachten und darben?« Livia verstummte und senkte den Kopf zu Boden. Sie wusste selbst nicht mehr genau was sie sagen sollte, ihr Bruder hatte recht.

»Sie ist aber keine Verräterin …«, murmelte sie fast schon stumm vor sich hin, während Matteo sich zornig von ihr abwandte.
Er fragte sich, wie sie sich so etwas erlauben konnte. Ihn darum zu bitten seine Gefangene tanzen zu lassen. Doch im selben Moment erkannte er, dass er nicht wütend auf Livia war, sondern auf sich selbst. Ja, zu gerne würde er sie dort hinlassen, ihr die Freude gönnen bevor er das junge Leben der schönen Dame, die sein Herz fest in der Hand hielt, auslöschen musste. All das Wissen, all die Hoffnung, umsonst. Er hasste sich, er hasste sich in diesem Moment selbst und würde lieber seinen Kopf auf den Pfahl legen, wenn er könnte.


Sie umarmten sich kurz, als sie sich zum letzten Mal in die Augen blickten. Livia hatte seine Nähe in den letzten Tagen geschätzt, und die seltene Übereinstimmung zwischen ihnen, doch etwas an ihm machte ihr misstrauen. Er strahlte ein geheimnisvolles Licht aus und sie konnte es sich selbst nicht erklären. Der blonde Knabe war unschuldig daran. Sie mochte ihn noch nie wirklich. Bevor sie sich von ihm abwandte, steckte er ihr ein gefaltetes Blatt Pergament in die Hand zu. Als er sie losließ, spürte sie seine kalte Handfläche und sah sein bleiches und bekümmertes Gesicht. Sie verbarg jedoch ihre Gefühle vor Edward und Matteo. Alec formte seine Lippen dezent zu einem stummen ‘Sofia’.

»Habt Acht auf Euch«, sprach sie ihn freundlich an. Sie hätte lieber nur Lebewohl gesagt, doch wusste sie, wie sehr Matteo seinen Freund liebte.

»Wahrlich, und dass Ihr uns wohlbehalten wieder heimkehrt, mit Kunde.«

»Ihr seid unerhört«, lachte Alec auf. »Wenn mein alter Herr dabei ist, kann nichts geschehen.« Er sah zu seiner Rechten, an welcher Edward Bianchi stand und seinem Sohn zunickte.

»Ich bin froh, dass ich auf die Schnelle mitreisen durfte.«
Livia verzog das Antlitz, versuchte jedoch, freundlich zu sein und zurückzulächeln. Bei Gott, sie wusste nicht warum, doch sie konnte diesen Mann noch viel weniger leiden. Er war eine ältere Ausgabe von Juan, doch boshafter, hinterhältiger und frauenverachtend. Man munkelte, dass Alec’s Mutter nicht im Kindbett verschied, sondern er sie umbrachte, weil sie ihm in der Zeit des Wochenbettes nicht mehr dienen konnte. Man weiß es nicht, und Livia will sich da auch nicht zu weit vorwagen, aber klar ist, dass Edward Bianchi seine ehemalige Gemahlin nicht ertragen konnte, aus einem einfachen Grund. Sie war Engländerin. Edward Bianchi hasste Engländer, und das merkte man auch bei seinem Tonfall wenn es um Sofia Brigham ging.

»Wie schön, das erfreut mich ebenso«, jubelte die Herzogin und grinste. Es war diesmal keine Lüge, sondern die reine Wahrheit. Zwei Bianchis mit einer Klappe aus dem Hause vertrieben und besiegt - für eine Zeit lang. Und sie hoffte, dass wenn er zurückkam, sie bereits wieder fort war, wenn auch für keine lange Zeit.
Sie wollte nicht zu lange von ihrer Familie fern bleiben, und hatte das Glück einen gütigen Gemahl zu haben, welcher nur das Beste wollte. So war ihre Ehe sogar ungültig, wenn man es genau nahm, doch wusste es nur niemand, denn Livia war noch immer Jungfrau. Ihre Blutung setzte am Abend der Vermählung ein, überraschend, und danach überkam sie die Angst und ihr Gemahl akzeptierte es. Er hatte ohnehin viele Kurtisanen.
Matteo und seine Schwester schauten den Bianchis am Eingang des Schlosses nach, wie jene die Stufen hinabstiegen und auf ihr Ross aufsaßen, ehe sie davonritten und die Eskorte nachfolgte. Sie lächelte, denn sie wusste, dass es nun gelassene Tage werden.

»Ich werde mit meinen Damen noch einmal heute zum Markte gehen, Nan konnte sich nicht entscheiden«, sagte sie Matteo, ehe sie gehen wollte.

»Wann kehrt Ihr wieder?«, fragte er, und ließ sie für jenen Moment verweilen. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich denke, erst gegen Abend. Bei ihr kann so etwas lange währen.«

»Bene« Als sich Livia abwandte, zierte ein breites Lächeln Carduccis Lippen, denn er wusste, was die Abwesenheit seiner Schwester bedeutete. Er konnte Sofia wiedersehen.


Sie spürte das warme Wasser auf ihrer Haut, das sanft in der Wanne schwappte. Nan, die blonde Magd, goss noch etwas aus der bronzenen Kanne nach, bis die Hitze fast unerträglich wurde. Livia schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an den Rand der Wanne. Sie atmete tief ein und aus, genoss die seltene Ruhe und Entspannung.

»Wie wohltuend«, murmelte sie zufrieden und lächelte Nan zu. Sie hatte kaum Zeit für sich selbst gehabt, seit sie hier war. Sie war immer beschäftigt mit ihren Damen oder mit Sofia, jene still am Tisch in der Mitte des Raumes saß. Livia bewunderte die junge Frau, die sich ein Buch der ‘Nachtigal’ vorgenommen hatte und es mit erstaunlicher Geschicklichkeit las. Sie hatte sich die Sprache selbst beigebracht, so viel war sicher. Sie fragte oft nach Worten, die sie nicht verstand, aber sie schien den Sinn des Textes zu erfassen.
Livia erinnerte sich plötzlich an den Brief, den Alec ihr hinterlassen hatte. Sie richtete ihren Blick auf die brünette Schönheit, welche so vertieft in das Buch war.

»Sofia?« Kein Laut kam von ihr, sie war so versunken in das Buch und das Lernen, dass sie alles um sich herum vergaß. »Sofia?« Erschrocken fuhr sie hoch, als Livia mit ihrem Ton lauter, doch nicht strenger wurde.

»Ja, Mylady?«

»Seid so gütig, auf dem Stuhl unter meinem Kleid, da liegt ein Brief.«

»Gewiss«, hauchte sie und stolperte zu dem besagten Platz, nahm den Brief auf und lief schnell zu Livia. Man sah ihr an, dass sie bald wieder zu ihrem Buch wollte. Livia lachte leise und schüttelte den Kopf.

»Nein, der ist für Euch.«

»Für mich?«, stammelte sie. »Von wem?« Ihr Gesicht zeigte große Verwunderung.

