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Prolog

Prolog

 

 

Alles war still. Sonea starrte auf die drei Leichen, die vor der Universität lagen. Eine Woge der Erschöpfung brach über sie herein. Sie verspürte keinen Triumph. Keine Freude. Nur Leere.

Sie wandte sich zu Akkarin.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Augen waren offen, doch auf irgendetwas hinter ihr gerichtet. Als sie sich bewegte, lösten seine Hände sich von ihren Handgelenken und fielen herab.

„Nein“, flüsterte sie. „Akkarin.“

Sie griff nach seinen Händen und sandte ihren Geist in seinen Körper. Nichts. Nicht einmal der kleinste Lebensfunke.

Er hatte ihr zu viel gegeben.

Er hatte ihr alles gegeben.

„Nein“, flüsterte Sonea, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Mit einem Mal war die Stille unerträglich laut. Etwas Heißes rann über ihre Wangen und ihre Sicht verschwamm. Ihre Hände glitten über Akkarins Wangen. „Lass mich jetzt nicht allein. Bitte.“

Sie sandte ihren Geist erneut in seinen Körper, um nach seiner Präsenz zu suchen, doch da war nichts mehr. Es ging so leicht. Zu leicht. Grauen erfasste sie.

Es kam ihr vor, als wären nur wenige Augenblicken vergangen, seit sie in Lorlens Büro gewesen waren und über ihre Gefühle gesprochen hatten. Oder es zumindest versucht. Er konnte nicht tot sein.

„Ich habe gesehen, wie die erste Frau, die ich liebte, gestorben ist“, hatte er gesagt. „Ich könnte nicht weiter leben, würde ich auch die Zweite verlieren.“

Sonea erinnerte sich an die wilde Freude, die sie verspürt hatte, als sie erkannt hatte, dass sie seine Gefühle am vergangenen Abend richtig gedeutet hatte. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie ihn auch liebte, doch Akkarin hatte sich zu ihr hinabgebeugt und sie geküsst.

„Nicht“, hatte er geflüstert. „Sag es mir, wenn das hier vorbei ist.“

Sie hatte protestiert, weil sie es unfair fand, ihr seine Liebe zu gestehen und sie zugleich daran zu hindern, ihm ihre Gefühle zu zeigen. Wenn er im Kampf gegen die Ichani starb, würde sie es ihm niemals gesagt haben. Sie hatte gerade erst aufgehört, sich seinen Tod zu wünschen. Lieber hätte sie sich geopfert, als zuzulassen, dass ihm etwas zustieß. Dort in Lorlens Büro war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie zu viel Zeit ihres Lebens darauf verschwendet hatte, ihn zu hassen und zu fürchten. Aber sie war nicht fähig gewesen, ihm das zu kommunizieren. Mit einem Mal hatte ihre Furcht sie zu überwältigen gedroht und ihre Fähigkeit zu denken oder zu sprechen gelähmt.

„Alles wird gut werden“, hatte er ihr versprochen. Und sie hatte ihm vertraut.

Und nichts war gutgegangen.

Das Gefühl wilder Freude zerriss ihn nun das Herz.

Sonea weigerte sich zu glauben, dass er tot sein sollte, sie wollte sich nicht damit abfinden. Das konnte nicht alles gewesen sein, nicht nach allem, wofür sie gelitten hatten. So konnte es nicht enden.

So darf es nicht enden!

Es musste doch etwas geben, das sie tun konnte!

Denk nach!, befahl sie sich und zwang sich, nicht zu verzweifeln. Ihre magischen Reserven prüfend stellte sie fest, dass noch ein kleiner Rest Magie übrig war. Sie wusste nicht, ob es ausreichen würde, doch solange sie am Leben war, verfügte ihr Körper über Energiereserven. Ja, so würde sie es machen. Sie musste ihn retten, was auch immer es sie kosten mochte.

Ich habe dir gesagt, ich werde dich nicht verlassen, hatte sie ihm versprochen, nachdem sie Parika am Südpass besiegt hatten. Wenn wir sterben, sterben wir gemeinsam.

Obwohl Akkarin ihre Worte belächelt hatte, hatte Sonea sie mit derselben Ernsthaftigkeit ausgesprochen, die sie nun verspürte. Das ließ ihr genau zwei Möglichkeiten: Entweder es gelang ihr, ihn zu retten, oder sie würde bei dem Versuch sterben. Aber dann würde sie sich wenigstens nicht für den Rest ihres Lebens vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben. Denn damit würde sie niemals leben können.

Mit zitternden Fingern zeriss sie den Stoff seiner Robe. Dann zog sie behutsam Karikos Messer aus seiner Brust. Ihren Geist ausstreckend begann sie, die Verletzung zu untersuchen. Das Messer war zwischen zwei Rippen in die Lunge eingedrungen. Nur ein kleines Stück weiter rechts und es hätte sein Herz getroffen. Eine solche Verletzung war tödlich, aber nicht schwierig zu heilen, sofern die Heilung rechtzeitig erfolgte, wusste Sonea. Sie wusste jedoch auch, sie konnte die zerstörten Arterien und das zerfetzte Gewebe eines leblosen Körpers nicht wieder zusammenwachsen lassen.

Aber sie konnte das Blut, das in seine Lunge gelaufen war, entfernen und alles wieder an seinen vorgesehenen Platz bringen. Sie lächelte grimmig, als ein Plan in ihr zu reifen begann. Sie wusste nicht, ob ein Heiler jemals etwas Vergleichbares versucht hatte. Aber ihr Verstand sagte ihr, es musste möglich sein.

Einen tiefen Atemzug nehmend, begann Sonea mit ihrer Arbeit. Sorgfältig stärkte sie die zerstörten Fasern und Gefäße mit kleinen Barrieren aus Magie, die das Blut daran hindern sollten, zurück ins Gewebe zu fließen. Vorsichtig übte sie ein wenig Druck darauf aus. Zu ihrer Erleichterung hielt ihr Konstrukt.

Als sie fertig war, waren ihre Hände blutverschmiert. Wissend, dass dies Akkarins Blut war, spürte sie Übelkeit in sich aufsteigen.

Sonea schob das Gefühl beiseite und legte ihre Hand erneut auf Akkarins Brust. Sein Körper war noch warm, das musste bedeuten, dass es noch nicht zu spät war. Der Gedanke trieb ihr erneut die Tränen in die Augen und sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Wenn sie ein Herz zu Stillstand bringen konnte, dann konnte sie es auch wieder zum Schlagen bringen. Sie versuchte sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie je über Heilkunst gelernt hatte. Doch man hatte ihr nicht beigebracht, was zu tun war, wenn der Körper des Patienten jeglicher Energie entleert war.

Vielleicht, weil es nichts gab, das man tun konnte.

Denk nicht einmal daran!, wies sie sich zurecht. Ärgerlich wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, dann schloss sie die Augen.

Sich auf den Rhythmus ihres eigenen viel zu schnell schlagenden Herzens konzentrierend, versuchte Sonea diesen auf das seine zu übertragen. Aber jedes Mal, wenn sie glaubte, es geschafft zu haben und das Blut durch Akkarins Adern rauschte, stand sein Herz wieder still, sobald sie aufhörte, es zu bewegen. Ein flüchtiger Blick auf ihre magischen Reserven sagte ihr, dass sie gefährlich nahe daran war, die Energiereserven ihres Körpergewebes anzutasten. Es muss funktionieren, redete sie sich ein und schob ihre Verzweiflung in einem Anflug von Trotz beiseite.

„Was auch immer du da versuchst, wird ihn nicht zurückbringen“, erklang eine vertraute Stimme von irgendwo.

Sonea hob den Kopf. Dorrien stand im Eingang der Universität. Als ihre Blicke sich begegneten, eilte er die Stufen hinab. Rothen und Lord Balkan folgten ihm.

„Warum nicht?“, verlangte sie zu wissen.

„Weil er sich vollständig erschöpft hat.“ Der junge Heiler ging neben ihr in die Hocke. „Der menschliche Körper braucht sowohl Energie als auch eine Präsenz, um zu leben. Wenn der Tod eintritt, verlässt die Präsenz den Körper. Keine heilende Magie kann dann noch aufgenommen werden.“

„Dann muss ich das eben verhindern“, sagte Sonea entschlossen.

Das Blau in Dorriens Augen funkelte hart und kalt. „Willst du dich umbringen?“

Sonea starrte ihn trotzig an. „Wenn es der einzige Weg ist, ihn zu retten? Ja.“

Dorriens Miene wurde ein wenig weicher. „Das ist es nicht wert, Sonea.“

„Doch“, gab sie zurück. „Er ist alles wert.“

Rothen fasste sie behutsam am Arm und versuchte sie von Akkarin wegzuziehen. Sie schlug seine Hand beiseite.

„Sonea, es ist vorbei“, sagte er. „Akkarin ist tot. Du musst das akzeptieren.“

Sonea starrte ihn an. Der plötzliche Zorn war überwältigend. Wie konnte er, ausgerechnet er, es wagen …?

„Nein!“ Etwas löste sich in ihr, und ihr ehemaliger Mentor wurde rückwärts durch die Luft geschleudert. „Das werde ich nicht akzeptieren!“

Rothen schlug hart auf dem Boden auf. Ein übelkeitserregendes Geräusch zerriss die Stille. Dorriens Augen weiteten sich vor Entsetzen.

„Vater!“ Sein Blick wanderte zögernd zurück zu Sonea, als sei er hin und hergerissen, wer seine Hilfe dringender benötigte.

„Ich kümmere mich um ihn!“, rief Balkan. „Bleibt Ihr bei Sonea.“

Verschwommen nahm Sonea wahr, wie das Oberhaupt der Krieger Rothen zur Hilfe eilte. „Das habe ich nicht gewollt“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid.“ Sie verstand nicht, was da soeben geschehen war. Es war fast, als hätte ihre Magie für einen Augenblick die Kontrolle über sie erlangt. Dabei hatte sie nur verhindern wollen, dass man sie daran hinderte, Akkarin zu retten.

Als Balkan ihm aufhalf, stieß sie leise die Luft aus. Rothen hielt sich die Schulter, doch sein Stand war fest und sein Gesichtsausdruck eher besorgt denn schmerzerfüllt.

Dorrien wandte sich ihr zu und blickte sie ernst an. „Du musst Akkarin loslassen, Sonea“, sagte er ruhig. „Du kannst ihn nicht heilen. Es gibt nichts mehr, was du für ihn tun kannst.“

Das sah Sonea anders.

Wenn die Heilkunst hier versagte, dann blieb ihr noch immer die schwarze Magie. Aber sie musste schnell handeln. Die Zeit schien ihr durch die Finger zu rinnen und mit ihr schwanden ihre Chancen.

Verärgert sah sie zu Dorrien auf.

„Hilf mir lieber und gib mir deine Kraft!“, befahl sie. Die Schroffheit in ihrer Stimme ließ sie zusammenzucken.

Dorriens Augen weiteten sich. Sonea hielt seinem Blick jedoch mit aller Entschlossenheit stand. Schließlich stieß er einen resignierten Seufzer aus, den sie betont ignorierte. Dann ließ er sich neben ihr nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Ich helfe dir“, sagte er. „Aber wenn es aussichtslos ist, höre ich auf. Ich setze nicht mein eigenes Leben aufs Spiel.“

Dann werde ich eben alleine weitermachen, dachte Sonea grimmig. Insgeheim wusste sie jedoch nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen sollte, wenn auch Dorrien sich erschöpft hatte. Aber sie musste es versuchen. Akkarin hatte dieses Ende nicht verdient. Nicht nach allem, was er durchlitten hatte. All die Jahre hatte er nur existiert, um die Gilde zu beschützen, hatte sein Geheimnis niemandem anvertrauen können – nicht einmal sein bester Freund. Er hatte nie eine echte Chance gehabt, zu lieben. Seine erste Liebe hatte er verloren und sogar sie hätte ihn bis vor kurzem noch zurückgewiesen. Er hatte Besseres verdient als zu sterben, ohne wirklich gelebt zu haben. Sonea entschied, sie wollte sein Leben wieder lebenswert machen.

Und wenn es das Letzte war, was sie tat.

„Sie verliert die Kontrolle“, hörte sie Balkan sagen.

„Wir brauchen Hilfe“, sagte ihr ehemaliger Mentor. „Ich bezweifle, dass Dorrien allein viel ausrichten kann.“

„Ich rufe Lady Vinara.“

Zu Soneas Unmut hörte sie dann, wie der Krieger das Oberhaupt der Heiler rief.

- Vinara!

- Balkan?

Ein Bild der sich vor ihm abspielenden Szene blitzte in ihrem Geist auf. Sie selbst kniete auf dem Boden neben Akkarins leblosen Körper, ihre Hände blutverschmiert, Dorrien an ihrer Seite. Ihr eigener Gesichtsausdruck ließ sie erschaudern. Er sieht mich nur so, weil er mich fürchtet, fuhr es ihr durch den Kopf. Das bin nicht ich.

- Kommt her so schnell Ihr könnt. Und bringt ein paar Heiler mit. Sonea hat einen Zusammenbruch. Sie hat Lord Rothens Sohn überredet, ihr zu helfen Akkarin wiederzubeleben. Ich fürchte, sie verliert die Kontrolle.

- Ich bin unterwegs.

Unter anderen Umständen hätte Sonea die Augen verdreht. Jetzt verfluchte sie Balkan im Stillen für sein mangelndes Feingefühl. Sie fand, anstatt sie für unzurechnungsfähig zu erklären, sollte er ihr lieber helfen. Tat er es nicht, weil er ihr und Akkarin zürnte, weil sie es gewagt hatten zurückzukehren, oder er hatte seine Magie bereits erschöpft?

Ein Seufzen unterdrückend konzentrierte sie sich erneut. Sie war nicht unzurechnungsfähig, sie hatte einen Plan. Und nur ihr eigener Tod würde sie davon abhalten, ihn zu verfolgen.

Mit Dorriens Magie errichtete sie eine künstliche Barriere auf Akkarins Haut. Dann ließ sie die Kraft, die Dorrien ihr sandte, langsam in Akkarins Körper fließen. Zu ihrer Verzweiflung musste sie jedoch feststellen, dass sie immer wieder aus seinem Körper sickerte und sich unter der Barriere ansammelte, von wo aus Sonea sie erneut in seinen Körper zwang.

„Es funktioniert nicht“, stellte Dorrien fest. „Es ist, wie ich dir gesagt habe: Sein Körper kann die Magie nicht halten.“

„Aber es ist doch eine Barriere da!“, protestierte Sonea, nicht begreifend, warum es nicht funktionierte.

„Die sein Körper nicht annimmt. Sieh doch, Sonea: Sie ist da, aber nicht eins mit seinem Körper, weil seine Präsenz fehlt.“

„Vorhin sagtest du noch, es wäre umgekehrt“, warf sie ihm vor.

Dorrien seufzte. „Ohne natürliche Barriere kann die Präsenz eines Menschen nicht im Körper bleiben, aber die natürliche Barriere existiert nur, wenn eine Präsenz da ist. Das eine kann nicht ohne das andere existieren.“

„Dann erklär mir, wie ich seine Präsenz finden kann!“, verlangte sie.

„Das ist nicht möglich.“ Bedauernd schüttelte Dorrien den Kopf. Er löste seine Hand von ihrer Schulter. „Es tut mir leid, Sonea.“

Er wollte sich erheben, doch Sonea bekam seinen Arm zu fassen.

„Bleib“, sagte sie leise. „Du hast noch genug Magie, um mir zu helfen.“ Sie spürte, wie die Tränen zurückkehrten und der Schmerz sie zu überwältigen drohte. Aber sie war noch nicht am Ende. „Es gibt noch etwas, das ich versuchen muss.“

„Sonea, ich würde alles für dich tun“, sagte Dorrien leise. „Aber das hier ist wirklich zu viel verlangt.“

„Je länger wir darüber streiten, desto geringer werden seine Chancen“, entgegnete sie hart.

Dann durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn er ihr nicht helfen wollte, weil er sie noch immer liebte? Weil er sie für sich wollte? Aber er wäre dumm zu glauben, er würde ihre Zuneigung gewinnen, indem er ihr seine Hilfe verweigerte. Allerdings würden sich ihre Gefühle nicht ändern, nur weil er ihr half, Akkarin zu retten. Er war nur ein Freund, sie hatte ihn nie geliebt.

Sonea blieb keine Zeit, um über die Grausamkeit ihrer Worte nachzudenken. Sie waren bereits heraus, bevor sie sich ihrer ganz bewusst geworden war.

„Wenn du mich jetzt im Stich lässt, werde ich dir das nie verzeihen.“

Dorrien betrachte sie mit einem Blick, der sie erschaudern ließ. Dann legte er wortlos seine Hand wieder auf ihre Schulter und kehrte an ihre Seite zurück.

„Egal, was passiert, du musst sein Herz weiter bewegen und die Barriere stärken“, erklärte sie darum bemüht, sich von seiner Reaktion nicht beirren zu lassen. Für Schuldgefühle würde sie noch genug Zeit haben, wenn sie hier fertig war. „Ich werde mich nicht darum kümmern können.“

Sie spürte, wie eine seltsame Ruhe sie überkam. Es war der einzige Weg, der ihr noch blieb, und sie hatte nichts mehr zu verlieren, wenn sie ihn betrat.

Hab Vertrauen, hatte Akkarin gesagt, bevor sie das Büro verlassen hatten, um sich den letzten drei Ichani zu stellen.

Die ganze Zeit sie gedacht, dass sie ihm vertrauen sollte, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich selbst vertrauen musste, wenn das hier gelingen sollte.

Und dann wusste Sonea mit endgültiger Klarheit, was sie tun musste.

Es war etwas, das nur sie tun konnte.

Sie holte tief Luft, legte die Hand auf die Wunde in Akkarins Brust und konzentrierte sich auf das Dahinter. Dann schloss sie die Augen und ließ los. Ihre Lungen schienen zu kollabieren und sie glaubte zu fallen. Es fühlte sich so viel anders an, wie wenn sie sich in ihrer eigenen Kraftquelle ausdehnte und ihren Geist ausstreckte, um die Kraft eines anderen zu nehmen.

Aber sie hatte ihrem Geist auch noch nie befohlen, ihren Körper zu verlassen.

Sonea spürte, wie sie in eine riesige Leere gesaugt wurde. Irgendwo in weiter Ferne spürte sie noch immer Dorriens Hand auf ihrer Schulter. Sie prägte sich dieses Gefühl gut ein, um wieder zurückzufinden. Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen würde, sie wusste nur, sie musste unbedingt den Ort von Akkarins magischer Quelle finden, wenn sie ihn retten wollte. Irgendetwas ließ sie glauben, dass sie so auch seine Präsenz finden konnte. Und bis dahin musste sie ihm eben ihre eigene leihen.

Obwohl Akkarin ihr die Quelle seiner Kraft nie gezeigt hatte, hatte Sonea eine Ahnung davon erhalten, als sie für einen Augenblick wirklich eins gewesen waren. Auf diesem Felsen hinter dem Wasserfall hatten ihre Gedanken sich für einen kurzen Moment verbunden und sie hatte gefühlt, was er gefühlt hatte. Die Erinnerung schmerzte, doch Sonea zwang sich, sie noch einmal zu erleben. Hinter dem Rausch von Gefühlen, den sie dabei erlebt hatte, glaubte sie, einen Hinweis darauf erhalten zu haben, was seine Präsenz, seinen Geist oder was es auch immer war, ausmachte. Sie war sicher, sie hatte ihn am Ende besser gekannt als jeder andere. Wenn sie versagte, dann war er für immer verloren.

Ihren Schmerz zurückdrängend beschwor Sonea ihre Erinnerungen an jenen Tag herauf. An seine Lippen auf ihrer Haut, seinen Duft und an das Gefühl, als er ihn ihr gewesen war und ihre Gedanken sich miteinander verbunden hatten. Davon angetrieben beschwor sie weitere Erinnerungen herauf, an die Nacht in dem kleinen Tal in den Bergen Sachakas, an sein Lächeln, als sie in dieser Höhle erwacht war, an das Gefühl, als er das Stück Sackleinen aus ihren Haar gezogen hatte, und an seinen Blick, als sie gemeinsam zu ihrer Anhörung gegangen waren. Und an sein Geständnis.

Und dann verstand sie. Es war einfacher, als sie gedacht hatte. Doch als sie den großen, leeren Raum visualisierte, in dem seine Kraft hätte ruhen sollen, befiel sie Entsetzen. Wie sollte sie das wieder hinkriegen?

Nicht verzweifeln, ermahnte sie sich. Du hast es fast geschafft. Du darfst jetzt nicht aufgeben.

Sonea formte eine kleine Kugel aus ihrer eigenen Magie, umhüllte sie mit einer Barriere, und sandte sie in den leeren Raum, der sich wie ein riesiger Abgrund vor ihr auftat. Zu ihrer Erleichterung blieb die Kugel stabil und so gab sie nach und nach mehr Energie hinein. Als sie glaubte, die Magie würde ausreichen, trat sie in den Energieball und dehnte sich darin aus, als wäre es ihre eigene Magie. Jetzt hatte sie die Kontrolle über seinen Körper. Es war das seltsamste Gefühl. Es fühlte sich so viel bewusster an, als ihre Versuche, ihn zu heilen.

Allmählich zog Sonea Energie aus der Kugel und leitete sie in jede Faser von Akkarins Körper. Es war nicht kompliziert, doch es kostete sie eine Menge der Kraft, die Dorrien ihr kontinuierlich sandte. Aber es war, wie sie gehofft hatte, ihr Geist hatte die Kontrolle über seinen Körper erlangt.

Jetzt spürte sie, wie Dorrien Akkarins Herz zum Schlagen brachte. Es fühlte sich an, als wäre es ihr Eigenes. Sonea tat einen tiefen Atemzug. Das Gefühl war überwältigend, als hätte sie zu lange die Luft angehalten und eine berauschende Freude ergriff von ihr Besitz. Sie ahnte, sie hatte es fast geschafft. Sie tat noch einen Atemzug und noch einen weiteren, doch sie traute sich noch nicht, es seinen Körper von sich aus tun zu lassen.

Zuerst musste sie ihn zurückholen.

Hoffentlich habe ich mich nicht in dieser Sache getäuscht.

Ein weiteres Mal beschwor sie die Erinnerungen herauf. Dieses Mal waren sie jedoch weniger schmerzhaft. Da war jetzt eine größer werdende Hoffnung, alles könne sich am Ende doch noch zum Guten wenden.

Von neuem Mut erfüllt, projizierte sie ihre Gedanken auf ihren Blutring. Der Glasstein enthielt einen Abdruck von Akkarins Identität. Wenn seine Präsenz sich noch nicht aufgelöst hatte, würde er sie dadurch hören können.

Und es war so viel privater.

- Akkarin!, rief sie in die Leere hinein. Kannst du mich hören?

Keine Antwort.

- Akkarin, wo bist du?

Noch immer nichts.

Sonea verdrängte ihre Frustration und die erneut aufkeimende Furcht. Sie musste es weiter versuchen. Sie durfte nicht aufgeben. Nicht, jetzt wo sie schon so weit gekommen war.

- Bitte komm zurück. Ich brauche dich.

Nichts. Stimmte das denn überhaupt? Brauchte sie ihn wirklich?

Nein. Sie wusste, dass sie ihn nicht brauchte. Sie würde auch ohne ihn zurechtkommen. Und warum sollte ihn das überhaupt kümmern? Es ging nicht darum, ob sie ihn brauchte. Es war die ganze Zeit nicht darum gegangen. Sie würde ihn schon besser von sich überzeugen müssen. So, wie sie es die ganzen letzten Wochen über getan hatte. Der Gedanke daran ließ sie unwillkürlich lächeln.

Sag es mir, wenn das hier vorbei ist.

Und sie verstand. Es war vorbei, sie war am Ende. Es gab jetzt nur noch eines zu tun.

Während sie spürte, wie die Kraft, die Dorrien ihr sandte, schwand, rief sie ihn ein letztes Mal.

- Akkarin! Ich liebe dich!

Und wie sie das tat. Das Gefühl war so schmerzhaft und so süß zugleich, dass es sie zu zerreißen drohte. Ich schenke dir meine ganze Liebe. Für immer.

Sekunden vergingen.

Sekunden, die ihr wie Jahre erschienen.

Sekunden, in denen sie so angespannt auf etwas lauschte, von dem sie nicht wusste, was es war, dass sie darüber vergaß, für seine Atmung zu sorgen.

Dann traf sie eine unsichtbare Kraft von scheinbar überall, machte klar, dass sie nicht hierher gehörte, und trieb sie aus seinem Körper heraus. Ihre eigenen Lungen füllten sich so schnell mit Luft, dass es schmerzte und sie einen heiseren Schrei ausstieß.

Sonea schlug die Augen auf. Sie lag quer über Akkarins Oberkörper. Ihr Herz schlug viel zu schnell und unregelmäßig.

Sie spürte, wie irgendetwas sie emporhob. Sie wollte um sich schlagen, weil sie nicht wieder von ihm weggezogen werden wollte. Doch dann sank sie wieder herab. Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht von oben kam. Da war niemand, der sie von Akkarin wegziehen wollte.

Es kam von unten.

Plötzlich erkannte sie, dass es nicht allein ihr Herz war, das sie schlagen spürte. Sie richtete sich ein wenig auf und betrachtete den Mann unter ihr fassungslos.

Akkarin tat einen tiefen Atemzug, seine Augen waren jedoch geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war ungewohnt friedlich, so als würde er schlafen.

Bin das wirklich ich gewesen?

Sonea brach erneut in Tränen aus, doch dieses Mal waren es Tränen der Freude.

„Sie hat das Unmögliche geschafft“, hörte sie jemanden sagen. Die Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.

Hände griffen nach ihr und zogen sie auf die Beine. Plötzlich waren überall Menschen. Dann war Rothen neben ihr und fasste sie sanft am Arm. Als Sonea den Kopf zu ihm wandte, entdeckte sie eine Schramme auf der Stirn, die noch blutete. Sein Gesichtsausdruck war gequält, doch er lächelte. Bei seinem Anblick verspürte sie ein plötzliches Schuldgefühl.

„Tut mir leid, dass ich Euch angegriffen habe“, sagte sie mit einem Anflug von Verlegenheit. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“

„Es ist in Ordnung, Sonea“, erwiderte er ihren Arm drückend.

„Danke“, flüsterte sie.

Lady Vinara tauchte von irgendwo auf und kniete sich neben Akkarin. „Bringt ihn sofort ins Heilerquartier“, befahl sie.

Zwei Männer in grünen Roben erschienen, hoben Akkarin mit Magie empor und schlugen den Weg zum Heilerquartier ein.

Lady Vinara wandte sich zu Sonea. „Du gehst dich jetzt ausschlafen“, sagte sie streng. „Später werden wir darüber reden, wie du das gemacht hast. Lord Dorrien, Ihr werdet Euch auch sofort hinlegen.“

Sonea warf einen Blick zu Rothens Sohn, der noch immer auf dem staubigen Boden kniete und ins Leere starrte. Benommen wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Robe die Tränen aus dem Gesicht und blinzelte in die tiefstehende Abendsonne.

„Wird Akkarin sich wieder erholen?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete Lady Vinara knapp. „Das kommt darauf an, wie lange er tot war.“

Sonea nickte. Sie wusste, dass der Körper vom Einsetzen des Todes an zu zerfallen begann. Sie konnte nur hoffen, dass sich die Schäden von alleine reparierten oder die Heiler dazu in der Lage waren. Sie brauchte nur zu den länger werdenden Schatten zu sehen, um zu wissen, dass zwischen dem Kampf und jetzt mehr als nur ein paar Minuten vergangen waren.

Ich habe getan, was ich konnte, sagte sie sich. Alles andere liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen.

„Seine Kraftquelle“, sagte sie. „Ich habe sie geschützt, damit die Magie nicht wieder herausfließt. Und um seine Haut ist eine künstliche Barriere. Wie ein innerer Schild. Das zerfetzte Gewebe in seiner Brust wird von magischen Barrieren gehalten, weil ich es nicht heilen konnte.“

„Wir werden uns darum kümmern“, versprach das Oberhaupt der Heiler. „Geh dich jetzt ausruhen.“

„Ja, Mylady.“ Die Welt vor Soneas Augen begann zu verschwimmen. Sie spürte, wie jemand sie auffing, doch sie schien weiter zu fallen. Das Letzte was sie sah war Dorrien, der ihren Blick mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verbitterung erwiderte.

Dann wurde die Welt dunkel.

 

***

Kapitel 1 - Wieder zuhause

 

 

 

TEIL 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1 – Wieder zuhause

 

 

Rastlos schritt Sonea in Rothens Wohnzimmer auf und ab. Ihre schwarze Robe wirbelte bei jeder ihrer Wendungen um ihren kleinen schlanken Körper, was ihr etwas Energisches, beinahe Zorniges verlieh.

„Wann werden sie mich endlich zu ihm lassen?“, fragte sie ungeduldig. „Ich warte schon seit Tagen!“

Rothen saß in einem Sessel am Fenster, eine Tasse Sumi in der Hand. Seine Dienerin war damit beschäftigt, den Staub von seinen Bücherregalen zu wischen. Bei Soneas Worten blickte sie erschrocken auf. Rothen wusste, sie fürchtete Sonea weniger auf Grund der schrecklichen Macht, über die sie gebot, als wegen ihres momentan ständig wechselnden Temperaments.

Seit seine ehemalige Novizin wieder bei ihm wohnte, war Rothens Dienerin ihr gegenüber so herzlich und unbefangen, als wären die letzten Wochen nie geschehen. Wo andere ihr mit Furcht oder Misstrauen begegnet wären, glaubte Rothen Bewunderung in Tanias Stimme zu hören, wann immer sie sich mit Sonea unterhielt. Doch sobald Soneas Stimmung kippte, wurde sie plötzlich unsicher und ängstlich.

Tania war eine der wenigen, die Sonea ohne Furcht und Misstrauen begegneten, wusste Rothen. Viele Magier und Novizen, aber auch ihre auf dem Gelände der Gilde lebenden Angehörigen und die Diener, fürchteten das Mädchen, dem Rothen sich vor so langer Zeit angenommen hatte. Und das aus gutem Grund: Sonea war eine schwarze Magierin. Sie besaß das Wissen, sich mit der Magie anderer zu stärken, bis sie um ein Vielfaches stärker als ein Gildenmagier war. Doch entgegen allen Befürchtungen verwendete Sonea diese Macht nicht für böse Zwecke, sondern um Kyralia vor feindlich gesonnenen schwarzen Magiern zu beschützen.

Nachdenklich betrachtete Rothen seine ehemalige Novizin. Ihr Gesicht wirkte blass und angespannt, was von der Farbe ihrer Robe unterstrichen wurde. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, die sie gleichsam nachdenklich und grimmig wirken ließ. Hätte Rothen nicht den Grund für ihr Verhalten gekannt, so hätte er Sonea möglicherweise gefürchtet. Tatsächlich glaubt er jedoch, ihre Situation besser zu verstehen als jeder andere.

„Hab Geduld.“ Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er ihr dies in den letzten Tagen gesagt hatte. „Die Heiler werden dich bestimmt bald zu ihm lassen.“

Sonea schnaubte.

„Das sagt Ihr andauernd. Allmählich fange ich an, es nicht mehr zu glauben.“ Sie hatte das Zimmer erneut durchquert und blickte ihn finster an. „Seit einer Woche warte ich auf eine Nachricht von den Heilern. Ich kann nicht schlafen, ich kann nichts essen – ich halte das nicht mehr aus!“

In einer jähzornigen und verzweifelten Bewegung warf sie die Arme in die Höhe. Tania zuckte kurz zusammen und wandte sich dann wieder Rothens Bücherregalen zu.

„Du wirst Akkarin erst besuchen dürfen, wenn er aufwacht“, sagte Rothen unbeeindruckt von ihrem Ausbruch. Er bezweifelte, sie würde ihre neue Macht benutzen, um unbefugt das Heilerquartier zu betreten. Dafür fürchtete sie sich viel zu sehr vor den Konsequenzen.

In der einen Woche, die vergangen war, seit Sonea in dem Zimmer, das einst seinem Sohn gehört hatte, aus ihrer magischen Erschöpfung erwacht war, hatte sie Rothens Geduld auf eine harte Probe gestellt. Die meiste Zeit über war sie stiller und nachdenklicher, als Rothen es von ihr kannte. Doch dieser Gemütszustand konnte in wenigen Augenblicken in Ungeduld und Jähzorn umschlagen oder – was Rothen noch schwerer ertragen konnte – in Furcht und Besorgnis.

Dann wiederum war Sonea wie ausgewechselt und erzählte ihm von Akkarin. Es war offenkundig, dass dies ihr momentanes Lieblingsthema war, und Rothen ließ es mit aller Nachsicht wieder und wieder über sich ergehen, weil ihr das Reden offenkundig guttat. Wenn sie von Akkarin sprach, leuchteten ihre Augen und ihr Gesicht war weniger blass. Ihre Verliebtheit war nahezu ansteckend und allmählich begriff Rothen, warum sie sich zu diesem Mann so sehr hingezogen fühlte.

Nur wenige Wochen zuvor hätte ihn der Gedanke, dass Sonea, die wie eine Tochter für ihn war, eine intime Beziehung mit Akkarin, dem schwarzen Magier und ehemaligen Oberhaupt der Gilde, führen könnte, zutiefst entsetzt. Akkarin hatte Rothen wieder und wieder Gründe geliefert, ihn zu hassen und die meisten davon hatten mit Sonea zu tun.

Akkarin hatte ihm Sonea nicht nur weggenommen und ihn mit ihrem Wohlergehen erpresst, er hatte sie verdorben. Sie hatte schwarze Magie erlernt, damit getötet – und sie war ihm gefolgt, als die Gilde ihn fortgeschickt hatte.

Zuerst hatte Rothen geglaubt, Akkarin habe sie dazu mit der absurden Geschichte, die er bei seiner Anhörung der Gilde aufgetischt hatte, manipuliert. Seine Geschichte war so absurd gewesen, dass Rothen und die anderen Magier erst erkannt hatten, dass er die Wahrheit gesprochen hatte, als es bereits zu spät gewesen war.

Während schwarze Magie in Kyralia seit Jahrhunderten verboten war, bestand das benachbarte Sachaka aus einer Kultur schwarzer Magier, die über die nichtmagische Bevölkerung herrschten. Seit dem letzten Krieg war das Land isoliert und seine Bewohner schürten ihren Hass auf die Gilde, die einen nicht geringen Teil des Landes in eine Wüste verwandelt hatte. Die Sachakaner waren daher unwissen darüber gewesen, dass die Gilde schwarze Magie zweihundert Jahre später verboten hatte. Eine kleine Gruppe von Magiern, die als Ausgestoßene in den Ödländern Sachakas lebte, hatte indes die Wahrheit herausgefunden, als Akkarin als junger Mann das Land in einem Anflug von Abenteuerlust bereist hatte. Seitdem waren immer wieder einzelne schwarze Magier nach Kyralia gekommen, um die Gilde auszuspionieren. Akkarin hatte die Eindringlinge im Geheimen aufgespürt und getötet, was ohne das Wissen, sich mittels schwarzer Magie zu stärken, unmöglich gewesen wäre.

Die Offenlegung von Akkarins Geheimnis hatte einen Skandal ausgelöst, der bis über die Landesgrenzen hinaus gedrungen war. Und seitdem wussten die Sachakaner, dass die Gilde schwach war.

Enttäuscht und wütend über den Betrug ihres Anführers hatte die Gilde Akkarin seines Amtes enthoben und ihn in das Land ihrer Feinde verbannt. Sonea hatte eine zweite Chance erhalten, die sie jedoch wütend ausgeschlagen hatte.

Wenn Ihr den Hohen Lord Akkarin ins Exil schickt, müsst Ihr mich mit ihm schicken, hatte sie bei ihrer Anhörung wütend erklärt. Denn dann ist er vielleicht noch am Leben und kann Euch helfen, wenn Ihr wieder zur Vernunft kommt.

Der König hatte ihre Rebellion nicht geduldet und sie ohne zu zögern ebenfalls verbannt.

Rothen hatte vergebens versucht, Sonea umzustimmen. Die Gilde schickt ihn in den Tod, hatte sie unter Tränen gesagt. Zu zweit haben wir eine Chance, wo einer scheitern würde. Die Gilde muss die Wahrheit für sich herausfinden.

In den darauffolgenden Wochen war Rothen fast krank vor Sorge um Sonea gewesen. Er hatte gefürchtet, was Akkarin mit ihr tun könnte, so wie er gefürchtet hatte, dass sich seine Geschichte bewahrheiten könnte. Wenigstens habe ich erst hinterher von ihren Gefühlen für ihn erfahren, dachte er trocken.

Akkarin und Sonea waren keine zwei Wochen in Sachaka gewesen, als sich Akkarins Geschichte als wahr herausgestellt hatte. Bei dem darauffolgenden Angriff war die Gilde nur knapp ihrer Vernichtung entkommen, was sie einzig der Tatsache zu verdanken hatten, dass Akkarin und Sonea im Geheimen zurückgekehrt und sich den Gegnern gestellt hatten.

Wenn Rothen daran dachte, was Sonea alles aufgegeben hatte und welche Gefahren sie überstanden hatte, um Kyralia zu retten, empfand er großen Stolz und Bewunderung. Mit ihrer üblichen sturen Entschlossenheit und ihren starken Moralvorstellungen hatte Sonea eine schwere, aber richtige Entscheidung getroffen.

Stirnrunzelnd trank er einen Schluck Sumi. Er wusste, wie leidenschaftlich Sonea für die Menschen einstand, die ihr am Herzen lagen. Nichts für Akkarins Genesung tun zu können, musste schwer zu ertragen sein. Rothen hatte mit angesehen, wie sie fast den Verstand verloren hatte, als Akkarin im Kampf gegen die letzten drei Invasoren vor den Stufen der Universität gestorben war.

Erst da war ihm gedämmert, dass ihre Gefühle für Akkarin weit über den Respekt vor seiner Person hinausgingen. So weit, dass ihr sehr leichtsinniger Versuch, ihn wiederzubeleben, Sonea selbst an den Rand des Todes gebracht hatte.

Zuzusehen, wie Sonea versuchte, ihren Geliebten zu retten, hatte nie ganz verheilte Wunden wieder aufgerissen. Durch die Erinnerungen an Yilaras Tod und an die Hilflosigkeit und die Verzweiflung, die er empfunden hatte, weil die Heiler ihr nicht hatten helfen können, hatte er begriffen, dass Sonea diesen Mann liebte. Die Bestätigung hatte er erhalten, als sie wenige Tage später in seinem Apartment aus ihrer magischen Erschöpfung erwacht war.

Sein Name war ihr erstes Wort gewesen, kaum dass sie die Augen aufgeschlagen hatte. „Wo ist er?“, hatte sie Rothen gefragt. „Ich muss zu ihm!“

„Er ist noch im Heilerquartier“, hatte Rothen geantwortet. „Aber die Heiler lassen niemanden zu ihm.“

„Warum?“, hatte sie einen Ausdruck von Furcht in ihren dunklen Augen zu wissen verlangt. „Was ist mit ihm?“

Realisierend, dass es keinen Sinn machte, es ihr zu verschweigen, hatte Rothen ihr die Wahrheit gesagt. Behutsam hatte er ihr erklärt, dass Akkarin auch drei Tage nach der Schlacht noch nicht aus seiner magischen Erschöpfung erwacht war und dass sich seine Magie nur sehr langsam regenerierte. Die Kraft, die Sonea ihm gegeben hatte, hatte gerade ausgereicht, um ihm am Leben zu erhalten. Die Heiler wussten nicht, was sie mit ihm tun sollten, weil es so einen Fall in der Geschichte der Gilde nie zuvor gegeben hatte.

Seine Worte hatten Sonea schockiert und sie war kurz davor gewesen, in Tränen auszubrechen.

„Sonea, was ist in Sachaka passiert?“, hatte er sie vorsichtig gefragt.

Sie war ihm ausgewichen, doch die plötzliche Röte auf ihren Wangen hatte genügt, um Rothens Verdacht zu bestätigen. Und nachdem er Stillschweigen gelobt hatte, hatte sie ihm schließlich alles erzählt.

Seit jenem Tag hatte Rothen alles versucht, um Sonea aufzumuntern. Doch das wurde mit jedem Tag zu einer größeren Herausforderung, da Sonea sich gegen jegliche Art von Zerstreuung wehrte und Akkarins Gesundheitszustand unverändert blieb. Sogar einen Spaziergang durch den Wald des Universitätsgeländes hatte sie entschieden abgelehnt. Rothen glaubte, Sonea hätte nicht einmal in die Stadt gewollt, hätte die Gilde ihr erlaubt, das Gelände zu verlassen. Nein, sie wollte dort sein, wo sie Neuigkeiten über Akkarins Zustand sofort erfuhr.

Obwohl Rothen reichlich Erfahrung im Umgang mit schwierigen Novizen besaß, hatte ihn nichts davon auf das hier vorbereiten können. Sonea verhielt sich alles andere als erwachsen und vernünftig, so wie er es von ihr gewohnt war.

„Was, wenn er nie mehr aufwacht?“, fragte Sonea zum wiederholten Mal, während sie den Raum erneut durchquerte.

Die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen war verschwunden. Mit einem Mal wirkte sie sehr klein und zerbrechlich.

Rothen unterdrückte ein Seufzen. Das war Soneas größte Furcht. Und sie wuchs mit jedem Tag, den Akkarin nicht aufwachte. Sonea fürchtete, am Ende doch versagt zu haben. Aber es war mehr als das. Sie fürchtete eine ungewisse Zukunft. Sie war eine Ausgestoßene und verachtet und gefürchtet für die Macht, über die sie gebot. Ohne Akkarin würde sie damit auf sich gestellt sein. Aber da war auch bedingungslose Liebe. Rothen konnte es in ihren Augen sehen. Doch nicht selten schien sie deswegen den Tränen nahe, wenn auch sie in seiner Gegenwart niemals weinte. Es quälte ihn, ihren Schmerz mitzuerleben und nicht mehr tun zu können, als einfach nur da zu sein, weil er wusste, dass sie ihn zurückweisen würde.

„Ich bin sicher, dass er wieder aufwacht“, antwortete er ruhig und wünschte wiederholt, er könnte im Heilerquartier darum bitten, dass sie sofort benachrichtigt würden, wenn sich an Akkarins Zustand etwas änderte. Aber er war an das Versprechen gebunden, das er Sonea gegeben hatte. Sie empfand es als falsch, ihre Beziehung ohne Akkarins Zustimmung und hinter seinem Rücken bekanntzugeben. Rothen musste ihre Wünsche respektieren, wenn er ihr Vertrauen nicht verlieren wollte.

„Was, wenn sie nicht wollen, dass er wieder aufwacht, weil sie sich vor dem fürchten, was er dann tun könnte?“, fragte sie.

Sie – das war die Gilde, die Sonea wieder zu ihrem Feind erklärt hatte. Es war wie damals, als die Magier nach ihr gesucht hatten und sie geglaubt hatte, diese wollten sie töten. Es hatte Rothen sehr viel Geduld und Kraft gekostet, Sonea vom Gegenteil zu überzeugen und sich den Magiern anzuschließen. Jetzt schien es, als stünde er erneut vor dieser frustrierenden Aufgabe.

„Vielleicht geben sie ihm ein Schlafmittel.“ Sonea hielt inne und ihre Augen weiteten sich. „Dürfen sie das überhaupt?“

„Ich bezweifle, dass sie das dürfen“, sagte Rothen vorsichtig. „Jeder Heiler muss einen Eid schwören, der sie oder ihn dazu verpflichtet, alles in seiner Macht stehende für die Genesung eines Patienten zu tun, egal welcher Herkunft oder Gesinnung er ist.“

Offenkundig nicht überzeugt verfinsterte sich ihre Miene weiter und sie schnaubte erneut. „Vielleicht ist er auch schon seit Tagen wach, aber sie lassen mich nicht zu ihm, weil sie glauben, wir wollten die Gilde übernehmen.“

Rothen stellte seine Tasse auf einen kleinen Tisch. „Sonea, das ist Unsinn“, sagte er. „Und das weißt du auch. Wenn Akkarin aufwacht, wird sich diese Nachricht schneller in der Gilde verbreiten, als der Harrel flüchten kann. Glaub mir, wir wüssten es längst.“

Trotzdem verstand er Sonea nur zu gut. Sie fürchtete, man würde sie und Akkarin erneut verbannen oder sie hinrichten, weil sie sich sich gegen das Urteil der Gilde aufgelehnt und zurückgekehrt waren. Vergeblich hatte Rothen versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Nachdem die Gilde nur knapp der Vernichtung durch eine Handvoll schwarzer Magier aus einem feindlich gesinnten Land entronnen war, mussten selbst die konservativsten Magier einsehen, dass sie auf Akkarin und Sonea angewiesen waren. Mittlerweile wurden bereits Maßnahmen und Gesetze diskutiert, die eine Wiederaufnahme der beiden ermöglichen sollten. Die endgültige Entscheidung würde in wenigen Tagen fallen. Auch wenn Akkarin und Sonea in der Gilde auf wenig Gegenliebe stoßen würden, hielt Rothen es für unwahrscheinlich, dass sie zurück nach Sachaka mussten.

Sonea weigerte sich jedoch, seinen Worten zu glauben. Offenkundig war sie nicht bereit, Vernunft anzunehmen.

Hoffentlich kommt sie zur Besinnung, wenn die Heiler sie endlich zu Akkarin lassen, dachte er in einem Anflug von Resignation.