»Von Alec Bianchi, dem Schreiber. Er war der junge Mann, welcher Euch gerettet hat.«
Sie nickte mehrfach. »Ja ich weiß wer er ist.« Zögernd öffnete Sofia den gefalteten Brief in ihrer Hand und sah Livia fragend an.

»Ihr müsst ihn nicht vorlesen, er ist nur für Eure Augen bestimmt.« Sogleich lächelte die Templerstochter der Herzogin dankbar zu und verschwand zurück zu ihrem Platz. Mit einer schnellen Handbewegung schob sie das Buch von sich weg und machte dem Stück Papier platz. Mit klopfendem Herzen ließ sie ihre Augen über die Zeilen schweifen.

 

Mylady Sofia Brigham,

Ich bin im Begriff, zu dieser Stunde aufzubrechen, um nach Konstantinopoli zu Eurem Bruder Henry zu reisen und ihn um Hilfe anzuflehen. Wenn Ihr die Gelegenheit habt, sprecht mit Francis Farnese, er ist ein Freund und Verbündeter, ebenso seine Tochter Elizabeth. Sie ist eine Hofdame, vielleicht könnt Ihr Livia darum bitten, sie für eine Weile in ihren Dienst zu nehmen, so seid Ihr ihr nahe. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, und hoffe bei Gottes Gnade, dass ich rechtzeitig bin. Doch falls ich zu spät komme oder gar scheitere … Ihr sollt wissen, dass ich Euch treu ergeben bin. Ich bete für Euer Leben und für einen schnellen, schmerzlosen Tod. Möge Christus Eure Seele aufnehmen.


Als Stewards des Glaubens trotzen wir dem Sturm und säen die Samen der Hoffnung.

 

Alec Bianchi


Sofia spürte, wie ihr der Atem stockte und ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. ’Als Stewards des Glaubens trotzen wir dem Sturm und säen die Samen der Hoffnung‹, diese Worte waren keine Worte seines Clans – nein, es war das Kredo ihres Hauses. Alec war einer von ihnen, und mit diesen Zeilen, hatte er sein Schicksal besiegelt, ebenso wie das derer, deren Namen auf jenem Brief standen.
Ihre Hände zitterten und vor ihren Augen tauchten Bilder ihrer Erinnerungen auf. Jetzt verstand sie alles, warum er ihr von Anfang an zur Seite stand. Doch sie konnte nicht begreifen, warum er und sein Vater für Matteo arbeiteten.
Plötzlich stand sie auf, erhob sich von ihrem Stuhl und ging zu dem brennenden Kamin, auf dem noch der Kessel für das Wasser stand, das zuvor erhitzt wurde für Livias Bad. Die Herzogin beobachtete Sofia mit neugierigen Augen, die das Stück Papier zusammenknüllte und wie gebannt in die Flammen starrte. Dieser Brief durfte niemals in falsche Hände geraten, in keine Hände, nicht einmal in Livias. Sie mochte die Prinzessin zwar, doch sie hatte, wenn es doch noch einen Funken Hoffnung für ihr Leben gab, kein Vertrauen, in niemanden. Sie vertraute nicht einmal Alec, doch er war ihre einzige Rettung in dieser Stunde. Sie nickte innerlich, warf entschlossen den Brief in das Feuer und sah zu, wie er zu Asche wurde. Livia riss die Augen auf.

»Was treibst du da?«

»Es war nichts von Bedeutung«, erwiderte sie lächelnd und zuckte mit den Schultern, »und wie Ihr schon sagtet, dieser Brief war nur für meine Augen bestimmt.«
Livia nickte ihr zu, erwiderte das Lächeln und stieg aus der Wanne. Als Sofia den kurvigen, doch anmutigen nackten Körper erblickte, wandte sie sittsam den Blick ab. In ihrem Land war es eine Schande, sich so öffentlich zu zeigen, und sei es nur vor Bediensteten.

»Was ist mit Euch?«, Livia legte den Kopf schief, verstand nicht, warum sich die junge Dame so gebärdete. »Habt Ihr noch nie eine nackte Frau außer Euch selbst gesehen?«

»Das gehört sich nicht. Der Körper einer Frau ist heilig zu halten und nur für ihren Gemahl.« Prompt klappte der jungen Herzogin der Mund auf.

»Wer hat Euch denn das beigebracht?«

»Mein Vater.« Livia schluckte, ließ sich von Nan ihren Bademantel reichen und schritt auf Sofia zu, die sie mit einer einfachen Handbewegung aufforderte, sich hinzusetzen.

»Sofia?«, begann sie zögernd. »Sagt, seid Ihr jemals auf der Jagd gewesen?«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf, »Vater ließ mich lieber drinnen, zum lernen.« Der Herzogin stockte für einen Moment der Atem und ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihr aus.
Jetzt verstand sie auch, warum Sofia so unnatürlich blass war, selbst für eine Engländerin, und ständig nur von ihrem Bruder sprach. Ihr Vater musste sie von allem isoliert haben, von Männern ferngehalten. Sie war sich sogar sicher, dass der Junge, für den Sofia mal etwas empfand, nicht in den Krieg zog, sondern von Charles verbannt oder gar getötet wurde. Sie war neunzehn Jahre alt und nicht einmal verlobt. Sie kannte keine Tanzbälle, keine Jagd, keine Turniere. Jetzt wurde ihr klar, warum es Sofia so leicht fiel, tagelang in diesem kleinen Kerker eingesperrt zu sein. Es war bei ihr zuhause nicht anders. Dass Sofia auf Reisen war und von ihren Leuten abgefangen wurde, musste das größte Abenteuer ihres Lebens gewesen sein. Nun schmerzte ihr Herz noch mehr, dass sie nicht einmal mit ihr auf den Ball durfte. Nein, stattdessen schmachtete sie nur wieder in den Mauern dieses Schlosses. Kein Wunder, dass sie dauernd raus wollte.

»Mistriss?«, fragte Sofia zögernd, starrte auf ihre zitternden Hände, die sie im Schoß faltete, und schluckte, »könnt Ihr Matteo um etwas bitten?«

»Natürlich.« Livia würde ihr zurzeit jeden Wunsch erfüllen, wenn ihr Bruder nur nicht so grausam wäre.

»Meine Hinrichtung«, flüsterte sie mit erstickter Stimme und ihre Füße schlugen nervös aneinander, »ich würde gerne darum flehen, sie auf den achten August zu legen.« Livias Gesicht verlor die Farbe und ihr Mund stand offen. Sofort nahm sie die Hände der kastanienbraunen Schönheit.

»Mutter Maria, aber das ist doch schon in zehn Tagen!« Sofia nickte stumm, senkte ihren Blick.

»Aber warum denn ausgerechnet dann?«

»Es ist mein Geburtstag«, sie sah lächelnd zu der Herzogin auf, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Mein zwanzigster. Ich würde gerne noch die Null erreichen und an einem schönen Tag von dieser Welt scheiden.«

»Sofia …«, der jungen Dame stockte die Stimme. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn die Tatsache, dass sie an ihrem Geburtstag das Schafott besteigen sollte, schmerzte sie, auch wenn Sofia bereits mit der Entscheidung Frieden geschlossen hatte.

»Ich flehe Euch an, so sehr Ihr mir zugetan seid, erfüllt mir meine Bitte.« Sie nickte nur stumm, sie hatte ihr versprochen, ihr den Gefallen zu tun, auch wenn sie anfangs noch nicht wusste, dass es ein solcher sein würde. Ach, wie sehr wollte sie Sofia von diesem Gedanken abbringen, doch wusste sie auch, dass es nichts nützen würde. Wenn sie schon sterben musste, dann wenigstens an einem – wie sie selbst sagte – schönen Tag. Am liebsten wäre Livia nun gegangen, einfach allein gewesen und hätte geweint, um Sofia, um ihren Bruder, einfach darüber, welch ein Unheil dieser angerichtet hatte. Noch immer konnte sie es nicht fassen, er hatte es ihr doch versprochen. Und so drückte sie bloß die blassen und schlaffen Hände der jungen Frau und nickte ihr stumm zu.


Mit dumpfem Krachen schlug die Tür gegen die steinerne Wand, als der junge König hereinplatzte. Livia und Sofia fuhren erschrocken zusammen und sahen ihn mit großen Augen an. Er starrte seine Schwester an, als hätte er etwas ganz anderes vorgefunden. Livia wandte den Blick von ihrem Bruder zu der Templertochter neben ihr und dann wieder zu Matteo.

»Was führt Euch zu uns, Bruder?« Matteo spürte, wie ihm die Worte im Halse stecken blieben. Er wollte etwas Kluges sagen, aber er fand nichts und griff nach einer schäbigen Lüge, um den Fragen seiner Schwester zu entgehen.

»Ich suche …«, er ließ seinen Blick hastig durch den Raum schweifen und blieb an den zitternden Fingern der englischen Dame hängen, »dieses Buch hier.«
Livia runzelte die Stirn und hob eine Braue, als sie ihn mit einem misstrauischen Blick bedachte.

»Das ist nicht Euer Genre« Ihre Stimme klang zweifelnd und tadelnd, denn sie hatte ihn längst durchschaut. Er hatte sicher nicht ohne Grund gefragt, wann sie fortgehen und wiederkommen würde. Nun wusste sie, warum Matteo sich so sonderbar gebärdete, doch sie verriet nichts. Es könnte Sofias Leben retten, wenn der König Mitleid mit ihr empfände und ihr Gnade erweisen würde. Ehe Matteo etwas erwidern konnte, schüttelte Livia den Kopf und winkte ihre Hofdame Nan zu sich, die sogleich an ihrer Seite war. Dann erhob sie sich von ihrem Sitz neben Sofia und ging zu ihrem schlichten, roten Mantel, den sie zum Ausgang trug, wenn es noch kühl war, wie an diesem Tage.

»Nan, kleidet Euch an.«

»Ihr wollt ausgehen?«, fragte Sofia verwundert und blickte zu Livia auf.

»Ja, wir müssen noch ein passendes Kleid für Nan finden, sie tut sich damit immer etwas schwer«, lachte sie, während Nans Wangen sich röteten und sie den Blick senkte. »Seid nicht so scheu.« Nan war eigentlich immer eine offene und herzliche Person, doch sobald Matteo in ihrer Nähe war, wurde sie ganz schüchtern und züchtig.
Matteo nickte nur kurz, als wollte er sich sofort wieder entfernen, doch Livia hob ihre Hand und hielt ihren Bruder zurück.

»Matteo, ich weiß, Ihr habt viel zu schaffen, aber wenn jemand unsere Muttersprache beherrscht, mit all ihren alten und neuen Wörtern, dann seid Ihr es. Und wie ich sehe, habt Ihr Interesse an demselben Buch, das Miss Sofia liest, und sie möchte lernen.« Matteo schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, das kann ich nicht tun. Wie könnt Ihr mich dazu auch nur auffordern?« »Verzeiht mir, Bruder«, sie zuckte unschuldig mit den Achseln, »es würde doch niemand erfahren.«

»Ich kann meiner Gefangenen keine Lektionen erteilen, wir haben Lehrer dafür. Und selbst das – wenn das Volk davon Wind bekäme. Wir haben einen Ruf zu wahren – besonders ich.«
Sofia senkte ihren Blick, sie wusste, dass es ein riskantes Geheimnis war, dass er jenes bereits tat und umso mehr ahnte sie, dass mit Matteo etwas nicht stimmte. Irgendwie schmerzte es sie teils sogar, doch das wollte sie sich ebenfalls nicht eingestehen.
Erst gab sich Matteo wie ein harter Herrscher, welcher er vorgab zu sein und im nächsten Moment, spielte er ihr ein Lied auf dem Cembalo und lehrte sie seine Muttersprache, damit sie seine Bücher verstand.
Sie seufzte innerlich, denn sie konnte diesem Mann nicht trauen, im Gegenteil. Stunde zu Stunde verwirrte er sie mehr. Es war doch nur seine Schwester, welche das wissen würde – abgesehen von den Hofdamen, aber Sofia glaubte bei Gott nicht, ebenso wie Livia, dass jene irgendetwas verraten würden. Sie waren jahrelang im Dienst der Prinzessin und ihre loyalsten Freunde. Sie begleiteten Livia überall hin. Manchmal würde Sofia ihr gerne alles erzählen, von der Nacht wo beide zusammen saßen oder vom gestrigen Tag, wo er einfach dasaß und ihr seine Sprache beibrachte.
Es war alles so seltsam, und so sehr sie Matteo vertrauen wollte, konnte sie es nicht. Wer weiß, ob das nicht auch nur eine Falle war, um an Geheimnisse zu kommen – doch welche sollten schon noch von Belang sein? Ihre Eltern waren schon lange tot, und die einzige Person, die sich um sie sorgen könnte, wäre ihr Bruder. Jener, der bald durch Alec Bianchi von ihrer Gefangenschaft erfahren würde. Doch sie machte sich keine großen Hoffnungen daraus. Selbst wenn Alec Bianchi es schaffen würde, Henry davon zu berichten, wer weiß, wie lange er noch überleben würde, denn immerhin arbeitete er für den Mann, der sie festgenommen hatte und ihr den Tod bringen wollte. Und falls Carducci ihrer Bitte nachkommen würde, blieben ihr nur noch zehn Tage, bis sie ihrem Henker gegenüberstehen würde – wenn nicht, vielleicht sogar noch früher. Sie war nur noch eine Belastung für die Krone, ebenso für die Staatskasse. Es gab keinen Grund mehr, sie am Leben zu lassen, ihre Wunden waren schon fast verheilt. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, außer ihrem Leben. Und vielleicht ihrem Herzen.
Womöglich wollte er nur mit ihren Gefühlen spielen oder sie für seine Zwecke benutzen. Oder vielleicht empfand er doch etwas für sie, was er sich selbst nicht eingestehen konnte. Sofia wusste es nicht und es beunruhigte sie. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, wenn er in ihrer Nähe war oder ihr sanft die Worte beibrachte. Sie sah, wie sein Blick manchmal weich wurde oder ein Lächeln seine Lippen umspielte. Sie hörte, wie seine Stimme leise wurde oder ein Seufzer seinen Mund verließ. Sie fühlte, wie ihre Haut sich erwärmte oder eine Gänsehaut ihren Körper überzog. Sie wollte mehr von ihm wissen, mehr von ihm sehen, mehr von ihm hören, mehr von ihm fühlen. Aber sie wusste auch, dass das unmöglich war. Er war der König und sie war seine Gefangene. Er war ihr Feind und sie war seine Beute. Er war ihr Verderben und sie war sein Fluch.