Und er hoffte, das würde bald sein.

 

 

***

 

Seit er zum Zweiten Botschafter der Gilde von Elyne ernannt worden war, war Dannyl nur aus gelegentlichen dienstlichen Gründen nach Imardin zurückgekehrt. Bei jedem seiner Besuche hatte er sich hier indes weniger zuhause gefühlt. Sein Freund Rothen vermochte daran nicht viel zu ändern. Ebenso wenig wie das betagte Ehepaar Yaldin und Ezrille, mit dem er und Rothen gleichsam befreundet waren.

In den zwei Jahren, die Dannyl nun schon in Elyne lebte, war sein Apartment in der Gilde unverändert geblieben. Die Apparatur, mit der er einst versucht hatte, Gedankenbilder dauerhaft auf Papier festzuhalten, nahm noch immer einen Großteil seines Wohnzimmers ein. Sein Diener hatte sie mit Tüchern abgedeckt, um sie vor Staub zu schützen. Während seiner Besuche hatte Dannyl sie kein einziges Mal angerührt. Es fiel Dannyl schwer, in sich den jungen Mann zu sehen, der einst so besessen von seiner Forschung gewesen war. Elyne hatte ihn verändert, einen anderen Menschen aus ihm gemacht.

In Elyne hatte er aufgehört, sich selbst zu verleugnen.

Seit einem Monat saß Dannyl nun in Imardin fest. Ursprünglich war er gekommen, um eine Gruppe von elynischer Rebellen zu überführen. Die drohende Invasion schwarzer Magier aus Sachaka hatte ihn jedoch dazu bewogen, zu bleiben und die Gilde in ihrem Kampf zu unterstützen.

Nach der Schlacht hatte Dannyl der Gilde geholfen, sich neu zu organisieren und die Aufräumarbeiten in der Stadt zu erledigen. Im Inneren Ring, für den man Dannyl eingeteilt hatte, war die Verwüstung am größten. Viele der prächtigen Herrenhäuser waren mit Magie gebaut und hatten den Sachakanern in der Schlacht als magische Quelle gedient. Als Alchemist hatte Dannyl genug über die Konstruktion von Gebäuden mit Magie gelernt, so dass er die Anweisungen der auf Architektur spezialisieren Magier verstehen und ausführen konnte, während die niederen Arbeiten von freiwilligen Helfern aus der Stadt erledigt wurden.

An diesem Tag hatte er sich jedoch freigenommen, um seinen Assistenten und Gefährten zu besuchen, der bei Verwandten in der Stadt untergekommen war.

Dannyl seufzte. Tayend zu sehen, hatte ihm gut getan. Der Besuch war jedoch nur kurz ausgefallen. In Elyne, wo die Menschen freizügiger und toleranter waren, wurden Beziehungen wie die seine toleriert und häufig auch akzeptiert. Wie in so vielen anderen Dingen waren Kyralier jedoch auch in sexueller Hinsicht konservativ und prüde, und das zwang Dannyl, seine Beziehung geheimzuhalten. Er wusste, wenn sein Geheimnis herauskam, würde seine Karriere als Botschafter ein jähes Ende finden. Möglicherweise würde die Gilde in sogar zurück nach Imardin beordern und ihm verbieten, Tayend zu sehen. An die gesellschaftlichen Folgen für sich und seine Familie wollte er erst gar nicht denken.

Dennoch wollte Dannyl keinen Tag seines Lebens mehr ohne Tayend sein. Lange Jahre hatte er seine Natur verleugnet, bis er schließlich aufgehört hatte, sich ihrer bewusst zu sein. Erst durch den rothaarigen Gelehrten war dieser Bann durchbrochen worden und er hatte begonnen zu akzeptieren, was er war. Auch wenn Dannyl nun ein heimliches Doppelleben führte, so hatte er dies keinen einzigen Tag bereut. Durch Tayend und die Akzeptanz seiner Natur war sein Leben so viel reicher geworden, dass er hin und wieder sogar glaubte, zuvor nicht gelebt zu haben.

Der Gedanke an seinen Gefährten ließ Dannyl mehr denn je wünschen, dass die Gilde ihn bald zurück nach Capia schickte. Elyne war sein Zuhause. Das Land, das Klima und die Mentalität der Menschen passten besser zu ihm, als das kalte, verregnete Kyralia mit seinen strengen gesellschaftlichen Regeln. Dannyl fühlte, dass er nicht mehr hierher gehörte.

Und dort war es leichter, sich mit Tayend zu treffen, ohne das Fragen gestellt wurden.

Es klopfte.

Dannyl streckte seinen Willen nach dem Türknauf aus und ließ die Tür aufschwingen.

„Herein!“

Ein Diener trat ein und verneigte sich respektvoll. „Botschafter Dannyl, Lord … Administrator Osen wünscht Euch in seinem Büro zu sprechen“, teilte er ihm mit. „Das heißt im Büro des früheren Administrators Lorlen.“

Anscheinend brauchen selbst die Diener Zeit, um sich an die vielen neu besetzten Posten in der Gilde zu gewöhnen, fuhr es Dannyl durch den Kopf.

„Hat er gesagt, worum es sich handelt?“, fragte er.

Der Diener nickte. „Es geht um Euren Posten in Elyne.“

Dannyl zuckte instinktiv zusammen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es die höheren Magier ihn zum Gespräch baten. Wie hatten sie von ihm und Tayend erfahren? War ihm auf dem Weg in die Stadt jemand gefolgt?

„Danke“, sagte er. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“

Während er von den Magierquartieren zur Universität schritt, spürte Dannyl, wie sichdie Furcht um seine Eingeweide krallte und er bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor. Es gab kaum etwas, das er mehr fürchtete, als dass die Gilde ihn für immer nach Imardin zurückzubeorderte, um ihn von Tayend zu trennen.

Bleib ruhig, ermahnte er sich. Du weißt nicht, ob es wirklich um dein Privatleben geht. Vielleicht ist es wirklich rein offizieller Natur.

Als er eintrat, runzelte er überrascht die Stirn. Er hatte erwartet, bei der Niederlegung seines Amtes alle höheren Magier vorzufinden. Außer dem neuen Administrator der Gilde, Osen, fand er nur Lord Balkan – den inoffiziellen neuen Hohen Lord – und Auslandsadministrator Kito vor. Allerdings waren sämtliche Heiler und Alchemisten seit Tagen damit beschäftigt, die Folgen der Schlacht überall in der Stadt zu beseitigen, was auch die die Oberhäupter und Studienleiter jener Disziplinen mit einschloss. Auch Balkans Nachfolger fehlte, wofür Dannyl indes dankbar war.

Es war jedoch Rothen, den er in der kleinen Runde vermisste. Nachdem Lord Peakin die Nachfolge von Lord Sarrin als Oberhaupt der Alchemisten angetreten hatte, war Rothen auf seinen alten Posten gerückt. Obwohl Dannyl wusste, dass sich sein alter Freund um Sonea kümmerte, fand er, Rothen hätte ihm in dieser finsteren Stunde beistehen sollen.

Administrator Osen wies auf einen freien Stuhl. „Botschafter Dannyl, bitte setzt Euch.“

„Danke, Administrator“, erwiderte Dannyl und setzte sich. Er nickte den anderen Magiern zu. „Hoher Lord, Auslandsadministrator Kito.”

„Ich habe Euch herbeordert, um über Euren Posten als Zweiter Botschafter von Elyne zu sprechen“, teilte Osen ihm mit.

Dannyl nickte ernst.

„Als man Euch dieses Amt übertrug, war Euer Aufenthalt in Elyne nur für zwei Jahre ausgelegt. Im vergangenen Jahr wurde Euer Posten von Lor … meinem Vorgänger auf fünf Jahre verlängert …“ Osen hielt inne und schloss die Augen, als bereite ihm etwas innere Schmerzen.

Ein jähes Mitgefühl verspürend, erinnerte Dannyl sich, wie er während der Schlacht auf einen völlig aufgelösten Osen getroffen war. Gemeinsam hatten sie versucht, den Administrator mit ihren bloßen Händen aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses zu bergen, nachdem sie ihre Magie im Kampf gegen die Sachakaner erschöpft hatten. Dann war Akkarin wie aus dem Nichts erschienen und hatte die Trümmer mit Magie fortgeräumt. Er hatte Lorlen angeboten, ihn zu heilen, doch dieser hatte darauf bestanden, dass Akkarin seine Magie für die Sachakaner aufsparte.

Mit Lorlen war einer der besten Administratoren gegangen, die die Gilde je gehabt hatte. Für Osen war er zudem auch ein Mentor gewesen. Dannyl mochte sich nicht ausmalen, wie dieser sich jetzt fühlen musste.

Als der junge Administrator seine Augen wieder öffnete und Dannyl direkt anblickte, hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle. „Die höheren Magier wünschen, erneut mit Euch über die Dauer Eures Amtes zu sprechen.“

Dannyl zwang sich, ruhig zu bleiben. „Was genau bedeutet das?“

„Botschafter Dannyl, Ihr seid hervorragend für dieses Amt geeignet“, sagte Auslandsadministrator Kito. „In den vergangen beiden Jahren habt Ihr hervorragende Arbeit geleistet. Es ist Euch gelungen, den Konflikt um den Großen Clan Khoymar friedlich zu lösen, was auf Grund der Ausgangslage nahezu unmöglich schien.“

Dannyl lächelte erfreut. „Vielen Dank, Kito.“

Und jetzt kommt der schlechte Teil, dachte er. Es war wie in einem elynischen Drama.

„Die Gilde weiß zu schätzen, was Ihr in dieser Zeit geleistet habt“, fügte Osen hinzu. „Und wir, die höheren Magier, sind zu der Ansicht gekommen, dass Elyne mitsamt seinen Menschen und ihre Sitten und Gebräuche, besser zu Euch passen, als Kyralia ...“

So kann man es auch ausdrücken, dachte Dannyl trocken.

„Elyne scheint Euch zu einem Zuhause geworden zu sein“, fuhr Osen fort. „Und aus diesem Grund bietet die Gilde Euch an, Euer Amt auf Lebenszeit zu bekleiden. Neben Lord Rothen hat sich vor allem Lady Vinara dafür ausgesprochen. Bedauerlicherweise kann sie nicht hier sein, weil sie ins Heilerquartier gerufen wurde …“

Es dauerte einen Augeblick, bis Dannyl den Sinn von Osens Worten begriff und was das für ihn bedeutete. Er wäre fort aus dem kalten und ungemütlichen Kyralia und konnte die Arbeit fortführen, die ihm so viel Freude bereitete.

Und er konnte weiterhin mit Tayend zusammen sein.

„Botschafter Dannyl?“

Dannyl zuckte zusammen.

Der Administrator blickte ihn fragend an. „Habt Ihr irgendwelche Einwände?“

„Nein.“ Dannyl schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Ich bin überrascht. Damit habe ich nicht gerechnet.“

„Ihr habt es Euch verdient.“

Dannyl lächelte. Das war eine sehr kurze Besprechung gewesen. „Ich danke Euch“, sagte er. „Euch allen.“

„Ich gratuliere.“ Balkan erhob sich und schüttelte Dannyl die Hand. „Auf eine gute Zusammenarbeit.“

„Vielen Dank, Hoher Lord“, antwortete Dannyl unbehaglich. Balkan war bei weitem nicht so einschüchternd und ehrfurchtgebietend wie sein Vorgänger. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Obwohl er Akkarin bis ins Mark fürchtete, konnte Dannyl sich keinen anderen als Anführer der Gilde vorstellen.

Wer hätte jemals gedacht, dass ich es vermissen würde, den Hohen Lord zu fürchten?, dachte er mit einem Anflug von Erheiterung.

Auch Osen und Kito erhoben sich und gratulierten ihm.

„Botschafter Dannyl, habt Ihr noch Fragen?“, erkundigte sich Osen.

Dannyl überlegte einen Moment, dann nickte er. „Wann soll ich zurück nach Capia reisen?“

„Sobald die Gilde Euch hier nicht mehr benötigt“, antwortete Osen. „Eure Anwesenheit wird jedoch bei der Beisetzung unserer Kollegen erwartet.“

Dannyl rang sich ein Lächeln ab. „Dazu werde ich selbstverständlich da sein.“

 

 

***

 

Als es an der Tür zu Rothens Apartment klopfte, zuckte Sonea zusammen. Sie hielt inne und warf einen unsicheren Blick zur Tür ihres Schlafzimmers.

Jedes Mal, wenn ein Besucher kam, hoffte und fürchtete sie, es wäre wegen Akkarin. Ohne den Blutring, den man ihr abgenommen hatte, während sie sich von ihrer magischen Erschöpfung erholt hatte, wagte sie es nicht, ihn zu rufen. Sie nahm an, man hatte Akkarin seinen Ring ebenfalls abgenommen, da sie nichts sehen konnte, wenn sie ihren Willen darauf richtete. Das ließ sie mit dem zweifelhaften Vergnügen zurück, auf Neuigkeiten über seinen Zustand zu warten. Und sie machte sich keine Illusionen darüber, dass sie zu den ersten gehörte, die informiet würden.

Bis jetzt waren indes nur Leute gekommen, um ihr Fragen zu stellen. Darunter wiederholt die höheren Magier, aber auch Magier, mit denen Rothen befreundet war, einige ihrer ehemaligen Lehrer und sogar ihre Klassenkameraden. Sonea hatte es Rothen und Tania überlassen, sie fortzuschicken und hatte die Flucht in ihr altes Zimmer ergriffen. Sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, welcher Art diese Fragen waren und sie verspürte weder den Drang, über Akkarin, noch über ihre Zeit in Sachaka oder über die Ereignisse der Schlacht zu sprechen. Seit sie wieder in der Gilde war, hatte sie nur mit Rothen und hin und wieder mit Tania gesprochen. Nachdem sie anderthalb Jahre lang keinen Kontakt zu ihrem ersten Mentor haben durfte, hatte die gemeinsame Zeit ihnen beiden gut getan. Sonea hätte nie für möglich gehalten, dass es so viel zu erzählen gab!

Als Rothen die Tür mit seinem Willen öffnete und Sonea einen Mann in einer grauen Uniform und der grünen Schärpe der Diener des Heilerquartiers erblickte, spürte sie, wie sich ihr Puls vor Furcht und Vorfreude beschleunigte.

„Ich habe eine Nachricht für Lady Sonea“, sagte der Diener und verneigte sich. „Lady Vinara wünscht Eure Anwesenheit im Heilerquartier.“

Soneas Herz machte einen Sprung.

Er ist aufgewacht!

Sie war schon fast an der Tür, als Rothen sagte: „Warte, ich begleite dich.“

Ungeduldig beobachtete sie, wie er die noch halbvolle Tasse abstellte und sich erhob. Sie waren kaum auf den Flur getreten, als Sonea loseilte. Die Magier, denen sie begegnete, wichen hastig vor ihr zurück, doch Sonea ignorierte sie.

Den Weg zum Heilerquartier legte sie nahezu im Laufschritt zurück. Rothen hatte offenkundig Mühe, mit ihr mitzuhalten, doch es fiel Sonea schwer, die nötige Geduld aufzubringen. Ohne Akkarin fühlte sie sich in einer Gilde, die sie verstoßen hatte und fürchtete, so allein wie nie zuvor.

Sich an die Umstände, unter denen sie Akkarins Novizin geworden war, zurückerinnernd, konnte Sonea kaum glauben, dass sie ein Paar geworden waren. Lange Zeit hatte sie ihn gehasst, weil er sie von Rothen getrennt hatte, und sie hatte ihn gefürchtet, so wie auch sie nun gefürchtet wurde.

Obwohl Akkarin sich besser um ihre Ausbildung gekümmert hatte, als Rothen es je vermocht hätte, und Sonea es ihm zu verdanken hatte, dass sie über sich hinausgewachsen war, hatte sie Rothen vermisst. Rothen war wie ein Vater für sie. Ihre Tante und Onkel wohnten in der Stadt, doch Sonea hatte es nur selten gewagt, sie zu besuchen, weil sie zu sehr gefürchtet hatte, Rothen und Lorlen würden die Gilde zusammenrufen und Akkarin unvorbereitet konfrontieren, wenn sie spurlos verschwand. Unter den Novizen hatte sie keine Freunde gehabt. Auch wenn diese ihr nicht übelgenommen hätten, dass ausgerechnet sie, das Mädchen aus den Hüttenvierteln von Imardin, Novizin des Hohen Lords geworden war, hatte Sonea ihre Distanz gewahrt. Jeder Mensch, der ihr nahe stand, wäre ein potentielles Opfer für Akkarin gewesen.

Vor wenigen Monaten hatte Akkarin sie in sein Geheimnis eingeweiht, woraufhin Soneas Furcht und Ablehnung in Respekt und Bewunderung umgeschlagen waren. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie in schwarzer Magie unterwies, damit sie ihm helfen konnte, Kyralia vor den Sachakanern zu verteidigen. Doch daraus war schon sehr bald mehr geworden. Für ihn hatte sie alles aufgegeben und wiederholt ihr Leben riskiert.

Erst im Nachhinein und nur widerwillig hatte sie begriffen, dass sie ihm bedingungslos ergeben war.

Sonea erschauderte. Sie hatte nie begriffen, was die anderen Magier einst in ihrem Oberhaupt gesehen hatten. Auch jetzt verstand sie nicht, was er an sich hatte, das diese Loyalität inspirierte. Irgendwie hatten ihre einstige Furcht und ihre aufkeimenden Gefühle sich in etwas verwandelt, das in seiner Fremdheit sowohl beängstigend war als auch danach verlangte, dass sie es näher ergründete.

Lady Vinara erwartete sie mit sauertöpfischer Miene in ihrem Büro. „Akkarin ist aufgewacht und wünscht dich zu sehen“, sagte sie und musterte Sonea eingehend.

Sonea zwang sich, ihrem Blick standzuhalten. „Geht es ihm gut?“, fragte sie aufgeregt.

Das Oberhaupt der Heiler schürzte die Lippen. „Gut genug, um bereits Forderungen zu stellen. Ich bringe dich zu ihm.“

Sich fragend, was für Forderungen das waren, folgte Sonea der Heilerin auf den Flur. Lady Vinara schien jedoch nicht an weiteren Erklärungen interessiert und Sonea behielt ihre Fragen für sich.

Sie kehrten zurück ins Erdgeschoss und schritten einen Korridor entlang, der sich am runden Grundriss des Gebäudes entlangwand. Auf ihrem Weg passierten sie Türen, hinter denen Behandlungs- und Krankenzimmer lagen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft und löste beklemmende Gedanken an Tod und Krankheit in Sonea aus. Spürend, wie Übelkeit in ihr aufstieg, zwang sie sich, ruhig zu bleiben und flach zu atmen.

Zwei Heiler kamen ihnen entgegen. Als sie Sonea erblickten, weiteten sich ihre Augen und sie eilten rasch weiter.

Schließlich blieb Lady Vinara vor einer Tür stehen, vor der zwei Krieger postiert waren. Beide sahen aus, als hätten sie erst kürzlich ihren Abschluss an der Universität gemacht.

Und beide wirkten nervös.

„Warum wird er bewacht?“, verlangte Sonea zu wissen.

„Eine Vorsichtsmaßnahme, die Balkan angeordnet hat“, antwortete Lady Vinara knapp.

Ungläubig schüttelte Sonea den Kopf. Hatten sie es denn noch immer nicht begriffen?

Die Heilerin bedeutete den Wachen, zur Seite zu treten und öffnete die Tür mit einer knappen Bewegung ihrer Hand.

Sonea zögerte. Seit Tagen hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, doch nun schlug ihre Freude in Furcht um. Es war das erste Mal, das sie ihn sah seit … seit …

Was, wenn er nicht mehr der Akkarin war, den sie kannte?

„Geh nur“, murmelte Rothen hinter ihr. „Ich werde draußen warten.“

Lady Vinara trat in den kleinen Raum. Sonea folgte ihr mit wachsendem Unbehagen.

„Hier ist Sonea, so wie Ihr es verlangt habt“, hörte sie die Heilerin wie aus weiter Ferne sagen. Zögernd trat Sonea neben sie.

Akkarin lag in einem Bett, das an der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand. Unter dem weißen Bezug der Decke und der Kissen wirkte er noch bleicher als üblich. Sonea stellte jedoch erfreut fest, dass er lächelte, als sein Blick auf sie fiel.

„Hallo, Sonea.“

Von einer plötzlichen Unsicherheit erfüllte, erstarrte sie.

Sie hatten nie darüber gesprochen, was sein würde, wenn sie wieder zurück in der Gilde waren. Sie hatten nicht gewusst, ob sie die Schlacht überlebten, oder ob die Gilde sie wieder aufnahm. Sie hatten nur wenige gemeinsame Tage gehabt, bis es passiert war und doch waren sie sich in dieser kurzen Zeit näher gekommen, als Sonea je für möglich gehalten hätte. Reichte das, was sie hatten, überhaupt für eine Beziehung? Seit sie in Rothens Apartment aufgewacht war, quälte sie diese Frage.

Und jetzt, wo sie Akkarin gegenüberstand, fürchtete sie die Antwort mehr als alles andere.

Doch solange Lady Vinara noch im Raum war, musste Sonea so tun, wären sie sich niemals nähergekommen.

„Es ist schön, Euch wohlauf zu sehen, Mylord“, brachte sie hervor und verneigte sich mit einer Unbeholfenheit, die nur zum Teil gespielt war. Spürend wie ihre Wangen heiß wurden hielt sie den Blick gesenkt, hoffend, dass Lady Vinara es nicht bemerkte.

Falls Akkarin ob ihres Verhaltens verwirrt war, so ließ er sich das nicht anmerken. „Lady Vinara, lasst mich mit Sonea allein“, sagte er mit unterschwelliger Autorität.

Die Heilerin runzelte die Stirn, erhob jedoch keinen Protest. „Ihr habt fünf Minuten.“

Fünf Minuten?!

Schlagartig verschwand die Röte aus Soneas Gesicht. Sie öffnete protestierend den Mund, besann sich dann jedoch eines besseren. Lady Vinara war bereits misstrauisch. Sie durfte dieses Misstrauen nicht noch vergrößern.

„Fünfzehn Minuten“, sagte Akkarin ruhig.

„Auf keinen Fall“, widersprach Lady Vinara scharf. „Die halbe Gilde wartet seit Tagen darauf, Euch zu sprechen und Ihr müsst Euch schonen.“

„Ich werde mit niemandem sprechen, bevor ich mich nicht vollständig von Soneas Wohlergehen überzeugt habe“, erklärte Akkarin. „Ich bezweifle, dass fünf Minuten dazu ausreichend sind.“

Lady Vinaras Blick verfinsterte sich und Sonea unterdrückte ein unwillkürliches Grinsen. Rasch wandte sie sich ab.

„Zehn Minuten“, sagte Lady Vinara. „Und keine Sekunde länger. Sonea, achte darauf, ihn nicht aufzuregen. Und darauf, dass er liegenbleibt.“

„Ja, Mylady“, sagte Sonea.

Die Heilerin bedachte Akkarin mit einem letzten strengen Blick und verließ dann das Krankenzimmer.

„So, du hast also niemanden von uns erzählt“, sagte Akkarin, nachdem sich die Tür geschlossen hatte.

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Nein“, antwortete Sonea. „Ich wusste nicht, ob du damit einverstanden bist. Wir … wir haben nie darüber gesprochen.“

Akkarin schwieg.

„Das heißt, ich habe es Rothen erzählt“, fuhr Sonea nervös fort. „Aber er hatte es bereits für sich herausgefunden. Er wird es für sich behalten. Und Dorrien auch.“

Er runzelte die Stirn. „So, Rothen also.”

„Ich wohne bei ihm, bis die Gilde entschieden hat, was mit uns geschehen soll. Es macht dir doch nicht aus?“ Nach allem, was zwischen ihnen geschehen war, konnte er unmöglich noch etwas dagegen haben, wenn Rothen sich um sie kümmerte!

„Nein. Sicher hattet ihr zwei einiges aufzuholen.“

Sie sahen einander an. Sonea wusste nicht, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten sollte. Sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.

Dann lächelte er unvermittelt.

„Sonea, komm her.“

Eine Woge der Erleichterung brach über sie herein. Dennoch trat sie nur zögernd näher. Warum musste sie ausgerechnet jetzt wieder anfangen ihn zu fürchten?

Akkarin setzte sich auf und reichte ihr ein paar Kissen. „Sonea, kannst du die hinter mir aufstapeln?“

Sie nickte, legte die Kissen am Kopfende übereinander und hielt sie fest, damit er sich anlehnen konnte. Dann erinnerte sie sich an Lady Vinaras Worte.

„Aber du sollst doch liegenbleiben“, sagte sie streng.

Akkarin lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen, als wäre diese Bewegung schon zu anstrengend gewesen. Als er sie wieder öffnete, entdeckte Sonea darin ein vertrautes Funkeln. Er streckte einen Arm nach ihr aus und zog sie auf die Bettkante herab. „Ah, ich möchte nur ein wenig aufrechter liegen.“

„Dann geht es dir also schon besser“, bemerkte sie.

„Im Gegensatz dazu, tot zu sein, ist dies eine deutliche Verbesserung.“

Bei seinen Worten zog sich etwas in Soneas Brust schmerzhaft zusammen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und das inzwischen nur allzu vertraute Brennen kehrte in ihre Augen zurück. Sie wandte den Blick ab. Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, durch welche Hölle sie für ihn gegangen war?

„Sonea.“

Eine kühle Hand berührte ihre Wange.

„Sieh mich an.“

Sie schluckte und gehorchte. Ihre Blicke begegneten einander.

„Ich habe dir mein Leben zu verdanken“, sagte er leise. „Es gibt Dinge, die sich mit Humor leichter ertragen lassen. Aber ich brauche dich nur anzusehen, um zu wissen, dass ich dir damit keinen Gefallen tue. Es tut mir leid.“

„Das braucht es nicht“, flüsterte sie.

Ihr Blick verschleierte sich und sie spürte, wie Tränen heiß ihre Wangen herabliefen. Sie schloss die Augen.

Akkarin legte seine Hände auf ihre Wangen. Seine Daumen strichen behutsam über ihre Haut und wischten die Tränen fort. Unter seiner Berührung verspürte Sonea wieder das vertraute Kribbeln, das ihr bis in die Haarwurzeln stieg.

„Alles ist gut“, flüsterte er und küsste sie.

Der Kuss löste etwas in ihr, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es sie seit der Schlacht lähmte. In einem Anflug von Zuneigung schlang sie ihre Arme um ihn und er zog sie zu sich.

Eine lange Weile verharrten sie so und Sonea genoss das Gefühl, in seinen Armen zu liegen und seinen vertrauten Duft einzuatmen.

Jetzt ist der richtige Augenblick, es ihm zu sagen.

Behutsam löste sie sich von ihm und setzte sich auf, so dass sie einander ansahen. Als sein Blick dem ihren begegnete, drohte eine plötzliche Woge von Panik sie zu überwältigen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde, diese Worte laut auszusprechen. Sie hatte es Rothen erzählt, hatte es unzählige Male im Stillen für sich wiederholt. Sie hatte es Akkarin sogar gesagt, als sie versucht hatte, ihn zu retten und sie nicht sicher gewesen war, ob er sie überhaupt hören konnte. Aber ihn dabei anzusehen, war so viel bedeutsamer.

„Was ist?“

„Ich …“, begann sie und kam sich albern vor. Während der Schlacht hatte sie nicht gezögert. Er war ihr nur zuvorgekommen. Doch seit jenem Tag war viel passiert. Sie hatte ihn verloren, war tagelang von ihm getrennt gewesen und hatte die ganze Zeit einer ungewissen Zukunft entgegengesehen. Doch jetzt war sie bei ihm und sie brauchte seine Zurückweisung nicht fürchten.

„Da ist etwas, das du wissen sollest.“

Akkarin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete sie aufmerksam. Unter seinem Blick fühlte Sonea sich vielmehr wie seine Novizin, die gerade eine mittelschwere Dummheit angestellt hatte, als wie die Frau die er liebte.

„Ich höre.“

Er macht es mir nicht gerade leicht, dachte sie. Ob er das absichtlich tut?

Anscheinend musste sie da jetzt durch. Sonea holte sie tief Luft und richtete sich auf.

„Akkarin, ich liebe dich.“

Er bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Ich weiß.“

Sonea starrte ihn an. „Du hast mich gehört?“

„Ja. Aber ich wusste es schon vorher.“ Er ließ die Arme sinken und griff nach ihren Händen.

Sonea lächelte. Seine kühlen Finger schlagen sich um ihre und das Kribbeln kehrte zurück. Als sie sah, wie Akkarin sie durchdringend musterte, wurde sie jedoch wieder ernst.

„Deine Kräfte sind gewachsen.“

Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte er das wissen? Es war ihr nicht einmal selbst bewusst gewesen.

„Ich habe keine schwarze Magie benutzt“, antwortete sie schnell. Dachte er etwa, sie würde sich ohne seine Erlaubnis stärken?

„Es ist dein natürliches Potential“, sagte er anerkennend. „Ich dachte, es hätte sich inzwischen vollständig entwickelt. Doch anscheinend habe ich mich geirrt.“

Als sie sich auf die Quelle ihrer Kraft konzentrierte, erkannte Sonea, dass er recht hatte. Sie verspürte eine leise Freude, die sie jedoch beiseiteschob. Im Augenblick hatte sie ganz andere Sorgen.

„Was wird nun aus uns?“, fragte sie und lenkte damit das Gespräch auf das Thema, das ihr schon die ganze Zeit auf der Seele brannte.

„Das hängt davon ab, was die Gilde mit uns vorhat. Hast du etwas darüber erfahren?“

Sonea spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Und was ist mit uns?

„Nicht viel“, antwortete sie zögernd. „Rothen sagt, sie wollen uns wieder aufnehmen, doch sie streiten noch über die Bedingungen. Seit der Schlacht ist die Gilde in ziemlichem Aufruhr. Nicht nur wegen des Wiederaufbaus von Imardin. Sie sind dabei, sich neu zu organisieren. Es gibt viele Ämter, die neu besetzt werden müssen.“

„Weißt du, welche Magier im Gespräch sind?“

„Nach allem, was Rothen erzählt hat, ist schon alles inoffiziell entschieden. Osen ist jetzt der neue Administrator. Lord Sarrin ist in den Ruhestand gegangen, nachdem er vergeblich versucht hat, schwarze Magie zu erlernen, um die Gilde während unserer Verbannung zu verteidigen. Sein Nachfolger ist Lord Peakin. Rothen ist auf Peakins früherem Posten.“ Sie hielt inne und lächelte. „Er ist jetzt Leiter der alchemistischen Studien. Bei den Heilern ist alles beim Alten.”

Sonea brach ab. Sie hatte noch weitere Neuigkeiten für ihn. Aber sie wusste nicht, ob sie ihm gefallen würden.

„Sprich weiter“, forderte Akkarin sie auf.

Es macht keinen Sinn, es ihm zu verschweigen, sagte sie sich. Er wird es sowieso erfahren.

„Das neue Oberhaupt der Krieger ist Lord Garrel.“ Sie glaubte, eine Spur von Missbilligung in Akkarins Miene zu lesen, als sie diesen Namen aussprach. „Aber er hat im Gegensatz zu Balkan nur dieses eine Amt. Der Leiter der strategischen Studien ist jetzt Lord Vorel. Und Balkan wird Hoher Lord.“

„Balkan ist eine gute Wahl“, sagte Akkarin.

Sonea betrachtete ihn überrascht. „Es macht dir nichts aus?“

„Nun ich komme für dieses Amt nicht mehr in Frage“, antwortete er ruhig. „Balkan fehlt zwar das politische Feingefühl, doch er ist ein guter Stratege. Er wird seiner neuen Aufgabe gewissenhaft nachkommen.“

Sonea fragte sich, ob er wirklich so gelassen ob dieser Neuigkeit war, wie er sich gab. „Er trägt weiße Roben“, fügte sie hinzu.

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Also wenn das nicht eine interessante Neuerung ist!“

„Sie haben wohl entschieden, die schwarzen Roben uns zu überlassen“, erklärte Sonea froh, weil es ihr gelungen war, ihn zu erheitern. Ein Teil von ihr kam jedoch nicht umhin, sich zu wundern. Für Nicht-Gildenmagier war es ein Verbrechen, Magierroben zu tragen. Hatte man ihr die Robe nach der Schlacht nicht weggenommen, weil die Magier sie und Akkarin zu sehr fürchteten, oder sollte das Schwarz sie öffentlich brandmarken?

Ihre Frage war indes noch immer nicht beantwortet. Und die Hälfte ihrer Besuchszeit war vermutlich schon verstrichen.

„Sollte die Gilde uns wieder aufnehmen, wird das für Aufruhr sorgen“, sagte Akkarin als habe er ihre Gedanken gelesen. „Für die meisten wird es nicht leicht sein, zwei schwarze Magier in ihrer Mitte zu wissen. Wir sollten sie nicht noch mit unserer Beziehung überfordern. Es könnte unserer Integrität mehr schaden als nutzen. Es war richtig von dir, Rothen und Dorrien zu bitten, es für sich zu behalten.“

Soneas Herz setzte einen Schlag aus.

„Was soll das heißen?“

„Es wäre mir lieber, unsere Beziehung vorerst geheim zu halten. Zumindest, bis wir wissen, welche Pläne sie mit uns haben.“

„Ich finde es nicht gut, wenn wir einander verleugnen.“

Sie hatte dieses Geheimnis gewahrt, solange sie nicht gewusst hatte, wie er dazu stand. Und weil sie es als respektlos empfunden hätte, es hinter seinem Rücken zu erzählen. Aber sie hatte so fest damit gerechnet, er würde einverstanden sein, wenn jeder erfuhr, dass sie jetzt ein Paar waren!

„Mir gefällt es auch nicht, aber wir haben keine Wahl“, erwiderte er sanft. „Lass ihnen Zeit, sich an uns zu gewöhnen.“

Das könnte dauern, dachte Sonea mit leiser Resignation.

„Was, wenn wir freiwillig wieder gehen?“, schlug sie vor. „Auch wenn ich nicht weiß, wie wir an den beiden Wachen vor deiner Tür vorbei kommen sollen.“

Während sie wieder vollständig regeneriert war, schien Akkarin noch schwach zu sein. Ein Kampf war undenkbar. Trotzdem war sie auf der Stelle bereit, sich mit ihm aus der Gilde zu kämpfen, würde er das wollen.

„Ah, die Wachen sind unser kleinstes Problem.“ Akkarin verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sie sind voll Furcht, ich könnte plötzlich zwischen ihnen auftauchen und sie überwältigen. Ich bezweifle, sie würden ernsthaften Widerstand leisten, sollte ich das wirklich versuchen.“

„Woher weißt du das?“

„Ich kann ihre Gedanken hören.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als habe etwas sein Missfallen erregt. „Sie haben mich aufgeweckt.“

Sonea starrte ihn an. „Wie ist das möglich?“ In der Gilde ging das Gerücht, dass Akkarin viele seltsame Fähigkeiten hatte. Einige, so wusste Sonea inzwischen waren reiner Mythos und hatten einzige damit zu tun, dass er die Geheimgänge so exzessiv frequentiert. Andere damit, dass sein bester Freund sein Blutjuwel getragen hatte, so wie auch Takan eines trug. Was übrig blieb, resultierte vermutlich aus dem jahrelangen Praktizieren schwarzer Magie und der größeren magischen Stärke, die die Sinne veränderte. Aber sein natürliches Potential war ganz offenkundig noch nicht vollständig wiederhergestellt. Wie konnte er zu etwas fähig sein, für das er um ein Vielfaches stärker sein musste?

Aber wenn er die Gedanken der Krieger vor der Tür lesen konnte, dann hatte er auch die ganze Zeit gewusst, was sie dachte!

Er hat mich ganz schön an der Nase herumgeführt, dachte Sonea.

„Darauf habe ich keine Antwort, Sonea.“ Akkarins Augen fokussierten auf etwas hinter der Wand. „Wenn es nicht so schwierig wäre, sie auszublenden, dann wäre es sogar recht amüsant.“

Sie streckte ihre Sinne aus, konnte die Präsenz der Wachen jedoch nur vage wahrnehmen.

„Warum?“, wollte sie wissen. „Was sagen sie?“

Akkarin lachte leise. „Seit deiner Ankunft sind sie in heller Panik.“

„Das ist doch wirklich lächerlich!“, rief Sonea nicht wissend, ob sie lachen oder Mitleid mit den Wachen haben sollte.

„Furcht ist nicht rational. Das solltest du am besten wissen.“

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick und verkniff sich eine passende Erwiderung.

„Warum gehen wir nicht einfach wieder fort?“, fragte sie dann. „Von heute an komme ich jeden Tag vorbei und gebe dir meine Kraft und dann kämpfen wir uns hier heraus. Es sind nur zwei und von hier ist es nicht weit, bis zum Wald …“

„Sonea, wir werden die Gilde nicht verlassen, solange sie das nicht ausdrücklich wünscht“, sagte Akkarin leise. „Ohne uns sind sie jedem erneuten Angriff aus Sachaka hilflos ausgeliefert. Sie brauchen uns. Meine Loyalität gehört unverändert der Gilde und Kyralia.“

Sonea seufzte. Und meine Loyalität gehört dir …

Aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit.

„Dasselbe gilt für mich“, erwiderte sie.

„Dann wirst du es verstehen.“

Sie nickte zögernd.

„Die Gilde ist unser Zuhause. Du würdest anderswo nicht glücklich sein.“

Auch wenn Sonea glaubte, sie könne überall glücklich sein, solange sie bei ihm war, wusste sie, dass sie das Leben in der Gilde vermissen würde. Ganz besonders Rothen würde sie vermissen. Aber auch ihre Freunde und Familie in der Stadt. Es war nur so, dass es überall anders mit Akkarin besser war, als wäre sie alleine dort.

Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, doch als sie zu Akkarin sah, war sein Blick erneut ins Leere abgewandert.

„Lady Vinara ist unterwegs. Wir sollten uns verabschieden.“

Woher weiß er denn das schon wieder? Sonea schüttelte den Kopf. Dann beugte sie sich vor und umarmte Akkarin. Als sie sich von ihm lösen wollte, hielt er sie fest, um sie noch einmal zu küssen.

Dann schob er sie abrupt zurück, um einen anständigen Abstand zwischen sie beide zu bringen.

„Warte.“ Sonea streckte ihm ihre Arme entgegen. „Nimm meine Kraft.“

Er zögerte und sein Blick wurde hart. „Sonea …“, begann er streng.

„Lady Vinara kommt“, erinnerte sie ihn. „Wir sollten uns beeilen.“

Akkarin seufzte. Seine Hände umschlangen ihre Handgelenke. Sich konzentrierend sandte Sonea ihm ihre Magie, darauf bedacht, sich nicht zu erschöpfen. Denn sie war sicher, das würde Lady Vinara sofort auffallen. Als Akkarin sie losließ, erhob sie sich und trat rasch einen Schritt zurück.

„Was, wenn mir jemand meine Gefühle für dich anmerkt?“

„Dann gib es zu. Nach allem, was passiert ist, wird das kaum jemanden überraschen.“

Sonea starrte ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. „Das kann nicht dein Ernst sein!“, entfuhr es ihr. „Dann werden sie weitere Fragen stellen.“

„Ich bin sicher, dir wird etwas einfallen“, entgegnete Akkarin. „Aber ich werde nicht dulden, dass du lügst. Das wäre unehrenhaft, Sonea.“

Sie nickte und hoffte, das würde nicht nötig sein.

„Ich werde mir einen Plan zurechtlegen, damit wir zusammen sein können“, versprach Akkarin. „Vertrau mir.“

Sie begegnete seinem Blick. „Das tue ich.“

Die Tür ging auf und Lady Vinara trat ein. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie Akkarin aufrecht sitzend erblickte. „Ihr sollt Euch ausruhen“, sagte sie streng.

„Ja, Mylady“, antwortete er unterwürfig und ließ sich wieder in die Kissen sinken, doch Sonea sah das Funkeln in seinen dunklen Augen. Ein Grinsen unterdrückend sah sie zum Fenster.

Lady Vinara wandte sich ihr zu. „Sonea, komm mit. Ich möchte dir noch einige Fragen stellen. Verabschiede dich von Akkarin.“

„Auf Wiedersehen, Akkarin“, sagte sie und verneigte sich erneut. „Ich komme Euch morgen wieder besuchen, wenn ich kann.“

„Ich freue mich darauf“, erwiderte er. „Richte Rothen meine Glückwünsche zu seinem neuen Posten aus.“

„Das solltet Ihr lieber selbst tun“, gab Sonea zurück. Und das ist nicht das Einzige, was du ihm sagen solltest, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hoffte, er hörte zu.

Das Oberhaupt der Heiler trat zum Bett und fühlte Akkarins Stirn. „Und Ihr freut Euch lieber nicht zu sehr“, sagte sie barsch. „Ihr sollt Euch nicht anstrengen.“ Dann legte sie Sonea eine Hand auf die Schulter und schob sie sanft zur Tür. „Komm, Sonea.“

Im Hinausgehen warf Sonea noch einen letzten Blick über die Schulter. Akkarin lächelte. Doch die Art, wie er es tat, ließ ihre Knie weich werden. Sie atmete einmal tief durch und wappnete sich für das, was als Nächstes kommen würde.

Draußen auf dem Flur blieb sie noch einmal stehen und bedachte die beiden Krieger mit einem finsteren Blick. Als einer von ihnen sichtlich zusammenzuckte, lächelte sie befriedigt. Dann folgte sie der Heilerin zu ihrem Büro.

„Lord Rothen wartet noch immer auf mich“, wandte Sonea vorsichtig ein, nachdem sie die Treppe wieder emporgestiegen waren und den Flur zu Lady Vinaras Büro entlang gingen.

„Es wird nicht lange dauern.“ Das Oberhaupt der Heiler öffnete die Tür zu ihrem Büro und bedeutete Sonea, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Sonea setzte sich ein wenig unbehaglich. „Worum geht es?“

Lady Vinara setzte sich ihr gegenüber. „Es geht um zwei Dinge, die dich und Akkarin betreffen.“

Sie weiß es, fuhr es Sonea durch den Kopf. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich. Doch sie versuchte ruhig zu bleiben und zwang sich, das Oberhaupt der Heiler anzusehen.

„Zunächst einmal wünsche ich eine Erklärung, wie es dir gelungen ist, Akkarin zurückzuholen, wenn sein Körper jeglicher Magie entleert war“, begann Lady Vinara ohne Umschweife. „Selbst den besten Heilern der Gilde gelingt Wiederbelebung nur in seltenen Fällen – und auch nicht, wenn kein Tod durch magische Erschöpfung vorlag.“

Eigentlich hatte Sonea ein anderes Thema erwartet, doch besonders angenehm war auch dieses nicht.

Sie schluckte. „Es war ziemlich …“ wild, wollte sie sagen. Doch Lady Vinara hätte nicht gewusst, was dieses Wort bedeutete. Rothen hatte ihr einst mit viel Geduld den Hüttenslang abgewöhnt. Auch wenn er nicht zuhörte, wollte sie nicht vor anderen den Eindruck erwecken, als seien seine Bemühungen vergebens gewesen.

„Es war schwierig“, sagte sie daher. „Eigentlich wusste ich nicht, was ich tun muss. Ich habe vor allem auf mein Gefühl gehört, auch wenn mein Wissen über Heilkunst eine gewisse Rolle gespielt hat. Aber meine Erinnerung daran ist ziemlich verschwommen. Und ich möchte sie nicht unbedingt wieder aufleben lassen. Es war nicht gerade angenehm.“

Sie schauderte als die Erinnerungen an die Verzweiflung, den Schmerz, die Furcht zu versagen und die Hoffnung vielleicht doch Erfolg zu haben, zurückkehrten. Seit jenem Tag hatte sie sich oft gefragt, wie es wäre, hätte sie tatsächlich versagt. Was auch immer es war – sie wusste, sie hätte es nicht ertragen.

„Sonea, ich habe wirklich großes Verständnis für dich. Deinen Mentor sterben zu sehen muss eine sehr schlimme Erfahrung für dich gewesen sein“, sagte Lady Vinara ungewöhnlich sanft. „Aber es ist wichtig. Nicht nur ich – auch die anderen Heiler würden gerne erfahren, wie du ihn zurückgeholt hast. Es könnte viele Leben retten.“

„Ich verstehe“, sagte Sonea langsam.

Natürlich wollte sie, dass auch andere einen Nutzen davon hatten. Sie hatte geglaubt, sie hätte Akkarin verloren. Nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschte sie eine solche Erfahrung. Dennoch bezweifelte sie, dasselbe bei anderen Menschen zu können. Sie war sicher, ihre starken Gefühle hatten dabei eine nicht unwichtige Rolle gespielt. Und ihr Wissen über schwarze Magie hatte ihr dabei geholfen. Sie konnte nicht verantworten, dieses Wissen weiterzugeben.

„Wenn es für dich leichter ist, dann kannst du mir auch einen Bericht schreiben“, schlug Lady Vinara vor. „Du kannst dir damit ein paar Tage Zeit lassen. Meinst du, eine Woche reicht aus?“

Sonea nickte, obwohl sie glaubte, keine Zeit der Welt würde ihr genügen, bis sie bereit war, das noch einmal zu durchleben.

„Danke, Mylady. Darf ich dann jetzt gehen?“

„Nein.“

Das Oberhaupt der Heiler beugte sich in ihrem Sessel vor und musterte Sonea mit ihren grauen, raubvogelartigen Augen. Mit einem Mal war ihr Gesichtsausdruck wieder streng.