Mit einem ungläubigen Kopfschütteln wandte sich Livia von ihrem Bruder ab, dessen wahres Gesicht sie immer mehr entsetzte. Einst hatte sie ihn bewundert und verehrt, seine Herrschaft gepriesen und verteidigt, nun sprach sie seinen Namen nur noch flüsternd aus, als fürchte sie, jemand könnte ihr Geheimnis erraten. Sie schämte sich für ihn und für sich selbst.

»Natürlich - was sollte ich auch anderes von Euch erhoffen.« Sie warf ihm keinen Blick mehr zu, als sie aus dem Gemach schritt, dicht gefolgt von ihrer treuen Nan. Sie seufzte schwer, als wollte sie die Enttäuschung aus ihrer Brust vertreiben. Es war also nur ein Zufall gewesen, dass er hier war, kein Zeichen von Mitgefühl oder Reue. Wie hatte sie auch nur hoffen können, dass ihr Bruder ein Herz für diese arme Frau zeigen würde? Er war wie ihr Vater geworden, eiskalt und grausam. Er würde vermutlich ohne zu zögern seine eigene Familie dem Henker überlassen, wenn sie seinen Plänen im Weg standen. So war es schon ihrem Onkel Mario ergangen. Für einen Moment hasste sie ihn so sehr, dass sie glaubte, Matteo würde selbst sie - seine eigene Schwester - zum Tode verurteilen.
Matteo senkte den Blick, als wollte er seine Schande verbergen. Sein Gesicht war eine Maske aus Zorn und Schuld. Er ging zu Sofia, die ihn mit großen Augen anstarrte, doch er griff nur nach dem Buch in ihrer Hand, bevor er sich hastig abwandte. Er konnte nicht länger bei ihr bleiben, es war zu riskant und verdächtig. Wer wusste schon, ob seine Schwester nicht doch lauerte und ihn beobachtete? Und selbst wenn nicht, er durfte Sofia nichts von seinen Gefühlen verraten.

Matteo eilte durch die engen Korridore, die zu seinem Gemach führten. Er sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit, nach einem Moment, in dem er sich seinen Gedanken und Gefühlen hingeben konnte, ohne beobachtet oder gestört zu werden. Er wollte nur die Tür hinter sich schließen und die Welt aussperren. Doch kaum hatte er den Türgriff erreicht, da hörte er schon die unverkennbare Stimme hinter seinem Rücken:

»Eure Majestät.« Er seufzte laut und genervt, denn er wusste genau, wer ihn angesprochen hatte. Er drehte sich um und sah in das ernste Gesicht des Kardinals Farnese, der ihm seine Hand entgegenstreckte.

»Kardinal Farnese«, sagte er und versuchte ein höfliches Lächeln aufzulegen, das ihm jedoch misslang. Er spürte, wie seine Laune noch mehr sank.

»Ja, Euer Gnaden. Ich bitte um Vergebung für die Störung.«

»Ihr stört nicht«, log er mit einer Handbewegung und sah ihm fest in die Augen. Natürlich störte er, aber das brauchte er ihm nicht zu zeigen. Kardinal Farnese war schließlich der Vater der Frau, die sein Freund Alec Bianchi liebte, und er wollte ihm nicht im Weg stehen. Er kannte die tiefe Zuneigung, die Alec für Elizabeth empfand.

»Was führt Euch zu mir?«

»Meine Tochter-«, fing er an, doch Matteo fiel ihm ins Wort.

»Elizabeth.«

»Ja - sie hat noch keinen festen Posten am Hofe, und solange wir hier weilen, würde ich ihr gerne einen angemessenen Platz verschaffen.«

»Welchen schwebt Euch vor, Kardinal?«

»Ich habe vernommen, dass eine der Hofdamen Eurer Schwester Livia bald in den Ruhestand tritt. Meine Tochter ist jung und in allen Künsten bewandert, die einer Lady ziemt.« Matteo biss sich auf die Lippen, er wusste, dass es Livia nicht gefallen würde, eine ihrer Damen einfach so auszutauschen und durch eine Fremde zu ersetzen. Elizabeth Farnese war erst seit wenigen Wochen am Hofe und noch recht unbekannt. Andererseits würde Alec seine Angebetete so öfter sehen können, ohne Heimlichkeit oder Scham, und würde auch selbst in einem besseren Licht erscheinen. Zumindest er hätte es verdient. Und obwohl er sich auf den Zorn seiner Schwester gefasst machte, nickte er dem Kardinal freundlich zu.

»Natürlich. Eure Tochter wird bei ihr willkommen sein.«

»Das erfreut mich und sie sicherlich noch mehr. Ich habe immer nur Lobendes über die Prinzessin gehört. Ein wahrer Freigeist soll sie sein.« Matteo lächelte schief, doch sein Lächeln war bitter. Er wusste, dass Livia mehr war als ein Freigeist. Sie war eine mutige und kluge Frau, die sich nicht von den Intrigen und Lügen am Hofe beirren ließ. Sie war seine einzige Verbündete, seine einzige Hoffnung.

»Das ist sie«, er dachte an Livia, wie sie ihm immer zur Seite stand, wie sie mit Sofia lachte und spielte, wie sie alles für ihn tat, auch wenn er es nicht sah. Er spürte einen Stich in seinem Herzen, als er sich fragte, wie lange er sie noch bei sich haben würde. »Sie ist das Beste an unserer Familie …«, murmelte er leise, zu leise für das schlechte Gehör des Kardinals. Er schüttelte den Kopf und klopfte dem alten Mann kurz auf die Schulter. »Kardinal, ich bitte um Euer Verständnis.«

»Gewiss!«, erwiderte er eilig und verneigte sich kurz, bevor er im Schatten des Korridors verschwand. Matteo sah ihm nach und bemerkte, wie schnell die Dämmerung hereingebrochen war.

Er ging langsam zu seinem Gemach, schloss hinter sich mit einem erleichterten Seufzen die Tür und lehnte sich gegen sie, als wollte er die Welt ausschließen. Er schätzte diese Sekunde der Ruhe und des Friedens, doch bald spürte er wieder das Verlangen nach der kastanienhaarigen Frau, die nur wenige Türen von ihm entfernt war. Es wäre so einfach, zu ihr zu gehen - niemand würde ihn sehen, Livia war weg und die Wachen konnte er fortschicken. Es wäre so einfach und süß und doch konnte er nicht - sein Stolz war zu groß.
Er wusste, dass er sie nicht haben durfte, dass sie nicht ihm gehörte, dass sie eine Gefahr für seine Macht und sein Ansehen war. In diesem Moment wurde ihm klar, wie schwer es ihm fiel, seine Liebe zu ihr zu verbergen, und wie gefährlich es war, wenn andere es bemerkten. Er musste dieser Sache ein Ende setzen, je eher, desto besser. Er durfte nicht länger zögern. Er musste sie loslassen, bevor es zu spät war. Er musste sie vergessen, bevor sie ihn zerstörte.

Juli, 31. 1476

 

»Bei allen Göttern«, fluchte Carducci zornig, als Juan ungeschickt seinen Wein auf das kostbare Pergament verschüttete, das auf dem Schreibtisch lag. Er hatte sich dem Tisch zu schnell genähert, ohne auf seine Bewegungen zu achten.

»Nur weil die anderen forrübergehend fort sind und Ihr als ihr armseliger Ersatz hiergeblieben seid – als ein sehr unfähiger, muss ich sagen – heißt das nicht, dass Ihr Euch hier wie ein Herrscher aufführen könnt. Für die Zeit, in der Ihr Alec Bianchi vertretet, erwarte ich von Euch mehr Disziplin und Anstand! Keine nächtlichen Besuche mehr in den Bordellen oder Eure ständigen Trinkgelage!« Er griff hastig nach einem Tuch und wischte die roten Tropfen weg, die das Papier zu ruinieren drohten.

»Das ist kein Grund für einen familiären Krieg«, Juan deutete auf die befleckten Stellen und lachte schallend, »Es ist doch nur das Todesurteil für diese Dirne, die im Kerker schmachtet und auf ihre Hinrichtung wartet.« Bei diesen Worten fröstelte Carducci, und er spürte wieder den unangenehmen Druck in seinem Hals. Er wünschte sich, er könnte etwas anderes tun, aber er hatte keine Wahl. Er konnte die Vollstreckung nicht länger hinauszögern, das würde nur falsche Hoffnungen wecken, die es nicht gab. Er musste diesen grausamen Akt vollziehen lassen.

»Sí …«

»Bruder, ich muss Euch etwas-«, die Herzogin stürmte unvermittelt in das Gemach, doch verstummte sofort, als sie Juan und Matteo an dem Tisch sitzen sah. Ihr Blick fiel auf den Bastard, der sie verraten und falsch beschuldigt hatte, und sie spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen. Bei Gott, sie hatte immer versucht, ihren Halbbruder zu verstehen und das Gute in ihm zu finden, doch das war erloschen, wie bei Matteo. Sie verlor allmählich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und das einzige Gute, was sie noch sah, war die Tatsache, dass Matteo immer schwächer wurde und mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Erben mehr zeugen würde. So würde diese verfluchte Dynastie wenigstens enden.

»Ist es wichtig?«, raunte Juan sichtbar genervt.

»Kommt drauf an – was ist das?« Sie deutete auf das Pergamentblatt, das Juan und Matteo sorgfältig studierten.
Sogleich seufzte der junge Carducci, während der Bastard gehässig auflachte. »Die Planung der Festnahme und Hinrichtung deiner Freundin.« Sein Ton war falsch, voller Spott, und man hörte den Teufel in ihm sprechen.
Livia erstarrte, ihr Mund öffnete sich in Fassungslosigkeit. Sie wiegelte den Kopf und starrte Matteo erneut an, als wäre sie von seiner Kälte überrascht. Doch zugleich war sie nicht mehr verwundert, denn wie hätte es auch anders sein können in dieser Welt voller Verrat und Intrigen.
Matteo streckte seine Arme aus, wollte seine Schwester beruhigen, weil er genau ahnte, was sogleich kommen würde. Doch jene schritt nur zurück und wehrte seine Arme ab. Ihre Augen loderten vor Zorn, während sie die dunkle Wut in sich aufsteigen spürte. Die Kerzenflammen züngelten an den Wänden, als hätten sie ihren Unmut gespürt und würden ihr Echo sein.
Livia hob ihr Kinn und begegnete dem Blick ihres Bruders mit unbeugsamer Entschlossenheit. »Ich habe nichts hinzuzufügen, Bruder. Verfolge deine Pflichten und erlange das Ansehen derer, die du so sehr begehrst.« Matteos Lippen formten eine dünne Linie, seine Augen verdrehten sich in Unmut.
Sie atmete tief ein, füllte ihre Lungen mit der kühlen Luft des Raumes, bevor sie ihre nächsten Worte sprach. »Allerdings habe ich eine Botschaft, die ich dir von ihr überbringen soll.«

»Welche Botschaft?« Er legte den Kopf schief, ein Argwohn zeichnete sich in seinen Augen ab.

»Nein, es ist keine Bitte«, entgegnete Livia mit einer unwiderruflichen Bestimmtheit. Ohne zu zögern, trat sie an den schweren Schreibtisch, entriss Matteo die Feder aus der Hand, tunkte sie hastig in das Tintenfass und setzte ihre Unterschrift auf das Dokument für den zwölften August des Jahres 1476.

»Beim Teufel, was treibst du?«, schrie Matteo empört und versuchte, die Hand seiner Schwester wegzureißen. Doch es war bereits zu spät. Die Tinte hatte ihr Schicksal besiegelt und ließ Livia der Anordnung eine weitere Stimme geben. »Zwölfter August ... das ist in lediglich acht Tagen. Warum?«
Livia atmete tief durch, ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit und Mut. »Weil es ihr Wunsch ist, und weil ich an das Gerechte glaube. Sie versteht, dass ihr Ende naht, und möchte, dass es rasch kommt, ohne unnötige Verzögerungen und trügerische Hoffnungen.« Sie hielt kurz inne und fügte dann leise hinzu, »Und weil ich ihr versprochen habe, dass ich ihr beistehen werde, ihren letzten Weg auf ihre Bedingungen zu beschreiten.«
Matteo starrte sie an, sein Antlitz eine wilde Mischung aus Zorn und Fassungslosigkeit.

»Es war ihr Wunsch, dass, wenn sie schon sterben muss, sie an einem schönen Tag sterben darf.« Livia sprach die Worte mit einer Melancholie, die die Tragik des Moments unterstrich.

»Schöner Tag?« Matteo legte den Kopf schief, schüttelte ihn leicht und zog die Augenbrauen zusammen, denn er verstand nicht. Livia jedoch ließ sich nicht beirren. Sie wandte sich ab und schritt schnurstracks zur Tür, ihre Haltung stolz und aufrecht, als wolle sie das Gewicht der Entscheidung und des bevorstehenden Abschieds tragen.