„Du bist jetzt eine Frau, Sonea. Deine Ausbildung ist noch nicht beendet, aber du bist schon lange kein Kind mehr. Das ist kaum einem Magier entgangen.“

Sonea beschlich eine ungute Ahnung, was als nächstes Kommen würde.

„Wie meint Ihr das?“, fragte sie um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht.

Lady Vinara betrachtete sie streng. „Sonea, du kannst vielleicht anderen etwas vormachen. Für mich hingegen sind deine Gefühle für Akkarin offensichtlich.“

Diese unverhohlene Bloßstellung ihres eigenen Herzen verschlug Sonea für einen Augenblick die Sprache. War es denn wirklich so offensichtlich?

„Ich habe es mir bereits bei eurer Anhörung gedacht“, fuhr Vinara fort. „Inzwischen besteht jedoch kein Zweifel mehr.“

„Bei allem Respekt, Lady Vinara, aber das ist meine Sache“, sagte Sonea mit brüchiger Stimme.

Zu ihrer Überraschung lächelte die Heilerin. „Ich möchte wirklich nicht wissen, was dich dazu gebracht hat, dich in Akkarin zu verlieben. Ihr wart lange Zeit ganz auf euch gestellt und dabei sind genug Dinge geschehen, die euch einander näher gebracht haben mögen. Ich werde niemandem von deinen Gefühlen erzählen.“

Wunderbar, dachte Sonea sarkastisch.

„Danke“, sagte sie dennoch, darum bemüht, nicht zu schroff zu klingen.

Lady Vinara nickte. „Eine Sache muss ich dennoch wissen: Hat Akkarin sich dir gegenüber jemals unsittlich verhalten oder dir irgendetwas getan, das du nicht wolltest?“

Sonea versuchte verzweifelt, ein Lachen zu unterdrücken. Diese Frage konnte sie ohne zu lügen beantworten. Alles, was Akkarin mit ihr getan hatte, hatte sie genauso gewollt und für sie war es alles andere als unsittlich gewesen. Im Gegenteil.

„Nein“, sagte sie und sah der anderen Frau in die Augen.

„Gut.“

Lady Vinara schien zufrieden. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Ich muss dich hoffentlich nicht daran erinnern, dass die Gilde eine intime Beziehung zwischen Mentor und Novize untersagt. Denn auch wenn ihr momentan nicht zur Gilde gehört, werdet ihr als das gehandhabt.“

„Ich verstehe“, sagte Sonea beklommen.

Auch nach fast zwei Jahren erinnerte sie sich noch lebhaft daran, wie ihr früherer Erzfeind Regin das Gerücht verbreitet hatte, sie habe eine Affäre mit Rothen. Damals hatte sie aus Rothens Apartment ins Novizenquartier ziehen müssen. Viel schlimmer war jedoch gewesen, wie herablassend ihre Lehrer und ihrer Klassenkameraden sie daraufhin behandelt hatten. Hatte Akkarin richtig entschieden, indem er darauf bestanden hatte, ihre Beziehung geheim zu halten?

„Sonea, ich verurteile dich nicht für deine Gefühle“, unterbrach Lady Vinara ihre Gedanken. „Aber du musst wissen, wie du dich vor den Folgen schützen kannst, sollte Akkarin dir gegenüber irgendwann seine Beherrschung verlieren.“

Sonea betrachtete die Heilerin aufgebracht. Es kostete sie all ihren Willen nicht aufzufahren und Akkarin zu verteidigen. Wie konnte sie so schlecht von ihm denken? War es, weil es ein schwarzer Magier war?

Sie vertrieb ihren Ärger mit einem tiefen Atemzug. „Dann sollte ich das wohl besser lernen.“

 

 

***

 

Von seiner Bank aus hatte Rothen den Eingang des Heilerquartiers im Blick. Während Sonea bei Akkarin war, hatte er sich auf die Suche nach seinem Sohn gemacht. Doch man hatte ihm nur gesagt, Dorrien sei in der Stadt unterwegs. Zwei Wochen nach der Schlacht herrschte in Imardin noch immer großes Chaos. Zahlreiche Häuser im Inneren Ring lagen in Trümmern, nachdem die Ichani die Magie aus den Konstruktionen gezogen hatten, um sich zu stärken. Die Bewohner, die vor der Invasion evakuiert worden waren, kehrten allmählich zurück und nicht wenige von ihnen fanden nur noch Ruinen vor.

Ein Großteil der Magier verbrachte seine Tage damit, die Häuser wieder aufzubauen und die zerstörten Nordtore und das Tor zum Inneren Ring zu reparieren. In den Hüttenvierteln war ein Feuer ausgebrochen, nachdem ein paar Bewohner einen Ichani getötet hatten. Wie Sonea ihm erzählt hatte, hatte der Ichani alles in einem Umkreis von mehreren hundert Schritten dem Erdboden gleichgemacht, als er im Augenblick seines Todes die Kontrolle über seine Magie verloren hatte. Dabei waren mehrere Hütten in Brand geraten. Während das Feuer inzwischen wieder gelöscht war, litten die Menschen, die diese Katastrophe überlebt hatten, noch immer unter den Folgen. Zudem war eine Seuche ausgebrochen, die in den Hüttenvierteln und im Nord- und Westviertel wütete und die sich rasch ausbreitete, weil sich die obdachlos gewordenen Menschen in Bleibehäusern und Herbergen zusammendrängten.

Dorrien war nicht der einzige Heiler, der sich um das Wohl der Stadtbevölkerung kümmerte. Rothen schwante indes, sein Sohn tat dies vor allem auch, um der Gilde zu entfliehen. Ganz besonders ihm und Sonea. Es war seine Art damit fertig zu werden, dass Sonea einen anderen liebte.

„Wenn ich schon nicht mich selbst heilen kann, will ich wenigstens anderen helfen“, hatte Dorrien nur gesagt, als Rothen ihn kurz nach der Schlacht zur Rede gestellt hatte. Das war das letzte Mal, dass er seinen Sohn zu Gesicht bekommen hatte.

Obwohl Soneas Gefühle für Dorrien nicht über eine Freundschaft hinausgingen, war dieser seit ihrer ersten Begegnung völlig in sie vernarrt. Anstatt zu respektieren, dass Sonea in ihm nur einen Freund sah, schien Dorrien jedoch umso besessener von ihr zu werden, desto unerreichbarer sie für ihn wurde.

Seine Augen schließend genoss Rothen die frische Luft. Der Tag war ungewohnt kühl und ein kräftiger Wind blies allenthalben dunkle Wolken vom Meer aufs Festland. Seit der Schlacht hatte er sein Apartment nur verlassen, um an wichtigen Treffen der höheren Magier und Gildenversammlungen teilzunehmen, bei denen über den Wiederaufbau der Stadt, die Neuverteilung der Ämter oder über das weitere Vorgehen bezüglich Akkarin und Sonea diskutiert wurde. Rothen hatte jedoch klargestellt, sie sollten nur nach ihm schicken, wenn seine Anwesenheit wirklich erforderlich war. Sonea brauchte ihn. Für sie hatte er sogar seine Pflichten als Lehrer und seine neues Amt als Leiter der alchemistischen Studien vorübergehend vernachlässigt.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie Sonea das Heilerquartier verließ. Sie wirkte aufgebracht.

Er erhob sich und eilte auf sie zu.

„Das war so demütigend!“, rief sie, als er sie fast erreicht hatte.

Mit großen Schritten stapfte sie in Richtung der Magierquartiere, die Hände in den langen Ärmeln ihrer Robe zu Fäusten geballt. Erneut hatte Rothen Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

„Was hat er getan?“

Sonea hielt inne und wandte sich ihm zu. Ihre Haare flatterten im Wind und ihre dunklen Augen funkelten zornig.

„Doch nicht Akkarin!“

Ein Gruppe Heiler, die ihnen entgegen kam, blickten furchterfüllt in ihre Richtung.

Sie war es!“

„Lady Vinara?“

Sonea nickte finster.

Rothen blinzelte verwirrt. „Was hat sie getan?“

„Sie hat …“ Sonea schnappte erregt nach Luft und wurde rot. „Wenn ich nur daran denke, könnte ich im Erdboden versinken!“

Rothen kicherte. „Ah, ich verstehe.“

Sie beachte ihn mit einem vernichtenden Blick.

„So etwas ist niemals angenehm, Sonea“, sagte er sanft. „Aber glaub mir, es war längst überfällig.“

„Wie könnt Ihr das sagen! Ihr wisst doch gar nicht …“

„Sonea, ich kenne dich lange genug, um mir den Rest zu denken, wenn du mir etwas nur zur Hälfte erzählst.“

Sie sah ihn an, ihr Blick war wild.

„Es ist in Ordnung“, beruhigte Rothen sie. Er sah sich um und senkte die Stimme. „Du bist eine vernünftige, erwachsene Frau. Ich kann dir nicht verbieten, mit einem Mann intim zu werden. Ich bezweifle, dass du so an ihm hängen würdest, wäre er nicht anständig zu dir.“

Auch wenn ich wünschte, es wäre nicht ausgerechnet Akkarin!

Soneas Miene wurde ein wenig weicher. Rothen verstand sie jedoch nur allzu gut. Zu lernen, wie man sich vor unerwünschten Folgen des Beischlafs schützte, war für die meisten Novizen eine eher peinliche Erfahrung. Trotzdem musste es sein. Aus dem, was Sonea ihm erzählt hatte, schloss Rothen, dass sie und Akkarin mindestens einmal miteinander geschlafen hatten. Sie konnte von Glück sagen, dass es ohne Konsequenzen geblieben war, auch wenn er annahm, Akkarin hatte die nötigen Vorkehrungen selbst getroffen.

So wie er Sonea kannte, ging es jedoch nicht nur darum, dass Lady Vinara mit ihr das ’Gespräch’ geführt hatte. In der Gilde ging seit der Schlacht das Gerücht, zwischen ihr und Akkarin existiere eine Affäre. Wahrscheinlich fürchtete sie die Konsequenzen, sollte dies sich als wahr erweisen.

„Komm, wir gehen ein wenig spazieren“, schlug Rothen vor. „Dann kannst du dein hitziges Gemüt abkühlen und mir alles von deinem Besuch bei Akkarin und deinem Gespräch mit Lady Vinara erzählen, ohne dass wir Zuhörer haben. Ist das ein Angebot?“

Sonea nickte. „Danke, Rothen.“

Nachdem sie die Gebäude der Universität hinter sich gelassen und den Weg in den Wald eingeschlagen hatten, berichtete Sonea ausführlich, was ihr im Heilerquartier widerfahren war. Während sie sprach, wurde sie allmählich ruhiger und nachdem ihr Ärger verraucht war, vertraute sie ihm ihre Ängste und Bedenken an.

„Nun ich denke, fürs Erste ist es besser, wenn ihr eure Beziehung geheim haltet“, sagte Rothen, nachdem sie geendet hatte. „Wenn die Gilde euch beide wieder aufnimmt, wird es für sie dadurch, dass ihr schwarze Magier seid, schon schwer genug. Eure Beziehung könnte euch erheblichen Schaden zufügen, weil viele das nicht billigen werden.“

„So etwas Ähnliches hat Akkarin auch gesagt.“

„Und damit hat er recht.“

Selbst als Akkarin noch Hoher Lord gewesen war, hätte er sich über nicht derart über die Gilde hinwegsetzen können. Jetzt hingegen würde es für den schwarzen Magier noch schwieriger werden, Sonea zu beschützen. Würde ihm Soneas Wohlergehen nicht so sehr am Herzen liegen, so hätte Rothen es lieber gesehen, würden die beiden ihre Beziehung beenden, um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Doch anscheinend vermochte nicht einmal der Tod Akkarin und Sonea zu trennen? Wie sollte es die Vernunft dann können?

„Aber für Euch ist das mit Akkarin doch kein Problem, nicht wahr?“, fragte Sonea zögernd.

Rothen schüttelte den Kopf. Ihm war nicht wohl dabei, Sonea überhaupt mit einem Mann zusammen zu wissen. Wenn überhaupt, dann hätt er sich dazu jemanden wie Dorrien gewünscht. Aber er wusste, sie traf ihre Entscheidungen niemals unüberlegt. Und solange sie glücklich war, war ihm das Bestätigung genug, dass er sich keine Sorgen machen brauchte.

„Für mich nicht“, antwortete er. „Aber für viele der anderen Magier. Besonders für die älteren.“

„Akkarin hat gesagt, er würde sich einen Plan überlegen, wie wir trotzdem zusammen sein können.“

Rothen verkniff sich ein Lächeln. „Es würde mich wundern, wenn er das nicht tut.“

Während sie durch den Wald spazierten, dachte Rothen daran, wie einige seiner Nachbarn darauf reagiert hatten dass Sonea vorübergehend bei ihm wohnte. Schon bald würde Akkarin aus dem Heilerquartier entlassen und ebenfalls in eines der Magierquartiere ziehen. Aus den Gildenversammlungen wusste Rothen, dies würde erneut für Proteste sorgen, weil viele Magier von der Vorstellung, einen schwarzen Magier als Nachbar zu haben, beunruhigt waren. Rektor Jerrik und Lord Ahrind hatten zudem dagegen Einspruch erhoben, Sonea einen Platz im Novizenquartier zuzuteilen. In den Magierquartieren würde sie indes nicht bleiben können.

Er führte Sonea fort von dem Weg, dem sie bisher gefolgt waren. Es ging ein wenig bergauf und Rothen begann zu schnaufen. Mit leisem Neid betrachtete er Sonea, der die Steigung nichts auszumachen schien.

Ich bin wahrhaftig ein gutes Vorbild für meine Schützlinge, dachte er. Immer wieder habe ich ihnen gesagt, sie sollen sich öfter an der frischen Luft bewegen, anstatt sich hinter ihren Büchern zu verstecken, und hier bin ich alter Stubenhocker und schaffe noch nicht einmal diesen Hügel.

Sie überquerten die Kuppe des Hügels und stiegen dann wieder hinab in den Wald. Nach einem kurzen Stück durch das Unterholz teilten sich die Bäume vor ihnen und gaben den Blick auf ein kleines, aber imposantes Haus im Stil der Villen im Inneren Ring frei. Obwohl es verlassen wirkte, zeigte die Fassade keinerlei Spuren von Vernachlässigung.

Sonea blickte sich verwirrt um. „Sind wir noch in der Gilde?“

„Ja.“ Rothen lächelte. „Wir sind bei den Residenzen. Das hier ist die Arran-Residenz.“

„Oh“, machte sie überrascht. „Warum ist mir das Haus noch nie aufgefallen?“

„Es steht ein wenig abseits von der Straße und den anderen Häusern. Lord Iven, der Magier für den es erbaut wurde, war schon immer ein wenig wunderlich gewesen. Und je älter er wurde, desto mehr wurde er zum Einsiedler.“

„Ihr sprecht von ihm, als wäre er gestorben.“

„Das ist er. Im letzten Winter, nachdem er über zehn Jahre hier gewohnt hat. Er wurde fast einhundert Jahre alt.“

Stirnrunzelnd blickte Sonea hinauf zu den fragilen Türmen. „Aber warum ist es dann nicht wie die anderen abgebrannt?“

„Lord Iven fürchtete um seine Frau, die mit ihm in dieses Haus zog. Weil sie sich weigerte, ihn zu verlassen, als es mit ihm zu Ende ging, musste sie in einem anderen Zimmer schlafen, damit sie in Sicherheit war, sollte er im Schlaf sterben. Aus demselben Grund brauchte er jeden Tag seine verbleibende Magie nahezu auf. Nach seinem Tod musste daher nur das große Schlafzimmer renoviert werden.“

Sonea schlang die Arme um ihren Körper. „Können wir bitte über etwas anderes reden?“

„Natürlich“, erwiderte Rothen sanft.

Er hatte nicht daran gedacht, dass Sonea auf dieses Thema empfindlich reagieren könnte, und nahm sich vor, diesbezüglich etwas behutsamer zu sein.

„Möchtest du es dir ansehen?“, fragte er stattdessen.

„Gerne.“ Sie hielt inne und musterte ihn misstrauisch. „Warum habt Ihr mich hergeführt?“

„Ich wollte einen Spaziergang machen, um dich auf andere Gedanken zu bringen“, antwortete er lächelnd.

Ihre Augen verengten sich, dann nickte sie. „Sehen wir es uns an.“

Sie gingen zum Eingang. Rothen berührte den Türgriff, doch die Tür blieb verschlossen. Er streckte seinen Geist aus, um sie zu untersuchen und stellte fest, dass sie mit einem magischen Schloss belegt war, dessen Mechanismus ihm unbekannt war.

„Es muss versiegelt worden sein“, sagte er. „Wir werden uns mit einem Blick durch die Fenster begnügen müssen.“

Er folgte Sonea, die bereits an der Hauswand entlang gelaufen war und durch ein Fenster spähte. Es war so hoch, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste.

„Die Zimmer sehen sehr groß aus“, sagte sie. „Aber die Möbel sind alle mit Tüchern bedeckt.“

„Das ist, damit sie nicht verstauben.“ Er betrachtete sie lächelnd. „Gefällt es dir?“

Sonea nickte und betrachtete die Außenfassade hingerissen. „Ein wirklich schönes Haus. Der Architekt, der es gebaut hast, muss sehr begabt gewesen sein.“

„Das Haus Arran züchtet Rennpferde. Lord Iven konnte sich gewiss einen guten Architekten leisten.“

„Was ist aus seiner Frau geworden?“

„Sie ist zu ihrer Familie in die Stadt gezogen.“

Sie hatten das Haus zur Hälfte umrundet. Auf der Rückseite befand sich eine Veranda mit hohen Fenstern, die bis zum Boden reichten. Der weitläufige Balkon darüber wurde von zerbrechlich wirkenden Säulen gestützt. Rothen hätte dieser Konstruktion wenig Vertrauen geschenkt, würde er nicht wissen, dass sie mit Magie verstärkt war.

Das Gras auf der Rückseite des Hauses war hoch und wogte im Wind. Die Bäume und Sträucher waren ungeschnitten und Unkraut wucherte in den Beeten. Der ganze Garten machte einen verwilderten Eindruck.

„Es gibt sogar Pachibäume!“

Begeistert wies Sonea auf eine kleine Gruppe von Bäumen, deren Äste sich unter dem Gewicht zahlreicher Pachi bogen. Rothen sah zu, wie sie auf die Bäume zu lief und die Früchte betrachtete.

„Schade, sie sind noch nicht reif.“

Rothen lächelte. Erfreut stellte er fest, dass er an diesem Nachmittag mehr bei ihr erreicht hatte, als in den gesamten zwei Wochen zuvor.

„Nun, wenn du hungrig bist, dann sollten wir besser zurückgehen.“

 

 

***

Kapitel 2 - Die Trauerfeier

 Kapitel 2 – Die Trauerfeier

 

 

An dem Tag, an dem die Gilde Abschied von den in der Schlacht gefallenen Magiern nahm, brachte eine Vorahnung von Herbst. Ein kräftiger Wind blies dunkle Regenwolken vom Meer heran und versuchte mit unerbittlicher Beharrlichkeit, alle Trauer fortzuwehen, während ein kalter Regen ihre Überreste aus den Herzen wusch.

Auf der kleinen Waldlichtung drängten sich die Magier, die die Invasion der Ichani überlebt hatten, und zahlreiche in der Gilde lebende Angehörige und Verwandte aus den Häusern unter einem Schild, der Wind und Regen aussperrte und eine behagliche Wärme schuf. Sonea indes spürte sie kaum. Alle Wärme der Welt konnte nicht die in ihrem Herzen herrschende Kälte vertreiben. So viele waren eines unnötigen Todes gestorben. Zu viele. Auch drei Wochen nach der Schlacht glaubte sie noch immer unter Schock zu stehen.

Sonea hatte fast alle in der Schlacht gefallenen Magier gekannt, wenn auch nicht alle von ihnen wirklich gut. Dass ihr Tod hätte vermieden werden können, war bereits hinreichend bedrückend. Wenn sie aber daran dachte, dass sie beinahe den Menschen verloren hatte, der ihr am meisten bedeutete und wie es wäre, ihn hier und heute zu begraben, dann glaubte sie noch immer, sie müsse zusammenbrechen. Selbst jetzt spürte sie bei dieser Vorstellung Tränen in ihre Augen steigen.

Sie blinzelte sie fort und wandte den Kopf zu dem Mann an ihrer Seite.

Akkarins Miene war wie immer undurchdringlich und distinguiert. Inzwischen kannte Sonea ihn gut genug, um zu wissen, dass er seine Gefühle vor anderen gut zu verbergen wusste. Für sie hingegen war sein Schmerz nur schwer zu ignorieren. In der Schlacht hatte er seinen besten Freund verloren. Sonea ahnte, dass er vor allem sich selbst die Schuld für Lorlens Tod gab. Wie sehr musste er bereuen, was er ihrer Freundschaft angetan hatte, um Kyralia zu beschützen!

An diesem Morgen hatten die Heiler Akkarin endlich für vollständig genesen erklärt. Er wirkte noch immer blass, wenn auch seine Gesichtsfarbe inzwischen wieder deutlich gesünder war. Seine Ausstrahlung hingegen war so ehrfurchtgebietend wie eh und je, was nicht nur an der Farbe seiner neuen Robe lag.

Im Nachhinein erschien es Sonea als habe es unerträglich lange gedauert, bis Akkarin aus seiner magischen Erschöpfung aufgewacht war. Nachdem sie ihn gerettet hatte, hatte er gerade genug Kraft gehabt, um am Leben zu bleiben und es waren mehr als zwei Wochen verstrichen, bis er sich vollständig regeneriert hatte. In dieser Zeit hatte es sich oft so angefühlt, als habe sie ihn wirklich verloren. Zusammen mit der Ungewissheit, ob er überhaupt jemals wieder aufwachte, war das für Sonea nur schwer zu ertragen gewesen.

Entgegen ihren Hoffnungen hatten die Heiler ihr nur ein einziges Mal erlaubt, ihn zu besuchen. Damit er sich nicht überanstrengt, hatte es geheißen. Sonea indes hatte das keinen Augenblick geglaubt. Sie war sicher, die Gilde wollte sie zu ihrer eigenen Sicherheit voneinander getrennt wissen. Während die Magier sie anscheinend als die geringere Gefahr betrachteten, schienen sie sich vor Akkarin mehr denn je zu fürchten und hatten ihn im Heilerquartier unter permanente Bewachung gestellt. Die Magier waren talentiert darin, Fehlentscheidungen zu treffen, aber sie waren nicht so dumm zu glauben, Sonea würde die Gelegenheit, Akkarin ihre Kraft zu geben, ungenutzt lassen.

Zu ihrer Überraschung waren sie auf dem Weg zur Lichtung jedoch nicht von einer Eskorte von Kriegern begleitet worden. Rothen hatte ihr erklärt, dass die höheren Magier während der Trauerfeier keine Fluchtgefahr sahen. Anscheinend gestanden sie ihr und Akkarin dafür genug Anstand zu. Zudem hielt Sonea es für hinreichend töricht, vor so vielen Magiern einen Fluchtversuch zu unternehmen. Nicht, wenn sie beide nicht stark genug waren, um gegen mehr als einhundert Gildenmagier zu kämpfen.

Sonea lächelte humorlos. Wenigstens für heute hatte die Gilde entschieden, sie und Akkarin nicht wie Verbrecher zu behandeln. Denn als genau das fühlte Sonea sich. Nicht weil sie fand, ein Verbrechen begangen zu haben, als sie freiwillig schwarze Magie gelernt und damit getötet hatte, um Kyralia zu schützen. Sondern weil die Gilde sie und Akkarin trotz allem, was sie für sie getan hatten, als Verbrecher behandelte. Für Sonea wäre das genug Grund, wieder fortzugehen, hätte Akkarin nicht darauf bestanden, hierzubleiben.

Wir werden die Gilde nicht verlassen, solange sie das nicht ausdrücklich wünscht, hatte er gesagt. Ohne uns sind die Magier jedem erneuten Angriff aus Sachaka hilflos ausgeliefert.

Sonea wusste, sie wäre ihm überall hin gefolgt, wenn nötig sogar ein zweites Mal nach Sachaka. Sie hätten irgendwo neu anfangen können, wo niemand Jagd auf sie machte und wo sie frei waren. Weiter im Norden gab es noch andere Länder, die nicht zur Allianz der Verbündeten Länder Kyralia, Elyne, Lonmar, Vin und Lan gehörten. Dort würde man ihnen vielleicht freundlicher gesonnen sein.

Sonea schob ihre Gedanken an Flucht und Freiheit beiseite. Sie wusste, sie konnte nicht gehen, weil sie und Akkarin die Gilde nicht ungeschützt lassen konnten. Etwas wie die Invasion der Ichani durfte sich nicht wiederholen. Zu viele waren im Kampf gegen die Ichani gestorben. Die meisten Magier hatten sich erschöpft, einige wenige hatten wiederum eine unglückliche Begegnung mit einem Ichani gehabt und waren durch schwarze Magie gestorben.

Am Vortag waren die Leichen der am Nordpass und bei Calia gefallenen Magier nach Imardin überführt worden. Es hatte eine Weile gedauert, weil die Aufräumarbeiten in der Stadt Vorrang gehabt hatten und man hatte die Leichen daher mit Magie konserviert. Jetzt langen sie neben ihren in der Stadt gefallenen Kollegen in Särgen in den zahlreichen ausgehobenen Gräbern auf der Lichtung.

Einen tiefen Atemzug nehmend schob Sonea den plötzlichen Schmerz beiseite. Es war albern, sich mit der Vorstellung zu quälen, dass der Mann, dem sie ihre bedingungslose Liebe geschenkt hatte, in einem dieser Särge läge. Es war ihr gelungen, ihn wiederzubeleben. Sie fand, sie sollte dankbar für die Chance sein, die sich ihr damit bot, anstatt wie ein kleines Kind wegen etwas zu weinen, das sie abgewendet hatte.

Sonea ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Offenkundig hatte die Gilde es für passend befunden, sie nahe dem alten Friedhoft zu schaffen, dessen Gräber den Magiern lange Zeit Rätsel aufgegeben hatten. Inzwischen wusste die Gilde jedoch, dass ihre längst verstorbenen Vorfahren schwarze Magie praktiziert hatten. Die alten Magier hatten es ’höhere Magie’ genannt und ihre Magie kurz vor ihrem Tod einem anderen Magier übertragen, so dass ihre Körper unversehrt blieben. Sonea wollte das indes nicht als Zeichen sehen, dass die Magier bereit waren, schwarze Magie zu tolerieren.

Sie und Akkarin standen mit den höheren Magiern in der vordersten Reihe. Ob es war, damit man ein besseres Auge auf sie hatte, weil Akkarin einst Hoher Lord gewesen war, oder weil man ihnen als Retter der Gilde diese Ehre zuteilwerden ließ, hätte sie nicht sagen können.

Vielleicht war es von allem etwas.

Rothen stand zu ihrer anderen Seite, gemeinsam mit seinem Freund Dannyl, der noch nicht wieder nach Elyne zurückgekehrt war. Er und Rothen waren die ersten Magier, die Sonea mögen gelernt hatte. Sie hatte es bedauert, als Dannyl nach Elyne gegangen war. Seitdem kam er nur selten zu Besuch und wenn, dann aus einem offiziellen Anlass. An diesem Tag war er in Begleitung eines gutaussehenden Elyners in auffallend figurbetonender, aber dunkler Kleidung.

Zu Soneas Missfallen erblickte sie jedoch einen weiteren Nichtmagier in der vordersten Reihe. König Merin von Kyralia und seine beiden Berater Lord Rolden und Lord Mirken.

Obwohl sie begriff, warum er hier war, ärgerte sie sich über seine Anwesenheit. Als sie mit Rothen und Akkarin gekommen war, hatte der König einige wenige Worte mit Akkarin gewechselt und ihm überraschend friedfertig seinen Dank für die Rettung der Stadt ausgesprochen.

Sonea scheiterte indes daran, dem König dafür Sympathie entgegenzubringen. Ihr Abneigungen gegen diesen Mann reichte lange zurück. Jedes Jahr im Winter ließ er die Stadt von den Armen und Kranken säubern und trieb sie hinaus in die Hüttenviertel, wo sie kaum eine Chance hatten, den Winter zu überstehen. So auch einst ihre Familie, nachdem sie sich über zwei Jahre eine Existenz im Nordviertel aufgebaut hatten. Als die Ichani gekommen waren, hatte er nur die Reichen aus den Häusern evakuiert. Und weil er ihre und Akkarins Verbannung befohlen hatte, standen sie heute überhaupt hier.

Das war genug Grund, ihn niemals zu mögen.

Lord Balkan, der einen Tag zuvor offiziell zum neuen Oberhaupt der Gilde ernannt worden war, hielt die Trauerrede als seine erste Amtshandlung. Für den eher barschen und wortkargen Krieger sprach er überraschend bewegend. Während der Wind unaufhörlich Regentropfen gegen den Schild peitschte und diese unter einem leisen aber beständigen Zischen verdampften, zählte er die Namen der Magier auf, die während der Invasion gefallen waren. Zu jedem sagte er ein paar Worte über dessen Leben und seinen Verdienst für die Gilde. Als zu Lorlen kam, griff Sonea unauffällig nach Akkarins Hand und drückte sie leicht. Er erwiderte ihre Geste, ließ sie aber sofort wieder los. Obwohl sich seine Miene nicht veränderte, sah Sonea, dass seine Augen verräterisch glänzten.

Sie seufzte leise. Es wäre soviel einfacher gewesen, ihn zu trösten, würde er ihre Beziehung nicht geheim halten wollen. Sonea hatte sich ihm in dieser Angelegenheit nur unwillig gefügt. Ob es ihr gefiel oder nicht, es war das Sicherste, bis die Gilde endgültig entschieden hatte, wie sie weiterhin mit ihnen verfahren wollte. Sie wusste, Akkarin verfolgte irgendeinen Plan, um zu verhindern, dass die Gilde sie entzweite. Aber er hatte sie nicht in die Details eingeweiht und sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen.

Obwohl sie ihm bedingungslos vertraute, verspürte Sonea Furcht. Was, wenn er nicht mehr genügend Einfluss besaß, um sich gegen die Gilde durchzusetzen und diese ihnen verbieten würde zusammen zu sein? Konnte die Gilde sie für ihre Beziehung erneut nach Sachaka schicken? Ihr fielen genügend Gründe ein, warum die Gilde ihre Liebe nicht dulden könnte. Und Lady Vinara war wahrscheinlich nicht die Einzige, die bereits Verdacht geschöpft hatte.

„ … so mögen wir nun von unseren Freunden, Kollegen und Verwandten Abschied nehmen“, beendete Balkan seine Rede. „Wir werden niemals vergessen, wofür sie gelitten und gekämpft haben. Wir werden niemals vergessen, wofür sie gestorben sind. Ein Teil von ihnen wird als Erinnerung auf immer in uns weiterleben.“

Eine Frau in einem dunklen Gewand trat vor. Ihre langen Haare waren zum Zeichen ihrer Trauer mit einem Schleier bedeckt. Auch die anderen weiblichen Gäste hatten ihr Haar bedeckt, wohingegen die Männer allesamt Hüte trugen. Die Magier hatten die Kapuzen ihrer Roben übergezogen.

Während die höheren Magier gefolgt vom Rest der Gilde und den Angehörigen sich hinter Balkan aufreihten, um vor die offenen Gräber zu treten, begann die Frau zu singen. Ihre Stimme war so herzzerreißend wunderschön und die Melodie so traurig, dass Soneas Augen erneut zu brennen begannen. Dieses Mal sah sie sich indes unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Sie spürte, wie Akkarin eine Hand auf ihre Schulter legte. Es war nur eine einfache Geste und doch spendete sie ihr ein wenig Trost.

Gemeinsam traten sie zu den Gräbern und schritten die Reihen entlang, um sich von denen zu verabschieden, die sie gekannt hatten.

Während die Hüttenleute ihre Toten verscharrten oder in den Fluss warfen, legten die reichen Kyralier ihren Verstorbenen Blumen und persönliche Gegenstände ins Grab. Da Sonea keinen der Verstorbenen für Letzteres gut genug gekannt hatte, hatte sie sich für Blumen entschie. Nicht einmal Lorlen hatte sie so nahe gestanden. Sonea kam nicht umhin, das zu bedauern.

Vor Lord Yikmos Grab blieben sie stehen. Der Krieger aus Vin war bei der Schlacht von Calia gefallen. In Soneas erstem Jahr hatte er ihr Privatunterricht in Kriegskunst gegeben. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung gegen diese Disziplin war es ihm gelungen, ihre Begeisterung zu wecken. Yikmo hatte sie gefordert und hatte mit Geduld die Gründe für ihre Lernschwäche aufgedeckt. Später hatte er Sonea auf das Duell gegen ihren Widersacher Regin vorbereitet, was ihr schließlich den Respekt der anderen Novizen eingebracht hatte. In einem Anflug von Schuldgefühl erinnerte sie sich an seine Reaktion als die Gilde sie und Akkarin verstoßen hatte und sie fragte sich, ob er noch immer enttäuscht von ihr gewesen wäre, nachdem sie die Schlacht für Kyralia entschieden hatten. Sie schluckte und ließ einige der Blumen hinab auf seinen Sarg schweben.

Ein Seufzen unterdrückend ging Sonea weiter, Akkarin an ihrer Seite. Nur verschwommen nahm sie wahr, wie die Sängerin ein zweites, nicht weniger trauriges Lied anstimmte. Vor dem Grab ihres letzten Kriegskunst-Lehrers hielten sie erneut. Lord Makin war bei dem Angriff auf das Fort gefallen und einer von Soneas Lieblingslehrern gewesen. Besonders seine Geschichten, mit denen er ein neues Thema einzuleiten pflegte, würden ihr fehlen, wie ihr mit einem Mal schmerzlich bewusst wurde. Auch er erhielt einige Blumen, ebenso wie ihr letzter Alchemielehrer Lord Halvin, während sie die übrigen für Lorlen aufhob.

„Hast du es?“, fragte Akkarin, als sie schließlich das Grab des ehemaligen Administrators erreichten.

Sonea nickte und zog ein kleines Holzkästchen mit Spielsteinen aus ihrer Robe. Sie hatte es aus dem Versteck an der Quelle geholt, nachdem Akkarin ihr am vergangenen Abend über einen Boten des Heilerquartiers eine Nachricht geschickt hatte. Als Novizen hatten Akkarin und Lorlen sich mit diesem Siel oft die Zeit vertrieben, wenn sie den Unterricht geschwänzt hatten. Diese Vorstellung sorgte bei Sonea selbst jetzt für eine leise Erheiterung. Es fiel ihr schwer, sich Akkarin als einen Novizen vorzustellen, der mit Vorliebe gegen die Regeln verstieß. Allerdings musste sie ihm zugestehen, als Hoher Lord in dieser Hinsicht nicht besser gewesen zu sein, wenn auch er dafür gute Gründe gehabt hatte.

Sonea reichte ihm das Kästchen und beobachtete, wie er es mit ausdrucksloser Miene mit den Blumen auf den Sargdeckel schweben ließ.

Mehrere Minuten verstrichen, in denen sie schweigend vor Lorlens Grab verharrten. Andere kamen vorbei, legten Blumen hinein und gingen weiter. Obwohl alles in Sonea danach schrie, diesen Ort zu verlassen, wich sie nicht von Akkarins Seite. Akkarin hatte keine Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden. Er hatte diese Freundschaft für das Wohl Kyralias geopfert, weil Lorlen nicht bereit für die Wahrheit gewesen war. Sonea konnte nur erahnen wie wütend und enttäuscht und verraten sich Lorlen gefühlt haben musste und wie entsetzlich es für Akkarin gewesen war, das jeden Tag durch Lorlens Blutring zu spüren. Lorlen war gestorben, bevor beide sich hatten aussprechen können. Das hier war Akkarins letzte Gelegenheit, sich seinem Freund mitzuteilen, selbst wenn dieser ihn nicht mehr hören konnte.

Sie unterdrückte ein Seufzen und fühlte sich hilfloser denn je.

„Wir sollten gehen“, murmelte Akkarin plötzlich. Er legte eine Hand zwischen ihre Schulterblätter, so dass sie sich per Gedankenrede verständigen konnten, und schob sie sanft weiter.

- Warum?, wollte sie wissen.

- Lorlens Eltern. Ein Bild von einem älteren Ehepaar in kostbaren Gewändern blitzte in ihrem Geist auf. Es ist besser, wenn ich seiner Mutter vorläufig aus dem Weg gehe. Sie war schon immer ausgesprochen talentiert darin, mir die Schuld an allem zu geben, was wir als Novizen ausgeheckt haben, selbst wenn ich es ausnahmsweise einmal nicht war. Eine Begegnung mit ihr nach all der Zeit könnte … interessant werden.

Sonea versuchte, ihre Erheiterung zu unterdrücken. Lorlens Mutter musste eine beeindruckende Frau sein, wenn Akkarin so auf sie reagierte.

- Versteh mich nicht falsch, sandte er. Ich weiß, ich muss mich ihr stellen. Ich weiß nur nicht, ob ich das jetzt schon kann.

- Ich weiß. Ich halte dich nicht für einen Feigling, falls du das denkst.

Akkarin erwiderte nichts darauf.

Sicher plagen ihn auch ohne Lorlens Mutter schon genug Schuldgefühle, überlegte Sonea. Seine unerwartete Offenheit ließ erahnen, wie sehr er um seinen besten Freund trauern musste. Wahrscheinlich würde er viel Zeit brauchen, um Lorlens Tod zu verarbeiten. Jäh musste sie wieder daran denken, dass sie ihn beinahe auch verloren hätte. Sie holte tief Luft und versuchte das inzwischen vertraute Zittern zu unterdrücken, das sie bei der Erinnerung an jenen Tag noch immer verspürte. Würde das jemals aufhören?

Als die Sängerin ihr Lied beendete, trat eine bedrückende Stille ein, die nur von dem Zischen der auf den Schild treffenden Regentropfen unterbrochen wurde. Die Gäste der Trauerfeier kehrten zurück zu ihren Plätzen.

Eine Gruppe von Magiern trat vor und stellte sich um die offenen Gräber auf. Sonea bemerkte, dass sie aus gleichsam vielen Kriegern, Heilern und Alchemisten bestand. Auf Balkans Kommando hoben sie die am Rand der Lichtung aufgehäufte Erde und füllten die Gräber damit auf, bis auf jedem ein kleiner Hügel war. Dann ließen sie die Steine, die neben dem Erdhügel gelegen hatten, über die Gräber schweben. Die Steine begannen zu glühen und verformten sich zu flachen Quadern. Als das Glühen verblasste, ließen die Magier die Steine herab sinken und trieben sie in den Erdboden. Sonea sah, dass jetzt auf der Vorderseite eines jeden Steins Name, Geburts- und Sterbedatum des darunter liegenden Magiers zu lesen waren.

Die Endgültigkeit dieser Zeremonie brachte einige der Frauen erneut zum Weinen und ließ Sonea frösteln. Allmählich leerte sich die Lichtung. Regentropfen klatschten kalt in Soneas Gesicht, als sich der Schild über ihr auflöste, doch sie spürte es kaum.

„Kommst du?“

Akkarins Stimme drang nur schwach durch die plötzlich einsetzende Betäubung.

„Es ist vorbei“, sagte er leise und berührte kurz ihren Arm. „Lass uns gehen.“

Sonea schüttelte den Kopf, begreifend, dass er hier bei ihr war und nicht unter einem dieser Erdhügel lag, und folgte ihm zum Rand der Lichtung. Dort, wo der Weg zurück zur Gilde führte, entdeckte Sonea mehrere vertraute Gestalten am Wegrand. Rothen, Dannyl und Rothens Sohn Dorrien, der Akkarin finster anblickte und sich dann abwandte. Neben Dannyl stand der gutaussehende Elyner, der Sonea schon vorher aufgefallen war.

Rothen lächelte ihr aufmunternd zu. „Wollen wir?“

Sie nickte. „Danke, dass Ihr auf uns gewartet habt.“

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte er. Sein Blick war starr auf sie gerichtet, als wolle er es vermeiden, Akkarin anzusehen.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung und die Luft vor Soneas Augen begann zu flimmern. Es wurde warm und Regen und Wind setzten in einem kleinen Umkreis um sie und Akkarin aus. Sie sah zu ihm hoch und er begegnete ihrem Blick mit der Andeutung eines Lächelns.

Während sie durch den Wald gingen, sprach niemand ein Wort. Sonea fragte sich, ob die anderen sich in ihrer und Akkarins Gegenwart unbehaglich fühlten. Offiziell galten sie noch immer als ausgestoßen. Von Rothen wusste sie, dass viele Magier sie fürchteten. Andere schämten sich, weil sie Sonea und Akkarin verurteilt hatten und blind für eine Wahrheit gewesen waren, die der Gilde fast den Untergang gebracht hätte.

Mit dem größer werdenden Abstand zum Friedhof hob sich Soneas finstere Stimmung ein wenig. Nur die unterschwellige Spannung, die sie zwischen Rothen und Akkarin wahrnahm, bereitete ihr Unbehagen. Die einzigen Worte zwischen den beiden Männern an diesem Tag gefallen, als Rothen sie zum Heilerquartier begleitet hatte, um ihn abzuholen. Akkarin hatte Rothen gedankt, weil er sich um sie gekümmert hatte, und Rothen hatte dies mit einem Nicken zur Kenntnis genommen.

Sonea unterdrückte ein Seufzen. Es wurde höchste Zeit, dass die beiden sich aussrachen. Es war ihr unangenehm, der Grund für ihren Groll zu sein und sie mochte beide zu sehr, als dass sie es ertragen konnte, dass sie einander so unterkühlt begegneten.

 

 

***

 

Jedes Mal, wenn Cery durch die Straße ging, in der die Hüttenleute den Ichani getötet hatten, empfand er blankes Entsetzen. In einem Umkreis von einigen hundert Schritt hatte der sachakanische Magier in seinen letzten Augenblicken alles dem Erdboden gleichgemacht. Die Hitze der Explosion hatte einige Hütten in Brand gesetzt, woraufhin sich ein Feuer ausgebreitet hatte. Hätte Cery gewusst, dass der Tod eines Magiers solch verheerende Folgen haben konnte, hätte er sich nicht dafür entschieden, die Invasoren von Freiwilligen in einen Hinterhalt zu locken und mit einfachen Waffen zu töten.

Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass sie nur den einen erwischt haben, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus. Die Ereignisse der Schlacht und ihre noch immer spürbaren Folgen hatten seine Sicht auf die Welt in einer ungeahnten Weise gehärtet. Er hatte zu viele Dinge gesehen, die er niemals vergessen würde, obwohl er nichts lieber wollte, als sie zu vergessen. So viel Tod, so viel Leid und so viel Zerstörung. Das Elend der Menschen in den Hüttenvierteln war seit der Schlacht größer denn je. Viele waren obdachlos geworden oder hatten ihre Lebensgrundlage verloren. Die Kranken und Verletzten wurden von Heilern der Magiergilde behandelt, die für ihre Dienste ausnahmsweise keine Gegenleistung verlangten. Gesundheit schützte die Hüttenleute indes nicht vor Hunger und Obdachlosigkeit. Die Lebensmittel und Baumaterialien waren knapp geworden. Cery wollte nicht daran denken, was das bedeutete, wenn der Winter kam.

Auch sein Leben würde von nun an schwieriger. Er hatte seinen größten Unterstützer verloren und musste nun dafür sorgen, dass er dennoch im Geschäft blieb. Cery machte sich nichts vor – auch wenn Akkarin wie durch ein Wunder seinen letzten Kampf überlebt hatte, so war an eine zukünftige Zusammenarbeit nicht mehr zu denken. Von seinen Kontakten in der Gilde hatte er erfahren, dass die Magier Akkarin niemals wieder zu Einfluss gelangen lassen würden. Zudem würde Imardin in der nächsten Zeit vor sachakanischen Magiern sicher sein, da die Gefahr der Ichani nun gebannt war.

Cery seufzte. Obwohl er Vorkehrungen für diesen Fall getroffen hatte, war es nach der Schlacht schwierig, neue Einnahmequellen zu finden. In den nächsten Wochen und Monaten würde er um sein Überleben und um seine Position unter den Dieben kämpfen müssen. Doch das war nicht seine einzige Sorge. Der König kannte nun den Weg in die Tunnel. Und er hatte während der Schlacht mit einigen Dieben gesprochen. Niemand wusste, was sich daraus entwickeln würde, aber eines war sicher:

Früher oder später würden die Diebe erneut von König Merin hören.

Cery hoffte, bis dahin wieder einigermaßen im Geschäft zu sein. In den vergangenen Wochen war daran indes nicht zu denken gewesen. Seit der Schlacht hatte er wie alle gesunden Männer und Frauen bei den Aufräumarbeiten in seinem Territorium geholfen. Er hatte Feuer gelöscht, in den Trümmern der zerstörten Hütten nach Überlebenden gesucht und mit seinen Männern die einsturzgefährdeten Behausungen abgerissen. Cery hatte sich nur allzu eifrig in die Arbeit gestürzt. Es hatte ihm ermöglicht, seine Sorgen ein Stück beiseitezuschieben und ihm Zeit gegeben, sich mögliche Lösungen für seine Probleme zu überlegen.

Er trat in eine Seitenstraße und schlüpfte in die Lücke zwischen zwei Häusern. Das Gitter an der dahinterliegenden Wand anhebend verschwand er in der Dunkelheit eines sich hinter dieser Mauer befindlichen Tunnels.

Die Straße der Diebe.