»Ihrem zwanzigsten Geburtstag.« Bei diesen Worten entglitten Matteos Zügen jeglicher Halt, und sein Herz schmerzte, als würden tausend scharfe Klingen hineinbohren. Er war zu einem wahrhaftigen Ungeheuer geworden. Seine Mutter hatte ihm einst gesagt, dass man die Zukunft ändern könne, doch ihm schien es, als gäbe es in diesem Moment nichts, was er tun konnte.
Mit einem gequälten Lächeln nickte er seiner Schwester zu, während aus dem Augenwinkel das schadenfrohe Grinsen Juans seine Wut entfachte. Zitternd nahm er die Feder in die Hand und setzte seine Unterschrift unter das verhängnisvolle Urteil.
Nun war es vollbracht, das Schicksal besiegelt. Am fünften August würde man sie in den finsteren Kerker führen, wo sie auch ihre letzte Beichte ablegen würde.


Bitterkeit kroch durch jede Ader und Zelle seines Körpers, und er ließ den Kopf enttäuscht sinken. Matteo ließ sich schwer in den Stuhl vor ihm fallen, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt, während er versuchte, die aufsteigende Verzweiflung zu bändigen. In diesem Augenblick war es ihm gleich, ob Juan ihn so sehen würde – alles um ihn herum verlor an Bedeutung. Die Welt verstummte, doch die Stimmen in seinem Kopf drängten sich laut und unerbittlich auf, drohten, ihn in kürzester Zeit in den Wahnsinn zu treiben.
In einem plötzlichen Ausbruch der Wut schleuderte er die Bücher mit einer ruckartigen Bewegung vom Tisch und schrie seinen Schmerz hinaus. Dieser musste aus ihm heraus, er konnte ihn nicht länger in sich tragen. Die Bücher prallten mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden, und inmitten der wirbelnden Staubwolke stand Matteo – ein Mann, der sich zwischen Pflicht und Loyalität zerrissen fühlte, gezwungen, die bittere Erkenntnis zu akzeptieren, dass selbst die stärksten Bande nicht immer ausreichen, um das Unausweichliche abzuwenden.

 

»Sofia«, rief Livia, die Stimme von tiefem Gefühl erfüllt, während sie ihre Freundin zu sich winkte. »Was meint Ihr?« Stolz hielt sie ihr roségoldenes Kleid vor sich, ein Meisterwerk aus Stoff und Faden, geschaffen für den bevorstehenden Ball.

»Es ist wahrlich atemberaubend«, erwiderte Sofia und strich ehrfürchtig über den seidenen Stoff, der in ihren Fingern wie flüssiges Gold schimmerte. Behutsam glitten ihre Finger über die zierlichen Perlen, die das Kleid wie funkelnde Sterne schmückten. »Ihr werdet die Herzen vieler Edelmänner erobern.«
Livia lächelte, ihre Wangen röteten sich, doch ebenso schnell fielen ihre Mundwinkel wieder herab, als schwere Gedanken sie einholten. »Seine Majestät«, begann sie zögernd, und bei Gott, am liebsten hätte sie die Worte gar nicht ausgesprochen, »hat Euren Wunsch erhört.«
Sofias Blick senkte sich für einen Moment bedrückt zu Boden, doch im nächsten Augenblick verschwand dieser Ausdruck, und ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, das ihre innere Stärke und Akzeptanz widerspiegelte. »Bitte, seid nicht bedrückt. Ich bin froh, dass alles bald ein Ende hat. Ich werde bei meiner Familie sein.«
Livia konnte ihre Trauer nicht verbergen. Ihr Herz fühlte sich schwer an, als sie die Bankierstochter in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, mehr als liebgewonnen hatte. Sofia war zu ihrer Freundin geworden, und nun musste sie jene sogleich verlieren. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, zog Livia die englische Dame an sich heran, und ihre Arme schlossen sich fest um sie in einer Umarmung, die von einer tiefen Verbundenheit zeugte.


Ein leises Klopfen an der Tür, das dreimal ertönte, ließ beide voneinander lösen. Livia wischte sich hastig und undamenhaft die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht.

»Ja bitte?« Ihre Stimme klang zaghaft und bittersüß.
Es dauerte einen Moment, bis sich die Tür öffnete und eine Gestalt über die Schwelle trat. Sie lehnte sich fast schon schüchtern an den Türrahmen, ein rotes Buch in der Hand, während sie mit der anderen nervös darauf tippte.

»Bruder«, stellte die Herzogin mit einem fast schon abweisenden Ton fest und spießte Carducci mit ihrem Blick auf. Dieser kratzte sich kurz am Bart, schaute in eine andere Richtung, um ihren durchdringenden Augen zu entkommen, und versuchte dann, ein Lächeln aufzusetzen.

»Livia, hört mich an –«, begann er, doch seine Schwester hob abwehrend die Hand, ihre Augen funkelten vor Ärger und Trauer.

»Sprich nicht weiter«, gebot sie ihm leise und hob ihre Hand wie einen Schild. Sie senkte den Blick zu ihren Füßen und kämpfte mit ihren Gefühlen.

»Bitte…«
Matteo nickte stumm, er spürte ihren Schmerz und fragte sich für einen Augenblick, ob er ihr noch mehr Leid zufügen könnte, als er sich selbst schon zugefügt hatte. Was konnte schlimmer sein, als die Liebe zu einem Menschen zu verlieren, der einem so nahe stand wie Livia ihrem Bruder? »Ich bin nur gekommen, um Euch das Buch zurückzugeben.« Er wies hastig auf Sofia Brigham, die reglos neben dem Tisch in der Mitte des Raumes stand.