Cery entzündete die Laterne, die er ein paar Stunden zuvor in einer Nische verborgen hatte, und machte sich auf den Weg durch das unterirdische Labyrinth.

Eine Viertelstunde später erreichte er das größte seiner Verstecke, das ihm als Platz zum Arbeiten und Wohnen diente. Gol wartete in seinem Büro. Er wirkte deprimiert und unruhig.

„Hai!“, rief Cery. „Du siehst aus, als hättest du schlechte Neuigkeiten.“

„Ja und nein“, antwortete sein Leibwächter.

Cery runzelte die Stirn. Hatte Gol etwas Beunruhigendes von den anderen Dieben erfahren? Versuchten sie, ihm sein Territorium streitig zu machen, jetzt wo er an Einfluss verloren hatte? Oder ging es um den König?

„Was soll das heißen?“

Gol druckste herum. „Is nix Schlimmes passiert, während du weg warst“, antwortete er zögernd. „Am besten du gehst selbst gucken. Sie’s in deinem Schlafzimmer.“

Verwirrt und von einer unguten Vorahnung erfüllt, die nichts mit seinen Konkurrenten oder Merin zu tun hatte, trat Cery durch die Geheimtür auf der Rückseite seines Büros.

Sie saß auf der Kante seines Bettes, zu ihren Füßen eine fertig gepackte Tasche. Sie trug unauffällige Kleider im Stil der Hüttenleute und einen grauen Umhang. Als er eintrat, blickte sie auf. Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen.

„Hallo, Ceryni.“

„Du reist also ab“, sagte er tonlos.

„Ja.“ Savara stand auf. „Wir wissen beide, dass es so besser ist.“

Er nickte nur.

Savara machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich wollte dich nicht verlassen, solange hier noch das Chaos geherrscht hat. Es wäre mir nicht richtig vorgekommen.“

Cery lachte trocken. „Es wird noch ’ne Weile dauern, bis das Chaos in der Stadt aufgeräumt ist“, sagte er. „Savara, ich komm’ schon klar.“

Savaras Leute hatten sie noch am selben Tag, an dem die Ichani besiegt worden waren, zurückbeordert, doch sie hatte für sich entschieden, noch eine Weile zu bleiben. Cery war nicht sicher gewesen, ob er ihre Entscheidung begrüßen sollte, hatte er doch am selben Tag erkannt, dass sie niemals ein Paar sein konnten. Sie würden einander niemals vertrauen, egal wie viel sie füreinander empfinden mochten. Sie hatte sein Vertrauen missbraucht und ihm mit einem magischen Amulett nachspioniert. Obwohl dies Cery das Leben gerettet hatte, als er sich während der Schlacht in den Palast geschlichen hatte, machte das ihre Tat nicht weniger unverzeihlich.

In seinem Zorn hatte Cery das Amulett fortgeworfen. Savara hatte es jedoch mitgenommen und darauf bestanden, dass er es als Andenken behielt. Cery hatte ihrem Wunsch nachgegeben, es jedoch da verstaut, wo er es nicht sehen musste.

Durch das Amulett hatte Savara Dinge erfahren, die sie nichts angingen. Als Dieb war Cery jedoch darauf bedacht, zu seinem eigenen Schutz und dem seiner Familie, aber auch dem seiner Klienten nur so viele Informationen preiszugeben, wie dringend erforderlich war. Savara hatte diese Regel nicht respektiert, obwohl sie selbst danach handelte. Mit ihrem Wissen hätte sie eine Menge Schaden anrichten können, wäre sie nicht auf Cerys Seite gewesen. Sofern sie überhaupt auf irgendjemandes Seite war.

Tatsächlich hatte Cery bis heute nicht herausgefunden, wer sie war. Im Frühsommer war sie plötzlich in der Stadt aufgetaucht und hatte ihm angeboten, ihm beim Aufspüren der sachakanischen Spione zu helfen, die er für Akkarin suchte. Sie hatte ihn gebeten, ihre Anwesenheit in der Stadt geheimzuhalten, weil sie von ihrem Volk als Beobachter gesandt worden war. Obwohl sie miteinander ins Bett gegangen waren, hatte Cery nie mehr als das über Savara erfahren. Er wusste nur, was sie war: eine schwarze Magierin aus Sachaka, die so mächtig war, dass selbst die Ichani sie fürchteten.

Aber trotz allem, was sie getan hatte, fiel es Cery schwer, sie gehenzulassen. Die letzten Wochen waren entgegen der Unmöglichkeit ihrer Beziehung wie ein Geschenk für ihn gewesen. Denn Savara war ohne Zweifel gut im Bett.

Als er sie jetzt vor sich stehen sah, musste Cery sich indes eingestehen, dass er sich etwas vorgemacht hatte. In den vergangenen Tagen hatte er sich wieder und wieder eingeredet, es würde ihm nur um Sex gehen. In Wirklichkeit hatte er sich neue Hoffnungen gemacht. In seinem Herzen wusste er jedoch, dass eine Beziehung mit ihr unmöglich war.

Aber er konnte auch nicht ohne sie sein.

Savara streckte eine Hand aus und berührte seine Wange. „Ceryni“, begann sie. „Ich wünschte so sehr, es gäbe einen Weg, dass wir zusammen sein könnten. Wenn ich nur irgendetwas tun könnte, damit du mir wieder vertraust …“

„Das kannst du nicht“, erwiderte er und zwang sich unnachgiebig zu bleiben. „Du hattest deine Chance.“

Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus.

„Es tut mir so leid, Cery.“

Sie hatten diese Diskussion schon mehrfach geführt. Egal, was sie sagte, es änderte nichts an Cerys Standpunkt. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wenn’s so wär’, hättest du das Amulett gar nicht erst angefertigt“, sagte er hart.

Savara schloss einen Moment ihre Augen mit diesen hinreißend langen, dunklen Wimpern. Er wandte den Blick ab.

„Dann ist es wohl besser, wenn ich jetzt gehe.“ Sie lehnte sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Leb wohl, Ceryni.“

Cery spürte, wie sich seine Brust unter ihren Worten schmerzvoll zusammenzog.

„Savara, warte.“

Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und warf ihm einen schmerzerfüllten Blick zu.

„Bitte mich nicht zu bleiben.“

„Ich …“, begann Cery sich ertappt fühlend. Er spürte, wie seine Knie nachzugeben drohten. „Willst du wirklich die Stadt verlassen, bevor’s dunkel wird?“

Sie war eine Sachakanerin. Niemand außer ihm und seinen Männern kannte den Grund, warum sie in der Stadt gewesen war. Die Stadtbewohner würden ihr mit Feindseligkeit begegnen, wenn sie sie erkannten.

„Cery, ich kann auf mich aufpassen“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. „Gol wird mich aus der Stadt bringen. Danach werde ich abseits der Straßen reisen.“

Er nickte nur. Dann war es das also, fuhr es ihm durch den Kopf. Besser, er hoffte gar nicht erst darauf, sie eines Tages wiederzusehen. Denn das war in keiner Hinsicht eine gute Idee. Es würde die kaum verheilten Wunden erneut aufreißen.

„Leb wohl, Savara.“

Sie drückte kurz seine Hand und verließ dann das Zimmer.

Als sie fort war, setzte Cery sich auf die Stelle, auf der sie gesessen hatte und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Seit ihre Leute sie zurück nach Sachaka beordert hatten, hatte er gewusst, dass sie gehen würde. Nein, eigentlich hab ich es immer gewusst, korrigierte er sich. Sie hat nie hierher gehört. Sie hat nie zu mir gehört. Und das war mir klar, seit ich ein Auge auf sie geworfen hab.

Aber warum tat es dann trotzdem so weh? Warum hatte ihr Abschied ihn so kalt erwischt, wenn er doch insgeheim jeden Tag damit gerechnet hatte? Weil er sie liebte? War es das?

Nachdem seine Freundin aus Kindertagen ihm einen Korb gegeben hatte, hatte Cery beschlossen, keine romantischen Gefühle mehr zuzulassen. Er war sicher, er und Sonea hätten eine Chance gehabt, hätte sie nicht ihre magischen Fähigkeiten entdeckt. Cery hatte lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie nicht in seine Welt gehörte. Und dann war Savara gekommen und hatte all seine Vorsätze auf den Kopf gestellt, obwohl sie ebensowenig in seine Welt gehörte. Trotzdem waren sie entgegen jeder Vernunft miteinander ins Bett gegangen. Er fragte sich, wie lange er erst brauchen würde, um über sie hinwegzukommen, wenn es bei Sonea Jahre gebraucht hatte, obwohl sie nie ein Paar gewesen waren. Musste er erst eine neue Frau treffen, die ihm gefiel?

Er schüttelte resigniert den Kopf ob dieser Aussicht. Er war ein Dieb und das erschwerte es, eine ernsthafte Beziehung zu führen. Die Frauen waren nur auf das zweifelhafte Ansehen und das Geld aus, was dies mit sich brachte. Er tat besser daran, sich in seine Arbeit stürzen. Solange er beschäftigt war, würde ihm keine Zeit bleiben, Savara nachzutrauern. Und es gab genug zu tun.

Doch bevor er das anging, musste er noch nach seinem anderen Gast sehen.

 

 

***

 

„Was für eine bedrückende Zeremonie.“ Einen deprimierten Seufzer ausstoßend nippte Tayend an seinem Weinglas.

Dannyl und sein Gefährte standen ein wenig abseits vom Gedränge. Kurz, nachdem sie in den Bankettsaal gekommen waren, hatte Auslandsadministrator Kito ihn in ein Gespräch darüber verwickelt, ob sich die Elyner seiner Meinung nach durch die Invasion der Ichani bedroht fühlten.

Tatsächlich war diese Frage gar nicht so unberechtigt, fand Dannyl. Viele Jahrhunderte zuvor hatten Elyne und Kyralia zum Großen Sachakanischen Imperium gehört. Wenn eine Gruppe Sachakaner versuchte, Kyralia zu erobern, war es nicht so abwegig, wenn andere ähnliche Pläne bezüglich Elyne hatten, jetzt, wo die Sachakaner wussten, dass schwarze Magie in den Verbündeten Ländern verboten war. Tayend hatte dem Auslandsadministrator erklärt, er würde sich sehr bedroht fühlen. Allerdings war er im Gegensatz zu seinen Landsleuten während der Schlacht in Imardin gewesen. Er und Dannyl hatten dann vermutet, es kümmere die frivolen Elyner wahrscheinlich nicht, solange sie sich keinem Angriff gegenübersahen. Trotzdem hatte Dannyl dem Auslandsadministrator versprochen, sich nach seiner Rückkehr ein wenig umzuhören und ihn zu informieren.

„Du wolltest unbedingt dabei sein“, erinnerte er seinen Freund.

„Weil ich dachte, es würde dir gut tun, nicht alleine auf die Trauerfeier zu gehen, Botschafter Dannyl“, entgegnete Tayend.

„Das weiß ich zu schätzen“, erwiderte Dannyl. „Doch ich befürchte, du bist im Augenblick der größere Trauerkloß von uns beiden.“

Es waren seine Kollegen, die gestorben waren. Eigentlich hätte er traurig sein müssen. Tayend kannte keinen der anderen Magier und trotzdem wirkte er so mitgenommen, als wäre einer der Opfer ein naher Verwandter gewesen. Allerdings vergoss der Gelehrte auch bittere Tränen, wenn sie sich im Theater zu Capia ein Drama ansahen. Dannyl musste zugeben, außer für Administrator Lorlen keine wirkliche Trauer zu empfinden. Er hatte Lorlen sehr geschätzt, aber er hatte längst aufgehört, sich hier zuhause zu fühlen. Seit er Botschafter war, waren ihm die Menschen hier fremd geworden. Während die Gilde noch immer so bürokratisch und konservativ wie bei seinem Aufbruch nach Elyne war, hatte sich sein Leben völlig verändert und Dannyl spürte mit jedem seiner Besuche mehr, wie wenig er noch hierher gehörte.

Aus diesem Grund war er dankbar für Tayends Gesellschaft, wenn auch er ein leises Unbehagen verspürte, weil es das erste Mal war, dass sie zusammen unter so vielen Magiern waren. Obwohl sie beide in der Öffentlichkeit vorgaben, nur gute Freunde zu sein, fürchtete er immer, ihre Beziehung würde auffliegen.

„Trauerkloß!“, rief Tayend beleidigt. Er senkte die Stimme. „Die ganze Zeit muss ich denken, was wäre, wenn du gestorben wärst, als du mit den anderen Magiern gegen die Sachakaner gekämpft hast. Ich hätte dich nicht retten können.“

„Du bist ja auch kein Magier“, entgegnete Dannyl.

„Nein“, stimmte der Gelehrte zu, den Wein in seinem Glas schwenkend. „Ich will damit sagen, ich hätte es nicht ertragen. Sie kann sich wirklich glücklich schätzen.“

Er deutete zu einem der Fenste. Akkarin und Sonea dort erblickend runzelte Dannyl die Stirn. „Du glaubst doch nicht, dass die Gerüchte über die beiden wahr sind?“

„Oh, wären wir in Elyne, hätte ich meine Zweifel“, antwortete Tayend. „Aber sieh nur, wie sie sich ansehen. Ich wette, sie gehen miteinander ins Bett. Bei ihr ist es ziemlich offensichtlich. Er dagegen versteht es besser, seine Gefühle zu verbergen. Das konnte er schon immer gut.“

Dannyl missfiel die Bewunderung in der Stimme des Gelehrten. Er hatte nicht vergessen, dass sein Freund Akkarin kannte, seit dieser als junger Krieger nach Elyne gekommen war, um nach Aufzeichnungen über alte Magie zu suchen. Nachdenklich betrachtete er die beiden schwarzen Magier. Vielleicht war da wirklich etwas, vielleicht war es aber auch nur eine jugendliche Schwärmerei. Es konnte nur das sein. Akkarin war sicher nicht so unehrenhaft, eine Affäre mit seiner Novizin zu beginnen. Was Sonea anging, so hatte Tayend möglicherweise recht. Er selbst hatte es bereits vermutet.

Das käme jedenfalls nicht überraschend.

Sie war jung, aber nicht leicht zu beeindrucken. Doch Akkarin war ein Mann, der Respekt gebot, den man fürchtete und der zu Loyalität inspirierte. Vielleicht waren sie während ihrer Verbannung einander tatsächlich näher gekommen, als es für Mentor und Novize angemessen war. Obwohl Dannyl über diese Vorstellung entsetzt sein sollte, kam er nicht umhin, Mitleid mit den beiden schwarzen Magiern zu empfinden. Sie mussten sich wie Ausgestoßene fühlen! Während Akkarin wie immer keine Gefühlsregung zeigte, wirkte Sonea angespannt und verängstigt. Von Rothen wusste er, dass sie das Vertrauen in die Magier verloren hatte, nachdem diese sie nach Sachaka verbannt hatten. An ihrer Stelle würde er sich wahrscheinlich auch an Akkarin halten.

„Ich kann verstehen, warum sie in ihn verliebt ist“, sagte Tayend schwärmerisch. „Akkarin ist wirklich ein beeindruckender Mann!“

Dannyl schnaubte. „Für dich gibt es heute keinen Wein mehr.“ Er winkte einen Diener herbei, der ein Tablett mit kleinen Kuchen trug. „Hier, iss etwas“, forderte er Tayend auf. „Damit du wieder nüchtern wirst.“

Folgsam nahm Tayend einen Kuchen. „Auch nüchtern betrachtet, ist er beeindruckend“, erklärte er kauend.

Dannyl verdrehte die Augen. Obwohl Tayend ihn bedingungslos liebte, hielt ihn das nicht davon ab, andere Männer zu bewundern. Für Dannyl hingegen gab es nur Tayend. Irgendwie erschien ihm das nicht richtig. Im Gegensatz zu seinem Freund war er sich seiner Natur noch nicht lange bewusst und war dementsprechend weniger Männern begegnet, die er attraktiv fand. Vielleicht lag die Ursache für Tayends Schwärmereien aber auch in seiner elynischen Herkunft begründet.

„Botschafter Dannyl?“

Er fuhr herum. Vor ihm stand ein hagerer junger Mann in Novizenroben.

„Farand!“ Dannyl lächelte. „Wie geht es Euch?“

Der junge Mann hatte zu den Rebellen gehört, die Dannyl kurz vor der Schlacht nach Imardin überführt hatte. Als es Farand gelungen war, seine Magie zu entfesseln, war Dannyl beauftragt worden, die Gruppe festzunehmen. Während der Anführer hingerichtet und die übrigen eingekerkert worden waren, hatte die Gilde Farand freigesprochen und ihn aufgenommen. Mit Mitte zwanzig war er jedoch viel älter als die übrigen Novizen und erhielt daher Privatunterricht.

Farand verneigte sich ein wenig unbeholfen. „Oh, ganz gut“, antwortete er und nickte Tayend höflich zu. „Ich fange an, mich hier einzuleben. Und wie geht es Euch?“

Dannyl lächelte. „Bestens. Auch wenn der Aufbau von Häusern eine für einen Botschafter eher unübliche Arbeit ist.“

Ein scheues Lächeln huschte über Farands Gesicht. „Wann werdet Ihr zurück nach Elyne reisen?“

„In drei Tagen. Tayend kann es kaum noch erwarten.“

„Wir werden in einer Kutsche reisen“, fügte sein Gefährte strahlend hinzu.

Dannyl grinste. Der Gelehrte vertrug Seereisen nicht sehr gut und suchte sie zu vermeiden, auch wenn er sich dabei mittlerweile oft von Dannyl heilen ließ. Ihre Heimreise würde dieses Mal länger dauern, dafür würde Tayend jedoch ein angenehmerer Begleiter sein.

„Wie kommt Ihr mit Eurem Studium voran, Farand?“

„Oh, seit der Schlacht hatte ich nur wenig Unterricht“, antwortete der junge Elyner. „Aber bei den anderen Novizen soll auch einiges ausgefallen sein. Momentan muss ich aus Büchern lernen.“

Dannyl nickte verständnisvoll. Viele Krieger waren in der Schlacht gefallen, darunter auch einige Lehrer für Kriegskunst. Die Heiler und Alchemisten waren bemüht, das Chaos in der Stadt zu beseitigen, weswegen allenthalben Unterricht ausfiel. Oft waren die in der Stadt zu erledigen Aufgaben zu kompliziert, um Novizen im ersten Jahr daran teilhaben zu lassen. In den vergangenen Wochen hatte der Unterricht für die älteren Novizen unter anderem aus der Hilfe beim Wiederaufbau der Häuser im Inneren Ring und dem Versorgen von Kranken und Verletzten bestanden.

„Wie ich gehört habe, sollen die höheren Magier einen Weg gefunden haben, damit der Unterricht wieder regelmäßig stattfindet, ohne dass die Aufräumarbeiten vernachlässigt werden“, sagte Dannyl. „Insofern könnt Ihr bald wieder richtig lernen.“

„Oh, das wäre gut“, sagte Farand erleichtert. Er grinste breit. „Ich habe jetzt einen Mentor“, erzählte er dann. „Er hat mich ausgesucht. Allerdings wird es erst nächste Woche offiziell.“

Dannyl horchte auf. „Oh, wer ist es?“

„Lord Rothen. Ihr kennt ihn. Er war auch Euer Mentor.“

Soso, das hat er mir also auch verschwiegen, fuhr es Dannyl durch den Kopf. Er musste jedoch zugeben, dass er Rothen in den letzten Wochen nicht oft zu Gesicht bekommen hatte, da dieser sich um Sonea gekümmert hatte, während er selbst beim Wiederaufbau im Inneren Ring geholfen hatte.

„Das freut mich zu hören“, sagte er anerkennend. „Ihr hättet wirklich keinen besseren Mentor bekommen können.“

Es passte zu Rothen, dass er Farand ausgewählt hatte. In der Vergangenheit hatte er sich wiederholt schwierigen, als Außenseiter geltenden Novizen angenommen. So auch Dannyl, nachdem er sich durch eine intime Beziehung mit einem älteren Novizen in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hatte. Hätte Dannyl den Vorfall nicht überzeugend geleugnet, hätte er seinen Abschluss nicht machen dürfen. Dennoch hatten ihn die anderen Novizen von da an gemieden und die Lehrer hatten ihn ignoriert. Einzig Rothen verdankte er, dass er wieder Freude an seinem Studium gefunden hatte und seinen Abschluss gemacht hatte.

Nachdem Sonea der Gilde beigetreten war, hatte Rothen sich bereit erklärt, sie auszubilden. Mit viel Geduld hatte er sie Lesen und Schreiben gelehrt und ihr beigebracht, sich wie eine junge Frau aus den Häusern zu benehmen. Als Mädchen aus der Unterschicht hatte sie keinen guten Start gehabt. Ihr erstes Jahr an der Universität war für sie eine kontinuierliche Abfolge aus Schmähungen und Demütigungen gewesen. Dannyl hoffte, Farand würde es trotz seiner Vergangenheit besser ergehen.

„Vielen Dank, Botschafter“, sagte Farand. „Doch nun entschuldigt mich. Ich muss zurück zu meinen Freunden.“

Er nickte zu einer Gruppe Novizen. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, waren sie im vierten oder fünften Jahr. Damit waren sie noch immer deutlich jünger als Farand. Doch so, wie der junge Elyner von ihnen gesprochen hatte, bezweifelte Dannyl, dass der Altersunterschied bei ihnen eine Rolle spielte.

Er lächelte. Ja, es schien Farand besser zu ergehen.

 

 

***

 

Erst einmal hatte Sonea eine größere Anzahl Nichtmagier in der Universität gesehen. Das war bei ihrer Aufnahmezeremonie gewesen. An diesem Tag waren es jedoch weitaus mehr. In der Gegenwart so vieler Menschen aus den Häusern fühlte sie sich unbehaglich. Diese Menschen kümmerte es nicht, ob sie Kyralia vor dem Untergang bewahrt hatte.

Diese Menschen würden in ihr immer das Mädchen aus den Hüttenvierteln sehen.

Der Bankettsaal war überfüllt mit Magiern und ihren Angehörigen. Um für alle Platz zu schaffen, hatte man die Türen zum Abendsaal – einem Raum mit luxuriösen Sesseln, kunstvollen Gemälden und Skulpturen und Papierblenden in Dunkelblau und Silber, geöffnet. Zwischen den grünen, roten und purpurfarbenen Roben der Heiler, Krieger und Alchemisten entdeckte Sonea zahlreiche braune Roben. Normalerweise war Novizen der Zutritt zu den Sieben Bögen nicht gestattet. Anlässlich der Trauerfeier hatten die höheren Magier jedoch eine Ausnahme gemacht.

Seit sie die Sieben Bögen betreten hatten, hatten Sonea und Akkarin versucht, Fragen und Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Ein paar junge, offenkundig von ihren Taten begeisterte Magier hatten sie mit Fragen bestürmt. Für Sonea war das seltsam gewesen, da diese kaum mehr als einen Monat zuvor ihre Roben zerrissen und die rituellen Worte der Verbannung gesprochen hatten. Nachdem sie gegangen waren, hatte sie innerlich aufgeatmet.

Ein Diener mit einem Tablett Weingläser steuerte auf sie zu. Akkarin griff zwei Gläser heraus und reichte eines davon an sie weiter. Als Sonea das Glas entgegennahm, glitt es ihr beinahe aus den Fingern.

Akkarin musterte sie. „Du bist nervös“, stellte er fest. „Ist alles in Ordnung?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Sag es mir.“

Sonea zögerte. Den ganzen Tag über war sie einigermaßen von den Gedanken an den nächsten Tag, an dem die Gilde über ihre Wiederaufnahme entscheiden würde, abgelenkt gewesen. Jetzt hatte sie Mühe, gegen ihre Panik anzukämpfen und ihre Gefühle zu verbergen. Sie wollte Akkarin nicht zeigen, wie sehr sie das aus der Fassung brachte. Aber wahrscheinlich wusste er es bereits.

„Es ist nur wegen morgen“, sagte sie leise.

„Sonea, sieh mich an.“ Seine Stimme war sanft, aber voll Autorität.

Sie hob den Blick und begegnete seinen dunklen Augen. Das Bedürfnis, von ihm in den Arm genommen zu werden, wurde übermächtig.

„Es wird alles gutgehen“, versprach er. „Vertrau mir.“

Das hast du auch gesagt, bevor wir uns den letzten drei Ichani gestellt haben, dachte sie. Es war beinahe schief gegangen. Sie hoffte, er habe dieses Mal einen besseren Plan.

„Und ich hatte recht.“

Sie zuckte zusammen. „Du liest meine Gedanken?“, entfuhr es ihr. Rasch bedeckte sie den Mund mit einer Hand. Niemand schien jedoch von ihrem Ausbruch Notiz genommen zu haben.

„Ich …“, begann er und sah zum Fenster. „Das habe ich nicht gewollt. Ich habe herausgefunden, wie ich die Gedanken anderer ausblenden kann. Aber bei dir ist es … kompliziert.“

Darauf wusste Sonea nichts zu erwidern. Normalerweise musste ein Magier nach der Präsenz eines anderen Magiers greifen, um dessen Oberflächengedanken zu lesen. Mit ausreichen Übung war dies nicht schwer, doch es galt als unausgesprochenes Tabu. Dass Akkarin dies neuerdings ohne bewusstes Zutun gelang, war seltsam. Sonea fragte sich, ob der Vorfall vor der Universität diese Fähigkeit hervorgebracht hatte. Und besaß er noch mehr Fähigkeiten, derer er sich noch gar nicht bewusst war?

Soneas eigenes Potential war jedes Mal gewachsen, wenn Regin und seine Bande sie bis zur Erschöpfung getrieben hatten. Vielleicht, so überlegte sie, war es bei ihm ähnlich. Bei dem Kampf gegen die letzten drei Ichani hatte er sich vollständig erschöpft. Sie runzelte die Stirn. Konnte das ein Wachsen seiner Kräfte bewirkt haben? Sie hatte immer geglaubt, das magische Potential würde mit dem Erreichen des Erwachsenenalters nicht weiter anwachsen. Und Akkarin war dreiunddreißig.

Kopfschüttelnd trank sie einen Schluck Wein. Sie nahm sich vor, ihn das bei Gelegenheit zu fragen.

Als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, fiel ihr Blick auf Rothen, der sich mit seinem betagten Freund Lord Yaldin und dessen Frau unterhielt. Er winkte ihr zu. Sonea lächelte und winkte zurück. Rothen verabschiedete sich von dem betagten Ehepaar und steuerte auf sie zu. Sie waren zusammen hierher gekommen, doch in dem Gedränge, das im Bankettsaal herrschte, waren sie voneinander getrennt worden.

„Hallo Sonea“, grüßte Rothen und lächelte. Dann wurde sein Lächeln ein wenig steif. „Akkarin.“

„Lord Rothen.“

Zum dritten Mal an diesem Tag beäugten die beiden Männer einander misstrauisch und mit offenkundigem Unbehagen. Sonea verstand nicht, wie erwachsene Männer sich so verhalten konnten. Selbst von Rothen und Akkarin hatte sie etwas anderes erwartet. Oder fiel es ihnen einfach nur schwer, den Anfang zu machen? Nach allem, was geschehen war, war die Überwindung dazu vermutlich hinreihend groß.

Bevor ihr jedoch etwas einfiel, um die angespannte Stimmung zu lösen, stießen Dorrien, Dannyl und der rothaarige Elyner zu ihnen, offenkundig mehr als ein wenig angeheitert.

„ … aber tatsächlich hat die Schlacht bei mir keinen so bleibenden Eindruck hinterlassen, wie die Begegnung mit dem Ichani am Südpass“, hörte sie Dorrien sagen. „Denn das war wirklich knapp.“ Seine blauen Augen blitzten, als sein Blick dem Soneas begegnete. „Doch das können Sonea und Akkarin dir sicher besser erzählen.“

„Das muss ich hören!“, rief Dannyl.

Sonea verdrehte innerlich die Augen. Muss das sein?

Hätte sie gekommt, so hätte sie alle Ereignisse seit der Nacht, in der sie die Ichani getötet hatte, aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Zumindest alle unerfreulichen. Dazu gehörte auch der Kampf gegen Parika, den sie nur überlebt hatten, weil sie ihr Wissen über Heilkunst missbraucht hatte, um Parikas Herz zum Stillstand zu bringen. An jenem Tag hatte Sonea die Disziplin verraten, von der sie immer geträumt hatte, sie eines Tages zu wählen. Falls die Gilde ihr gestatten sollte, ihre Ausbildung zu beenden, würde sie die Heilkunst nach allem, was sie getan hatte noch immer wählen wollen? Würde sie das noch verantworten können?

Akkarin berührte ihren Arm und unterbrach ihre Gedanken.

- Es kann nicht schaden, es zu erzählen, sandte er. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, ihren Respekt wiederzuerlangen.

Sonea zuckte zusammen. Er hatte es schon wieder getan. Sie warf einen raschen Blick zu Rothen und den anderen, doch sie alle schienen auf die Geschichte gespannt.

„Ich habe einmal gesehen, wie Dannyl einen Taschendieb in Kiko Town gestellt hat“, erzählte der gutaussehende Mann aus Elyne aufgeregt. „Das war ziemlich beeindruckend. Doch einen Kampf zwischen schwarzen Magiern stelle ich mir noch viel spannender vor.“

„Und er ist weitaus gefährlicher, als einen Taschendieb zu fangen“, sagte Akkarin.

„Oh Lord Akkarin, Ihr wisst doch, am liebsten stecke ich meine Nase in Bücher“, entgegnete der Fremde. „Alles, was darüber hinausgeht, ist bereits ein Abenteuer für mich.“

Sonea blinzelte verwirrt. „Ihr kennt euch?“

„Das ist Tayend von Tremmelin. Er war mein Assistent, als ich vor vielen Jahren die Große Bibliothek zu Capia besucht habe, um nach Hinweisen über alte Magie zu suchen“, erklärte Akkarin. „Als Botschafter Dannyl diese Suche fortgesetzt hat, wurde Tayend zu seinem Assistenten.“

„Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Lady Sonea“, sagte Tayend und verneigte sich formvollendet. Bevor Sonea wusste, wie ihr geschah, hatte er ihre Hand genommen und hauchte einen Kuss darauf.

„Die Ehre ist ganz meinerseits“, erwiderte sie und konnte ein Erröten nicht verhindern. Wahrscheinlich wollte der junge Elyner nur höflich sein. Die Art, wie er das zum Ausdruck brachte, war ihr in Akkarins Gegenwart jedoch unangenehm. „Doch bitte lasst diesen Titel weg.“

Nur widerwillig hatte sie sich daran gewöhnt, von Nichtmagiern mit ’Lady’ angesprochen zu werden. Jetzt, wo sie offiziell nicht der Gilde angehörte, erfüllte sie dieser Titel mit erneutem Unbehagen.

Tayend lächelte so strahlend, dass Sonea nicht umhin kam, zurückzulächeln.

„Wie Ihr wünscht, Sonea“, sagte er. „Dürfen wir nun die Geschichte hören?“

Aus den Augenwinkeln sah Sonea, wie Akkarin zu etwas bei den Fenstern starrte. Sie folgte seinem Blick und entdeckte die Frau, der sie fast bei den Gräbern begegnet waren.

Lorlens Mutter.

Die Frau lächelte. Doch darin lag so eine unendliche Traurigkeit, dass es Sonea das Herz zerriss.

„Bitte entschuldigt mich“, sagte Akkarin. „Sonea wird Euch die Geschichte erzählen.“

Sie berührte unauffällig sein Handgelenk.

- Was ist?

- Es wird Zeit, mich ihr zu stellen.

- Viel Glück, wünschte Sonea.

Akkarin verschwand ohne eine Erwiderung in der Menge.

Verunsichert, weil er sie allein gelassen hatte, sah sie zu Rothen. Er hob fragend die Augenbrauen. Sonea schüttelte stumm den Kopf. Einen tiefen Atemzug nehmend sammelte sie sich dann, um Dannyl und seinen Assistenten mit einer Geschichte zu erheitern, die sie, Akkarin und Dorrien fast das Leben gekostet hätte.

„Also, es war so“, begann sie. „Als wir herausfanden, dass die Ichani Kyralia überfallen wollten, beschlossen wir zurückzukehren. Unterwegs stießen wir auf Parika und folgten ihm zum Südpass. Er wollte uns dort auflauern. Doch als es Nacht wurde …“

Sie erzählte, wie Akkarin die Sklaven getötet und Parika überlistet hatte, bevor sie über den Südpass nach zurück Kyralia geflohen waren. Die Umstände, unter denen Dorrien sie gefunden hatte, änderte sie ein wenig ab. Sie war sicher, Dannyl trauen zu können. Doch sie wusste weder, wie vertrauenswürdig sein Freund war, noch wer von den anderen Magiern und Gästen mithörte. Von Akkarin hatte sie gelernt, dass es besser war, nur das preiszugeben, was nötig war. Und sie begriff erstmals, wie recht er damit hatte, auch wenn sie sich in der Vergangenheit darüber geärgert hatte.

Als sie jedoch zu dem Kampf kam, musste Dorrien ihr helfen. Alles war so schnell passiert und durch ihre Furcht waren ihr einige Details entfallen.

„Sonea, so war das nicht“, widersprach er erneut, als sie an die Stelle kam, wo Parika sie beide gejagt hatte.

„Doch“, beharrte sie. „Da hatte er dich aber bereits erledigt.“

Er schüttelte ungläubig den Kopf. „War das wirklich schon dort? Es ging alles so schnell.“

„Ja.“ Sonea zögerte. „Soll ich auch erzählen, wie ich ihn besiegt habe?“

Dorriens blaue Augen begegneten ihren. „Tu es ruhig“, sagte er. „Unter den Heilern hat es sich längst herumgesprochen. Bald werden es alle wissen.“

Na, wundervoll, dachte Sonea. Sie holte tief Luft und berichtete, wie sie entdeckt hatte, dass Parika das Prinzip des Heilens nicht kannte, und wie sie dies genutzt hatte, um sein Herz zum Stillstand zu bringen, während er versucht hatte, ihre Kraft zu nehmen.

Als sie geendet hatte, herrschte Schweigen in der kleinen Runde. Dorrien und Rothen kannten die Geschichte bereits. Dannyl und sein Assistent hatten ihr indes wie gebannt gelauscht.

Schließlich fasste sich Dannyl. „Wirklich, Sonea!“, rief er anerkennend. „Darauf muss man in einer solchen Situation erst einmal kommen! Du musst doch Todesangst gehabt haben.“

Ein Schaudern unterdrückend nickte Sonea. „Es war meine einzige Chance. Dorrien war bewusstlos. Und Akkarin war zu weit weg, um mir zu helfen.“

Sie sah zum Fenster, wo Akkarin mit Lorlens Mutter stand. Er hatte die Hände um ihre Handgelenke geschlungen und sie hielt die Augen geschlossen. Sie fragte sich, was er ihr zeigte.

„Das hört sich wirklich aufregend an“, sagte Tayend hingerissen.

Sonea starrte ihn an. Hatten die Nichtmagier denn keine Vorstellung, wie gefährlich es war, einem schwarzen Magier zu begegnen?

„Es war sehr gefährlich“, sagte sie.

„Du hättest keinen Augenblick überlebt“, fügte Dannyl hinzu. „Sei lieber froh, dass du nicht dabei warst. Es wäre besser, wenn du deine Begeisterung für Schlachten und Kriege bei Abenteuerromanen belässt.“

„Da habt Ihr recht, Botschafter“, sagte Sonea. „Besonders weil Nichtmagier mit latentem magischen Potential …“

Eine Bewegung am Rand ihres Blickfeldes ausmachend hielt sie inne. Balkan und Lady Vinara hielten von einigen Kriegern begleitet geradewegs auf sie zu.

Soneas Stimmung sank. „Es ist soweit“, murmelte sie.

Sie und Rothen tauschten einen Blick. Jetzt würden sie Akkarin zurück ins Heilerquartier bringen und Sonea würde ihn erst wiedersehen, wenn die höheren Magier ihnen die Entscheidung der Gilde mitteilten. Der Gedanke gefiel ihr nicht, weil sie gehofft hatte, noch ein wenig Zeit mit ihm verbringen zu können. Sie verstand nicht, warum er im Heilerquartier festgehalten wurde, wenn er als genesen galt. War es, weil sie nicht wussten, was sie sonst mit ihm tun sollten?

„Es ist doch nur für eine Nacht“, sagte Rothen und schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln.

„Lord Rothen, Sonea“, sagte Lady Vinara. „Es ist Zeit, Akkarin zurück ins Heilerquartier zu bringen. Sonea darf der Feier unter Eurer Aufsicht noch weiter beiwohnen, wenn sie das möchte.“

„Wo ist Akkarin?“, fragte Balkan. Sein Gesichtsausdruck zeigte Misstrauen und Nervosität, als er sich umsah.

„Dort drüben“, antwortete Sonea zum Fenster deutend.

Sie beobachtete, wie Akkarin den Kontakt zu Lorlens Mutter abbrach. Er sagte etwas zu ihr. Sie weinte, doch ihr Lächeln drückte Dankbarkeit aus. Dann fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange.

Als Akkarin sich von ihr löste und zu ihnen zurückkehrte, glaubte Sonea Verlegenheit in seiner Miene zu lesen. Doch als er sie erreichte, war er wieder so kühl und distanziert wie eh und je.

„Hoher Lord, Lady Vinara“, grüßte er.

„Es ist spät und Ihr müsst zurück ins Heilerquartier und Euch ausruhen“, teilte ihm das Oberhaupt der Heiler mit. „Ihr mögt gesund sein, doch Ihr seid noch nicht wieder vollständig bei Kräften. Die Krieger werden Euch begleiten.“

Akkarin neigte den Kopf. „Dann muss ich mich Euren Anweisungen wohl beugen, Lady Vinara.“ Er wandte sich zu Sonea und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Wir sehen uns morgen.“

- Was hast du mit Lorlens Mutter gemacht?

- Sie wollte wissen, wie er gestorben ist. Ich habe es ihr gezeigt.

- Hat es ihr geholfen?

- Ja. Aber sie wird Zeit brauchen.

Sonea nickte. Sie fragte sich, wie viel Zeit Akkarin brauchen würde, um über den Tod seines besten Freundes hinwegzukommen. Sie hoffte, das Gespräch mit Lorlens Mutter habe seinen eigenen Schmerz ein wenig gelindert, denn sie konnte in Augenblick nichts für ihn tun, weil sie nicht bei ihm sein durfte.

„Ich wünsche Euch gute Besserung, Mylord“, sagte sie und verneigte sich vor ihm.

Der Anflug eines Lächelns huschte über Akkarins harsche Züge.

- Und dir eine gute Nacht.

Dann schritt er mit Lady Vinara und den Kriegern durch die Menge, die schweigend und furchterfüllt vor ihm zurückwich.

Kapitel 3 - Eine zweite Chance

  Kapitel 3 – Eine zweite Chance

 

 

Eine graue Abenddämmerung sickerte durch die Fenster des Tagessaals, als die höheren Magier an einem ovalen Tisch in der Mitte des Raumes Platz nahmen. Lord Rolden vertrat den König, weil dieser an diesem Tag eine Delegation aus Lan empfing. Sonea war erleichtert, ihm nicht gegenübertreten zu müssen. Sie fand, dieses Treffen war auch ohne Merins Anwesenheit nervenaufreibend genug.

Seit sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie dem Abend mit Furcht entgegen gesehen. Rothen hatte ihr wiederholt versichert, dass die Gilde sie und Akkarin weder hinrichten, noch zurück nach Sachaka schicken würde, doch es hatte nicht geholfen. Die Ereignisse seit der Nacht von Lord Jolens Tod hatten dafür gesorgt, dass Sonea das Vertrauen in die Gilde verloren hatte. Den ganzen Tag hatte sie dieses Treffen mit Ungeduld herbeigesehnt, weil sie es hasste, unangenehme Dinge aufzuschieben. Die Gildenversammlung, bei der über ihre Wiederaufnahme abgestimmt worden war, hatte für ihren Geschmack viel zu lange gedauert. Bei seiner Rückkehr am späten Nachmittag war Rothen nicht befugt gewesen, ihr etwas über den Verlauf der Versammlung mitzuteilen. Er hatte nur angedeutet, dass es nicht so schlimm werden würde, wie sie befürchtete, was genug Interpretationsspielraum übrigließ. Gewiss waren an diesem Tag auch einige unschöne Dinge über sie und Akkarin gesagt worden.

Administrator Osen schuf eine Lichtkugel und ließ sie zur Decke schweben. Dann sah er zu Balkan.

„Bei der heutigen Versammlung hat die Gilde mit eindeutiger Mehrheit entschieden, Euch, Akkarin und Sonea, eine zweite Chance zu geben“, teilte der Hohe Lord ihr und Akkarin mit. „Wir sind bereit, Euch wieder in die Gilde aufzunehmen. Akkarin erhält den Rang eines Lords und bekommt das entsprechende Gehalt gezahlt. Sonea wird die Möglichkeit angeboten, ihr Studium zu beenden und darf nach erfolgreichem Abschluss den Titel ’Lady’ tragen. Dieses Angebot gilt jedoch nur unter der Bedingung, dass ihr Euch den folgenden Auflagen beugt.“

Er nickte zu Osen, der eine lederne Mappe öffnete und ein Pergament herausnahm.

„Punkt eins: Es ist Euch verboten, das Gelände der Gilde zu verlassen“, las der Administrator vor. „Punkt zwei: Es ist Lord Akkarin verboten zu unterrichten. Dasselbe gilt für Sonea, sobald sie ihre Ausbildung beendet hat. Punkt drei: Es ist Euch verboten, schwarze Magie zu praktizieren, sofern es nicht der Verteidigung der Gilde oder der Verbündeten Länder gilt. Die Gilde hat entschieden, dass Ihr bei einer Sonderversammlung am nächsten Vierttag einen entsprechenden Eid leisten werdet.

„Punkt vier: Sonea wird ausschließlich Privatunterricht erteilt. Den versäumten Stoff und die Sommerprüfungen muss sie binnen einer Frist, die noch festgelegt wird, nachholen. Sollte sie die Prüfungen bestehen, so kann sie innerhalb der nächsten zwei Jahre ihre Ausbildung beenden. Bis zum Ende des bereits laufenden Halbjahres muss Sonea sich darüber hinaus für eine der drei Disziplinen entschieden haben, um rechtzeitig die nötigen Vertiefungskurse zu belegen. Punkt fünf: Es ist Euch verboten, ein Amt innerhalb der Gilde auszuüben.“ Er musterte Sonea und Akkarin abschätzend. „Punkt sechs: Ihr werdet schwarze Roben tragen.“

Sonea war nicht sonderlich überrascht. Rothen hatte sie bereits darauf vorbereitet, dass derartige Bedingungen gestellt wurden, sollte die Gilde zu ihren Gunsten entschieden. Im Grunde war es ihr egal, ob sie das Universitätsgelände verlassen durfte. Bis jetzt hatte sie von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht. Ihr Studium hatte ihr wenig freie Zeit gelassen. Während sie Akkarins Novizin gewesen war, hatte sie sich einmal davon geschlichen und Jonna und Ranel besucht. Akkarin hatte ihr anschließend deutlich gemacht, dass sie ihn bei zukünftigen Ausflügen um Erlaubnis zu fragen hatte. Sonea hatte es danach nur noch zweimal gewagt, in die Stadt zu gehen, als das Bedürfnis ihre Familie zu sehen, übermächtig geworden war. Sie hatte zu sehr gefürchtet, was Rothen und Lorlen unternehmen mochte, wenn sie erfuhren, dass sie verschwunden war.

Sie bedauerte, dass ihr die Möglichkeit, ihre Familie zu besuchen, nun gänzlich verwehrt war. Jonna und Ranel fürchteten die Magier zu sehr, um sie in der Gilde zu besuchen. Sie waren nicht einmal zu ihrer Aufnahmezeremonie gekommen.

„Akzeptiert Ihr diese Bedingungen?“, fragte Balkan und musterte sie und Akkarin wachsam.

Sonea warf einen Blick zu Akkarin. Sie saßen zu weit auseinander, um sich ungestört zu beraten. Sie selbst hätte auf der Stelle alles akzeptiert, solange man nicht von ihr verlangte, sich von Akkarin zu trennen. Doch sie entschied abzuwarten, was er von den Bedingungen hielt.

„Ich erhebe Einspruch gegen Punkt zwei und vier.“ Akkarins Stimme war ruhig und gab nichts von seinen Emotionen preis. Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und die Fingerspitzen aneinandergelegt. Seine ganze Haltung strahlte Autorität aus.

Die höheren Magier starrten ihn mit einiger Überraschung und Verunsicherung an.

„Warum nicht gegen Punkt eins oder Punkt drei?“, fragte Lord Garrel angriffslustig.

„Das versteht sich hoffentlich von selbst. Was Punkt eins angeht, so wäre es zu diesem Zeitpunkt nicht ratsam, würden Sonea und ich uns überall frei bewegen. Bezüglich Punkt drei möchte ich die höheren Magier noch einmal daran erinnern, dass weder Sonea noch ich schwarze Magie jemals zu einem anderen Zweck als für Kyralias Sicherheit eingesetzt haben. Der Punkt ist damit redundant, doch offenkundig nötig, um Euch eine Illusion von Sicherheit und Kontrolle zu geben.“

Sonea konnte sehen, dass seine Worte den höheren Magiern nicht gefielen. Sie verkniff sich ein Grinsen. Es geschah ihnen recht, dass Akkarin ihnen so frei heraus zu verstehen gab, was er von ihnen hielt.

„Dennoch seid Ihr nicht in der Position, Forderungen zu stellen“, sagte Osen scharf.

Sie hatte es bereits auf dem Weg zur Grenze vermutet, doch so offen hatte der neue Administrator seine Abneigung gegenüber Akkarin noch nie gezeigt. Es war bedauerlich, aber vielleicht auch besser so. Osen war nicht wie Lorlen. Er würde niemals den Platz von Akkarins bestem Freund einnehmen können.

„Das sehe ich anders“, erwiderte Akkarin glatt und Sonea kam nicht umhin, ihn für seine Unverfrorenheit zu bewundern. „Die Gilde ist auf uns angewiesen. Die Alternative wäre, die Verbündeten Länder erneut zu verlassen. Sonea sieht mich als Vorbild, ihre Loyalität gehört mir. Sie würde mir auch dieses Mal folgen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht davon abhalten. Doch ich kann nicht garantieren, dass wir in der Nähe sind, sollte die Gilde erneut unsere Hilfe benötigen. Es wäre also angemessen, uns nicht wie Gefangene zu behandeln.“

Die höheren Magier tauschten empörte Blicke.

„Das ist unerhört!“, rief Garrel. „Er versucht, uns zu erpressen!“

Der Hohe Lord hob eine Hand. „Lord Garrel, ich muss doch sehr bitten“, sagte er mit einer Spur von Verärgerung. „Lasst ihn ausreden.“

Lord Rolden räusperte sich. „Lord Akkarin, es ist der Wille des Königs, dass Ihr bleibt. Seine Majestät wünscht Euren Schutz.“

Das fällt ihm aber früh ein, dachte Sonea. Sie scheiterte noch immer daran zu begreifen, dass es die drohende Auslöschung der Gilde benötigte, um die Magier und den König zur Vernunft zu bringen.

„Ich werde mich dem Willen Seiner Majestät beugen. Doch wenn er und die Gilde unsere Hilfe wollen, dann solltet Ihr uns in einigen Punkten entgegen kommen“, fuhr Akkarin fort, als wäre er nicht unterbrochen worden.

Balkan schien alles andere als erfreut, so wie auch die anderen Magier. „Lord Akkarin, welcher Art soll dieses Entgegenkommen sein?“

Ja, das würde mich auch interessieren, dachte Sonea. Akkarin hatte sie nicht in seine Pläne eingeweiht und ihr zu verstehen gegeben, dass er diese Angelegenheit allein regeln wollte. Sonea hatte nicht protestiert. Sie vertraute ihm und im Gegensatz zu ihr wusste er, wie man mit den höheren Magiern umging.

„Ich fordere die Erlaubnis, meine Novizin zu unterrichten“, erklärte Akkarin. „Sie soll die bestmögliche Ausbildung genießen.“

Rothen runzelte die Stirn. „Also wollt Ihr Sonea wieder zu Eurer Novizin machen?“

„Selbstverständlich. Ich habe nie aufgehört, sie zu unterrichten. Sonea braucht einen Mentor. Gewiss brauch ich nicht zu erklären, warum niemand anderes für diese Aufgabe in Frage kommt.“

Sonea blinzelte verwirrt. Was um alles in der Welt sollte das werden? Sie versuchte, Akkarins Blick einzufangen, doch es schien, als habe er ihre Gegenwart vergessen.

Lady Vinaras graue Augen musterten Akkarin misstrauisch. „Und in was wollt Ihr sie unterrichten?“

„In allem, das notwendig ist, um die Gilde und Kyralia im Fall eines erneuten Angriffs aus Sachaka zu verteidigen. Jeder sachakanische Magier ist ein schwarzer Magier. Kyralia ist zu einem verlockenden Ziel geworden, jetzt wo sie unsere Schwäche kennen. Es wäre töricht, wenn wir uns nicht entsprechend vorbereiten.“ Akkarins dunkle Augen blitzten zu Auslandsadministrator Kito, der bestätigend nickte.

„Ich gebe Lord Akkarin in dieser Hinsicht recht“, sprach der Vindo. „Die Sachakaner haben nicht vergessen, dass wir sie im letzten Krieg zwischen unseren Ländern besiegt und ihr Land in die Armut gestürzt haben. Sie treiben Handel mit uns, aber die diplomatischen Missionen der letzten Jahre zeigen, dass sie uns nur bedingt wohlgesonnen sind. Sie wissen jetzt, wie verwundbar wir sind. Das mindeste, was wir dagegen unternehmen können, ist möglichst abschreckend auf sie zu wirken.“

Balkan starrte mit finsterem Blick auf den Tisch vor seinem Platz. Es war ihm anzusehen, dass ihm diese Vorstellung nicht behagte. „Also wollt Ihr Sonea weiterhin in schwarzer Magie unterrichten“, folgerte er. „Hat sie denn nicht bereits alles gelernt, was sie darüber wissen muss?“

„Sonea weiß, wie man mit schwarzer Magie tötet. Doch es gibt noch weitere Anwendungen. Die frühe Gilde wusste darüber Bescheid. Manches Wissen steht in den Büchern, die sich in meinem Besitz befanden. Darin gibt es Hinweise auf weiteres Wissen, das verlorengegangen ist. Es wäre reizvoll Nachforschungen anzustellen, ob dies zur Verteidigung oder im Kampf gegen schwarze Magier angewendet werden kann. Als ich noch Hoher Lord war, habe ich nach einem Weg gesucht, wie die Gilde sich gegen eine Bedrohung verteidigen könnte, ohne schwarze Magie zu praktizieren. Dieser würde über schwarzmagische Artefakte führen, die ohne Kenntnis des Geheimnis schwarzer Magie eingesetzt werden könnten, was in jeder Hinsicht besser als die Alternative wäre.“

„Die da wäre?“, fragte Lord Vorel.

„Weitere schwarze Magier auszubilden“, antwortete Akkarin wie selbstverständlich, woraufhin einige scharf die Luft einsogen.

„Seid Ihr des Wahnsinns?“, rief Lady Vinara. „Findet Ihr nicht, dass Ihr Sonea schon tief genug in diese Sache hineingezogen habt?“

Akkarin betrachtete das Oberhaupt der Heiler kühl. „Es war Soneas Entscheidung, schwarze Magie zu erlernen und sich mir anzuschließen. Ich habe sie weder dazu ermuntert noch gezwungen.“

„Wenn Ihr das tut, verstoßt Ihr damit gegen Punkt zwei und drei“, erinnerte ihn Administrator Osen.

„Wenn Ihr Euch Punkt drei noch einmal aufmerksam zu Gemüte führt, werdet Ihr feststellen, dass dies nicht der Fall ist“, entgegnete Akkarin glatt. „Punkt zwei bezieht sich offenkundig darauf, andere Novizen nicht in Kontakt mit schwarzer Magie zu bringen.“ Sein Mundwinkel verzog sich zu einem ironischen Halblächeln. „Wenn ich Sonea unterrichte, besteht diese Gefahr wohl kaum. “

Der Hohe Lord richtete sich in seinem Sessel auf und sah in die Runde. „Wir werden über mögliche Anwendungen schwarzer Magie später beraten“, erklärte er. „Nennt uns nun bitte Eure Einwände zu Punkt vier.“

„Meine Novizin soll die Möglichkeit haben, am Unterricht teilzunehmen. Es hat lange gedauert, bis sie von den anderen Novizen akzeptiert wurde. Besonders jetzt sollte sie nicht von ihnen isoliert werden. Zumindest ein Teil ihres Unterrichts sollte im Klassenverband stattfinden.“

„Sonea würde einen schlechten Einfluss auf die anderen Novizen haben“, wandte Rektor Jerrik mit sichtbarem Unbehagen ein. Er runzelte die Stirn „Andererseits werden die Novizen möglicherweise einen Aufstand veranstalten, wenn wir sie nicht in ihre frühere Klasse gehenlassen. In den letzten Tagen haben mich wiederholt Novizen aufgesucht und gefragt, wann Sonea wieder zum Unterricht kommt. Darunter einige ihrer ehemaligen Klassenkameraden.“

Sonea verspürte ein unwillkürliches Gefühl von Wärme, das die Kälte durchdrang, die sich in ihr auszubreiten begonnen hatte. Sie hätte nie gedacht, dass die anderen Novizen würden sie vermissen würden, wenn sie nicht mehr zum Unterricht kam. Sicher wären sie nicht freiwillig zu dem mürrischen Rektor gegangen um sich nach ihr zu erkundigen, wenn sie vorhatten, sie erneut zu schikanieren.

Aber sie sind auch zu Rothen gekommen und haben nach mir gefragt.

Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie schwarze Magie erlernt hatte, ihrem Ruf gar nicht so sehr geschadet, wie sie befürchtet hatte.

„Sofern ich mich erinnere, stand die Frage, ob Sonea einen schlechten Einfluss auf unsere Novizen haben könnte, vor ein paar Jahren schon einmal zur Debatte“, sagte Rothen. Er schenkte Sonea ein aufmunterndes Lächeln, das sie ein wenig schief erwiderte. „Damals sind jegliche Zweifel zerstreut worden.“

„Damals wusste Sonea allerdings nicht, wie man schwarze Magie praktiziert und wie man damit tötet“, gab Lord Garrel zurück.

„Sonea, was ist mit dir?“, fragte Rothen, den Krieger ignorierend. „Möchtest du wieder in deine alte Klasse zurück?“

Sonea zögerte. Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt jemals wieder zum Unterricht gehen zu können, sollte die Gilde sie wieder aufnehmen. Natürlich wusste sie, es würde nicht mehr wie früher sein, aber das konnte auch eine Verbesserung bedeuten. Doch wann war das Leben in der Gilde für sie jemals normal gewesen? Hatte sie nicht seit ihrer Aufnahme immer wieder unfreiwillig im Mittelpunkt gestanden?

Ihre früheren Klassenkameraden wären nicht zu Jerrik und zu Rothens Apartment gegangen, wenn sie beabsichtigten, sie erneut zu schikanieren. Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig, weil sie sich nicht bereit gefühlt hatte, ihnen gegenüberzutreten.

Es ist einen Versuch wert, entschied sie. Ich will nicht den Rest meines Lebens in Isolation verbringen.

Als sie aufsah, stellte sie fest, dass die höheren Magier sie erwartungsvoll ansahen.

„Ich würde gerne wieder in meine alte Klasse gehen“, sagte sie. „Ich habe nicht vor, jemandem Schaden zuzufügen oder für schwarze Magie zu begeistern.“ Sie holte tief Luft. Als sie fortfuhr, hatte ihre Stimme an Härte gewonnen. „Wir sind zurückgekommen, um Euren Hals zu retten. Obwohl Ihr uns verstoßen habt. Solltet Ihr noch immer an meinen Absichten oder an denen von … Lord Akkarin zweifeln, dann könnt Ihr uns gleich wieder zurück nach Sachaka schicken.“

Auf ihre Worte folgte Schweigen. Zum ersten Mal in dieser Besprechung sah Akkarin sie an. Es war nur ein kurzer Moment und doch konnte sie die Berechnung in seinen Augen sehen. Sie erwiderte seinen Blick finster.

Die höheren Magier rückten zusammen, um sich zu beraten. Die Luft vibrierte und Sonea erkannte, sie hatten sie und Akkarin in eine schalldichte Blase eingeschlossen. Aber Akkarin würde ihre Gedanken wahrscheinlich trotzdem lesen können. Während sie die höheren Magier beobachtete und auf ihre Entscheidung wartete, vermied sie es, ihn erneut anzusehen.

Schließlich räusperte sich der Hohe Lord. „Wir werden dir diese Chance geben, Sonea. Sollte sich deine Anwesenheit im Unterricht negativ auf die anderen Novizen auswirken oder sie ablenken, wirst du jedoch ausschließlich Privatunterricht erhalten. Aber du wirst keine Novizenroben tragen. Du bist jetzt eine schwarze Magierin.“

„Ich verstehe, Hoher Lord“, sagte sie unbehaglich. So wie Balkan es ausgedrückt hatte, klang es als machten ihre neuen Roben sie zu einer Geächteten. „Danke.“

Balkan nickte knapp. „Rektor Jerrik, arbeitet noch heute einen Stundenplan aus. Sonea möge ab morgen wieder in ihre alte Klasse gehen.“

Der Rektor der Universität nickte mürrisch und machte sich eine Notiz.

„Lord Akkarin, habt Ihr weitere Einwände gegen die soeben genannten Bedingungen?“, fragte Administrator Osen.

„Nein. Da wären jedoch noch einige andere Dinge zu klären.“

„Sprecht“, forderte der Administrator ihn unwillig auf.

„Ich verlange, dass uns sämtliche unserer Besitztümer zurückgegeben werden. Außerdem wünsche ich, meinen Diener Takan zurückzubeordern. Ich würde nur ungern auf ihn verzichten …“

Sonea sah, wie Lord Garrel dem Hohen Lord etwas zuflüsterte.

„Das weiß ich auch“, knurrte Balkan. „Aber was sollen wir machen? Im Übrigen ist da noch Sonea.“

Sie verkniff sich ein Grinsen. Anscheinend fürchtete Garrel, Takan könnte Akkarin die Kraft liefern, die er brauchte, um die Gilde zu übernehmen. Von Rothen wusste sie, viele Magier fürchteten das, wenn Akkarin nicht mehr Hoher Lord war.

Der Hohe Lord bedachte Akkarin mit einem finsteren Blick. „Ihr werdet alles zurückbekommen, was Euch gehört“, erklärte er. „Lord Akkarin, wäre das alles?“

Akkarin nickte. „Wo hat die Gilde entschieden, uns unterzubringen?“

Die höheren Magier tauschten unbehagliche Blicke. „Für Euch wurde ein Apartment im Magierquartier hergerichtet, Sonea erhält ein Zimmer im Novizenquartier.“

Akkarin hob eine Augenbraue. „Ich bin überrascht, dass die Gilde zu diesem Schluss gelangt ist. Sicher haben nicht wenige Magier gegen eine solche Lösung protestiert. Im Übrigen sprechen auch eine Reihe praktischer Gründe dafür, meine Novizin und mich am selben Ort zu wissen.“

Der Administrator runzelte die Stirn. „Und wo wollt Ihr dann wohnen? In die Stadt könnt Ihr nicht.“

„Ah, ich dachte da eher an eine der Residenzen“, antwortete Akkarin. „Soweit ich weiß, steht eine von ihnen seit einem halben Jahr leer. Sie ist unbewohnt und in ausgezeichnetem Zustand. Das Haus verfügt über ein eigenes Bad und hat überdies eine Bibliothek sowie zwei Schlafzimmer.“

„Die Arran-Residenz“, sagte Rothen. „Sie wäre ein guter Kompromiss. In den nächsten Jahren sollte kein Mitglied dieses Hauses Anspruch darauf erheben. Bis dahin wird sich gewiss eine andere Lösung gefunden haben.“

Das Haus, das Rothen gezeigt hat, nachdem ich Akkarin im Heilerquartier besucht habe, erinnerte Sonea sich. Hatte Rothen das geplant? Sie wandte den Kopf. Rothen zwinkerte ihr verstohlen zu.

Noch vor einer Stunde hätte Sonea sich nichts sehnlicher gewünscht, als dort mit Akkarin zu wohnen. Doch jetzt hätte sie das Novizenquartier vorgezogen. Sie wusste jedoch nicht, wie sie Rothen das vor den höheren Magiern beibringen sollte. Akkarins plötzliche Gefühlskälte entsetzte sie.

Es wäre mir lieber, würden wir unsere Beziehung vorerst geheim halten, hatte er gesagt. Zumindest, bis wir wissen, welche Pläne sie mit uns haben.

Nun, da sie die Pläne der Gilde kannten, stand einer Bekanntgabe nichts mehr im Wege. Warum verhielt er sich dann so?

Der Hohe Lord betrachtete Akkarin mit schmalen Augen. „Hat Eure letzte Forderung etwas mit den Gerüchten zu tun, die mir über Euch und Sonea zu Ohren gekommen sind?“

„Ich weiß von keinen Gerüchten“, gab Akkarin kühl zurück. „Bis vor einer Stunde habe ich mich noch unter Bewachung im Heilerquartier befunden. Es sind nicht viele Neuigkeiten zu mir durchgedrungen.“

„Die Gerüchte betreffen eine intime Beziehung zwischen Euch und Eurer Novizin, die sich während Eures Exils oder auch schon früher entwickelt hat“, klärte Osen ihn auf, sein Gesichtsausdruck voll Missbilligung. „Ich muss Euch hoffentlich nicht darauf hinweisen, dass Beziehungen zwischen Mentor und Novize, die gegen den Anstand verstoßen, nicht von der Gilde gebilligt werden. In diesem Fall würdet Ihr die Aufsicht über Soneas Ausbildung verlieren.“

„Das ist mir bewusst.“ Akkarin bedachte den Administrator mit einem kühlen Blick. „Was Eure Sorge um Soneas Wohl betrifft, kann ich Euch beruhigen. Ich habe mich meiner Novizin niemals unsittlich genähert oder auf eine andere Weise versucht, sie zu kompromittieren. Es ist richtig, unser Verhältnis hat sich während unseres Aufenthalts in Sachaka verbessert. Angesichts der Umstände sollte das jedoch keine Überraschung sein. Alles darüber hinaus ist Spekulation.“

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Sie konnte nicht glauben, was er da sagte. Noch, dass das zu seinem Plan gehören sollte. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass er bereits kalt und abweisend gewesen war, als sie einander vor den Sieben Bögen begegnet waren. Da hatte sie sein Verhalten jedoch auf Rothens Anwesenheit geschoben. Hatte er sich das mit ihr anders überlegt?

So weit sind wir also schon, dachte sie und konnte ihre Enttäuschung kaum zurückhalten. In den letzten Tagen hatte sie sich immer wieder das Schlimmste für den Verlauf dieser Besprechung ausgemalt. Mit einer solchen Wendung hatte sie jedoch nicht gerechnet. Mit wenigen Worten hatte Akkarin alles geleugnet, was zwischen ihnen geschehen war. Und dafür hatte sie ihn gerettet?

„Ich glaube ihm“, hörte sie Lady Vinara wie aus weiter Ferne sagen. „Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit Sonea über dieses Thema. Akkarin sagt die Wahrheit. Im Übrigen glaube ich, dass Sonea Akkarin bedingungslos gehorcht, weswegen ich mich dafür ausspreche, sie erneut in seine Obhut zu geben. So haben wir es im Zweifelsfall mit nur einem Gegner zu tun.“

Und ich habe Lady Vinara angelogen! Sonea spürte einen ungeahnten Zorn. Sie wollte aufbegehren, wollte den höheren Magiern unter die Nase reiben, dass sie und Akkarin einander liebten. Und sie wollte ihnen sagen, wie töricht sie sich verhielten. Doch sie blieb still. Was auch immer sie sagen würde, es würde ihre Situation nur verschlimmern. Wütend ballte sie die Fäuste unter dem Tisch und fühlte sich so hilflos und verraten wie an jenem Tag, an dem Akkarin sie von Rothen getrennt hatte.

„Das kann auch ein Risiko für sein“, warnte Balkan. „Wenn die beiden beschließen, sich gegen die Gilde zu wenden …“

„ … dann würdet Ihr dagegen in jedem Fall machtlos sein“, beendete Akkarin den Satz. „Ihr habt zwei Möglichkeiten: Entweder Ihr bringt uns das nötige Vertrauen entgegen, dass wir uns an die Abmachungen halten oder Ihr geht das Risiko ein, dem nächsten Angriff der Sachakaner schutzlos ausgeliefert zu sein, indem Ihr uns wieder fortschickt. Alles hängt davon ab, ob Ihr es akzeptieren könnt, zwei schwarze Magier unter Euch zu wissen oder ob Ihr auf immer ohne Schutz bleiben wollt.“

 

 

***

 

Die höheren Magier berieten sich erneut. Obwohl sie Sonea und Akkarin wieder in einer schalldichten Blase eingeschlossen hatten, war Rothen überzeugt, dass die beiden sich dennoch denken konnten, was gerade besprochen wurde.

„Bedenkt, dass Akkarins Absichten gegenüber der Gilde stets ehrenhaft waren“, sagte Lady Vinara. „Er mag uns hintergangen haben, doch er hat es getan, um uns zu beschützen. Er hat seine Macht niemals missbraucht. Ich bin sicher, er wird dafür sorgen, dass Sonea mit ihrer Macht ebenfalls vernünftig umgeht. Er soll ihr Mentor bleiben. Für mich spricht nichts dagegen, sie beide in der Arran-Residenz unterzubringen. Sie ist daran gewöhnt, mit ihm im selben Haus zu wohnen. Während ihrer Verbannung waren sie ganze Zeit zusammen. Sie ist an ihn gewöhnt und sie vertraut ihm. Für den Fall, dass er sich ihr auf unsittliche Weise nähert, habe ich ihr gezeigt, wie sie sich schützen kann.“

„Sonea würde niemals eine unvernünftige Entscheidung treffen“, fügte Rothen hinzu. „Wir sollten den beiden entgegenkommen, wir brauchen sie. Auch wenn manche das anders sehen mögen.“ Er warf Lord Garrel einen finsteren Blick zu.

Der Krieger hob die Augenbrauen, als wäre er überrascht. „Akkarin hat indirekt zugegeben, dass er das Gelände der Gilde jederzeit verlassen kann, wie es ihm beliebt“, entgegnete er.

„Er ist zu stark, als dass wir ihn ernsthaft daran hindern könnten“, sagte Balkan. „Das wussten wir die ganze Zeit. Wir können ihn und Sonea nicht bis ans Ende ihrer Tage von all unseren Kriegern bewachen lassen. Seine Loyalität gegenüber dem König und Kyralia wird dafür sorgen, dass er tut, was wir von ihm wollen. Und Soneas Loyalität ihm gegenüber muss uns als Garantie genügen, dass sie sich an die Regeln hält.“

„Wenn die Sachakaner erfahren, dass wir Akkarin und Sonea wie Gefangene behandeln, könnte sie das dazu ermuntern, uns erneut anzugreifen“, warnte Kito. „Zwei schwarze Magier, die wie Limeks an der Leine gehalten werden, werden sie kaum als Gefahr betrachten.“

„Trotzdem dürfen wir nicht zulassen, dass er die gleiche Macht über uns hat, wie als Hoher Lord“, wandte Garrel ein.

Es stimmte, Akkarin hatte noch immer Macht über sie, erkannte Rothen. Doch das ließ sich nicht ändern. Er hatte etwas, das die Gilde dringend brauchte. Die Gilde hatte keine Wahl, sie musste ihm entgegenkommen. Er und Sonea konnten jederzeit wieder gehen und nichts und niemand würde sie daran hindern können. Außer ihrer Loyalität. Und selbst diese hatte Grenzen.

„Ob es uns gefällt oder nicht. Unser Schicksal liegt in Akkarins und Soneas Händen“, sagte Lady Vinara. „Sie sind alles, was zwischen uns und Sachaka steht. Das würde ich nicht als ’Macht’ bezeichnen.“

Das Oberhaupt der Heiler war mit Abstand die vernünftigste der höheren Magier, fand Rothen. Vinara war mitfühlend und besonnen und hatte die Gabe, eine Sache von allen Seiten zu betrachten. Sie wählte ihre Worte stets mit Bedacht und scheute sich nicht davor, ihren Kollegen die Meinung zu sagen. Die Krieger, wenn sie auch intelligent waren, handelten oft impulsiv und dachten nur an den strategischen Vorteil, während die Alchemisten immer alles zu sehr vom Standpunkt der Wissenschaft aus betrachteten. Selbst Rothen ertappte sich hin und wieder dabei, wenn seine Ansichten nicht gerade von Soneas Wohlergehen beeinflusst waren.

„Akkarin und Sonea sind zurückgekommen um uns vor den Sachakanern zu retten, obwohl wir sie verstoßen haben“, sagte Lord Peakin. „Wie stehen wir da, wenn wir zwei Mal denselben Fehler begehen, weil wir zu stolz sind, ihnen zu verzeihen? Mir gefällt es auch nicht, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen.“

„Ich möchte hinzufügen, Seine Majestät schenkt Akkarin noch immer großes Vertrauen“, fügte Lord Rolden hinzu.

Rothen warf einen Blick zu Akkarin und Sonea. Akkarin musterte die höheren Magier gelassen. Sonea hingegen wirkte blass und unsicher. Bei ihrem Anblick verspürte Rothen ein unwillkürliches Mitleid. Er unterdrückte ein Seufzen.

„Ich bezweifle, dass Akkarin an Macht interessiert ist“, sagte er. „Das hat ihn nie sonderlich gekümmert.“

„Wie auch, wenn er acht Jahre lang unser Hoher Lord war?“, warf Garrel ein.

„Akkarin ist dem König und Kyralia gegenüber loyal“, entgegnete Rothen, bemüht sich von dem Oberhaupt der Krieger nicht beirren zu lassen. Garrel besaß ein beeindruckendes Redetalent, das ihm half seine Gesprächspartner für seine oft etwas verqueren Ansichten zu gewinnen. „Doch jede Loyalität hat Grenzen, wenn man ihr zu viel abverlangt. Wir sollten sie nicht überstrapazieren.“

„Lord Rothen hat recht“, brummte Balkan. „Akkarin könnte uns Schwierigkeiten bereiten, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Der Gilde zuliebe sollten wir es nicht dazu kommen lassen.“

„Die meisten Gildenmitglieder haben dafür gestimmt, die beiden wieder aufzunehmen“, erinnerte Administrator Osen die anderen mit unverhohlenem Unwillen. „Wenn wir sie wieder fortschicken, weil Akkarin ein paar Forderungen gestellt hat, die in Anbetracht unserer Situation mit den Sachakanern unwesentlich sind, bringen wir den Rest der Gilde gegen uns auf. Bedenkt, dass er sich weder gegen das Ausgehverbot gestellt hat noch auf irgendeine Weise wieder zu Einfluss gelangen will. Alles, was er wollte, betraf Soneas Wohl.“

„Womit wir wieder bei der Frage wären, ob an den Gerüchten über die beiden etwas dran ist“, murmelte Lord Peakin.

Der Hohe Lord seufzte. „Darüber möchte ich mir heute wirklich nicht mehr den Kopf zerbrechen. Wir werden sehen, ob die Gerüchte sich halten. Falls Akkarin wirklich eine Affäre mit seiner Novizin hat, werden wir das sehr bald an ihren Noten erkennen.“

Rothen zuckte zusammen. Er hoffte, Sonea würde sich durch ihre Gefühle nicht vom Unterricht ablenken lassen. Und er hoffte, Akkarin war anständig genug, das nicht zuzulassen. Rothen fragte sich, was geschehen würde, wenn die höheren Magier herausfanden, dass er von dieser Beziehung wusste. Was, wenn es ihn sein neues Amt kostete? Er hatte für sich entschieden, dieses Risiko für Sonea bereitwillig einzugehen, weil er dank seiner neuen Position er endlich die Macht hatte, ihr das Leben in der Gilde zu erleichtern.

„Das denke ich auch“, sagte Lady Vinara.

Rothen nickte. „Ich auch.“

Der Hohe Lord blickte in die Gesichter der anderen. Er nickte und löste die Schallbarriere. „Wenn es keine weiteren Einwände gibt, sind Lord Akkarin und Sonea hiermit wieder in die Gilde aufgenommen. Sie bekommen bis auf weiteres die Arran-Residenz als Quartier zugeteilt. Lord Rothen, bitte sorgt dafür, dass das Gebäude heute Abend noch bezugsfertig gemacht wird und begleitet Sonea nach draußen. Wenn Ihr damit fertig seid, kommt zurück. Die übrigen höheren Magier und Lord Akkarin mögen bitte noch hier bleiben.“

„Wie Ihr wünscht, Hoher Lord.“

„Ich werde Euch über das Besprochene auf dem Laufenden halten.“

„Ich danke Euch, Hoher Lord.“ Rothen schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Komm, Sonea“, sagte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Sie nickte schwach und folgte ihm nach draußen. Rothen hatte Mühe, seine Erheiterung zu unterdrücken. Als die Türen des Tagessaals hinter ihnen ins Schloss fielen, hielt Sonea inne und wandte sich ihm zu.

„Was?“, fragte sie ungehalten.

Rothen gluckste. Es dauerte eine Weile, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er leise sprechen konnte.

„Das war wahrhaftig genial!“, erklärte er schließlich. „Dein Freund sollte über eine Karriere in der Politik nachdenken.“

„Er ist nicht mein Freund“, widersprach Sonea hitzig. „Nennt ihn nicht so!“

Rothen runzelte die Stirn. Eine das Badehaus verlassende Gruppe Magier wandte ihnen die Köpfe zu und musterten sie neugierig. „Sei etwas leiser“, raunte er.

Sonea schnitt eine Grimasse.

„Nun denn“, sagte er. „Wie würdest du ihn denn dann nennen?“

„Er ist mein Mentor. Das habt Ihr doch eben gehört.“

Rothen blinzelte verwirrt. Irgendetwas schien sie zu ärgern, aber er verstand nicht, was der Auslöser dafür war. „Sonea, was ist los? Es ist doch alles so gut gelaufen. Etwas Besseres hätte euch nicht passieren können.“

„Gar nichts ist gut gelaufen“, erwiderte Sonea heftig.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Miene finster. Hinter ihrer grimmigen Fassade glaubte Rothen jedoch, den Schmerz in ihren Augen zu erkennen.

„Warum bist du so wütend?“, fragte er verständnislos. „An seiner Stelle hätte ich dasselbe getan. Auch wenn ich bei weitem nicht sein Geschick habe, andere von meiner Meinung zu überzeugen.“

Sonea starrte ihn an. „Ihr Männer versteht auch einfach gar nichts!“

Mit diesen Worten ließ sie Rothen stehen und stürmte an den Magiern vorbei, die ihr verstört hinterher starrten.

„Warte!“, rief Rothen ihr nach.

Doch Sonea war bereits auf dem Weg zu den Universitätsgebäuden. Er fuhr sich über die Stirn und seufzte. Hoffentlich würde sie in ihrem Zorn nichts Unüberlegtes tun. Er war hin und hergerissen dazwischen, ihr hinterher zu eilen und sie zu beruhigen und den Aufgaben, mit denen Balkan ihn betraut hatte. Dann kam ihm plötzlich eine Idee.

 

 

***

 

Sonea stürmte aus den Sieben Bögen.

Sie hatte genug.

Sie hatte gewusst, dass die Gilde sie noch immer als Mentor und Novizin handhabte. Akkarin hatte gewollt, dass sie ihre Beziehung vorerst geheim hielten. Sie verstand, warum er das wollte. Aber sie konnte nicht glauben, dass Akkarins Gefühlskälte zu seinem Plan gehörte. Und Rothen hatte sich auf seine Seite gestellt! Wenigstens er hätte zu ihr halten müssen!

Ob er denkt, es wäre besser, wenn wir nicht zusammen sind? Aber warum hat er dann dafür gesorgt, dass wir in der Arran-Residenz wohnen dürfen?

Ratlos blieb Sonea im Innenhof stehen und sah sich um. Bis auf die Lichter in den Quartieren der Magier und Novizen war das Gelände der Gilde in Dunkelheit gehüllt. Der Regen hatte aufgehört und der Wind an Stärke gewonnen und ließ Sonea frösteln. Trotz der Kälte machte sie sich nicht die Mühe, einen Wärmeschild zu errichten.

Es verlangte ihr danach, zur Quelle zu steigen. Aber was, wenn sie damit die Gilde in Aufruhr versetzte, weil sie nicht zu finden war?

Seufzend ließ sie sich auf eine Bank fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.

Warum hat er das getan?, konnte sie nicht aufhören zu denken. War ihm in den letzten Tagen klargeworden, dass ihre Beziehung ein Fehler gewesen war? Hatte er sie deswegen nicht vorgewarnt? Wusste er denn nicht, dass er sie damit verletzte?

Nein, dachte Sonea dann. Wenn ihm wirklich so viel an mir liegen würde, dann hätte er den höheren Magiern die Wahrheit gesagt. Er hätte einen Weg gefunden, dass die Gilde uns nicht trennen kann.

Und Rothen hatte bei keinem seiner Worte Einspruch erhoben!

Sonea fühlte sich auf denkbar schlimmste Weise verraten. In ihrem Herzen nahmen finstere Gedanken Gestalt an. Gedanken, die sie niemals hatte haben wollen.

Und sie verfluchte sich selbst, weil es ihr nicht gelang, sie zu verdrängen.

Wenn die Gilde uns wieder aufnimmt, muss sie uns als das akzeptieren, was wir sind, hatte Akkarin am Abend vor der Schlacht gesagt. Für Sonea hatte das neben der Tatsache, dass sie beide schwarze Magier waren, ihre Beziehung mit eingeschlossen. Sie hatte geglaubt, er würde sie in seine Entscheidungen einbeziehen. Nun fragte sie sich, ob er das jemals wirklich getan hatte, oder ob er sie nur in diesem Glauben gelassen hatte, um in aller Ruhe seine eigenen Ziele zu verfolgen.

Ich hätte auf Jonna hören sollen. Ich hätte schon viel früher mit ihm über uns reden sollen. Aber der Abend vor der Schlacht war indes ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt gewesen. Und auch danach hatte Sonea keine Gelegenheit gehabt, das Thema zu forcieren. Alles, was sie beschlossen hatten, war ihr Verhältnis vorerst geheim zu halten. Und das war Akkarins Idee gewesen.

Ich finde es nicht gut, wenn wir einander verleugnen, hatte sie gesagt.

Mir gefällt es auch nicht, aber wir haben keine Wahl. Lass ihnen Zeit, sich an uns zu gewöhnen, hatte er erwidert.

Ist das der Anfang vom Ende?, fragte Sonea sich. War ihm die Situation mit ihr über den Kopf gewachsen, auch wenn das bei jemandem wie ihm nur schwer vorstellbar war? Hatte er erkannt, dass seine Loyalität gegenüber der Gilde den Vorrang haben musste und es daher besser war, sich durch sie nicht in einen Konflikt mit dieser zu stürzen? Oder hatte er nun, da sie wieder zurück waren, erkannt, dass seine Gefühle für sie doch nicht so intensiv waren, wie er geglaubt hatte? Wenn dem so sein sollte, dann hatte sie ihm niemals viel bedeutet. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Was, wenn es ihm mit ihr niemals ernst gewesen war, weil er nicht daran geglaubt hatte, sie würden die Schlacht überleben? Was, wenn er nur seinem Verlangen nachgegeben hatte? Aber sie war so sicher gewesen, dass dort mehr gewesen war! Sie hatte es gespürt!

Schritte näherten sich. Sonea unterdrückte ein Stöhnen. Sie wollte niemanden sehen.

„Rothen hat mir erzählt, was passiert ist.“

Unwillig hob sie den Kopf. Vor ihr stand ein Magier in grünen Roben und vom Wind zerzausten Locke. Dorrien.

„Hat er dich geschickt, damit du mich vom Gegenteil überzeugst?“, fragte sie unwirsch.

„Das war seine Absicht.“ Dorriens Roben raschelten, als er sich neben sie setzte. „Aber ich teile seine Meinung nicht.“

Sonea betrachtete ihn mit schmalen Augen. „Warum bist du dann hier?“

„Ich dachte, du könntest einen Freund zum Reden brauchen.“

Sonea versuchte ein Lächeln zustande zu bringen, das Dankbarkeit ausdrücken sollte. Sie wollte nicht reden. Dennoch fühlte sie sich mit einem Mal ein Stück weniger allein.

„Frierst du nicht?“ Dorrien nahm ihre Hände zwischen seine, die sich rau und ein wenig schwielig anfühlten. Tatsächlich waren seine Hände wärmer als die ihren.

„Das interessiert mich im Augenblick nun wirklich nicht“, gab sie zurück.

„Nur weil du wütend bist, sollte dir deine Gesundheit nicht egal sein“, widersprach er sanft.

„Vielleicht fällt ihm ja dann wieder ein, dass ihm etwas an mir liegt!“

„So ein Blödsinn!“, rief Dorrien aus. Er errichtete einen Wärmeschild um sie beide und zog sie zu sich. Sonea legte den Kopf an seine Schulter. Als Dorriens Hand über ihr Haar und ihren Rücken strich, schloss sie die Augen.

„Ich habe mich nie bei dir bedankt, weil du mir geholfen hast, Akkarin zu retten“, sagte sie nach einer Weile leise.

„Gern geschehen“, erwiderte Dorrien und lächelte.

Doch Sonea erwiderte sein Lächeln nicht. „Es ist nur …“, begann sie und brach dann ab.

„Jetzt wünschst du, du hättest ihn sterben lassen?“

Sonea drehte den Kopf weg, um ihn nicht ansehen zu müssen. Was trieb sie dazu, solch finstere Gedanken zu haben? Reichte es nicht, dass sie Dorrien an jenem Tag verletzt hatte?

„Tut mir leid, dass ich so hässliche Dinge zu dir gesagt hatte“, sagte sie, um nicht antworten zu müssen.

„Du warst nicht du selbst“, widersprach er sanft. „Mir wäre es nicht anders ergangen, hättest du statt seiner dort gelegen.“

Überrascht hob sie den Kopf. Dorriens blaue Augen funkelten wie an jenem Tag an der Quelle. Verstört senkte sie den Blick auf ihre Stiefel.

„Was glaubst du, warum er das getan hat?“, fragte er.

Sie hob die Schultern. „Um mich loszuwerden?“ Es war genau wie damals. Akkarin war in der einmaligen Position, sie zu kontrollieren und sie fand sich dem machtlos gegenüber. Sie befand, es könne nicht schaden, Dorrien von der Besprechung und ihren Bedenken zu erzählen. „Und weil wir ab sofort im selben Haus werden und er wieder mein Mentor ist, kann er dafür sorgen, dass ich niemandem erzähle, was zwischen uns war“, schloss sie.

Doch wenn sie an ihren Besuch im Heilerquartier dachte, konnte sie das nicht glauben. Selbst während der Trauerfeier am vergangenen Tag hatte es keinerlei Anzeichen gegeben, dass Akkarin ihre Beziehung zu beenden beabsichtigte. Das alles passte nicht zusammen.

„Wenn er die Besprechung genutzt hat, um sich von dir zu trennen, dann ist er feiger als ich dachte“, sagte Dorrien hart.

Trotz ihrer Wut, verspürte Sonea bei seinen Worten einen Stich. „Er ist nicht feige“, widersprach sie heftig. „Er weiß, ich würde es nicht akzeptieren. Deswegen macht er es dann, wenn ich mich ihm nicht widersetzen kann.“

Dorrien schnaubte. „Wenn er dir das Herz bricht, bekommt er es mit mir zu tun“, erklärte er leidenschaftlich.

Sonea schüttelte energisch den Kopf. „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, Dorrien. Selbst jetzt ist er noch viel stärker als du.“

Und sie wusste, sie würde Dorrien trotz allem nicht unterstützen, sollte er sich gegen Akkarin stellen.

„Dann kann ich immer noch meinen anderen Plan in die Tat umsetzen.“

Sie blinzelte verwirrt. „Welchen Plan?“

„Dich aus der Gilde zu entführen.“

Wider Willen musste Sonea lachen. „Du gibst wohl niemals auf, nicht wahr?“

„Nein.“ Seine blauen Augen begegneten ihren. „Nicht solange ich davon überzeugt bin, dass du noch ein bisschen für mich übrig hast.“

Seine Direktheit machte sie verlegen. Sonea begriff dass sie es vermeiden musste, ihm erneut Hoffnungen machen. Dorrien war für sie nie mehr als ein guter Freund gewesen. Damals nach dem Kuss an der Quelle hatte sie geglaubt, in ihn verliebt zu sein. Aber wenn da mehr gewesen wäre, hätte sie dann in den darauffolgenden Monaten nicht öfter an ihn gedacht? Hätte sie sich dann nicht schuldig gefühlt, als sie sich in Akkarin verliebt hatte?

Nein, als sie ihre Gefühle für Akkarin entdeckt hatte, hatte sie bereits längst vergessen gehabt, jemals etwas für Dorrien empfunden zu haben.

„Dorrien, so einfach ist das nicht“, begann sie vorsichtig. Sie durfte das Gelände der Universität für den Rest ihres Lebens nicht mehr verlassen. Doch selbst wäre es anders, so hätte sie nicht gewusst, ob sie wirklich mit Dorrien gehen wollte. Sie wusste, was das für sie bedeuten würde.

„Aber du bist unglücklich.“

Sonea lachte bitter auf und sah dem unermüdlich plätschernden Springbrunnen in der Mitte des Hofes. „Als ob ich das inzwischen nicht gewohnt wäre!“

„Ich möchte nicht, dass du unglücklich bist“, sagte Dorrien und berührte ihre Wange.

Nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollte, schwieg Sonea.

„Sonea, darf ich dich etwas fragen?“

Sie nickte.

„Liebst du ihn wirklich?“

Was für eine Frage!

Sie nickte erneut, obwohl es sie schmerzte, Dorrien zu enttäuschen.

Dorrien schloss für einen Moment die Augen. „Und dennoch lässt du zu, dass er dir weh tut?“, fragte er dann leise.

„Was soll ich denn tun?“, fuhr sie ihn an. „Wenn ich meine Gefühle so einfach abstellen könnte, dann hätte ich das schon längst getan.“

Zumindest hatte sie das einst gewollt. Doch das war, bevor sie erfahren hatte, dass Akkarin dasselbe empfand wie sie. Sollte sich nun das Gegenteil herausstellen, dann wusste sie nicht, wie sie es ertragen sollte, wieder eine Novizin zu sein. Was sich zwischen ihnen in Sachaka verändert hatte, konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden.

Dorrien schien von ihrem Zorn unbeeindruckt. „Liebst du ihn mehr als du mich geliebt hast?“, fragte er überraschend gefasst.

Sonea seufzte. Dieser Abend schien sich zu einem einzigen Albtraum zu entwickeln. Musste er das ausgerechnet jetzt wissen wollen? Sie fragte sich, ob sie auch Dorrien gerettet hätte, wäre er bei der Invasion gestorben. Sie hätte es versucht. Aber wäre es ihr auch gelungen? Entschlossen schob sie diesen Gedanken beiseite.

„Dorrien, das mit dir war etwas völlig anderes“, sagte sie. „Wir waren nie zusammen. Es tut mir leid. Bitte stell mir nicht solche Fragen. Nicht jetzt.“

„Verzeih mir“, sagte er leise und strich über ihre Wange.

„Sonea. Es ist Zeit zu gehen. Ich wünsche, dass du morgen ausgeruht bist.“

Sonea zuckte zusammen, als sie die tiefe und kühle Stimme erkannte.

Akkarin.

Wie lange hatte er bereits dort gestanden und sie beobachtet? Sein Blick ließ sie erschaudern. Mit einem Mal fürchtete sie ihn wieder so sehr wie eh und je.

„Ja, Lord Akkarin“, sagte sie steif und erhob sich.

Dorrien erhob sich ebenfalls und fing sich einen kalten und vernichtenden Blick von Akkarin ein. „Gute Nacht, kleine Sonea“, sagte er, den anderen Mann ignorierend.

„Dir auch, Dorrien“, erwiderte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn, hauptsächlich aus echter Zuneigung, aber auch um Akkarin zu ärgern. „Werde ich dich noch sehen, bevor du abreist?“

Dorrien nahm ihre Hände zwischen seine und drückte sie sanft. „Ich werde nicht gehen, ohne mich zu verabschieden“, versprach er. „Ein paar Tage werde ich noch im Heilerquartier aushelfen.“

„Sofort, Sonea.“

Akkarins Stimme klang ungehalten. Er wandte sich zum Gehen.

Sonea warf Dorrien einen entschuldigenden Blick zu und eilte Akkarin nach.

Ein nervöser Diener erwartete sie am Rand des Innenhofs. Sonea und Akkarin folgten ihm vorbei an den Magierquartieren zu dem Weg, der zu den Residenzen führte.

Während sie durch den Wald gingen, sprachen sie kein Wort. Sonea hatte die Hände in den Ärmeln ihrer Robe zu Fäusten geballt und starrte finster zu Boden. Ohne Dorriens Wärmeschild drang ihr der Wind bis auf die Knochen. Neben sich konnte sie Akkarins Schild wahrnehmen. Darunter würde es warm und behaglich sein. Doch sie war zu wütend, um das überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Außerdem wäre es wahrscheinlich ohnehin unangemessen, dachte sie mit einem leisen Schnauben.

Nachdem sie eine Viertelstunde durch den Wald gegangen waren, tauchten vor ihnen die ersten Residenzen auf. Hinter den Fenstern eines Hauses brannten heimelige Lichter, während sich daneben eine Ruine wie die Silhouette eines Gerippes von der Dunkelheit abhob.

Am Ende des Weges bog der Diener auf einen schmalen Pfad zu seiner Rechten ab. Nach einem weiteren kurzen Marsch kam ein zweistöckiges Haus in Sicht. In der Dunkelheit waren nur die Umrisse zu erkennen, doch Sonea wusste bereits von ihrem Ausflug mit Rothen, wie es aussah. Der Diener hielt auf den Eingang zu. Vor der Tür erklärte er ihnen, wo sich welche Zimmer befanden. Dann verneigte er sich hastig und eilte davon.

Akkarin ließ die Tür aufschwingen und sie traten in die Eingangshalle. Ihre Lichtkugeln erhellten einen großen Raum mit steinernen Säulen. Eine fragile Marmortreppe wand sich auf jeder Seite in das obere Stockwerk empor. Die linke führte zu den Schlafzimmern und die rechte zu einem Arbeitszimmer und einer Bibliothek. Auf dem Boden lag ein Teppich aus einem kostbar aussehenden Garn. Unter anderen Umständen wäre Sonea hingerissen gewesen. Doch die Emotionen, die sich den Tag über in ihr angestaut hatten, waren kurz davor, sich zu entladen.