»Reicht es. Sie wartet darauf.« Matteo spürte den bohrenden Blick seiner Schwester auf sich. Er wusste, dass sie ihn herausforderte, das Buch abzulehnen und es Livia auf den Tisch zu werfen. Aber er tat es nicht. Er presste seine linke Hand zur Faust, nicht aus Wut, sondern aus Verzweiflung. Er konnte seine Nerven nicht beruhigen. Mit jedem Schritt, den er auf die englische Dame zu machte, die heute in ihrem samtblauen Kleid noch anmutiger wirkte als je zuvor, hämmerte sein Herz wilder gegen seine Brust und sein Puls pochte an seinem Hals. Er fühlte sich wie in einem Feuer gefangen, das nur er spürte und er sehnte sich danach, aus dem Raum zu fliehen. Sofia blickte den König mit Erstaunen an, als er sich schüchtern vor ihr aufbaute und ihr stumm das Buch entgegenstreckte. Er brachte kein Wort über seine Lippen.
Nein, nicht in Livias Gegenwart. Er war sich bewusst, dass seine Worte zu sanft, zu zärtlich klingen würden, und das konnte er sich in der Anwesenheit anderer nicht erlauben. Sofias blassrosa Lippen zitterten leicht, bevor sie auf ihrer Unterlippe biss und sie behutsam nach innen zog. Matteo konnte nicht anders, als in diesem Moment auf ihren üppigen Busen zu starren, der durch das Korsett hervorgehoben wurde. Sein Blick verweilte einen Moment zu lang, und er spürte, wie seine Lippen sich nach diesen verlockenden Rundungen verzehrten, die doch so greifbar nahe erschienen.
Plötzlich riss er sich innerlich zusammen und verwarf diese unziemlichen Gedanken. Nein, diese Empfindungen waren falsch, er musste sie unterdrücken, so schwierig es auch sein mochte. Es war einfach nicht richtig. Und dennoch, tief in seinem Herzen fühlte es sich so unglaublich wahrhaftig an.
Die Atmosphäre im Raum verdichtete sich, als die Leidenschaft zwischen ihnen wie ein unsichtbares Band erwachte. Die flackernden Kerzen warfen Schatten auf die steinernen Wände, und die Spannung knisterte, als die Welt um sie herum für einen Moment in den Hintergrund trat. Sie befanden sich in einem zeitlosen Moment, gefangen zwischen ihren verbotenen Gefühlen und dem Wissen um die Unmöglichkeit ihrer Liebe.
Matteo atmete tief durch und riss seinen Blick von Sofia los, entschlossen, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig war. Er war ein Mann von Ehre und Pflicht, und er würde seine Gelüste überwinden müssen, um sein Herz und seine Seele vor dem Untergang zu bewahren.
Sofia streckte behutsam ihren zierlichen Arm aus und umfasste mit ihren wohlgeformten, doch kleinen Fingern das rote Buch der Nachtigall. Als ihre Fingerspitzen sich für einen flüchtigen Moment berührten, veranlasste dies beide, sich tief in die Augen zu schauen. Sofias Wangen färbten sich in einem zarten Rosa, während sie hastig den Kopf senkte und ihren Kiefer anspannte, bevor sie das Buch schnell an sich zog. Eine Gänsehaut überkam jene beiden, als ob ein elektrisierendes Band sie miteinander verknüpfte.
Wie konnte etwas, das sich so wahrhaftig und richtig anfühlte, so falsch sein? In jenem Augenblick glaubte Matteo, in ihren Augen den Spiegel seiner Seele erblickt zu haben. Empfand sie etwa dasselbe wie er – oder war es nur Einbildung? Wie könnte sie solche Gefühle hegen? Selbst wenn es so wäre, bestand die Möglichkeit, dass sie ihn nur ausnutzen würde, um ihrem Tod zu entkommen. Und ihr Tod war doch sein Schlüssel zur Freiheit, so perfide es auch klingen mochte.

»Danke«, erklang das samtene Timbre ihrer weiblichen Stimme in seinen Ohren, und Carduccis Herz schlug noch wilder, noch schneller – kaum noch zu zügeln. Ihm wurde schwindelig. »Eure Majestät.« Die junge Lady verneigte sich vor ihm, was dem König einen noch tieferen Einblick in ihr Dekolleté gewährte. Für einen Moment wollte er alles aufgeben und sie nur noch auf diesem Tisch lieben. Sollen sie doch zusehen, wie ihm die Leidenschaft überkam. Sie war keine gewöhnliche Frau, das war offensichtlich, selbst für den einfachsten Bauern.
Matteo nickte nur mehrmals leicht und wandte dann der jungen Lady den Rücken zu. Er durfte nicht schwach werden. Seine Schwester, welche das Schauspiel mit großen Augen verfolgte, vernahm die Verfassung ihres Bruders und schluckte. So sehr sie den Gedanken in ihrem Kopf zulassen wollte, dass in Matteo noch etwas Gutes steckte, das Gefühl des Mitleids und der Liebe, konnte sie es nicht glauben. Es schien bei ihm zu absurd. Schnellen Schrittes eilte der König an der Herzogin vorbei und stürmte hinaus, ohne die Tür wieder zu schließen.
Mit offenem Mund sah Livia zu Sofia, welche in Gedanken versunken dastand und auf ihre Fingerspitzen starrte, die noch vor einer Sekunde die des Italieners berührt hatten. Ihr Atem ging unkontrolliert und schnell.
Livia musterte Sofia mit einem misstrauischen Blick. Etwas stimmte nicht mit ihr, aber Livia konnte es nicht genau benennen. Die junge Lady wirkte zu zaghaft und unschuldig, um eine heimliche Liaison mit ihrem Bruder zu pflegen. Doch Livia wusste aus Erfahrung, dass der Schein trügen konnte, und so hielt sie ihre Neugier zurück, obwohl sie gerne mehr erfahren hätte.

»Mein Kind«, sagte sie zu Elizabeth Farnese, die das Geschehen ebenso verfolgt hatte, aber nur bleich und reglos auf ihrem Stuhl saß, »geht es Euch nicht gut?« Elizabeth fuhr zusammen und schüttelte hastig den Kopf. »Nein, Mistriss.«

»Ihr seid sehr blass.«

»Es ist nichts.« Elizabeth presste die Hand vor den Mund und lehnte sich zurück. Alarmiert ging die Prinzessin zu ihr und fühlte ihre Stirn. Sie zuckte erschrocken zurück.

»Ihr habt Fieber! Ich schicke nach einem Medikus. Ihr sollt Euch ausruhen, bis Ihr genesen seid.«

»Herrin, bitte nicht.«

»Kein Widerspruch, ich kann es mir nicht leisten, ganz zu schweigen von Miss Brigham, dass Ihr uns ansteckt. Bitte habt Verständnis.« Das magere Mädchen nickte schließlich und stand auf.

»Ich werde zu meinem Vater gehen.«

»Gut«, sagte Herzogin von Cuenca und legte der rothaarigen Schönheit ihren Mantel um die Schultern, »Erholt Euch bald.« Stumm nickte Elizabeth und schlich aus dem Zimmer.