„Werde ich heute Abend noch erfahren, was ich getan habe, um deinen Zorn auf mich zu ziehen?“

Sonea starrte Akkarin an. Er wirkte völlig ruhig. Hatte er wirklich keine Ahnung, was er angerichtet hatte? Musste sie ihm das jetzt auch noch vor Augen führen?

In einer rebellischen Geste schob sie ihr Kinn vor. „Nein“, sagte sie hart. „Das kann warten, bis ich mit meiner Ausbildung fertig bin. So, wie ich das sehe, wird es vorher auch nicht wichtig sein.“

Akkarin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab. Es musste sein. Wenn sie noch sehr viel länger in seiner Nähe blieb, würde sie zusammenbrechen.

„Ich werde jetzt mein Schlafzimmer suchen“, sagte sie mit bebender Stimme. „Schließlich soll ich morgen ausgeschlafen sein.“

„Sonea …“

„Gute Nacht, Lord Akkarin“, sagte sie und ließ ihn in der Halle stehen.

Während sie die Stufen zu ihrer Linken hinauf stürmte, verspürte sie eine leise Überraschung, weil es ihr so leicht gefallen war, unnachgiebig zu bleiben. Sie hatte sich nicht gerade fair verhalten. Doch sie war zu wütend, um sich über Fairness Gedanken zu machen. Was er getan hatte, war auch nicht fair gewesen. Sie würde ihm die Meinung sagen. Aber nicht, bevor sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Von der Treppe aus gelangte Sonea in einen Flur mit mehreren Türen. Ihr Zimmer war das letzte auf der rechten Seite. Daneben lag ihr Studierzimmer. Immerhin war das eine Verbesserung, wenn auch nur eine geringfügige. Als sie die Tür hinter sich schloss, stieß sie einmal tief die Luft aus, die sie angehalten hatte. Nur vage nahm sie die erlesene Möblierung aus Nachtholz und die großen Fenster wahr.

Auf dem Bett fand Sonea ein zusammengefaltetes Nachthemd. Als sie es überstreifte, bemerkte sie, wie sie zitterte. Der Zorn und die Enttäuschung hatten ihren Höhepunkt erreicht und verlangten danach, sich zu entladen. Mit einer letzten Anstrengung stieg Sonea ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Dann begann sie zu weinen und hoffte, dass es niemand hörte.

 

 

***

 

Ein langer Tag lag hinter Rothen, als er endlich in sein Apartment zurückkehrte. Die Besprechung im Tagessaal hatte länger gedauert als erwartet. Akkarins Forderungen und seine Ansichten zur die Reaktion der Sachakaner auf die Schwäche der Gilde hatten nach seiner Rückkehr für reichlich Diskussionsstoff gesorgt. Die Worte des schwarzen Magiers hatten die höheren Magier beunruhigt. Rothen musste sich eingestehen, es erging ihm nicht anders. Viel zu lange hatten sie nicht gewusst, welche Bedrohung Sachaka für sie darstellte und dies bis zuletzt ignoriert. Balkan, Lord Garrel, Administrator Osen und Rektor Jerrik zogen es indes vor, Akkarin zu misstrauen und ihre Augen vor der Wahrheit zu verschließen.

Im Augenblick machte Rothen sich jedoch mehr Sorgen um Sonea als um die Sachakaner. Er verstand nicht, was sie bei der Anhörung so aus der Fassung gebracht hatte. Hatte sie etwa erwartet, dass alles wieder so würde wie vor ihrer Verbannung?

Damit sie keine Dummheiten anstellte, hatte er Dorrien gebeten, sich um sie zu kümmern. Nach der ungewöhnlich langen Gildenversammlung war sein Sohn in der Gilde geblieben, um ein paar Stunden zu schlafen. Rothen hatte ihn auf einer Liege im Heilerquartier gefunden. Zuerst hatte Dorrien sich geweigert, nach Sonea zu sehen, doch als Rothen ihn über den Verlauf der Besprechung informiert hatte, hatte er plötzlich bereitwillig nachgegeben.

Jetzt waren sie und Akkarin vermutlich schon auf dem Weg in ihr neues Zuhause. Rothen hoffte, der schwarze Magier würde Sonea wieder zur Vernunft bringen.

Als ihm wieder einfiel, dass er noch den Unterricht für den nächsten Tag vorbereiten musste, unterdrückte er ein Stöhnen. Während Sonea bei ihm gewohnt hatte, hatte er sich von einem Kollegen vertreten lassen. Ab dem kommenden Tag würde er die beiden Klassen, die ihm dieses Halbjahr zugeteilt worden waren, jedoch wieder selbst unterrichten. Zudem hatte er seinen neuen Novizen sträflich vernachlässigt. Doch auch das würde sich ändern.

Rothen wusste nicht, wie er nach diesem Tag noch über Alchemie und Lehrpläne nachdenken sollte. Zu viele Dinge schwirrten durch seinen Kopf, die er für einige Stunden beiseiteschieben musste, wenn er sich auf seine Arbeit als Lehrer konzentrieren wollte. Er entschied sich eine Tasse Sumi zu gönnen und ein wenig zu entspannen, bevor er mit seiner Arbeit begann.

Als er die Tür zu seinem Apartment öffnete, fiel sein Blick auf die dunkle Silhouette einer Gestalt in einem der Sessel.

„Wer ist da?“, fragte er.

„Vater, ich bin’s.“

„Dorrien!“, rief Rothen, erleichtert, weil es nicht der Mann war, den er befürchtet hatte. „Welch seltener Gast! Musst du mich so erschrecken?“

„Entschuldige, Vater. Ich werde auch nicht lange bleiben.“

Rothen schuf eine Lichtkugel und ließ sie hinter einen Wandschirm schweben. „Dein altes Zimmer ist wieder frei“, sagte er. „Du kannst es wiederhaben.“

Sein Sohn schüttelte den Kopf. „Ich weiß, aber ich werde wieder ins Heilerquartier gehen.“

Rothen unterdrückte ein Seufzen. Dorrien verstand es in letzter Zeit wahrhaftig, ihm aus dem Weg zu gehen. Er trat zu einer Anrichte. Aus einer Dose nahm er mehrere getrocknete Sumi-Blätter und gab diese in eine Tasse. Nach der Karaffe greifend goss er Wasser darüber. Während er das Getränk mit Magie erhitzte, kehrte er zu den Sesseln zurück und setzte sich Dorrien gegenüber.

„Du weißt, du bist hier immer willkommen, Dorrien.“

Dorrien antwortete nicht darauf. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet.

„Sie ist mit ihm gegangen“, sagte er leise. Er hob den Kopf und blickte Rothen anklagend an. „Warum hast du das zugelassen?“

Rothen seufzte. Würde Dorrien jemals aufhören, Sonea nachzutrauern, weil sie seine Gefühle nicht erwiderte?

„Dorrien, Sonea liebt Akkarin nun einmal“, antwortete er behutsam. „Du weißt selbst, wie sie ist, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Bis vor einigen Monaten hat sie ihn noch gehasst. Schon allein deswegen wird sie einen guten Grund haben, dass sie jetzt mit ihm zusammen ist. Sie wird ihn nicht verlassen. Du tätest besser daran, das endlich zu akzeptieren.“

„Sie ist unglücklich und du lässt zu, dass er sie verletzt. Du bist jetzt ein höherer Magier. Wenigstens du solltest den Anstand haben, diese Beziehung aufzudecken. Es wäre besser für Sonea. Wenn du es nicht tust, dann werde ich es tun.“

„Das wirst du bleibenlassen“, sagte Rothen scharf. Die höheren Magier würden fragen, ob er davon gewusst hatte. Doch abgesehen davon, dass ihn diese Enthüllung sein neues Amt kosten konnte, konnte ebendies dafür sorgen, dass Akkarin und Sonea sich gegen die Gilde stellten. „Ich möchte Sonea genauso wenig wie du unglücklich wissen. Deswegen habe ich Akkarin heute unterstützt. Er hat alles getan, um ihr das Leben in der Gilde so angenehm wie möglich zu machen.“

Dorrien schnaubte.

„Du würdest es erkennen, wenn dein Hass auf ihn nicht deinen Verstand trüben würde“, fügte Rothen hinzu.

„Mein Verstand funktioniert bestens, Vater.“ Dorriens blaue Augen funkelten gefährlich. „Und dieser sagt mir, Akkarin ist nicht der Richtige für Sonea.“

Rothen unterdrückte das Verlangen, seinen Sohn zurechtzuweisen. Er wusste, es war sinnlos. Dorrien war so störrisch wie die Reber in den Bergen.

Wäre er davon überzeugt, Sonea und Dorrien gehörten zusammen, dann hätte Rothen alles getan, um sie von Akkarin zu trennen. Sie hatte jemanden verdient, der so sanft und gutmütig und leidenschaftlich war wie sein Sohn. Eine Beziehung der beiden würde jedoch nicht lange gutgehen. Sonea war stark und temperamentvoll. Sie brauchte jemanden, der ihr die Stirn bieten konnte und dem bereitwillig gehorchte. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen aus den Hüttenvierteln, sie war jetzt eine schwarze Magierin. Trotz aller Bedenken, die er anfangs gegen Akkarin gehabt hatte, musste Rothen zugeben, dass sich niemand besser eignete, um ihr Temperament zu zügeln. Zudem hatte dieser Mann alles getan, um Sonea zu beschützen.

Kopfschüttelnd trank er einen Schluck Sumi. „Dorrien, ich weiß, du willst das nicht hören. Aber es wird Zeit, dass du eine Frau findest, die zu dir passt.“

„Welche Frau zu mir passt, kann ich noch immer am besten selbst entscheiden“, gab Dorrien störrisch zurück.

Rothen seufzte erneut. Allmählich wurde es zur Tradition, dass Dorrien jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, alles auf den Kopf stellte. Plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher als, dass sein Sohn bald wieder in die Berge zurückkehrte.

„Ich gehe nun wieder ins Heilerquartier.“ Dorrien stand auf. „Gute Nacht, Vater.“

„Dorrien, warte.“

Dorrien hielt inne und wandte sich ihm zu. Er wirkte ungehalten.

„Versprich mir, Soneas Geheimnis weiterhin für dich zu behalten“, verlangte Rothen. „Wenn du sie verrätst, wirst du sie erst recht verlieren.“

Dorrien nickte zögernd. „Warum kommt es mir nur so vor, als wenn alles, was ich für sie tue, sie noch mehr in seine Arme treibt?“, hörte Rothen ihn murmeln.

„Das weiß ich nicht.“ Rothen verspürte ein jähes Mitgefühl mit seinem Sohn. Unerwiderte Liebe war etwas sehr Schmerzhaftes. „Es tut mir leid, aber sie hat ihre Entscheidung getroffen.“

 

 

***

 

Von der Tür erklang ein Klopfen, das eher nach einem Befehl denn einer höflichen Anfrage um Einlass klang. Sonea beschloss, es zu ignorieren. Mehrere Augenblicke vergingen, dann klopfte es erneut, und bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte, stand Akkarin im Raum. Er zog die Bettdecke von ihrem Kopf.

„Verschwinde“, sagte sie, das Gesicht ins Kopfkissen gepresst, die Hände zu Fäusten geballt. Sie fühlte sich noch nicht wieder in der Lage, ihm gegenüberzutreten. „Ich will dich nicht sehen.“

„Ich werde erst gehen, wenn wir miteinander geredet haben.“

„Was gibt es da noch zu reden?“, grollte sie in ihr Kopfkissen.

„Offenbar eine ganze Menge.“ Er setzte sich auf die Bettkante und strich sanft über ihr Haar.

Sonea erschauderte unter seiner Berührung. Doch so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. Sie fand nicht, dass er das verdient hatte.

„Was zum Beispiel?“, fragte sie so garstig, wie es ihr möglich war.

„Dass du anscheinend zu der Ansicht gekommen bist, ich würde nicht mehr mit dir zusammen sein wollen“, antwortete Akkarin überraschend sanft. Anscheinend hatte er doch mehr verstanden, als sie zunächst geglaubt hatte. „Dachtest du wirklich, ich würde diese Möglichkeit auch nur in Betracht ziehen?“

Bei seinen Worten begann sie erneut zu weinen. Akkarin zog sie hoch und wollte sie an sich drücken. Sonea wehrte sich, doch er bekam ihre Handgelenke zu fassen und hielt sie fest.

Er lachte leise. „Hör auf dich mir zu widersetzen.“

Sie funkelte ihn an. „Dann lass mich los!“

Er verstärkte seinen Griff. „Nur, wenn du versprichst, nicht auf mich loszugehen.“

Sonea nickte stumm. Wie machte er das nur? Was hatte er an sich, dass man sich ihm so bereitwillig fügte?

Akkarin nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihre Tränen fort. Wärme durchströmte sie und es kostete sie all ihre Kraft, ihn zurückzuweisen.

„Nicht“, flüsterte sie.

Akkarins Lippen berührten ihre.

Sonea senkte den Kopf.

„Wir dürfen nicht …“

„Das ist mir egal.“

„Aber wir brechen die Regeln“, widersprach sie. „Wir sind gerade erst zurück …“

Erheitert hob Akkarin die Augenbrauen. „Ah, unsinnige Regeln haben mich noch nie sonderlich interessiert. Acht Jahre lang habe ich vor ihnen geheim gehalten, dass ich schwarze Magie praktiziere. Unsere Beziehung bis zu deinem Abschluss geheim zu halten, ist dagegen ein leichtes Unterfangen.“

Das sah Sonea anders. Schwarze Magie und Liebe waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. „Damals hat niemand etwas geahnt“, wandte sie ein. „Aber viele Magier vermuten bereits, dass unsere Beziehung über jeden Anstand hinausgeht.“

„In ein paar Wochen haben sie es vergessen. Sie werden bald etwas Neues finden, über das sie tratschen können.“ Akkarin bedachte sie mit seinem Halblächeln und küsste sie behutsam. Dieses Mal ließ sie es geschehen.

„Geht es wieder?“, fragte er.

Sonea nickte langsam. „Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?“, verlangte sie zu wissen.

„Die höheren Magier sollten nicht denken, wir hätten uns abgesprochen. Es ist einfacher, mit ihnen zu verhandeln, je weniger wir ihr Misstrauen erwecken. Ich wusste, du würdest mit meinem Plan einverstanden sein. Es ist mein Wunsch, dass du deine Ausbildung beendest. Ich werde dafür sorgen, selbst wenn deine Lehrer sich weigern werden, dich weiter zu unterrichten. Es sind nur noch zwei Jahre, Sonea. Unsere Beziehung solange im Verborgenen zu führen, erscheint mir als akzeptabler Preis.“

„Du hättest mich vorwarnen sollen.“ Sonea zuckte zusammen, als sie den Vorwurf in ihrer Stimme hörte. Das alles hatte zu seinem Plan gehört, doch sie fand, es wäre besser gewesen, hätte sie es vor dem Treffen mit den höheren Magiern erfahren. Sonea verstand seine Gründe, doch sie musste ihm ihren Standpunkt klarmachen. Er durfte sie bei Entscheidungen, die sie beide betrafen, nicht übergehen.

„Dazu war keine Zeit.“

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich mich dabei gefühlt habe?“

„Ich denke, ich habe davon heute Abend einen einprägsamen Eindruck erhalten.“

Doch Sonea war noch lange nicht mit ihm fertig. „Du hast getan, als wenn niemals etwas zwischen uns gewesen wäre“, warf sie ihm vor. „Das war verletzend.“

„Das ist so nicht richtig“, widersprach Akkarin. „Ich habe gesagt, dass niemals etwas zwischen mir und meiner Novizin vorgefallen ist. Als wir in Sachaka waren, war ich nicht mehr dein Mentor. Das hast du mir damals ziemlich deutlich gemacht.“

Sie verkniff sich ein Lächeln, als sie sich daran erinnerte. Es hatte einiges gebraucht, um ihn davon zu überzeugen, es mit ihr zu versuchen. Anscheinend hatte es bewirkt, dass er nun nicht mehr gewillt war, sie gehenzulassen. Im Nachhinein fand Sonea, sie hätte darauf kommen müssen, dass er sich aus den Fragen der höheren Magier geschickt herauswand.

„Trotzdem hast du vorhin behauptet, ich wäre die ganze Zeit nichts anderes als deine Novizin gewesen“, erinnerte sie.

„Nun, ich habe dich auch in Sachaka einiges gelehrt, was du vorher nicht wusstest.“

So kann man es auch ausdrücken, dachte Sonea trocken und war sicher, dass er nicht nur von Magie sprach.

„Ich hatte von dir ein wenig mehr Vertrauen in meine Entscheidungen erwartet“, fuhr Akkarin fort.

Sonea zuckte zusammen. Sie wollte nicht, dass er von ihr enttäuscht war. „Und ich habe weniger Geheimnistuerei von dir erwartet“, gab sie zurück. „Als wir in Sachaka waren, hattest du auch keine Geheimnisse vor mir. Was hat sich geändert?“

„Wir sind zurück in der Gilde. Das macht die Konsequenzen, wenn ich etwas preisgebe, weniger überschaubar. Ich gebe zu, ich habe einen Fehler gemacht, als ich dir nichts von meinen Absichten erzählt habe. Du hast mein Wort, dass ich es in Zukunft tun werde, wenn es uns beide betrifft. Die Gilde hat uns heute eine zweite Chance gegeben, die wir nicht vergeuden dürfen. Zudem führen wir jetzt ein gemeinsames Leben. Wir werden nicht immer einer Meinung sein. Deswegen ist es umso wichtiger, wenn wir ansprechen, was uns aneinander stört.“

Sonea seufzte und schlang die Arme um seinen Nacken. Selbst im Sitzen überragte er sie, so dass sie zu ihm aufsehen musste.

„Es wäre so viel einfacher, müssten wir unsere Beziehung nicht geheim halten.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Vielleicht wäre es das.“

„Wie lange soll das so gehen, Akkarin? Müssen wir wirklich bis zu meinem Abschluss warten? Was, wenn wir vorher auffliegen?“

Akkarin strich über ihre Wange. „Wir werden sehen. Geben wir ihnen Zeit, sich an uns zu gewöhnen. Dann können wir sie möglicherweise schon früher mit der Wahrheit konfrontieren. Besonders, wenn sie erkennen, dass ich dich nicht von deinem Studium ablenke und wir nicht vorhaben, die Gilde zu übernehmen.“

Sonea bewunderte ihn insgeheim, weil er stets so ruhig und gelassen war. Sie sah zu ihm auf. Als ihre Blicke sich begegneten, beugte er sich vor und küsste sie. Spürend, wie er ihre Lippen dazu brachte sich zu teilen, erwiderte sie den Kuss.

„Und jetzt komm“, sagte er dann. „Ich wünsche, dass du in unserem Bett schläfst.“

Er hat unser Bett gesagt, stellte Sonea erfreut fest. „Das muss ich mir noch überlegen, fürchte ich“, sagte sie lächelnd.

„Da gibt es nichts zu überlegen.“ In seiner Stimme lag eine Spur von Autorität, aber auch von Erheiterung. „Es wird dir gefallen. Es ist viel größer.“

„Das Schlafzimmer oder das Bett?“

„Beides. Es gibt sogar einen Balkon.“

Sie grinste unwillkürlich. Dachte er wirklich, das würde sie interessieren? „Na, wenn mich das nicht überzeugt!“, rief sie.

Akkarin schritt zum Kleiderschrank. Er holte einen Morgenmantel heraus und reichte ihn ihr. Sonea zog ihn über ihr Nachthemd. Dann ließ sie sich von ihm in das Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs führen.

Akkarin hatte nicht zu viel versprochen. Das Schlafzimmer war tatsächlich größer als ihr eigenes. Ebenso wie das mit zahlreichen Kissen dekorierte Bett. Die Möbel waren wie in ihrem Zimmer aus edlem Nachtholz. Die Fenster reichten bis zum Boden und ließen sich wie Türen öffnen. Sonea öffnete das ihr nächste und trat hinaus auf den Balkon. Ein eisiger Windstoß traf sie und ließ ihre Haare flattern. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Körper und trat zur Brüstung.

Vor und unter ihr erstreckte sich der Wald wie ein schwarzes, wogendes Meer aus Baumwipfeln. Dahinter konnte sie die Gebäude der Universität erkennen. In der Ferne schraubten sich schemenhaft die höchsten Gebäude Imardins in den Himmel. Der Sturm hatte die Wolken auseinander getrieben und der Mond schlüpfte allenthalben zwischen ihnen hindurch. In den Wolkenlücken glitzerten Sterne.

Akkarin trat hinter sie und legte seine Arme um sie. Die Luft vibrierte, als er einen Wärmeschild um sie beide errichtete, wofür Sonea dieses Mal dankbar war.

„Gefällt es dir?“, murmelte er.

Sie konnte nur nicken. Mit einem Mal war sie sich seiner Nähe zu sehr bewusst und sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Der Gedanke, auch nur einen Tag ohne ihn zu ein, schien unerträglich und sie schämte sich für ihren Gefühlsausbruch. Aber sie begriff auch, dass die auf die Schlacht folgenden Wochen für sie auf ihre eigene Weise zu viel gewesen waren. Gefangen in Rothens Apartment hatte sie einer ungewissen Zukunft entgegen gesehen. Sie hatte sich darauf verlassen, dass Akkarin alles auf die eine oder andere Art zum Guten wenden würde. Und dann waren ihre Erwartungen wegen eines dummen Missverständnisses enttäuscht worden.

„Ich möchte mich entschuldigen, weil ich mich vorhin wie ein kleines Kind aufgeführt habe“, sagte sie.

„Das hast du nicht“, sagte er und küsste ihr Haar. „Ich hätte mit dieser Reaktion rechnen müssen.“

„Trotzdem war es nicht richtig“, widersprach Sonea. „Du hast nur dieses Talent, mich jedes Mal in Angst und Schrecken zu versetzen, wenn du mich zu deiner Novizin machst.“

Akkarin lachte leise. „Es wird nie wieder vorkommen. Darauf hast du mein Wort.“

Sie lehnte den Kopf an seine Brust und lachte ebenfalls.

„Das glaube ich dir sogar!“

Eine Weile standen sie schweigend da und sahen zur Universität. Eigentlich ist es gut, dass Akkarin wieder mein Mentor ist, überlegte Sonea. Sie musste fast über sich selbst lachen, weil sie nie gedacht hätte, dass ein Tag kommen würde, an dem sie freiwillig Akkarins Novizin sein wollte.

Aber es war die einzig logische Konsequenz: Sie waren schwarze Magier. Außer Akkarin durfte sie niemals einen anderen Magier in ihre Gedanken lassen. Zudem konnte Akkarin ihr besser als jeder andere eine gute Ausbildung ermöglichen. Sofern ihre Lehrer sie nicht fürchteten, konnten sie Sonea ignorieren oder mit Herablassung behandeln, wenn nicht jemand mit genügend Einfluss das unterband. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass Akkarin wenn nötig Furcht verbreiten würde, um ihre Zukunft zu sichern. Das brachte sie jedoch in die Situation, es ihm nicht allzu schwer zu machen.

Sonea holte tief Luft und straffte sich. „Ich verspreche, dir eine bessere Novizin zu sein, als ich es früher war“, begann sie. Und weil sie wusste, wie wenig er es schätze, wenn sie sich gegen ihn auflehnte, fügte sie hinzu: „Ich werde dir gehorchen. Es sei denn, du lässt mir keine andere Wahl.“

Sie wandte sich um und sah zu ihm auf. „Wie zum Beispiel, wenn ich einen Plan befolgen soll, der zu deinem Tod führt.“

„Ich denke, das habe ich verstanden“, bemerkte er trocken.

Sie lächelte befriedigt.

Akkarin schüttelte missbilligend den Kopf. „Sonea, ich erwartete von dir, dass du mich außerhalb dieses Hauses und vor anderen Magiern wie deinen Mentor behandelst“, sagte er streng. „Wir müssen der Gilde zeigen, dass ich dich unter Kontrolle habe. Das ist wichtig, damit sie lernt, uns wieder zu vertrauen.“

„Ja, Mylord“, sagte sie errnst. Sie begriff, dass ihre Beziehung das Vertrauen der Gilde in sie nicht gerade stärken würde. Denn es suggerierte, dass Akkarin sich nicht unter Kontrolle hatte. Und wahrscheinlich würde es die Frage aufwerfen, wie kontrollierbar sie beide noch waren, wenn es zum Streit oder zur Trennung kam. Akkarin hatte seine Macht bereits genug ausgereizt, indem er den höheren Magiern einige Eingeständnisse abgerungen hatte.

Akkarin nahm dies mit einem kaum merklichen Stirnrunzeln zur Kenntnis,

„Was, wenn du mich hier unterrichtest?“, fragte Sonea. Zumindest ihr Unterricht in schwarzer Magie würde hier stattfinden, wie sie annahm.

„Das kannst du dir aussuchen.“

Sonea runzelte die Stirn. Sollte sie ihm gegenüber förmlich sein, damit ihr kein Fehler unterlief, wenn sie in der Universität waren und um strikt zwischen dem Geliebten und dem Mentor zu trennen? Oder sollte sie sich normal verhalten? Sie wusste, sie würden wenig Zeit füreinander haben, wenn sie erst wieder zum Unterricht ging. Doch sie entschied, diese Frage konnte warten, bis es so weit war.

„Von jetzt an solltest du auch wieder jeden Abend meine Kraft nehmen“, sagte sie.

Akkarin betrachtete sie nachdenklich. „Sonea, ich denke nicht, dass es das ist, was die Gilde wünscht.“

„Aber wie sollen wir jemals auf den Ernstfall vorbereitet sein, wenn sich nicht einer von uns stärkt? Und es ist nur richtig, dass du derjenige bist. Besonders wenn du mich als deine Novizin willst. Ich werde deine Quelle sein. So, wie es in der alten Gilde auch war.“

„Du weißt, wie die alte Gilde geendet hat“, erinnerte er sie streng.

„Wir sind die einzigen beiden schwarzen Magier. Was soll dabei passieren?“

„Sonea, mir ist nicht wohl dabei, die Gilde auf diese Weise zu hintergehen“, sagte Akkarin leise. „Sie fürchten uns auch so bereits genug.“

„Wir werden sie nicht verteidigen können, wenn nicht wenigstens du dich stärkst“, beharrte sie.

All die Jahre hatte er nichts anderes getan und sie gab ihm ihre Kraft aus freiem Willen. Sonea fand, es war wahrscheinlicher, dass die Gilde ihre Beziehung entdeckte. Und wie überhaupt sollte die Gilde herausfinden, ob Akkarins Kräfte wuchsen? Niemand würde es wagen, ihn zu testen. Die Gilde musste glauben, was immer Akkarin über seine Stärke behauptete.

Akkarin seufzte. „Dennoch könnte es uns großen Ärger einhandeln, wenn die Gilde es herausfindet.“

„Also hast du nichts dagegen?“

Er schüttelte den Kopf. „Deine Argumente haben mich überzeugt.“

Sonea war erleichtert. Insgeheim fühlte sich geschmeichelt, weil er ihr soviel Einfluss zugestand.

„Wirst du mir erzählen, was die höheren Magier von dir wollten, nachdem Rothen mich nach draußen gebracht hat?“, fragte sie dann.

„Ja. Aber nicht mehr heute. Es war ein langer Tag. Lass uns reingehen.“ Er warf einen kritischen Blick zum Himmel. „Ich bin außerdem nicht sicher, ob man uns sehen kann. Der Mond ist sehr hell.“

„Wer sollte denn so spät am Abend noch hier herkommen?“

„Jemand, der uns ausspionieren will? Aber es ist auch möglich, dass man uns von den Universitätsgebäuden aus sehen kann.“

„Oh.“

Er nahm ihre Hand und führte sie zurück ins Schlafzimmer.

„Glaubst du wirklich, man kann uns von dort sehen?“, fragte sie verstört. „Es ist ziemlich weit.“

Akkarin wandte sich zu ihr. Der Mond brach erneut zwischen den Wolken hervor und tauchte das Schlafzimmer in silbriges Licht. „Ich weiß es nicht, aber wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen. Gleich morgen werde ich …“

Er erstarrte und musterte sie durchdringend. Sonea blinzelte verwirrt, da er ungewöhnlich ernst wirkte. Akkarin machte einen Schritt auf sie zu und schlang einen Arm um ihre Taille.

Ein Bild blitzte vor ihren Augen auf. Im Mondlicht schimmerte ihre Haut weiß wie Porzellan, ihre Augen waren ungewöhnlich groß und dunkel. Durch Akkarins Augen schien sie wunderschön. Sie kam nicht umhin sich zu fragen, wie viel davon echt war und wie sehr sein Bild von ihr und seine Gefühle ihr Aussehen verzerrten.

Mit seiner freien Hand strich Akkarin eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Dann vergrub er seine Hand irgendwo im Haar an ihrem Hinterkopf. Sonea spürte, wie sich ein leichtes Kribbeln von dort, wo er sie berührt hatte, langsam in ihrem Körper ausbreitete. Die in dieser einfachen Geste enthaltene Autorität, gab ihr zu verstehen, dass sie ihm gehörte. Zugleich lag darin eine solche Zuneigung, dass sie wusste, sie konnte sich bei ihm sicher und geborgen fühlen.

- Sieh mich an, erklang seine Stimme in ihren Gedanken.

Sofort wusste sie, dass er nicht das visuelle Sehen meinte. Sie verstand, dass sie hinter seine Augen sehen sollte. Jenseits seiner Oberflächengedanken, die ihr dieses Bild von ihr gezeigt hatten. Eine seltsame Furcht vor dem, was sie dort finden würde, befiel sie.

- Was hast du vor?

- Das wirst du dann herausfinden. Hab keine Angst. Ich passe auf, damit du dich nicht verlierst.

Sonea schluckte. Wenn er wirklich das vorhatte, was sie glaubte, dann war er dabei, ihr etwas zu zeigen, was er für sich zu behalten pflegte. Etwas Ähnliches hatte er am Abend vor der Schlacht in Cerys Versteck getan, doch sie ahnte, das hier würde sehr viel intimer. All ihren Mut zusammennehmend streckte sie ihren Geist nach ihm aus. Vergeblich versuchte sie, den Raum hinter seinen Augen zu visualisieren.

- Es ist einfacher, wenn du die Visualisierung nicht benutzt, sandte er.

- Was soll ich tun?

- Das hier, antwortete Akkarin und sandte ihr eine Folge von Bildern und Gedanken zu kompliziert, um in Worte gefasst zu werden.

Sonea folgte seinen Anweisungen und stieß überrascht die Luft aus, als eine Flut von Gefühlen über sie hereinbrach. Anscheinend hatte sie es richtig gemacht. Dahinter spürte sie eine Präsenz von überwältigender Stärke. Seine Präsenz. War er schon immer so mächtig gewesen?

- Konzentriere dich auf ein einzelnes Detail, wies er sie an. Fang mit etwas an, das dir wenig kompliziert erscheint. Und dann gehst du langsam tiefer. Sieh zu, wie ich es mache.

Er führte sie zu etwas, das sie vor Verlegenheit beinahe zum Lachen gebracht hätte. Sonea fragte sich, ob er das mit Absicht getan hatte. Es gelang ihr gerade noch, ihre Erheiterung zu unterdrücken. Nach wochenlanger Trennung erging es ihr nicht anders. Sie musste sich indes davon abhalten, ihm das zu zeigen. Das musste bis später warten.

- Jetzt du, sandte er.

Sonea konzentrierte sich und ging tiefer. Es war nicht schwer, jetzt wo sie wusste, was zu tun war. Die Emotion, die sie auffing, war ein wenig komplexer. Zuerst spürte sie nur eine heftige Eifersucht. Dann sah sie sich und Dorrien auf der Bank am Springbrunnen sitzen. Dorrien berührte gerade ihre Wange. Sonea war sich jedoch sicher, sie hatte Dorrien dabei nicht so angesehen. Überhaupt wirkte es in Akkarins Erinnerung sehr viel intimer, als es in Wirklichkeit gewesen war. Sonea war überrascht. Sie hatte bei ihm weder mit Eifersucht noch mit der Furcht, sie an einen anderen Mann zu verlieren, gerechnet. Er musste doch wissen, dass ihr Herz ihm gehörte! Doch anscheinend gehörte dies zu den Dingen, die er für gewöhnlich vor ihr verbarg. Und sie hatte ihn auch noch mit Dorrien eifersüchtig gemacht!

- Ich glaube, ich muss da etwas richtig stellen.

Sie sandte ihm Bilder und Gefühle aus ihrer eigenen Erinnerung.

- Anscheinend bin ich manchmal fast so unvernünftig wie du, bemerkte er amüsiert.

- Sehr beruhigend.

Sie empfing einen Anflug von Missbilligung ob ihres Sarkasmus. Aber damit würde er von nun an leben müssen.

Als sie weiter suchte, stieß sie auf weniger irrationale Gefühle, die auch ihre letzen Zweifel auflösten. Sie entdeckte, dass auch er sich darüber Gedanken gemacht hatte, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Er war fest entschlossen, alles zu tun, um ihre Beziehung geheim zu halten und zu verhindern, dass die Gilde sie trennte. Lieber führte er ihre Beziehung in Verborgenen, als ohne sie zu sein. Er wollte sie glücklich und in Sicherheit wissen und sie vor allen Gefahren beschützen, obwohl er wusste, dass ihre Sturheit das vielleicht verhindern würde. Sonea verkniff sich ein Lächeln und löste sie sich von diesem Gefühl. Als sie nichts fand, was ihr von Bedeutung erschien, verspürte sie eine vage Enttäuschung.

- Du musst tiefer gehen. Viel tiefer.

Sie ließ los. Es war, als würde sie fallen, doch es war nicht unangenehm. Auf eine seltsame Weise war es berauschend. Unter sich entdeckte sie etwas, das wie ein riesiges dunkles Meer aussah. Sie tauchte hinein und sog scharf die Luft ein, als sie erkannte, was es war. Das Gefühl war so überwältigend, dass es alle Zweifel, die sie noch gehabt hatte, hinwegwischte.

Als sie in sich hineinhorchte, erkannte sie, dass ihre Gefühle die seinen ergänzten. Und sie wollte, dass er das wusste. Als sich sein Griff verstärkte, wusste sie, es war ihr gelungen. Sonea lächelte. Ihre Gefühle schienen sich zu vermischen, bis sie sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte und sie glaubte, in Glückseligkeit zu ertrinken.

- Du solltest zurückkehren, erklang Akkarins Stimme in ihrem Geist. Ich will nicht, dass du den Verstand verlierst. Das wäre unerfreulich.

Sie spürte, wie er sie von irgendwoher auffing und sie zurückbrachte. Sie blinzelte, sich wieder ihrer Umgebung bewusst werdend.

Akkarin stand vor ihr, ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen. „Vertraust du mir jetzt?“

Sonea war zu überwältigt, um zu sprechen. Was sie empfand, ging weit über Vertrauen und Liebe hinaus. Es war schon vorher da gewesen, wenn auch nicht mit dieser definierten Klarheit, die sie jetzt verspürte. Mit einem Mal begriff sie, dass sie alles tun würde, was er von ihr verlangte. Sie gehörte ihm. Sie wusste, er würde sie nicht verletzen, hintergehen oder manipulieren. Sie wusste, es war richtig.

Statt einer Antwort stellte sie sich auf die Zehenspitzen und legte all ihre Hingabe in einen einzigen Kuss.

 

 

***

Kapitel 4 - Der erste Tag

Kapitel 4 – Der erste Tag

 

 

Durch die großen Fenster flutete das erste Licht eines neuen Tages. Im Wald sangen die Vögel eine vielstimmige Morgensinfonie. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der klare blaue Himmel verhieß einen strahlenden Spätsommertag.

Zuerst wusste Sonea nicht, wo sie war. Doch als sie ihre Müdigkeit abschüttelte, kehrten die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. An das quälende Warten in Rothens Apartment auf das Ende der Gildenversammlung, die Anhörung in den Sieben Bögen, ihr Zorn – und an was danach geschehen war.

Und dann fiel ihr auch wieder ein, warum sie kein Nachthemd trug.

Akkarin lag hinter ihr, einen Arm fest um sie geschlungen. Irgendwann im Schlaf musste sie sich zur Seite gedreht haben. Anscheinend hatte er sich mit ihr gedreht. Ein Gefühl ungeahnter Wärme durchströmte sie. Von nun an würde sie jeden Morgen neben ihm aufwachen. Sie waren nicht mehr auf der Flucht und mussten sich verstecken.

Sie hatten nun ein Zuhause. Und sie hatten gerade ihre erste gemeinsame Nacht darin verbracht.

Es fühlte sich richtig und trotz der Ungewohntheit seltsam vertraut an.

Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, löste Sonea sich aus seinen Armen und stand auf. Hoffend, er würde weiterschlafen, stopfte sie ihre Decke an die Stelle, wo sie gelegen hatte und legte seinen Arm darüber.

Bevor sie sich abwandte, küsste sie ihn behutsam auf die Stirn. Akkarin machte ein Geräusch, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem Grunzen eines Gorin hatte. Ein Kichern unterdrückend überlegte sie, ob sie ihn bei Gelegenheit damit aufziehen sollte. Sie befand, so ernst, wie er die meiste Zeit über war, würde ihm das nicht schaden.

Zu ihren Füßen entdeckte Sonea die Überreste ihres Nachthemdes. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, als sie sich daran erinnerte, wie es dazu gekommen war.

Nachdem Akkarin ihr am vergangenen Abend seine Gefühle offenbart hatte, war irgendetwas mit ihnen beiden durchgegangen, was vermutlich nur zum Teil daran gelegen hatte, dass das eine Mal, wo sie sich geliebt hatten, inzwischen Wochen zurücklag.

Alles hatte mit einem harmlosen Kuss begonnen. Dabei musste er irgendwie wieder ihre Gedanken gelesen haben. Denn sonst hätte er bei dem, was darauf folgte, eigentlich Bedenken haben müssen. Begriffen hatte Sonea all das jedoch erst viel später.

Als er begonnen hatte, sie auszuziehen war sein Blick auf ihr Nachthemd gefallen.

„Ich verbiete dir, so etwas in unserem Bett zu tragen“, hatte er in einem Anflug von Missbilligung gesagt und ihr Nachthemd entzwei gerissen, nachdem er sie daraus befreit hatte.

Sonea hatte ihn ungläubig und mit leisem Entsetzen angestarrt.

„Soll ich jetzt nackt schlafen?“

„Ich werde dir etwas … Angemesseneres besorgen“, hatte er mit offenkundiger Erheiterung erwidert. „Auch wenn die Alternative durchaus ihre Reize hätte.“

Ihren darauf folgenden Protest hatte er mit einem Kuss erstickt.

„Was hast du dagegen, wenn ich dieses Nachthemd trage?“, hatte sie zu wissen verlangt, nachdem er wieder von ihr abgelassen hatte. Seit sie der Gilde beigetreten war, schlief sie in diesen Dingern. Widerwillig musste sie zugeben, sich daran gewöhnt zu haben.

„Das ist etwas für Novizen.“

„Aber ich bin Novizin“, hatte sie ihn erinnert, während sie ungeduldig die Schärpe seiner Robe löste. Immerhin hatte er es so gewollt. „Deine Novizin.“

„Richtig“, hatte er gesagt und sie dabei abschätzend gemustert. „Vielleicht hätte ich anständig hinzufügen sollen. Du bist dagegen alles andere als das.“

„Das ist nicht wahr!“, hatte sie protestiert, woraufhin er lachend erwidert hatte: „Eine anständige Novizin wäre jetzt nicht damit beschäftigt, ihren Mentor auszuziehen.“

„Gut, dass du mir das jetzt sagst“, hatte sie mit leisem Sarkasmus erwidert und herausfordernd zu ihm aufgesehen. „Dann höre ich jetzt auf.“

„Nein.“ In Akkarins Stimme hatte eine ungeahnte Autorität gelegen, die ihr einen seltsam erregenden Schauer den Rücken hinabgejagt hatte. „Mach weiter.“

Ohne weiteren Protest hatte sie seine Robe abgestreift. Dabei hatte er sie keinen Moment aus den Augen gelassen. Anschließend hatte er sie zu sich gezogen.

„Ah, Sonea“, hatte er gesagt und mit einer Hand ihre Halsbeuge entlang gestrichen. Bei der Erinnerung daran schien jetzt noch jede Faser ihres Körpers zu vibrieren. „Dass du meine Novizin bist, hat einen entscheidenden Vorteil.“

„Der da wäre?“, hatte sie schwach gefragt.

Akkarin hatte seine Hand in ihren Nacken gelegt. Sein warmer Blick hatte seine folgenden Worte Lügen gestraft.

„Dass du mir gehorchen musst.“

Sonea erschauderte, als sie daran dachte, was er dann mit ihr getan hatte. Sie erinnerte sich, dass sie ihn dabei fast die ganze Zeit über gefürchtet hatte.

Und dass ihr das gefallen hatte.

Die vergangene Nacht war so anders gewesen, als was sie auf dem Felsen hinter dem Wasserfall getan hatten. Es erschien Sonea, als habe Akkarin herausfinden wollen, wie weit er bei ihr gehen konnte. Behutsam, aber bestimmt hatte er sie dazu gebracht, Dinge zu tun, die ihm offenkundig gefielen, ohne jedoch ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Möglicherweise hätte Sonea das verstört, hätte sie sich zugleich nicht so sicher und geborgen gefühlt. Die von ihr gefürchtete Gier war seinen Augen jedoch fern geblieben. Und am Ende war es besser gewesen, als alles was sie sich je hatte vorstellen können.

Ja, sie war unanständig gewesen. Und irgendwie war sie es noch immer.

Sonea unterdrückte das Verlangen, wieder zu ihm ins Bett zu steigen und es erneut zu tun. An diesem Morgen würde ihr Unterricht wieder beginnen. Es war besser, wenn sie sich jetzt darauf konzentrierte. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und verließ leise das Schlafzimmer.

Nachdem sie eine frische Robe aus ihrem Kleiderschrank geholt hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem Bad. Sonea verkniff sich ein Grinsen. Noch vor wenigen Monaten hätte sie der Gedanke entsetzt, in dem Haus zu baden, das Akkarin bewohnte.

Die Quartiere der Novizen und Magier verfügten nur über eine Nasszelle. Für umfangreiche Körperpflege wurde das Badehaus benutzt. Die Residenzen hatten jedoch ihre eigenen Bäder, damit die in ihnen wohnenden betagten Magier nicht den weiten Weg zur Universität laufen mussten.

Das Bad lag jenseits des Treppenaufgangs. Der Flur führte zu einer Galerie mit einem aufwändig verzierten Geländer, von dem aus sie in die kleine Empfangshalle sehen konnte. Links davon lag ein weiterer Flur, auf dem die Bibliothek und das Arbeitszimmer liegen mussten.

Als Sonea die Tür zum Bad öffnete, sog sie überrascht die Luft ein. Es war sehr viel größer und prächtiger, als sie erwartet hatte. Für die Bewohner der Herrenhäuser im Inneren Ring mochte es nichts Außergewöhnliches sein, doch Sonea war hingerissen. Der geflieste Boden, die Wände und sogar die Badewanne, in der fünf ausgewachsene Menschen Platz gehabt hätten, waren aus Marmor. Die Armaturen waren aus Gold, ebenso wie die Fassung des Spiegels, der an einer Wand über einem Frisiertisch hing. Es gab eine Bank aus Nachtholz, auf der man seine Kleider ablegen konnte und ein Regal aus demselben Holz mit herrlich weichen Handtüchern.

Ich sollte mich bei Rothen bedanken, dachte sie in einem Anflug von Schuldbewusstsein, weil sie ihn am vergangenen Abend so angefahren hatte. Schließlich hatte er Anteil daran, dass sie und Akkarin hier wohnen konnten.

Das Wasser, das aus dem Hahn floss, als Sonea diesen aufdrehte, bereits warm. Es dauerte eine Weile, bis sich die Badewanne gefüllt hatte. Sonea ließ ihren Morgenmantel fallen und stieg in das herrlich warme Wasser. Sie tauchte für einen Moment unter, bis ihre Haare sich vollgesogen hatten, dann streckte sie sich aus und ließ sich auf der Oberfläche treiben.

Nachdem sie sich abgetrocknet und wieder angekleidet hatte, trat sie zu dem Frisiertisch am Spiegel. Die darauf befindlichen Utensilien betrachtend wählte sie eine mit Gold verzierte Bürste und kämmte sich die Knoten aus ihren Haaren. Dann trocknete sie ihre Haare mit ein wenig Magie und bürstete sie währenddessen, bis sie glatt waren und seidig glänzten. Dann musterte sie ihr Spiegelbild.

Ihre Haare waren lang geworden und fielen ihr bis über die Schultern. Wenn sie sie offen trug, würden sie ihr ständig ins Gesicht fallen. Früher hatte Sonea ihr Haar oft zu einem Zopf zusammengebunden. Jetzt würde das wahrscheinlich aussehen, als wolle sie Akkarin nacheifern. Das ging auf keinen Fall. Es würde die Gerüchte nur noch weiter anfachen. Allerdings war sie zu ungeschickt für die komplizierten Frisuren, die manche Novizinnen trugen und sie hatte keine Dienerin, die das für sie erledigt hätte.

Missmutig betrachtete Sonea die Haarspangen und Klammern in der Schatulle auf dem Frisiertisch. Musste sie sich wirklich um so etwas Gedanken machen? Stirnrunzelnd entschied sie sich schließlich für zwei kleine Silberkämme, mit denen sie ihre Haare an den Seiten feststeckte. Dann verließ sie das Badezimmer.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Ihre Strahlen fielen durch ein Fenster über dem Eingang und tauchten den Flur und die Empfangshalle in Gold.

Auf dem Weg zur Treppe begegnete Sonea einer vertrauten Gestalt in grauer Uniform. Takan, Akkarins Diener. Während ihrer und Akkarins Verbannung hatte er bei ihrem Freund Cery Unterschlupf gefunden. Akkarin musste ihn zurückgerufen haben, nachdem er dies bei den höheren Magiern durchgesetzt hatte.

„Guten Morgen, Lady Sonea“, grüßte Takan und verneigte sich.

„Guten Morgen, Takan“, erwiderte Sonea erfreut. „Willkommen zurück.“

Takan lächelte. „Vielen Dank, Mylady.“

„Wann bist du zurückgekommen?“

„Letzte Nacht.“

Hoffentlich haben wir da bereits geschlafen, dachte Sonea spürend, wie ihre Wangen heiß wurden. Was, wenn Akkarin mit seinem Diener über ihr Liebesleben sprach? Auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussehen mochte, so verband die beiden Männer eine tiefe Freundschaft, seit sie beide Sklaven eines Ichani gewesen waren. Ohne Lorlen war Takan nun Akkarins einziger Freund und Vertrauter in der Gilde.

Abgesehen von mir. Aber das war anders. Sie waren einander so nahe gekommen, wie Sonea es sich niemals hätte träumen lassen. Bis vor kurzem hatte sie nicht einmal für möglich gehalten, dass man einem anderen Menschen so nahe sein konnte. Aber sie und Akkarin waren keine Freunde.

„Der Dieb lässt Euch grüßen und hat mir für Euch eine Dose Raka mitgegeben“, fuhr Takan fort. „Ich habe sie auf den Tisch im Speisezimmer gestellt.“

„Das ist wundervoll!“, rief Sonea, erfreut über den Themenwechsel und weil ihr Freund an sie gedacht hatte. „Danke Takan. Wie geht es Cery?“

„Es schien ihm gutzugehen. Aber ich fürchte, er sorgt sich sehr um sein Geschäft. Er sagte, er kommt Euch besuchen, sobald er wieder alles unter Kontrolle hat.“

Soneas Freund aus Kindertagen wäre nicht zu einem der mächtigsten Diebe aufgestiegen, hätte er Akkarin in den vergangenen Jahren nicht bei der Jagd nach sachakanischen Spionen unterstützt. Doch die Schlacht hatte alles verändert. Wahrscheinlich war Cery greade mit beschäftigt, seine Position unter den Dieben zu festigen.

„Der Meister erwartet Euch im Speisezimmer“, riss Takan sie aus ihren Gedanken. „Er wünscht, dass Ihr mit ihm frühstückt.“

Natürlich tut er das, fuhr es Sonea durch den Kopf. Sie hatte geplant, wie früher in die Speisehalle der Universität zu gehen. An die Möglichkeit, mit Akkarin zu frühstücken hatte sie nicht gedacht. Aber so würde sie ihn vor dem Abend noch einmal sehen.

„Und er hat mich angewiesen, einen Teil Eurer Garderobe in den Kleiderschrank in Eurem Schlafzimmer zu räumen“, fuhr Takan fort.

Sonea blinzelte verwirrt, bis ihr aufging, was er damit meinte. Sie und Akkarin waren jetzt ein Paar. Sie teilten ein Bett, warum sollten sie dann nicht auch ihre Kleidung im selben Schrank aufbewahren? Akkarin ließ keinen Zweifel daran, wie ernst es ihm mit ihrer Beziehung war.

Sie war zutiefst bewegt. „Danke, aber das brauchst du nicht. Ich werde das gleich heute Abend selbst tun.“

Takan lächelte wissend. „Wie Ihr wünscht, Mylady.“ Er wollte sich abwenden und hielt dann inne.

„Danke, dass Ihr meinem Meister das Leben gerettet habt.“

Seine Worte bewegten Sonea auf eine ungeahnte Weise. „Ich habe versprochen, auf ihn aufzupassen.“

„Und Ihr habt Euer Wort gehalten. Ich stehe in Eurer Schuld, Lady Sonea.“

„Es ist in Ordnung, Takan“, sagte sie. „Ich würde es wieder tun.“

„Ich weiß“, erwiderte er mit einem Lächeln, als wüsste er etwas, das sich ihrer Wahrnehmung entzog. Dann wandte er sich zum Schlafzimmer, wahrscheinlich zum Bettenmachen und um aufzuräumen. Sonea versuchte nicht darüber nachzudenken, was er wohl zu dem zerrissenen Nachthemd sagen würde. Der Gedanke trieb ihr erneut die Röte ins Gesicht.

Ein paar imaginäre Falten aus ihrer Robe streichend stieg Sonea die Treppe hinab. Sie ahnte, sie tat besser daran, sich an solche Dinge zu gewöhnen. Sie konnten Takan vertrauen. Es wäre schlimmer gewesen, hätte die Gilde Akkarin nicht erlaubt ihn zurückzuholen und ihm einen anderen Diener zugeteilt. Und was, wenn Akkarin eine Vorliebe dafür hatte, die Nachthemden der Frau in seinem Bett zu zerreißen?

Unten wandte Sonea sich zu der Tür, die in den hinteren Teil des Erdgeschosses führte, und trat in das großzügig geschnittene Speisezimmer, dessen Anblick ihr den Atem stocken ließ. Die Wände waren mit Gemälden ihr unbekannter Landschaften und Wandteppichen dekoriert. Wie in den Zimmern im oberen Stockwerk reichten die Fenster bis zum Boden, dahinter erhaschte Sonea einen Blick auf die Veranda und den verwilderten Garten. An der linken Wand, flankiert von den Geweihen zweier Jari befand sich ein Kamin umgeben von einer Gruppe bequemer Sessel. In der Mitte des Raumes erwartete sie ein üppig gedeckter Tisch, viel zu groß für zwei Personen. Die Möblierung war wie in den übrigen Zimmern, die sie bis jetzt von diesem Haus gesehen hatte, aus edlem Nachtholz, während die Sessel mit erlesenen Stoffen bezogen waren.

Das ist als würde ich in einem Palast leben, fuhr es ihr durch den Kopf.

Akkarin stand an einem Fenster und sah hinaus. Erfreut stellte Sonea fest, dass er mit dem Essen auf sie gewartet hatte. Als er ihre Schritte hörte, drehte er sich um und lächelte.

War er schon immer so attraktiv, oder bin ich von meinen Gefühlen beeinflusst?

„Guten Morgen, Sonea“, sagte Akkarin und durchquerte den Raum.

Sie verneigte sich leicht spöttisch. „Guten Morgen, Lord Akkarin.“

Akkarin runzelte die Stirn. „Anscheinend muss ich dir erst wieder beibringen, mich zu respektierten“, sagte er streng. „Aber ich fürchte, das muss bis heute Abend warten.“ Er hob sanft ihr Kinn und küsste sie.

„Von meinem Mentor hätte ich aber auch mehr Anstand erwartet“, gab Sonea zurück. Ganz besonders vergangene Nacht, fügte sie in Gedanken hinzu.

„So, findest du?“, murmelte er und küsste sie erneut. „Wenn du das schon unanständig nennst, dann kennst du mich noch nicht gut genug.“

Dann sollten wir das unbedingt nachholen, dachte Sonea und errötete unwillkürlich. Sie fragte sich, ob sie etwas dagegen unternehmen sollte, dass er ständig ihre Gedanken las, so wie er es gerade getan hatte. Andererseits barg es Vorteile, auf die sie nicht mehr verzichten wollte …

Akkarin wurde wieder ernst. „Wir sollten frühstücken.“

Sonea nickte, bemüht ihre Fassung zu bewahren. Was hatte er bloß an sich, was sie derart um ihren Verstand brachte?

Er nahm Platz. Sonea setzte sich ihm gegenüber und nahm ein paar Kuchen von einer silbernen Platte. Sie entdeckte die Dose mit dem Rakapulver und gab ein paar Löffel in ihre Tasse. Dann goss sie Wasser aus einem Krug nach und erwärmte das Gebräu mit Magie. Sofort stieg der intensive, würzige Geruch von heißem Raka in ihre Nase. Vorsichtig probierte sie einen Schluck.

„Der ist wirklich gut“, sagte sie anerkennend.

Akkarin rümpfte kaum merklich die Nase. „Ich verstehe nicht, was du an diesem Getränk findest“, bemerkte er. „Schon der Geruch ist … unerfreulich.“

Sonea lachte. „Und ich verstehe nicht, was du an Sumi findest. Er ist so bitter.“ Seit Jahren fragte sie sich, warum dieses Getränk unter Magiern so beliebt war. Sogar Rothen war an dem Versuch gescheitert, sie auf den Geschmack zu bringen.

„Nun, es hat eine anregende Wirkung, die besonders morgens willkommen ist.“ Akkarin hob seine Tasse. „Wenn du es zu bitter findest, steht es dir frei es zu süßen.“

„Lieber trinke ich aus dem Tarali“, gab sie zurück.

Sie leerte ihre Tasse und goss sich neuen Raka auf. Erheitert stellte sie fest, dass Akkarin dies betont ignorierte. Um sich nichts anmerken zu lassen, senkte sie den Kopf und betrachtete konzentriert das Essen auf ihrem Teller.

Die Tür öffnete sich. Takan trat ein und erkundigte sich, ob alles zu ihrer Zufriedenheit war.

„Danke Takan“, sagte Akkarin. Er blickte fragend zu Sonea.

Sie nickte nur und senkte den Blick erneut.

„Wie Ihr wünscht, Meister“, sagte Takan unterwürfig und entfernte sich.

Akkarin musterte sie aufmerksam. „Sonea, ist alles in Ordnung?“

Sonea unterdrückte ein Seufzen. Mit seiner neuen, unheimlichen Fähigkeit war es ohnehin sinnlos, es vor ihm verbergen zu suchen. „Es ist nur … vorhin hat Takan erwähnt, er sei letzte Nacht zurückgekommen“, begann sie spürend, wie sie ihre Wangen heiß wurden.

„Das ist richtig.“

„Wir … nun, wir waren nicht gerade leise.“

Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte Akkarin sich zurück. Er hob amüsiert die Augenbrauen. „Du meinst wohl, du warst nicht leise“, stellte er richtig.

Die Hitze auf ihren Wangen wurde unerträglich. „Nun ja. Das gestern Abend war ziemlich … unanständig.“

Ihre Tante Jonna ihr erklärt, was sich zwischen Mann und Frau im Bett abspielte, noch bevor Sonea zur Frau geworden war. „Es geht dabei nicht nur darum, Kinder zu machen. Meistens tut man es auch, weil es verdammt viel Spaß macht“, hatte sie Sonea in einem Anflug von Verlegenheit mitgeteilt, den sie damals nicht begriffen hatte. Sie hatte indes begriffen, dass Jonna und Ranel dabei auch Spaß hatten. Jonna hatte ihr schließlich verständlich gemacht, dass Sex ein Spiel für Erwachsene war und Sonea hatte es akzeptiert und vergessen – bis zu Akkarin.

Jonna hatte Sonea alles erklärt, was sie wissen musste, um eines Tages Kinder zu zeugen. Die Regeln dieses Spiels hatte sie dabei jedoch unerwähnt gelassen. Sonea beschlich die leise Ahnung, dass Akkarin das Spiel nach seinen eigenen Regeln spielte. Einiges von dem, was er von ihr verlangt hatte, hätte Sonea entsetzt, wäre das Verlangen in ihr nicht so übermächtig gewesen. Sie wusste nicht, ob es unanständig war, weil es ihr gefallen hatte oder ob es ihr gefallen hatte, weil sie in ihrem Herzen zutiefst unanständig war. Sie war angetan gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass er selbst im Bett Autorität ausstrahlte. Im Nachhinein fand sie, sie hatte nichts anderes von ihm erwartet. Tatsächlich wäre sie andernfalls sogar enttäuscht gewesen.

Zudem war sie sicher, Akkarin hatte am vergangenen Abend schamlos von seiner neuen Fähigkeit Gebrauch gemacht. Woher sonst hatte er so genau gewusst, was er von ihr einfordern und wie weit er sie treiben konnte? Und sie sonst hätte er herausfinden können, was ihr gefiel, wenn sie selbst gerade dabei gewesen war, das herauszufinden? Vieles hätte sie sich nicht einmal zu äußern gewagt, weil sie ziemlich sicher gewesen war, dass es zum ’Spiel’ gehörte. Sie war sicher, das laut auszusprechen, hätte sie wünschen lassen, auf der Stelle im Erdboden versinken lassen.

„Sonea, da war nichts Unanständiges“, sagte Akkarin sanft. „Du kannst so laut sein, wie du willst. Ich habe unser Schlafzimmer mit einem Schutz belegt, der eine Weile halten wird.“

Sonea starrte ihn an. „Soll das heißen, du hast das von gestern Nacht noch öfter mit mir vor?“

Akkarin nahm einen Schluck Sumi und musterte sie durchdringend. „Selbstverständlich“, antwortete er ruhig. „Tu nicht so entsetzt. Ich weiß, dass es dir gefallen hat.“

Hat er schon wieder meine Gedanken gelesen? Doch wahrscheinlich war das gar nicht nötig gewesen, um das zu erfahren. Trotzdem entschied Sonea, sich beim nächsten Mal mehr zu beherrschen. Diese Blöße wollte sie sich nicht vor ihm geben.

„Ich irre mich doch nicht, oder?“

Alarmiert hob sie den Kopf und begegnete seinem durchdringenden Blick mit aller Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte. Sie wollte ihm nicht den Triumph gönnen, sie in die Ecke gedrängt zu haben. Sie wollte weder lügen, noch sich hier und jetzt vor ihm erniedrigen, indem sie es zugab.

„Darauf werde ich nicht antworten“, erklärte sie entschieden und verschränkte die Arme vor der Brust.

Akkarin lachte leise. „Das ist auch nicht nötig.“

Sonea öffnete protestierend den Mund. Musste er sie so in Verlegenheit bringen?

„Ich werde das Haus mit einem magischen Schild belegen, der mögliche Beobachter nur das sehen und hören lässt, was sie sehen und hören sollen“, fuhr er dann fort. „Ein Schutz, der nur verhindert, dass man draußen hört, wenn du in gewissen Situationen laut wirst, wird nicht ausreichend sein, damit wir ungestört sein können. Die höheren Magier verdächtigen uns bereits, eine intime Beziehung zu haben. Wir sollten sie nicht noch darin bestärken.“

Sie starrte ihn an, zu verlegen, um eine bissige Erwiderung zu finden. Dennoch war sie dankbar, weil er an derartige Vorkehrungen dachte. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Gilde von ihrer Beziehung erfuhr! Ganz besonders von gewissen Details …

„Und wozu soll dann ein Teil meiner Roben in deinen … unseren Kleiderschrank?“, verlangte sie zu wissen. Die höheren Magier brauchten nur ihr Schlafzimmer zu durchsuchen, um Beweise für ihre Beziehung zu finden.

„Ah, unser Schrank wird für sie verschlossen sein.“

Sonea runzelte die Stirn. Ihr war nicht klar, was er damit bezwecken wollte, aber sie hatte auch keine Lust, das Thema zu vertiefen. Sie entschied, dass sie es nicht wissen brauchte, was er sonst noch in ihrem Kleiderschrank aufbewahren wollte. Manchmal war es besser, unwissend zu sein und sie begann zu begreifen, warum er es vorzog, nur das Nötigste preiszugeben.

„Ich werde dich gleich zu Rektor Jerrik begleiten“, wechselte er dann das Thema. „Ich will einen Blick auf den Stundenplan werfen, den er für dich erstellt hat.“

Sonea atmete leise auf. Zumindest für jetzt schien diese Angelegenheit aufgeschoben. Sie ahnte jedoch, Akkarin würde darauf zurückkommen, noch ehe dieser Tag zu Ende war. Und dann würde er darauf bestehen, dass sie es zugab. Bei der Vorstellung lief ein angenehmer Schauer ihren Rücken herab. Sie trank einen Schluck Raka und schob ihre unanständigen Gedanken beiseite.

„Traust du ihm nicht zu, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt?“, ließ sie sich auf die Wendung ihres Gesprächs ein.

„Ich will sichergehen, dass er dir fähige Lehrer zuteilt.“

Sonea nickte und freute sich, weil er sie zur Universität begleiten würde. Sie war nicht sicher, was sie dort an ihrem ersten Tag erwarten würde. An seiner Seite würde sie sich zumindest bis zur ersten Stunde sicher fühlen.

Es ist albern, so zu empfinden, dachte sie. Ich bin eine schwarze Magierin. Die Gilde fürchte mich mehr als ich sie. Und doch hing ihr Schicksal vom Willen der Gilde und ihres Königs ab.

„Wie ist das Frühstück?“, riss Akkarin sie aus seinen Gedanken.

„Gut“, antwortete sie verwirrt.

„Gefällt es dir?“

Sie nickte.

Akkarin musterte sie einen Augenblick. „Von heute an werden wir jeden Morgen gemeinsam frühstücken.“

Sonea strahlte. „Das wäre schön.“

„Dasselbe wünsche ich bezüglich des Abendessens.“

„Darauf hatte ich gehofft.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über Akkarins harsche Züge und ihr Herz machte einen Sprung.

Bevor sie die Arran-Residenz verließen, hielt Akkarin in der Eingangshalle kurz inne, um Sonea zu küssen.

„Es ist mir lieber, zuhause zu lassen was nach Hause gehört“, sagte er. „Wir werden heute sehr viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Ich möchte dich nur ungern hinter eine Geheimtür ziehen, um mich angemessen von dir zu verabschieden.“

Unwillkürlich stellte Sonea sich vor, wie er genau das tun würde, sollten sie sich einmal zufällig in der Universität begegnen. Hastig verdrängte sie den Gedanken. Sie fürchtete, ihre Verdorbenheit stünde ihr ins Gesicht geschrieben. Das musste unbedingt aufhören.

Auf dem langen Weg durch den Wald war sie von daher umso mehr bemüht, einen klaren Kopf zu bekommen. Die kühle Morgenluft und die zwischen den Bäumen herrschende friedvolle Stille halfen ihr, ihren Geist von den Gedanken an zerrissene Nachthemden, Gedankenlesen in eindeutigen Situationen und Erwachsenenspiele für Magier zu befreien.

Es war noch früh, als sie die Stufen zur Universität emporsteigen. Die wenigen Novizen, die bereits auf den Fluren herumlungerten, wichen vor ihnen zurück und beäugten sie aus der Ferne. Ob aus Ehrfurcht oder Angst, konnte Sonea nicht sagen.

Rektor Jerrik erwartete sie in seinem Büro.

„Lord Akkarin, Sonea. Bitte setzt Euch“, sagte er, nachdem sie einander begrüßt hatten, und wies auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch.

Sonea und Akkarin nahmen Platz.

„Das hier ist Soneas Stundenplan.“ Jerrik reichte Akkarin einen Bogen Pergament. „Ich hoffe, er entspricht Euren Wünschen. Da nicht alle von Soneas früheren Lehrern bereit sind, sie weiterhin zu unterrichten, habe ich mir erlaubt, Privatstunden einzubauen.“

Akkarin nahm das Pergament entgegen. Dabei ignorierte er betont, wie die Hand des Rektors zitterte. Sonea unterdrückte ein Grinsen. Sie erinnerte sich, wie unterwürfig Jerrik gewesen war, als Akkarin noch Hoher Lord gewesen war. Dann wurde sie wieder ernst. Vermutlich würden die meisten Magier ähnlich reagieren. Hoffentlich gewöhnt sich die Gilde bald an uns, dachte sie mit leiser Resignation.

Zu ihrer Freude legte Akkarin den Stundenplan so auf den Tisch, dass sie mitlesen konnte. Akkarin überflog das Pergament und runzelte missbilligend die Stirn.

„Sonea wird keinen Privatunterricht bei Lord Garrel bekommen“, sagte er. „Er ist für diese Aufgabe ungeeignet. Er kann ihr nicht beibringen, was sie lernen muss. Ich schätze seine Fähigkeiten als Lehrer, aber Sonea hat keinen Nutzen davon, gegen unerfahrene Novizen zu kämpfen.“

„Lord Balkan kann diese Aufgabe nicht mehr übernehmen, jetzt wo er Hoher Lord ist“, antwortete Jerrik. „Sein Nachfolger wäre daher die naheliegendste Wahl.“

Ich werde Sonea in Kriegskunst unterrichten“, erklärte Akkarin. „Sollte das ein Problem sein, so werde ich es Balkan erklären.“

Der Rektor war blass geworden. „Selbstverständlich dürft Ihr Sonea in Kriegskunst unterrichten“, brachte er hervor.

Akkarin nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis, als habe er nichts anderes erwartet.

Also macht er es wirklich wahr, dachte Sonea. Ihre Begeisterung hielt sich indes in Grenzen. Sie machte sich nichts vor, was die zusätzliche gemeinsame Zeit betraf. Akkarin würde sehr streng sein. Trotzdem war es ihr lieber, von ihm anstatt von Lord Garrel unterrichtet zu werden. Das Oberhaupt der Krieger war der Onkel und Mentor ihres früheren Erzfeindes Regin. Sie wusste, Akkarin hielt keine großen Stücke auf ihn.

„Dann werde ich das natürlich sofort ändern“, erklärte Jerrik unterwürfig.

Er stand auf und ging zu dem Schrank, in dem er rote, grüne und purpurfarbene Boxen mit den Stundenplänen der Lehrer der entsprechenden Disziplinen aufbewahrte. Er entnahm mehrere Bögen der roten Box und schritt damit zu einer Tür, hinter der sich Regale mit den Akten der Novizen befanden. Mit einem Ordner, auf dem Sonea ihren Namen entziffern konnte, kehrte er schließlich zu seinem Schreibtisch zurück. Sie fragte sich, was er wohl enthielt. Sicher nicht nur ihre bisher belegten Kurse und ihre Noten.

Jerrik schlug den Ordner auf und nahm einen frischen Bogen Pergament und eine Schreibfeder zur Hand. Als er sie in sein Tintenfass tauchen wollte, hielt er inne.

„Was ist mit Soneas Privatunterricht bei Lady Vinara? Soll ich das auch direkt ändern?“

„Nein“, antwortete Akkarin. „Sie ist die beste in ihrer Disziplin.“

Der Rektor schritt erneut zu den Boxen und zog jeweils einen Bogen Papier aus der roten und der grünen Box und runzelte die Stirn.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Akkarin kühl.

„Soneas Unterricht in Kriegskunst soll jeweils in der ersten Nachmittagshälfte stattfinden. Die einzigen Termine, zu denen die Arena noch frei wäre, sind in der zweiten Hälfte.“

Sonea warf einen Blick auf den Stundenplan. Sie würde an drei Nachmittagen Kriegskunst haben. Jedoch erst ab morgen. Heute würde sie nach der Mittagspause Alchemie bei Lord Elben haben. Jeden Tag hatte sie zudem in der zweiten Nachmittagshälfte Unterricht bei Lady Vinara.

„Dann fragt Lady Vinara, ob sie bereit ist zu tauschen.“

„Selbstverständlich, Lord Akkarin.“

Das Gesicht des Rektors nahm einen geistesabwesenden Ausdruck an, als er eine Gedankenrede mit dem Oberhaupt der Heiler begann.

- Vinara!

- Jerrik?

- Es gibt einige Änderungen in Soneas Stundenplan. Wärt Ihr bereit, außer am Ersttag, sie schon nach der Mittagspause zu unterrichten?

Eine kurze Pause entstand.

- Ja, sandte Lady Vinara schließlich.

„Lady Vinara hat zugestimmt, mit Euch zu tauschen“, teilte der Rektor ihnen überflüssigerweise mit. „Lord Akkarin, habt Ihr noch einen weiteren Wunsch bezüglich Soneas Ausbildung?“

„Nein.“

Während Jerrik Soneas Stundenplan umschrieb, berührte Sonea unauffällig Akkarins Hand.

- Lady Vinara weiß über uns Bescheid.

- Hast du sie nicht glauben lassen, ich wüsste nichts von deinen Gefühlen?

- Doch. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mir geglaubt hat.

- Meine Entscheidung steht. Oder weißt du jemand, der besser geeignet wäre?

- Nein.

Woher auch? Sonea schnitt eine Grimasse. Sie würde sich damit abfinden und versuchen müssen, entsprechenden Gesprächen mit Lady Vinara aus dem Weg zu gehen. Es gefiel ihr nicht, die strenge Heilerin anzulügen.

- Wenn sie mit dir über etwas spricht, was nicht zu deinem Unterricht gehört, wirst du mir das sagen, sandte Akkarin.

Sie nickte kaum merklich und fragte sich, was er dagegen zu unternehmen gedachte. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein.

- Was ist mit Rothen? Kann ich bei ihm Unterricht haben?

Akkarin ließ ihre Hand los. „Ah, Rektor Jerrik, da wäre doch noch eine Sache“, sagte er zu Soneas Freude.

Der Rektor hielt inne und blickte verunsichert auf.

„Ja?“

„Ist es möglich, dass Sonea in Alchemie von Lord Rothen unterrichtet wird?“

„Lord Rothen unterrichtet dieses Jahr ausschließlich Novizen im vierten und fünften Jahr, die Alchemie als Disziplin gewählt haben“, antwortete Jerrik. „Jene Klassen befinden sich jedoch auf einem anderen Wissensstand als Sonea.“ Er fuhr fort, den Stundenplan umzuschreiben.

„Was ist mit Privatunterricht?“, fragte Sonea. Sie wusste nicht, ob sie hier überhaupt etwas sagen durfte. Doch sie fand, es war einen Versuch wert.

Der Rektor schüttelte den Kopf. „Das wird nicht möglich sein. Lord Rothens neue Pflichten als Leiter für alchemistische Studien lassen ihm nicht viel Zeit, zu unterrichten. Außerdem kümmert er sich bereits sehr intensiv um einen neuen Novizen.“

„Du hast genug Privatunterricht, Sonea“, fügte Akkarin sanft hinzu.

Sonea stieß einen leisen Seufzer aus. Sie hatte sich so sehr gewünscht, von ihrem ehemaligen Mentor unterrichtet zu werden. Und jetzt, wo Akkarin endlich einverstanden war, hatte Rothen keine Zeit.

Rektor Jerrik beendete seine Arbeit und reichte ihr und Akkarin jeweils eine Kopie des neuen Stundenplans.

„Da Sonea die Sommerprüfungen versäumt hat, muss sie viel Stoff aufholen. Deswegen ist sie dieses Halbjahr vom Abendunterricht befreit.“ Jerrik schürzte die Lippen und musterte sie und Akkarin missbilligend. „Was Ihr Sonea nach ihren Prüfungen in Ihrer Freizeit beibringt, geht mich nichts an.“

Sonea starrte Jerrik an. Wütend tastete sie unter dem Tisch erneut nach Akkarins Hand. Sie fand, er durfte diese Bemerkung nicht einfach so hinnehmen.

- Wie kann er so etwas sagen? Genau dieser ’Unterricht’ hat seinen Hals gerettet.

- Es ist schwer, die Meinung eines anderen zu ändern, steht sie erst einmal fest, sandte Akkarin. Du wirst lernen müssen, Bemerkungen dieser Art zu ignorieren.

Sonea verdrehte innerlich die Augen, wissend, dass er recht hatte. Sie selbst hatte bis vor kurzem noch geglaubt, schwarze Magie sei böse. Obwohl sie Verständnis für Jerrik haben sollte, fand sie seine Bemerkung reichlich unangemessen.

„In einem Monat von heute an wird Sonea die Sommerprüfungen nachholen“, fuhr Jerrik fort. „So bleibt ihr genügend Zeit, sich auf die Winterprüfungen vorzubereiten. Diese werden um einiges schwieriger. Ihre Noten werden mitentscheidend sein, ob sie die Disziplin wählen kann, für die sie sich bis spätestens dahin entschieden haben muss. Ich würde jedoch empfehlen, dass sie ihre Disziplin unmittelbar nach den Nachprüfungen wählt, weil sie so die Möglichkeit hat, noch dieses Halbjahr die erforderlichen Vertiefungskurse zu belegen. Vorausgesetzt, ihre Noten lassen das zu.“

„Ich werde darauf achten, dass sie gewissenhaft lernt“, versicherte Akkarin und erhob sich. „Was das angeht, haben sich meine Ansprüche nicht verringert. Im Gegenteil.“

Sonea unterdrückte ein Seufzen. Das würde ein arbeitsreiches Halbjahr werden.

„Ich bin erleichtert, das zu hören“, sagte Jerrik. „Einen schönen Tag noch, Lord Akkarin.“

„Ebenso, Rektor“, erwiderte Akkarin. „Komm Sonea, ich bringe dich zu deinem Klassenzimmer.“

„Ja, Mylord.“ Sie erhob sich und folgte ihm nach draußen.

„Danke, dass Ihr mich vor Lord Garrel gerettet habt“, sagte sie, als sie durch die Flure gingen.

Erheitert hob Akkarin die Augenbrauen. „Ich halte weder viel von seinen Fähigkeiten als Lehrer noch von seiner Persönlichkeit“, sagte er. „Davon abgesehen möchte ich verhindern, dass du dasselbe mit ihm machst, wie mit seinem Neffen. Auch wenn ich die Vorstellung ausgesprochen amüsant finde.“

„Und stattdessen konfrontiert Ihr mich mit dem zweifelhaften Vergnügen von Euch unterrichtet zu werden?“, fragte sie.

Akkarins Mundwickeln zuckten. „Bin ich dir etwa nicht gut genug?“

Doch das bist du, dachte Sonea und kämpfte gegen das Verlangen an, ihn auf der Stelle zu küssen. Sogar mehr als das.

Aber das konnte sie ihm jetzt unmöglich sagen. Die Flure hatten sich mit Novizen gefüllt, die auf dem Weg zum Unterricht waren oder in kleinen Gruppen vor ihren Klassenzimmern standen. Die meisten hatten ihnen die Köpfe zugewandt und beobachteten sie mit unverhohlenem Interesse. Als sie an ihnen vorbeigingen, machten sie ihnen respektvoll Platz und verneigten sich vor Akkarin.

Sonea versuchte, sich nicht von ihnen verunsichern zu lassen. Zweieinhalb Jahre in der Gilde hatten sie daran gewöhnt, unfreiwillig im Mittelpunkt zu stehen. Doch dieses Mal war es anders. Sie war nicht länger das Hüttenmädchen, das von allen gemieden und verachtet wurde. Sie war eine schwarze Magierin.

„Ich halte durchaus viel von Euren Fähigkeiten als Lehrer, Mylord“, antwortete sie.

„Das ist wirklich schmeichelhaft, Sonea. Aber wo ist der Haken?“

„Oh, ich befürchte nur, Ihr werdet nicht besonders zimperlich mit mir sein.“

„Das wäre auch nicht zweckdienlich.“

Sie waren vor Soneas Klassenzimmer angekommen. Einige Novizen, die davor herumgelungert hatten, ergriffen schlagartig die Flucht nach drinnen.

Akkarin blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Ich erwarte dich zum Abendessen“, sagte er. „Wenn es später wird, lass mir eine Nachricht zukommen.“

Sonea wandte sich ihm zu. Er hatte den Abstand zwischen ihnen ein wenig vergrößert und wirkte wie immer kühl und distanziert. Doch sie glaubte, noch etwas anderes in seinen Augen zu erkennen. Sie widerstand dem Drang, ihn anzulächeln. Stattdessen verneigte sie sich.

„Ja, Mylord“, sagte sie und versuchte, unterwürfig zu tun, was ihr angesichts der Autorität, die er ausstrahlte, nicht allzu schwer fiel.

„Und mach mir eine Liste mit allen Büchern, die du dieses Halbjahr brauchst“, fügte er hinzu. „Ich werde Kopien für unsere Bibliothek anfertigen lassen.“

„Ja, Mylord“, sagte sie erneut. „Bis heute Abend.“

„Bis heute Abend, Sonea“, erwiderte Akkarin. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Er drehte sich um und schritt mit wallenden Roben den Gang hinab. Die Novizen wichen vor ihm zurück. Zu ihrem Ärger bemerkte Sonea wie einige Mädchen ihm ehrfurchtsvolle und bewundernde Blicke zuwarfen.

Sie schüttelte den Kopf. Dann straffte sie ihre Schultern und betrat das Klassenzimmer. Ihr Lehrer war noch nicht da, dafür sämtliche ihrer Klassenkameraden. Als sie eintrat, erhoben sie sich und begannen zu applaudieren.

Einer von ihnen stach jedoch heraus. Ein großer, gutaussehender Junge, dessen Lächeln eine ungewohnte Aufrichtigkeit ausstrahlte.

„Willkommen zurück, Sonea“, sagte Regin. „Darf ich dir meinen Platz anbieten?“

 

 

***

 

Bis auf einen einzigen Novizen war das Klassenzimmer leer. Rothen beobachtete, wie dieser die Flüssigkeit in dem Rundkolben vorsichtig erhitzte, bis sie ihre Farbe von Purpur zu Rot wechselte.

„Und jetzt halte die Temperatur“, wies er seinen Schützling an. „Du brauchst nur gerade soviel Magie, dass sie nicht wieder abkühlt. Pass auf, dass du nicht zu viel Magie nimmst, da sich sonst Blasen bilden.“

Es war eine einfache Übung. Für die Novizen im ersten Jahr hingegen war es eine Herausforderung, ihre Magie derart auf etwas zu fokussieren, um ein bestimmtes Resultat erzielen. Es gehörte viel Konzentration und Kontrolle der eigenen Fähigkeiten dazu, doch je eher die Novizen es lernten, desto mehr profitierten sie davon im weiteren Verlauf ihrer Ausbildung.

Farand gehorchte wortlos, ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Die Gewissenhaftigkeit seines neuen Novizen gefiel Rothen. Er hatte den jungen Elyner erwählt, weil er Talent hatte und seine Vorgeschichte ihm das Leben in der Gilde erschweren würde.

Farand hatte schon lange den Wunsch gehegt, der Gilde beizutreten. Schon früh hatte er die Fähigkeit, die Gedankenrede anderer Magier zu hören, entwickelt – bei Kindern mit starkem latenten magischen Potential nicht ungewöhnlich. Als der König von Elyne davon erfahren hatte, hatte Farand benutzt, um die Feinde unter seinen Untergebenen auszuspionieren.

Eines Tages hatte Farand eine Gedankenrede belauscht, in der darüber gesprochen wurde, dass König Marend die Ermordung eines elynischen Adligen befohlen hatte. Um sein schmutziges Geheimnis zu waren, hatte der König Farand verboten, der Gilde beizutreten und seinen Träumen damit ein jähes Ende gesetzt.

Durch seinen Schwager war Farand an einer Gruppe von Rebellen geraten, die Magie ohne die Gilde erlernen wollte. Beim Überhören einer weiteren Gedankenrede hatte Farand gelernt, sein magisches Potential zu entfesseln, woraufhin Akkarin, damals noch in seiner Funktion als Hoher Lord, Dannyl angewiesen hatte, die Mitglieder festzunehmen.

Während der Überfahrt nach Imardin war Farand vergiftet worden und dank Dannyls raschem und überlegtem Handeln nur knapp dem Tod entronnen. Die von Lady Vinara angeordneten Ermittlungen hatten nur wenig Licht auf den Vorfall geworfen und waren schließlich aus politischen Gründen eingestellt worden, weil die Spur zu den Beratern des Königs von Elyne geführt hatte. Jetzt, wo sich die Gilde seiner angenommen hatte, war Farand jedoch, was seinen König anging, außer Gefahr.

Rothen hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, den junge Elyner als Novizen zu nehmen. Er hatte diesen Schritt jedoch erst gewagt, als er sicher gewesen war, dass es Sonea gut genug ging, um ein paar Stunden am Tag alleine zu sein. Er hätte es ihr gegenüber nicht als fair empfunden, seine Zeit bis Dingen zu widmen, die noch ein paar Wochen aufgeschoben werden konnten.

„Was passiert, wenn die Flüssigkeit zu heiß wird?“, fragte Farand.

„Dann wird das Gefäß explodieren“, antwortete Rothen. „Doch dazu müsste die Temperatur noch sehr viel weiter ansteigen, als dass es nur Blasen gibt.“ Selbst den ungeschicktesten Novizen gelang dies nur selten. Die Substanz, die Rothen für diese Übung verwendete, war ungefährlich. Tatsächlich kamen Novizen erst sehr viel später in ihrem Studium mit den wirklich spannenden Substanzen in Berührung, wenn sie genug Kontrolle über ihre Magie besaßen, dass der Umgang sicher war.

„Lord Rothen, warum wechselt die Farbe beim Erhitzen?“

Rothen sah auf. „Jede Substanz hat Energiestufen, die angeregt werden, wenn man ihr Energie in Form von Wärme oder Magie zufügt“, erklärte er. „Diese Energiestufen sind für jede Substanz, jedes Element unterschiedlich. Ganz gleich, ob flüssig, fest oder gasförmig. Wenn eine Energiestufe angeregt ist, dann sehen wir die entsprechende Farbe.“

Farand nahm diese Worte in sich auf und runzelte die Stirn. Rothen konnte sich vorstellen, was in seinem Kopf vorging. „Und wenn man zwei Substanzen mischt und sich die Farbe dabei ändert … liegt es daran, dass die dabei entstandene Substanz andere Energiestufen hat?“

„Richtig!“, rief Rothen erfreut. „Genau so ist es. Die Teilchen beider Substanzen verbinden sich zu einer neuen Struktur. Das ändert natürlich die Energiestufen beider Stoffe.“

„Das ist wirklich faszinierend“, sagte Farand mit unverhohlener Begeisterung. „Kann ich mehr darüber lernen? Ich möchte wissen, wie das funktioniert.“

Rothen lächelte. „Natürlich.“

Farands Interesse an Alchemie freute ihn. Er war neugierig und sein Lerneifer war groß. Es war selten, dass ein Novize so früh eine so starke Vorliebe für eine Disziplin zeigte. Insgeheim vermutete Rothen, Farands schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen trugen daran eine Mitschuld. Er rief sich ins Gedächtnis, dass es noch viel zu früh war, um sicher zu sagen, welche Disziplin sein Novize eines Tages wählen würde. In den nächsten Monaten oder Jahren konnte sich das noch ändern. Rothen wusste jedoch, er würde seinen Schützling unterstützen, selbst wenn dieser Krieger werden wollte.

„Du kannst alles lernen, was dich interessiert“, sagte er. „In meinem Apartment habe ich ein Buch, das dir gefallen könnte. Es wird normalerweise nicht für den Unterricht verwendet. Aber ich sehe, deine Neugier geht weit über das hinaus, was ich dich in deinem ersten Jahr lehren könnte. Es sollte viele deiner Fragen beantworten.“

Privatunterricht hatte den Vorteil, dass es keinen festen Lehrplan gab. Obwohl Rothen sich an gewisse Vorgaben halten musste, konnte er sehr viel intensiver auf die Bedürfnisse seines Novizen eingehen, als wenn er eine ganze Klasse unterrichtete. Auch wenn er Farand noch keine schwierigen Experimente lehren durfte, so konnte er Farand ihn mit der Literatur versorgen, die seine Neugier befriedigen würde.

Farand strahlte. „Vielen Dank, Lord Rothen. Es wäre mir eine Freude“

 

 

***

 

Als es zur Mittagspause läutete, war Sonea kurz davor, laut zu schreien. Den ganzen Vormittag über hatten die anderen Novizen jede Gelegenheit genutzt, sie zu belagern und mit Fragen zu bestürmen. Fragen über ihre Zeit in Sachaka, ob sie Angst gehabt hatte, wie es war gegen die Ichani zu kämpfen und vor allem über Akkarin. Besonders die Mädchen hatten sich zu ihrem Verdruß sehr für letzteres Thema interessiert. Sie war dankbar, als Lord Larkin sie nach dem Unterricht noch dabehielt, um sie über die Themen zu informieren, die sie aufholen musste. Zu ihrer Überraschung war der Architekturlehrer freundlich. Sie hatte mit Furcht, Verachtung oder Herablassung gerechnet, aber nicht damit. Vielleicht gab es doch noch Menschen, die es nicht kümmerte, was sie war.

Dennoch war Sonea erleichtert, als er sie entließ. Der Vormittag hatte sie hungrig gemacht und die Aussicht auf ein Mittagessen war trotz der unausweichlichen erneuten Konfrontation mit den Novizen verlockend. Erleichtert, für einige Minuten Ruhe zu haben, eilte Sonea durch die verlassenen Flure zur Speisehalle. Als sie eintrat, war sie nicht überrascht, dass die meisten Tische schon belegt waren. Eine Gruppe von Jungen winkte ihr zu und bedeutete ihr, sich zu ihnen zu setzen. Als sie Regin unter ihnen entdeckte, schüttelte sie entschuldigend den Kopf und steuerte auf einen noch freien Tisch in der Nähe der Küchen zu. Auf dem Weg dorthin sprangen mehrere Novizen auf, um ihr ihre Plätze anzubieten, doch Sonea lehnte höflich ab und ging weiter.

Ein Diener erschien mit einem Tablett. Er stellte es hastig vor ihr ab, verneigte sich und verschwand fluchtartig.

Seufzend begann sie zu essen. So viel positive und negative Aufmerksamkeit zugleich behagte ihr nicht. Während die meisten Lehrer und viele Diener sie zu fürchten schienen, hatte sie unter den Novizen offenbar eine Art Heldenstatus erreicht. Sonea wusste nicht, ob sie sich dadurch geschmeichelt fühlen sollte, denn sie fühlte sich alles andere als heldenhaft. Oft hatte sie um ihr Leben gefürchtet. Sie hatte Dinge getan, von denen sie hoffte, sie niemals wieder tun zu müssen. Und sie hatte getötet.

Es kam ihr nicht richtig vor, von anderen dafür bewundert zu werden. Sie alle hatten nicht die geringste Ahnung, wie es wirklich gewesen war. Und das ärgerte sie. Eine Unterrichtsstunde in Kriegskunst wäre ihr jetzt sehr gelegen gewesen. Sie brauchte dringend ein Ventil für ihre Gefühle. Doch Kriegskunst stand erst für den nächsten Nachmittag auf dem Plan.

„Ist der Platz noch frei?“

Sonea ließ ihre Gabel sinken und sah auf. Vor ihr stand Trassia, in den Händen ein Tablett mit einer halb aufgegessenen Mahlzeit. Hochgewachsen und mit ihrer hellen Haut und dem dunklen Haar, das sie für gewöhnlich hochgesteckt trug, war sie ein typisches kyralisches Mädchen. Wie Soneas andere Klassenkameraden kam sie aus einem reichen Haus. Welches, hatte Sonea indes vergessen. Zugehörigkeiten zu Häusern interessierten sie nicht.

„Kommt darauf an, ob du hier bist, um Abenteuergeschichten zu hören“, antwortete sie unwirsch.

Ihre Klassenkameradin schüttelte den Kopf. „Es muss schwer für dich sein, von allen so belagert zu werden“, sagte sie zögernd.

Sonea ignorierte das Mitgefühl in der Stimme der anderen Novizin. „Und wenn schon“, gab sie zurück. „Bist du nicht deswegen hier?“

Trassia schien verunsichert. „Ich dachte … vielleicht könntest du ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Du sitzt hier ganz alleine.“

Sonea runzelte die Stirn. Sie wollte keine Gesellschaft. Sie wollte bloß ihre Ruhe haben. Die andere Novizin schien allerdings fest entschlossen, nicht nachzugeben. Sie sah sich in der Halle um. Alle anderen Plätze waren inzwischen belegt.

„Der Platz ist noch frei“, sagte sie.

Trassia strahlte und setzte sich ihr gegenüber.

Eine Weile aßen sie schweigend. Sonea war dankbar, weil Trassia sie beim Essen nicht mit Fragen penetrierte. Das machte ihre Anwesenheit an diesem Tisch indes umso seltsamer.

„Warum sitzt du nicht bei den anderen?“, fragte sie nach einer Weile. „Ich dachte immer, du und Narron wärt ein Paar.“

„Oh, das ist schon lange nicht mehr“, antwortete Trassia verlegen.

Sonea stutzte. „Was ist passiert?“, fand sie sich fragen, bevor sie realisierte, dass die das nichts anging.

„Er geht jetzt mit einer anderen.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte Sonea und verfluchte sich insgeheim, weil sie dieses Thema so ungeschickt angeschnitten hatte. Auch wenn sie lieber allein gegessen hätte, wollte sie Trassia nicht durch mangelndes Feingefühl vertreiben. Stattdessen bemühte sie sich um eine mitfühlende Miene. „Mit wem?“

„Ich glaube, sie war früher in deiner Klasse. Ihr Name ist Issle.“

„Issle!“, zischte Sonea. Sie blickte ihrer Klassenkameradin in die Augen. „Dann ist er wirklich ein Mistkopf. Sei froh, dass du ihn los bist.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Trassia zu. „Aber du hast ja auch gut reden. Schließlich hast du einen Freund.“

Sonea zuckte zusammen. „Wie kommst du darauf?“, fragte sie alarmiert.