Es war eine klare und kalte Nacht, die schon lange in den nächsten Tag übergegangen war. Der Mond leuchtete wie eine silberne Münze am Himmel und warf sein bleiches Licht auf Sofias schlanken Körper, der auf dem schmalen Ottomane ruhte. Sie konnte nicht schlafen, zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Da erinnerte sie sich an das Buch, das Matteo ihr am Nachmittag gebracht hatte. Es war ein kostbares Geschenk, ein altes Werk voller Geheimnisse und Geschichten. Sofia erhob sich leise von ihrem Lager und schlich sich zu dem runden Tisch in der Mitte des Gemaches. Dort lag das Buch, wie eine schlafende Bestie. Sofia setzte sich auf den hölzernen Stuhl und streichelte mit ihren Fingern über den rauen Ledereinband. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie Matteo das Buch in seinen starken Händen gehalten hatte. Wie er ihr mit seinem warmen Lächeln zugewinkt hatte, bevor er ging. Wie er ihr versprochen hatte, bald wiederzukommen.
Sie rang nach Luft. Er war der Mann, der sie töten sollte, und doch spürte sie in dem Moment, als sich ihre Finger berührten, etwas in ihrem Herzen, das sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Es war ein seltsames, aber warmes Gefühl. Fast wie die Liebe, die sie für ihren Bruder Henry hegte. Sie wollte diesen Gedanken nicht abschütteln, nein, er war eine willkommene Ablenkung von dem Schrecken, der ihr bevorstand. Sie gab sich tapfer, aber sie war nicht furchtlos. Sie dachte an den Tod bei Tag und bei Nacht, aber sobald die Sonne unterging und der Mond aufstieg, wurde es schlimmer. Am schlimmsten war es, wenn sie allein war. Dann nagten diese Gedanken, diese Stimmen in ihrem Kopf an ihr. Es war eine Ruhe und eine Unruhe zugleich in ihrem Körper, die sie das Gefühl haben ließ, als würde sie jeden Augenblick zerspringen.
Sofia stöhnte leise. Sie war von Furcht erfüllt, einer Furcht, die sie lähmte. Das Wissen, dass sie bald sterben würde, und die Ungewissheit, was danach kommen würde, zerriss sie innerlich. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie musste stark sein, für sich selbst, für ihren Bruder. Wenn es noch eine Chance auf Rettung gab, dann durfte sie nicht aufgeben. Und wenn es keine gab, dann wollte sie ihre letzten Stunden nicht in Tränen vergeuden. Auch wenn es ihr immer schwerer fiel, die Gedanken an den Tod zu verdrängen. Sie kamen immer wieder hoch, egal was sie tat. Aus heiterem Himmel wurde sie von einer Traurigkeit überwältigt, die sie vor niemandem zeigen durfte. Wenn Livia sie besorgt fragte, ob etwas nicht stimmte, antwortete sie nur immer: »Ich bin nur müde.« Es war ihre ständige Ausrede, um weitere Fragen abzuwehren.
Sie fasste einen mutigen Entschluss und schlug das Buch auf. Die erste Seite war leer, bis auf den Namen des Autors, der aber von einer dunklen Flüssigkeit verwischt war. War es Wasser oder Wein? Sofia konnte es nicht mehr entziffern. Schade, dachte sie sich. Vielleicht hätte sie so noch mehr Bücher von ihm oder ihr finden können. Sie blätterte weiter, bis zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen. Und erstarrte. Ihr Herz schlug einen Augenblick lang aus, und die Welt um sie herum verstummte. Da waren neue Worte auf der Seite, Worte, die jemand an den Rand gekritzelt hatte. Es war Italienisch, und doch konnte sie es verstehen.

»Hodie vesperi. Clavicordium«, flüsterte sie leise vor sich hin, »Klavier – heute Abend.« Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. War das wirklich Matteo, der ihr diese Botschaft geschickt hatte? Wer sonst wusste von dem Buch? Sofia zögerte. Sollte sie wirklich zu ihm gehen? Es könnte auch eine Falle sein, von jemandem, der sie belauscht hatte. Sie wusste von Alec, dass es am Hof viele neugierige Blicke und Ohren gab, die alles mitbekamen. Selbst die geheimsten Dinge. Sie legte ihre Hand auf ihr Herz. Sie musste ihn sehen.
Das Buch zog sie an sich und drückte es fest an ihr Herz, als wäre es ein kostbarer Schatz. Ein Blick um sich zeigte ihr, dass das Zimmer verlassen war. Die Herzogin schnarchte leise im Nebenzimmer. Vorsichtig schob Sofia sich zur Tür und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und sie atmete tief ein. Ihren Mantel ließ sie liegen, obwohl es eisig war. Den finsteren Gang entlang rannte sie und die Treppe hinauf, zu dem Platz, wo sie früher gewohnt hatte, und wo jetzt das Gesinde schlummerte. Stoßweise ging ihr Atem. Heftig pochte ihr Herz in ihrer Brust. An den kalten Mauern fror sie und doch war ihr heiß, dass sie glühte. Leise hörte sie das Klavier klingen. Es war das Lied von damals, als sie mit ihm geredet hatte. Es war ihr Lied.

Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, verzichtete auf eine Fackel und tastete sich im Dunkeln voran. Sie verließ sich auf ihr Gefühl, wie so oft schon, und es sollte sie nicht trügen. Mit jedem Schritt, der sie dem kleinen Torbogen näher brachte, wuchs die Spannung in ihr. Was wollte er von ihr zu dieser späten Stunde? Wie lange wartete er schon dort? Er konnte unmöglich wissen, dass sie das Buch erst jetzt lesen würde. Himmel, er musste die ganze Nacht dort gesessen haben. Sie schluckte. Als sie den jungen Italiener erblickte, der mit seinem Dreitagebart noch attraktiver aussah, stockte ihr der Atem und ein leises Seufzen entwich ihren Lippen. Matteo wurde aus seiner Versunkenheit gerissen und wandte seinen Kopf in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich und sofort durchfuhr beide ein Schauer. Zaghaft näherte sie sich ihm, bis sie am Rahmen des Torbogens stand und wie festgefroren dastand. Ihre Füße wurden schwer und sie wagte sich nicht weiter. Es war niemand hier. Keine Wache, kein Dienstbote. Ihr Dekolleté hob und senkte sich mit jedem schweren Atemzug.
»Ihr habt die Wahl«, sprach er mit tiefer Stimme, während sein Blick sie wie ein Dolch durchbohrte, »Ihr könnt gehen oder bleiben.« Sofia spürte, wie ihr der Atem stockte. Was wollte dieser fremde Mann von ihr? Was hatte er vor mit ihr? Seine Worte jagten ihr Schauer über den Rücken und doch auch ein seltsames Verlangen, das sie nicht zuordnen konnte. Ein leises Ziehen in ihrem Schoß verriet ihr, dass er sie nicht kalt ließ. Verdammt, warum fühlte sie sich nur so hilflos und schwach? Wo war das mutige Mädchen geblieben, das sie noch vor wenigen Tagen gewesen war?
»Ich wähle letzteres.« Mit diesen Worten trat sie aus dem Schatten der Tür und ging auf Matteo zu, der am Klavier saß. Sie biss sich sichtbar auf die Lippen, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden, von ihrer anmutigen Gestalt, ihrem seidigen Haar, ihrem verführerischen Mund. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und zugleich die gefährlichste. Sie war eine Sünde, die er nicht begehen durfte, aber auch nicht widerstehen konnte. Er spürte, wie das Feuer in ihm loderte, wie die Regeln seiner Ehre und Treue zu Asche zerfielen.
Sie kam näher und näher, bis sie direkt vor ihm stand und ihm tief in die Augen sah. Er las in ihrem Blick eine stumme Aufforderung, ihr Platz zu machen, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Er atmete schwer, als er ihre Nähe spürte, ihren Duft roch, ihre Wärme fühlte. Er hörte ihre Finger über die Tasten gleiten und einen sanften Klang erzeugen, der durch den Raum hallte. Jener war karg und kalt, nur von wenigen Fackeln erhellt, die an den Steinwänden hingen. Ein Ort, fernab von den neugierigen Blicken des Hofes und der Welt. Es war ein Ort der Musik und der Leidenschaft, an dem sie ihre Masken ablegten und sich ihren Gefühlen hingaben. Es war ein Ort des Verrats und der Schuld, an dem sie ihre Lügen lebten und ihre Pflichten vergaßen.

???

Nächstes Kapitel erscheint am Sonntag, den 23.04.2023

Impressum

Texte: Sophiamccarty
Bildmaterialien: Sophiamccarty
Cover: Sophiamccarty
Lektorat: Sophiamccarty
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2023

Alle Rechte vorbehalten

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