„Naja, alle reden doch davon, dass du und Akkarin ein Paar seid.“

„Und du glaubst dieses Geschwätz?“

Trassia zögerte. „Ihr wart zusammen in Sachaka. Da seid ihr euch doch sicher näher gekommen.“

„Es stimmt, unsere Beziehung hat sich vertieft“, bestätigte Sonea ihre Worte mit Bedacht wählend. „Schließlich haben wir die ganze Zeit um unser Leben gekämpft. Die Sachakaner haben uns gejagt kaum, dass wir Kyralia verlassen hatten.“

Warum dachten alle, ihre Verbannung nach Sachaka wäre eine romantische Vergnügungsreise gewesen? Sachaka war ihr wie ein nicht enden wollender Alptraum erschienen. Bis auf die Nacht, die wir in dem kleinen Tal verbracht haben, und den Morgen hinter dem Wasserfall, wo Parika uns fast erwischt hat, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Das muss entsetzlich gewesen sein“, sagte Trassia mitfühlend.

„Ja, das war es. Aber …“ Akkarin war bei mir.

Trassia musterte Sonea aufmerksam. „Sicher hat er aufgepasst, damit dir nichts passiert.“

Sonea nickte zögernd. „Er ist schließlich für mich verantwortlich.“

Trassia stieß einen hingebungsvollen Seufzer aus. „Heute Morgen habe ich euch zusammen gesehen“, sagte sie. „Als er dich zum Unterricht begleitet hat. Du hast ihn ganz schön angehimmelt.“

Sonea versuchte verzweifelt, die plötzliche Hitze aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Sie nahm ihr Wasserglas und trank ein Schluck hoffend, die Kühle des Getränks würde irgendwie dagegen helfen.

„Habe ich nicht“, widersprach sie eine Spur zu heftig.

Trassia schenkte ihr ein wissendes Lächeln. „Du hattest nur Augen für ihn.“

Sonea schnaubte. „So ein Unsinn! Ich war nervös, weil ich nicht wusste, was mich an meinem ersten Tag erwartet. Das ist alles.“

Die andere Novizin bedachte sie mit einem wissenden Blick. „Warum wirst du dann rot?“

Sonea hatte Mühe, ihre Verärgerung zu unterdrückend. Es gefiel ihr nicht, zu erzählen, was sie mit Akkarin für einen solchen Fall vereinbart hatte, weil es in ihren Augen einer Lüge gleichkam. Doch sie begriff, es war an der Zeit Trassia das zu geben, was sie so unbedingt haben wollte. Vielleicht würde das dieses Thema beenden.

Ein verschwörerisches Gesicht machend beugte sie sich über den Tisch. „Also schön“, flüsterte sie, um einen drohenden Unterton in ihrer Stimme bemüht. „Aber du musst schwören alles, was ich dir jetzt erzählen werde, für dich zu behalten.“

„Ich schwöre“, gelobte Trassia feierlich. „Bei Haus Dillan. Ich bin ja nicht dumm. Ich weiß, es würde gegen jeden Anstand verstoßen, wenn ihr eine Affäre hättet.“

„Gut.“ Sonea holte tief Luft. „Es ist wahr“, sagte sie dann. „Ich bin in Akkarin verliebt.“

Es auszusprechen trieb ihr erneut die Hitze ins Gesicht und sie verfluchte sich für diese alberne Reaktion.

Ein schwärmerisches Leuchten erfüllte Trassias Augen. „Das ist toll“, hauchte sie. Dann wurde sie jedoch wieder ernst. „Aber du solltest es ihm besser sagen, bevor ihn dir jemand wegschnappt. Ein paar der älteren Novizinnen haben ebenfalls ein Auge auf ihn geworfen.“

Wundervoll, dachte Sonea, genau das, was ich jetzt noch gebrauchen kann.

„Danke für deine Warnung. Ich werde es mir merken“, sagte sie trocken. Sie zuckte die Schultern. „Aber eigentlich habe ich gar keine Zeit für eine Beziehung – egal, mit wem.“

Sie bezweifelte, dass Akkarin Interesse an den verzogenen Töchtern der Häuser hatte. Sie würden niemals verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Was das anging, machte sie sich keine Sorgen. Doch was, wenn seine Verehrerinnen sie auf Grund der bereits kursierenden Gerüchte schikanieren würden? Sonea würde dem hilflos ausgeliefert sein, denn wenn sie sich wehrte, würden die Schwierigkeiten kein Ende nehmen. Abgesehen davon, dass dies die Gerüchte über sie und Akkarin nur bestätigen würde, wollte sie nicht erneut nach Sachaka verbannt werden, weil die Magier sie für unberechenbar und unkontrollierbar hielten.

Trassia betrachtete sie mitfühlend. „Du musst viel Stoff nachholen, nicht wahr?“

Sonea nickte. Endlich nahm das Gespräch eine Wendung, die ihr mehr behagte. „In einem Monat muss ich die Sommerprüfungen nachholen. Und danach werde ich mit dem Stoff von diesem Halbjahr hinterher hängen.“

„Wenn du willst, dann gebe ich dir meine Aufzeichnungen von den Kursen, die wir im letzten Halbjahr gemeinsam hatten“, bot Trassia an.

Sonea lächelte erfreut. „Das wäre toll.“

„Weißt du schon, welche Disziplin du wählst? Ich möchte Heilerin werden. Seit diesem Halbjahr habe ich dafür Vertiefungskurse belegt.“

Sonea war nicht sonderlich überrascht. Die meisten Novizinnen wählten die Heilkunst. Auch sie hatte einst diesen Traum gehegt. Sie wollte den Menschen in den Hüttenvierteln helfen. Doch nun brauchte die Gilde sie zu ihrer Verteidigung und sie hatte diese Disziplin auf die schlimmstmögliche Weise missbraucht. Irgendwie hatte das alles verkompliziert.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete sie. „Für mich ist das keine leichte Entscheidung. Aber ich mag die Heilkunst auch am liebsten.“

Während sie weiter aßen, lauschte Sonea den Gesprächen der anderen Novizen. Irgendwie tat es gut, wieder hier zu sein. Es war ein Stück Normalität. Etwas von ihrem Leben, wie es vor der Schlacht gewesen war. Noch fühlte es sich fremd und ungewohnt an, doch sie begrüßte es. In der kurzen Zeit, die sie fort gewesen waren, hatte sich alles verändert, doch es hätte sie schlechter treffen können.

Viel schlechter.

„Also wer von uns fragt sie nun?“, hörte sie einen Novizen murmeln.

„Frag du“, antwortete ein anderer.

„Wenn ich frage, sagt sie bestimmt nein“, wandte der, der zuerst gesprochen hatte, ein.

„Dann musst du sie fragen. Immerhin bist du der Älteste von uns.“

Die Stimmen kamen näher.

„Hallo, Sonea.“

Sonea sah auf und fand sich drei Novizen gegenüber, deren Gesichter ihr vage bekannt vorkamen. Bitte nicht schon wieder, flehte sie innerlich. Kann ich den niemals meine Ruhe haben?

„Ja?“

„Du kennst uns wahrscheinlich nicht“, sagte der Junge, der sie angesprochen hatte. „Daher stelle ich uns kurz vor: Ich bin Genel von der Familie Perron, Haus Arran. Ich bin im fünften Jahr. Das ist mein Freund Jarend von der Familie Aren, Haus Dillan. Und das ist mein Bruder Yaen. Er ist wie du im vierten Jahr, aber ein halbes Jahr weiter.“

„Hallo“, sagte Sonea und fragte sich, warum jemand aus einem kyralischen Haus einen elynischen Namen trug. Sie betrachtete Jarend näher. Seine Augen waren auffällig grün und braune Sprenkel bedeckten seine Wangen. Sicher genug war er zur Hälfte Elyner. Wahrscheinlich ist es seine Mutter, dachte sie. Denn andernfalls würde sein Familienname nicht so kyralisch klingen.

„Wir wollten dich fragen, ob du vielleicht Lust hast am Freitag mit uns auszugehen“, sagte Genel.

Sonea betrachtete die drei Novizen schockiert.

„Gleichzeitig oder einzeln?“

Genel, Jarend und Yaen tauschten nervöse Blicke.

„Ganz wie du möchtest“, antwortete Genel. „Ich kann uns Karten für die Rennbahn besorgen.“

Im Verteilen von Körben hatte Sonea reichlich Übung. Nachdem sie das Duell gegen Regin gewonnen hatte, war sie wiederholt um eine Verabredung gebeten worden. Aber noch nie hatten sich drei Novizen gleichzeitig mit ihr verabreden wollen.

„Danke, aber ich kann am Freitag nicht“, antwortete sie. „In einem Monat muss ich die Sommerprüfungen nachholen. Bis dahin werde ich viel lernen müssen. Sehr viel. Außerdem darf ich nicht in die Stadt.“

Die drei Novizen tauschten verunsicherte Blicke. Offenkundig hatten sie mit dieser Antwort nicht gerechnet.

„Das verstehen wir natürlich“, sagte Genel.

„Wir könnten dir auch beim Lernen helfen, wenn du magst“, fügte sein Bruder hinzu. „Was du können musst, haben wir alle schon gelernt.“

Sonea versuchte, ein Lächeln hervorzubringen. „Das ist wirklich nett von euch, aber ich habe schon genug Hilfe beim Lernen.“

Genel, Jarend und Yaen machten enttäuschte Gesichter.

„Falls du dich anders entscheidest, lass es uns wissen“, sagte Genel, der als Erster seine Fassung wiedererlangt hatte, schließlich.

„Das werde ich“, versprach Sonea. Sie fuchtelte mit ihrer Gabel. „Doch jetzt würde ich gerne mein Mittagsmahl beenden.“ Sie wandte sich wieder ihrem Essen zu und würdigte die drei Novizen keines Blickes mehr.

Trassia kicherte.

„Was gibt’s da zu lachen?“, fragte Sonea unwirsch.

„Du hast neue Verehrer!“

„Das ist nicht lustig“, knurrte Sonea, während sie das ungute Gefühl beschlich, dass sie diese drei Novizen so schnell nicht mehr los würde.

„Immerhin interessieren sich andere für dich“, sagte Trassia.

Aber nur, weil ich ihnen den Hals gerettet habe. Sonea fand, auf derartiges Interesse konnte sie gut verzichten.

Ihre Klassenkameradin beugte sich über den Tisch. „Glaubst du, er wird eifersüchtig, wenn du dich mit den Dreien triffst?“

Sonea schüttelte den Kopf. Akkarin war gewiss nicht eifersüchtig auf Novizen, die zudem jünger waren als sie selbst. Er war allenfalls eifersüchtig auf Dorrien. Und sie war sicher, das am vergangenen Abend richtiggestellt zu haben.

„Weiß er denn überhaupt von deinen Gefühlen für ihn?“

„Es würde mich wundern, wenn er es nicht wüsste“, antwortete Sonea. „Schließlich kann er Gedanken lesen.“

Trassias Augen weiteten sich. „Er liest deine Gedanken?“

Nicht absichtlich. Zumindest meistens. Sonea hielt es indes für besser, Akkarins unheimliche Gabe für sich zu behalten. Mit dieser hatten sie gegenüber der Gilde einen Vorteil. „Er hat mir Dinge beigebracht, wo er durchaus die Gelegenheit hatte, es zu erfahren. Es ist schwer, so starke Gefühle vor seinem Mentor zu verbergen.“

„Warst du schon in ihn verliebt, bevor ihr verbannt wurdet? Ich meine, kein Mensch würde einem anderen freiwillig nach Sachaka folgen.“

Sonea bedachte die andere Novizin mit einem finsteren Blick. „Ich habe es getan, weil es notwendig war.“

Inzwischen war sie jedoch sicher, bereits damals in Akkarin verliebt gewesen zu sein. Und das hatte mit dazu beigetragen, ihm in die Verbannung zu folgen. Sie hatte viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Irgendwie musste es passiert sein kurz, nachdem er ihr sein Geheimnis anvertraut hatte. Einzig das falsche Bild, das sie von ihm gehabt hatte, hatte sie davor abgehalten, ihn schon früher zu lieben. Beinahe wünschte sie, er hätte ihr viel eher die Wahrheit gesagt.

„Ich störe die Ladies ja nur ungern, aber ich muss Sonea etwas geben.“

Sonea und Trassia fuhren hoch.

„Regin“, zischte Sonea. „Was willst du?“

Ihr alter Widersacher warf einen Stapel Pergament auf ihren Tisch. „Das hier sind meine Notizen von Alchemie. Sie enthalten alles, was du verpasst hast.“

„Danke Regin“, antwortete Sonea trocken.

„Immer wieder gerne. Du kannst sie behalten, solange du willst.“

Er berührte kurz ihre Hand.

- Hör nicht auf das Gerede. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.

Sonea lächelte unwillkürlich.

„Ich muss jetzt zu Kriegskunst. Wir sehen uns nachher bei Lord Elben.“

Regin stolzierte davon.

Sonea schüttelte den Kopf. „Kriegskunst? In der Mittagspause?“ Und warum hatte er die Notizen vom letzten Jahr dabei?

„Balkan … also der Hohe Lord … gibt ihm Privatunterricht“, erklärte Trassia.

Sonea schnaubte. Soviel dazu, Balkan habe keine Zeit, sie zu unterrichten. Sie betrachtete Regins Notizen. Es war ein sehr dicker Stapel, der offenkundig den kompletten Stoff des letzten Winterhalbjahres enthielt. Die obersten Seiten trugen jedoch aktuellere Daten. Sie war überrascht und seltsam erfreut.

„Was war das denn gerade?“, fragte Trassia, nachdem Regin die Speisehalle verlassen hatte.

Sonea schnitt eine Grimasse. „Oh, ich glaube, das ist nur Regins Art, seine Dankbarkeit auszudrücken, weil wir während der Schlacht seinen Hals gerettet haben.“

 

 

***

 

Auch drei Wochen nach der Invasion der Ichani war im Heilerquartier keine Ruhe eingekehrt. Die Stadt litt noch immer unter den Verwüstungen der Schlacht und ihren Folgen. In den Hüttenvierteln war ein Fieber ausgebrochen, das sich rasch ausbreitete, weil zahlreiche Hütten zerstört waren und sich die Bewohner in den Häusern zusammendrängten, die von den Folgen der Schlacht verschont geblieben waren.

Die Heiler hatten mehr als alle Hände voll zu tun. Aus Furcht, das Fieber könne sich auf den Bereich innerhalb der Stadtmauern ausweiten, hatte der König angeordnet, den Hüttenleuten medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Für Dorrien war das eine willkommene, wenn auch erschöpfende Ablenkung. Er schlief nur, wenn er seine Magie regenerieren musste, wozu er eine freie Liege im Bereitschaftsraum im Heilerquartier nutzte. Die übrige Zeit war er in den Hüttenvierteln unterwegs, um Kranke und Verletzte zu versorgen.

Obwohl diese Arbeit Dorrien erfüllte, wünschte er sich mehr denn je, endlich nach Hause in sein Bergdorf zurückzukehren. In Windbruch war jetzt Erntezeit. Wie die meisten anderen Zeiten im Jahr erforderte auch diese Saison Dorriens Einsatz. Wenn er zurückkehrte, würde jede Menge Arbeit auf ihn warten, denn in der Gegend vom Südpass war weit und breit er der einzige Heiler.

Doch das war nicht der einzige Grund.

Dorrien verspürte eine ungeahnte Wut auf seinen Vater. Rothen glaubte, das Richtige zu tun, indem er Soneas und Akkarins Geheimnis wahrte. Dorrien hingegen war anderer Meinung. Nur widerwillig hatte er seinem Vater versprochen, nichts zu unternehmen was Soneas Beziehung mit Akkarin schaden würde. Er hätte es nicht ertragen, von Sonea gehasst zu werden. Dabei würde er nichts lieber sehen, als wenn sie sich von dem schwarzen Magier trennte.

Der gestrige Abend hatte seinen Zorn sogar noch vergrößert, weil er miterlebt hatte, wie sehr sie unter ihrer Beziehung litt. Ihre Nähe und das Vertrauen, das sie ihm geschenkt hatte, hatten neue Hoffnungen in ihm zum Leben geweckt und er verspürte ein Verlangen nach ihr, von dem er sich nur schwer befreien konnte.

Das allein wäre für Dorrien Grund genug gewesen, die Gilde an diesem Tag zu meiden, doch bereits nach einem halben Tag waren ihm die Arzneien ausgegangen. Darauf bedacht, seinen Aufenthalt in der Gilde möglichst kurz zu halten, beeilte er sich, den ersten Stock des Heilerquartiers, wo die Medikamente hergestellt wurden, zu erreichen. Als er die Tür zum Lager öffnete, stieß er mit einer kleinen, schwarzgewandeten Gestalt zusammen.

„Sonea!“

Sie sah auf. Ihre dunklen Augen weiteten sich.

„Dorrien!“, rief sie und strahlte ihn an.

Sie sah hinreißend aus. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Begegnung am Südpass war Dorrien überrascht, dass das kleine magere Mädchen mit den kurzen Haaren zu einer so bemerkenswerten jungen Frau geworden war. Obwohl ihr die vornehmen Züge der Frauen aus den Häusern fehlten, war ihre Natürlichkeit genau das, was Dorrien anzog. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihre blassen Wangen waren leicht gerötet und ihre dunklen Augen leuchteten. In ihrem seidig glänzenden Haar trug sie zwei silberne Kämme. Er musste sich beherrschen, nicht die Hand nach ihr auszustrecken und sie zu berühren. Die Erinnerung an den letzten Abend, an das Gefühl ihrer zarten Haut unter seinen Händen und der Duft ihres Haares drohten ihn um den Verstand zu bringen.

Er riss sich von ihrem Anblick los.

„Sonea, was tust du hier?“

„Ich muss eine Medizin neu mischen. Für einen Patienten.“

Dorrien runzelte die Stirn. Dass Novizen sich während ihres Unterrichts so frei im Heilerquartier bewegen durften, war unüblich. Nur den Besten wurde das schon so früh erlaubt.

„Also möchtest du noch immer Heilerin werden?“, fragte er.

„Ja.“

Erleichtert stieß er die Luft aus, die er angehalten hatte. Er hatte befürchtet, Akkarin könne sie dazu zwingen, die Kriegskunst zu wählen. „Das freut mich zu hören“, sagte er. Er senkte seine Stimme ein wenig und fragte dann: „Und wie geht es dir sonst?“

„Gut“, antwortete sie und schlug die Augen nieder. Dorrien bemerkte, wie sich das Rot auf ihren Wangen vertiefte. „Auch wenn ich nicht behaupten kann, mich zu langweilen. Ich habe so viel Stoff versäumt. Und wie geht es dir?“

Wie einem Schwachkopf, der an Liebeskummer leidet. „Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf“, antwortete er knapp.

„Das tut mir leid.“ In ihrer Stimme schwang aufrichtiges Bedauern mit. Sie ging zu einem Schrank und holte eine Dose heraus, aus der sie einige getrocknete Blätter Kreppa entnahm.

Dorrien zuckte die Achseln. „Es gibt Schlimmeres. Die Menschen hier brauchen mich, also bin ich für sie da.“

Sonea gab das Kreppa in eine Schale und zerkleinerte es mit einem Mörser. „Nur tu mir bitte einen Gefallen und ruhe dich zwischendurch ein wenig aus, Dorrien. Ja?“

Dorrien verdrehte die Augen. Von allen Leuten, die ihn ständig damit in den Ohren lagen, hatte sie am wenigsten Recht dazu. „Ich habe gehört, du hast Privatunterricht bei Lady Vinara?“, wechselte er das Thema.

Sie nickte erneut.

Eine peinliche Pause, in der keiner von beiden etwas zu sagen wusste, entstand. Dorrien wollte ihr eine ganz bestimmte Frage stellen. Aber es fiel ihm schwer, sich dazu durchzuringen. Er fürchtete die Antwort, doch zugleich verlangte es ihm danach, es in Erfahrung zu bringen. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und räusperte sich.

„Ist deine Welt wieder in Ordnung?“

„Ja“, antwortete sie, während sie das Kreppa weiter mit dem Mörser bearbeitete.

Sie weicht mir aus, erkannte er. War es Akkarin gelungen, sie davon zu überzeugen, es wäre besser, wenn sie nicht zusammen waren? Fast hoffte er darauf. Zugleich schmerzte ihn der Gedanke, sie könnte traurig sein. Tatsächlich wirkte sie alles andere als das. Er holte tief Luft und machte sich auf das schlimmste gefasst.

„Bist du glücklich?“

Sonea legte den Mörser beiseite und wandte sich um. Ihr Blick war hart.

„Dorrien, was willst du von mir hören? Die Wahrheit oder soll ich lügen, um dich nicht noch mehr zu verletzen?“

Sie gab die zermahlenen Kreppa in eine kleine Flasche. Dann säuberte sie den Mörser und stellte ihn zur Seite.

Dorrien spürte, wie sein Herz unter ihren Worten sank. Das Leuchten in ihren Augen, das hatte nicht ihm gegolten. Er schalt sich selbst einen Narren, weil er sich für die Dauer eines Augenblicks Hoffnungen gemacht hatte. Er hatte immer gewusst, dass sie sich eines Tages in einen anderen verlieben würde. Außer diesem Kuss vor fast zwei Jahren an der Quelle war nie etwas zwischen ihnen gewesen. Jedes Mal, wenn er glaubte, er hätte sich damit abgefunden, dass sie nicht ihm gehörte, geschah etwas, das seinen Schmerz wieder aufleben ließ. Warum fiel es ihm so schwer, sie loszulassen? War es, weil der andere Mann in ihrem Leben ausgerechnet Akkarin war?

Ich liebe dich. Ich schenke dir all meine Liebe. Für immer.

Plötzlich wünschte Dorrien, er hätte ihr an jenem Tag nicht geholfen. Denn dann hätte er nie erfahren, was er nicht wissen wollte. Aber er hatte sich dazu verpflichtet gefühlt, weil er sie liebte. Und sie hatte es gewusst und ausgenutzt, um einen Mann zu retten, der nicht gut für sie war.

„Du hast mir bereits das Herz gebrochen, Sonea. Es ist kaum möglich, das ein zweites Mal zu tun“, sagte er leise. „Wovor hast du Angst?“

Sie stieß einen leisen Seufzer aus. „Dorrien, das führt doch zu nichts.“

Sie wich ihm schon wieder aus.

Dorrien beobachtete, wie sie zu einem Schrank ging und eine Flasche mit Kreppasirup herausholte. Irgendetwas muss gestern passiert sein, das sie dazu gebracht hat, Akkarin zu verzeihen, dachte er. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was das gewesen sein konnte. Die möglichen Optionen waren zu verstörend.

„Also seid ihr wieder zusammen?“

Ein stinkender Geruch breitete sich aus, als Sonea ein wenig Kreppasirup in die Flasche mit den Kräutern füllte. Sie verkorkte sie und starrte eine Weile konzentriert darauf.

„Dorrien, wir waren nie getrennt.“

„Wie hat er dich wieder rumgekriegt?“, verlangte er zu wissen. „Hat er dich manipuliert? Oder zu etwas gezwungen?“

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Sie wirkte ungehalten. „Er hat mir die Wahrheit gezeigt. Mehr war nicht nötig.“

Dorrien seufzte. Er hatte sie nicht verärgern wollen. Aber er hatte es wissen müssen! Fast war er enttäuscht, weil Akkarin nichts getan hatte, was ihm Grund gegeben hätte, diese Beziehung aufzudecken.

Das Läuten zum Unterrichtsende unterbrach sie.

„Ich muss gehen.“ Sonea räumte den Kreppasirup zurück in den Schrank. Die Flasche mit der Medizin nahm sie mit.

„Ja“, sagte Dorrien, „Es tut mir leid, dass ich dich so bedrängt habe. Verzeihst du mir?“

Sie nickte zögernd.

Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. „Auf Wiedersehen, kleine Sonea.“

„Auf Wiedersehen, Dorrien.“

In der Tür blieb sie noch einmal stehen. Sie wandte sich um. Ihr Blick war traurig.

„Warum muss es so kompliziert sein, Dorrien? Warum können wir nicht einfach Freunde sein?“

Weil ich nicht mit der Frau befreundet sein kann, die ich liebe.

„Ja, das wäre einfacher“, stimmte er zu.

Das Lächeln, das sie ihm daraufhin schenkte, brachte sein Herz erneut zum Rasen.

Kaum, dass sie verschwunden war, wünschte Dorrien sich nichts sehnlicher, als Imardin endlich zu verlassen.

 

 

***

 

Der Rest des Tages war ähnlich dem Vormittag verlaufen. Während Soneas Klassenkameraden ihr mit nur allzu großer Neugier begegnet waren, hatten sich die meisten Lehrer übertrieben zuvorkommend verhalten. Ob aus Furcht, Dankbarkeit oder Respekt konnte Sonea nach einem Tag noch nicht sagen. Trotz allem hatte sie bereits einige Erfolge erzielt: In ihrer Tasche trug sie Trassias Notizen von Heilkunst und Architektur und Regins Alchemie-Notizen – jeweils mit dem kompletten Stoff des vergangenen Halbjahres und den ersten Wochen des neuen. Außerdem hatte Regin ihr angeboten, am Freitag mit ihr in der Bibliothek zu lernen. Was Sonea davon halten sollte, wusste sie noch nicht. Doch sie würde noch herausfinden, wie aufrichtig er es wirklich mit seiner plötzlichen Freundlichkeit meinte.

Als sich die Bäume vor ihr teilten und den Blick auf die Arran-Residenz freigaben, machte Soneas Herz einen Sprung. Die untergehende Sonne ließ den weißen Stein der Fassade rötlich schimmern und tauchte die Kuppeln der kleinen Ecktürme in flüssiges Gold. Zuhause, fuhr es ihr durch den Kopf und war nicht einmal überrascht.

Sie stieg die Stufen zum Eingang empor und berührte den Türgriff sachte mit ihren Fingern. Augenblicklich schwang die Tür nach innen auf. Sonea trat in die Eingangshalle. Akkarin saß in einem Sessel und las in einem Buch.

Sonea spürte, wie sich ein unwillkürliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Manche Dinge änderten sich einfach nie. Nicht einmal die Ehrfurcht, die sie plötzlich wieder vor ihm verspürte.

Akkarin legte das Buch zur Seite und sah auf.

„Guten Abend, Sonea.“

Er erhob sich und schritt auf sie zu.

„Guten Abend, Lord Akkarin“, erwiderte sie und verneigte sich.

Akkarin schüttelte missbilligend den Kopf. „Du tätest besser daran, das zu unterlassen. Ich habe lange versucht, Takan diese Unterwürfigkeitsgesten abzugewöhnen und dabei versagt. Fang du jetzt nicht auch noch damit an.“

„Heute Morgen hast du noch gesagt, ich würde dir nicht genug Respekt entgegenbringen“, erinnerte sie ihn und verschränkte die Hände in seinen Nacken.

Das war ja auch etwas anderes“, murmelte er und küsste sie.

Sonea sah zu ihm hoch. „Ich finde es angemessen.“

Akkarin musterte sie durchdringend. „Ah, Sonea du solltest aufhören, so mit meiner Beherrschung zu spielen. Du hast keine Ahnung, was du da heraufbeschwörst.“

Nicht wissend, wie sie seine Worte verstehen sollte, erschauderte sie. Dennoch hielt sie seinem Blick stand. Was auch immer es war, es verhieß, dass er noch zu mehr fähig war, als was er in der vergangenen Nacht mit ihr getan hatte.

„Oh, ich denke davon habe ich letzte Nacht einen guten Eindruck erhalten“, sagte sie erheitert.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Dann beugte er sich zu ihr herab, um sie erneut zu küssen. Diesmal etwas fordernder als zuvor. Sonea spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Den ganzen Tag über war sie durch den Unterricht und die anderen Novizen abgelenkt gewesen, doch nun kehrte ihr Verlangen mit aller Macht zurück. Sie seufzte, als ihr wieder einfiel, dass sie nach dem Abendessen noch lernen musste.

Die Tür zum Speisezimmer ging auf und Takan trat heraus.

„Das Abendessen ist angerichtet, Meister“, verkündete er und verneigte sich. Sonea sah seine Augen aufblitzen, als er sie und Akkarin so eng umschlugen stehen sah. „Guten Abend, Lady Sonea.“

„Danke Takan“, sagte Akkarin. „Nun, Sonea, ich hoffe du bist hungrig.“

Sie nickte. „Und wie!“

Er bedachte sie mit seinem Halblächeln und führte sie ins Speisezimmer. Der Tisch war gedeckt mit einer Vielzahl von Köstlichkeiten – mehr als zwei Menschen essen konnten. Sonea identifizierte gebratenen Rassook, Harrelragout, Brasigemüse und Crots mit Salzkruste. Dazu gab es Chebolsoße und frischgebackene Brötchen. Takan schenkte ihnen Wein ein, dann entfernte er sich.

Während sie aßen, berichtete Sonea ausführlich von ihrem Tag. Sie ließ weder ihre Begegnung mit Dorrien noch Regins unerwartete Nettigkeit aus.

„Diese Trassia“, fragte Akkarin, „hältst du sie für vertrauenswürdig?“

Sonea überlegte einen Moment. „Ja“, antwortete sie dann. „Sie schien meine Geschichte zu gelauben. Sie hat versprochen, es niemandem zu erzählen. Und wenn sie es doch tut, dann habe ich vielleicht vor den Jungs Ruhe.“

Akkarin lachte leise. „Machen sie dir den Hof?“

Sie seufzte. „Allein in der Mittagspause habe ich drei Anfragen für eine Verabredung bekommen. Es war fürchterlich.“

„Gleichzeitig oder einzeln?“

„Das war ihnen egal.“

Beeindruckt hob er die Augenbrauen.

„Oh, da fällt mir ein, ich habe mich für Freitag mit Regin zum Lernen verabredet“, sagte Sonea. „Er hat es mir von sich aus angeboten. Findest du, ich soll ihm eine Chance geben? Oder soll ich lieber absagen?“

Akkarin runzelte die Stirn. „Nun, ich halte nicht viel von Garrels Neffen. Mit dir zu lernen ist das mindeste, was er als Wiedergutmachung leisten kann. Wenn du dich seiner Absichten nicht sicher bist, vertraue ihm nur so viel an, wie du bereit bist zu riskieren. Es schadet dir nicht, ein paar Freunde zu finden. Du solltest dich auch mit dieser Trassia anfreunden.“

Sonea mochte Trassia. Sie musste zugeben, dass sie gerne mit ihr befreundet wäre. Trotzdem war sie unsicher, ob sie das wirklich wagen sollte. Unter den Novizen hatte sie noch nie Freunde gehabt. Jetzt plötzlich damit anzufangen, erschien ihr seltsam.

„Was, wenn sie nur mit mir befreundet sein wollen, weil wir sie gerettet haben?“, gab sie zu bedenken.

Akkarin wurde ernst. „Sonea, diese Novizen werden in ein paar Jahren deine Kollegen sein. Rothen und ich werden nicht immer da sein. Du brauchst Freunde.“

Sie verzog das Gesicht. „Ich weiß“, murmelte sie. „Es ist nur … früher haben sie mich verachtet.“

„Du musst anfangen, zu verzeihen.“

Sie starrte ihn an. Wie konnte er so etwas sagen, nachdem die Gilde ihn nach Sachaka verbannt hatte?

„Sie haben uns verziehen“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Er hatte es schon wieder getan. „Wenn wir wollen, dass sich etwas ändert, müssen wir auch ihnen vergeben. Sie haben einen Fehler begangen, als sie uns nach Sachaka verbannt haben. Was nicht heißen soll, dass es falsch war, uns zu bestrafen.“

„Du hast recht“, gab sie nach. Nur mit dem Unterschied, dass Regin sie nicht für ein höheres Wohl schikaniert hatte, wohingegen sie und Akkarin ihren Eid gebrochen hatten, um Kyralia vor den Sachakanern zu beschützen. Nein, er hatte Spaß daran gehabt, ihr Diebstähle unterzuschieben, ihre Notizen und ihre Arbeit zu ruinieren und ihr mit seinen Freunden aufzulauern und sie bis zur magischen Erschöpfung zu treiben. Auch mehr als ein Jahr, nachdem sie ihm die Lektion seines Lebens erteilt hatte, erfüllte sie die Erinnerung mit Zorn.

Zugleich fand sie jedoch, dass jeder eine zweite Chance verdient hatte. Sogar Regin. Sollte er sein Wort brechen, so würde sie dafür sorgen, dass er das bereute. Allerdings hatte sie so eine Ahnung, dass er das nicht mehr wagen würde, jetzt wo er wusste, was sie war. Wenn sie an die Schlacht zurückdachte, dann glaubte sie sogar, aufrichtige Bewunderung in seinen Augen gelesen zu haben.

„Was hast du eigentlich den ganzen Tag gemacht?“, wechselte sie das Thema.

Früher hatte Sonea nie einen Gedanken daran verschwendet, wie Akkarin sich seine Zeit vertrieb. Selbst als Hoher Lord hatte er wohl kaum den ganzen Tag in irgendwelchen öden Besprechungen verbracht. Plötzlich wurde Sonea bewusst, dass sie gar nichts über diesen Teil seines Lebens wusste, während er über ihren Alltag alles zu wissen schien.

„Ich habe Balkan meine Hilfe bei der Reparatur der Stadttore und dem Wiederaufbau der eingestürzten Häuser angeboten“, antwortete Akkarin. „Er glaubt jedoch, es wäre zu gefährlich mich in die Stadt zu lassen, selbst in Begleitung von dreißig Magiern.“ Ein vertrautes Funkeln glomm in seinen Augen auf. „Dabei könnte ich mich für einen ganzen Tag aus der Gilde schleichen ohne, dass er es bemerken würde.“ Er lachte leise. „Balkan kennt längst nicht alle Geheimgänge, ganz zu schweigen davon, dass ich durch das fehlende Stück Stadtmauer entschlüpfen könnte. Wenigstens hat er mir die Truhe mit den alten Büchern bringen lassen. Ich habe sie in unsere Bibliothek gebracht. Nach deinen Prüfungen werde ich sie für deinen Unterricht nutzen.“

Seine Selbstsicherheit beeindruckte Sonea. Dass die anderen Magier ihn fürchteten, schien ihn lediglich zu amüsieren. Sie wünschte, sie besäße dieselbe Gelassenheit. Im Gegensatz zu ihm empfand sie die unterschiedlichen Einstellungen der Magier und Novizen ihr gegenüber als verunsichernd und sie war froh, dass sie das nicht alleine durchstehen musste. Dass Akkarin da war, verlieh ihr eine ungeahnte Sicherheit.

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, was die höheren Magier gestern noch von dir wollten“, erinnerte sie.

„Ah richtig.“ Akkarin trank einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. „Sie haben mir eine beratende Tätigkeit angeboten. Nachdem ihnen klargeworden ist, welche Bedrohung Sachaka für uns darstellt, wollen sie jemanden, der sich mit dem Land, seinen Menschen und Sitten auskennt. Dasselbe gilt für schwarze Magie. Ihre Furcht vor den Sachakanern hat die höheren Magier dazu getrieben, etwas zu tun, was ich frühestens in ein paar Jahren von ihnen erwartet hätte. Und weil sie sich davor mindestens genauso fürchten wie vor den Sachakanern, haben sie es mir übertragen.“

Er lachte leise.

Sonea brannte vor Neugier. „Was ist es?“, fragte sie begierig.

Akkarin drehte sein Glas zwischen seinen langen Fingern. „Sie wollen, dass ich ihnen das verlorene Wissen über schwarze Magie wiederbeschaffe, damit wir im Falle einer neuen Invasion besser vorbereitet sind. Die Bücher in der Truhe enthalten einige Anspielungen auf vielversprechende Anwendungen für schwarze Magie als Mittel zur Verteidigung oder für den direkten Kampf. Da es unwahrscheinlich ist, dass entsprechende Literatur existiert, werde ich experimentieren müssen so, wie ich es in den letzten Jahren getan habe. Nach deinen Prüfungen werde ich dir alles beibringen, was ich bis jetzt herausgefunden habe und dann werden wir diese Forschung gemeinsam fortsetzen, sofern du einverstanden bist. Ich könnte eine Assistentin gebrauchen.“

Soneas spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Was die Gilde von ihr und Akkarin wollte, schien ungeahnte Möglichkeiten zu bergen. Auch wenn sie noch nicht genau erkennen konnte, welche.

„Natürlich helfe ich dir“, sagte sie. Schließlich hatte sie nicht so sehr darauf bestanden, von ihm in schwarzer Magie unterwiesen zu werden, um ihm jetzt die ganze Arbeit zu überlassen.

Der Anflug eines Lächelns huschte über Akkarins harsche Züge. „In einigen Jahren sollen wir zudem zwei Nachfolger ausbilden“, fuhr er fort. „Aber darum brauchen wir uns jetzt noch nicht sorgen. Das hat Zeit, bis wir uns unserem Ruhestand nähern.“

Sonea nickte. „Aber, ich verstehe nicht, wieso sie dich über schwarze Magie forschen lassen, wenn du kein Amt ausüben darfst.“

„Das ist kein Amt“, entgegnete Akkarin. „Ich bin nur ein Berater. Viele Magier verbringen ihre Zeit damit, irgendetwas zu erforschen.“

Sonea verkniff sich ein Grinsen. Für sie klang das alles sehr nach Leiter der schwarzmagischen Studien.

 

 

***

 

„Noch etwas Wein, Botschafter?“

Dannyl blickte von seiner Reberkeule auf. „Sehr gern, Ezrille.“

Ezrille schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und füllte sein Glas auf. An diesem Abend trug sie ein Gewand aus hellblauem, glänzenden Stoff, das ihre helle, trotz ihres hohen Alters makellose Haut hervorragend zur Geltung brachte.

„Es ist wirklich ein Jammer, dass ein so charmanter, junger Mann wie Ihr noch immer keine Frau gefunden habt“, bemerkte sie. „Nachdem Ihr in Kyralia keine passende Partnerin gefunden habt, habe ich stets gehofft, Ihr würdet in Elyne eine Frau für Euch finden.“

Du weißt gar nicht, wie sehr sich deine Hoffnungen erfüllt haben, dachte Dannyl.

„Jetzt verschone den armen Dannyl doch endlich mit diesem Thema“, seufzte Yaldin. „Wenn er sich nicht binden möchte, ist das seine Sache. Als Botschafter wird ihm kaum Zeit für eine Frau bleiben. Nicht jede Frau hat Verständnis, wenn ihr Mann andauernd reisen muss.“

„Danke“, murmelte Dannyl. „Genau aus diesem Grund ziehe ich es vor, nicht zu heiraten. Wahrscheinlich würde sich meine Frau in ihrer Einsamkeit einen Liebhaber nehmen.“

„Das ist in Elyne gar nicht so unüblich“, warf Ezrille ein.

Sie lachten.

„Ich finde es unverantwortlich, zu heiraten, ohne meiner Frau die Aufmerksamkeit schenken zu können, die sie verdient“, erklärte Dannyl. Tatsächlich war es das, was er sich lange Zeit eingeredet hatte und kam somit der Wahrheit ziemlich nahe.

Er trank einen Schluck Wein. Zeit das Thema zu wechseln, beschloss er.

„Wie macht sich Farand?“, fragte er Rothen.

Sein Freund legte das Besteck beiseite. An jedem Ersttag aß er bei Yaldin und dessen Frau Ezrille zu Abend. Wenn Dannyl zu Besuch war, lud das betagte Ehepaar ihn ebenfalls ein. Eigentlich hätte auch Rothens Sohn kommen sollen. Dorrien hatte sich jedoch entschuldigt, weil er in der Stadt zu tun hatte. Seit der Schlacht schien er von seiner Berufung besessener denn je. Dannyl bedauerte Dorriens Abwesenheit, da er am nächsten Morgen in aller Frühe abreisen würde. Rothens Sohn war nur wenige Jahre jünger als er selbst, sie hatten einander schon gekannt, als er selbst noch ein Novize gewesen war.

„Oh, er macht gute Fortschritte“, antwortete Rothen. „Seine Neugier und sein Fleiß sind ihm dabei von Nutzen.“ Er lächelte. „Er scheint sich zudem sehr für die Alchemie zu interessieren.“

„Er bekommt Privatunterricht, nicht wahr?“, fragte Yaldin.

Rothen nickte. „Er ist zu alt, um mit den anderen Novizen in eine Klasse zu gehen.“

„Ihr sucht Euch auch immer die schwierigsten Fälle aus.“ Ezrille warf Dannyl einen vielsagenden Seitenblick zu.

„Nun, ich helfe, wo ich kann“, erwiderte Rothen. „Es wäre eine Schande, ein solches Talent ungefördert zu lassen.“

„Es bleibt jedoch immer die Frage, wie viel Erfolg Ihr damit habt“, entgegnete Ezrille spitz.

Dannyl zuckte zusammen. Er bezweifelte, dass die Bemerkung ebenfalls ihm und den Gerüchten, die noch immer über ihn kursierten, gegolten hatte. Viel wahrscheinlicher spielte Yaldins Frau auf Soneas für manch einen zweifelhafte Entscheidung an, schwarze Magie zu erlernen.

Entgegen der weitläufigen Meinung in der Gilde fand Dannyl, Sonea und Akkarin hatten einen guten Grund gehabt, die Regeln zu brechen. Er konnte die beiden schwarzen Magier für das, was sie getan hatten, nicht verurteilen. Insgeheim bewunderte er sie sogar, weil sie ohne zu zögern alles riskiert hatten, um die Gilde von den Ichani zu retten. Schwarze Magie mochte böse sein. Doch ohne Sonea und Akkarin würde die Gilde nicht mehr existieren.

„Bis jetzt ist keiner meiner Novizen in irgendeiner Form missraten“, erwiderte Rothen. „Aus jedem von ihnen sind ehrenhafte Magier geworden.“

Dannyl verkniff sich ein Grinsen. Sein Freund hatte gute Fortschritte dabei gemacht, sich in Wortgefechten zu verteidigen. Bevor Dannyl Botschafter geworden war, hatte er Rothen aus derartigen Situationen immer retten müssen. Es beruhigte ihn, dass er sich inzwischen ohne seine Hilfe durchschlug.

Yaldin schürzte missbilligend die Lippen. „Ob es ehrenhaft ist, mit verbotenen Praktiken ein ganzes Land vor dem Untergang zu retten, ist meiner Meinung nach fraglich“, brummte er.

„Es dennoch zu tun, weil es die einzige Möglichkeit ist und die Strafe auf sich zu nehmen, halte ich für äußerst ehrenhaft“, konterte Dannyl, erschrocken über die Schärfe in seiner Stimme.

Yaldin ist sehr alt, rief er sich ins Gedächtnis. Lass ihm seine unverrückbaren, konservativen Ansichten. Er und Yaldin hatten sich immer gut verstanden. Er wollte nicht, dass ihre Freundschaft der allgemeinen Spaltung, die seit Akkarins und Soneas Rückkehr in der Gilde herrschte, zum Opfer fiel.

„Lord Rothen, wie viel von den Gerüchten über Sonea und Akkarin ist eigentlich wahr?“ Ezrille faltete ihre Serviette zusammen und lehnte sich zurück. „Ihr hattet doch seit ihrer Rückkehr genügend Gelegenheiten, um mit ihr darüber zu sprechen.“

Mit einem Mal schien Rothen sich sichtlich unwohl zu fühlen. Sieh an, dachte Dannyl. Du weißt also doch mehr, als du zugibst.

„Soviel, wie an den meisten anderen Gerüchten auch, denke ich“, antwortete Rothen.

„Nun, in jedem Gerücht steckt ein Funken Wahrheit“, bemerkte Ezrille.

„Das sehe ich anders“, warf Dannyl ein. Er zwang sich, der Versuchung zu widerstehen, ihnen ins Gedächtnis zu rufen, dass an den Gerüchten über ihn auch nie etwas dran gewesen war. Es wäre einer Lüge gleichgekommen. Doch er verspürte den ungeahnten Drang, Akkarin und Sonea zu verteidigen. Sollte da tatsächlich etwas sein, so würde er der Letzte sein, der sie dafür verurteilte. Schließlich führte er selbst im Geheimen eine skandalöse Beziehung.

„Doch nicht, was Euch angeht, Dannyl“, lenkte Ezrille besänftigend ein. Sie blickte in die kleine Runde. „Vielleicht seid Ihr Männer ja blind dafür. Aber bei der Trauerfeier war ich ganz sicher, dass sie eine Affäre haben.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte Dannyl, wie sein Freund kaum merklich zusammenzuckte. Als er sich Rothen zuwandte, starrte dieser in sein Weinglas, als habe er eine Agamotte darin entdeckt.

„Ezrille!“, rief Yaldin vorwurfsvoll. „Daran will ich nicht einmal denken!“

Rothen sah auf. „Ich bezweifle, dass Akkarin gegenüber Sonea unehrenhafte Absichten hat“, sagte er und trank einen Schluck Wein.

„Ich weiß, wie eine Frau einen Mann ansieht, mit dem sie ins Bett geht“, beharrte Ezrille.

Rothen hustete. Hastig stellte er sein Glas ab und hielt sich die Serviette vor den Mund.

„Meine liebe Frau Gemahlin, verschone den armen Rothen doch bitte mit diesem Thema“, sagte Yaldin, während er Rothen auf den Rücken klopfte. „Sonea ist wie eine Tochter für ihn. Der Gedanke, dass sie und dieser Mann … ich meine, das ist für ihn doch sicher unerträglich.“

Noch immer hustend trank Rothen einen weiteren Schluck Wein und lächelte seinem betagten Freund dankbar zu.

Dannyl faltete seine Serviette und leerte sein Glas. „Es ist spät geworden“, sagte er. „Ich werde mich nun zurückziehen, wenn Ihr erlaubt.“ Er nickte dem alten Ehepaar zu.

„Oh, Dannyl, bitte verzeiht, wenn wir Euch so lange aufgehalten haben“, rief Ezrille. „Ich vergaß völlig, Ihr reist ja morgen wieder nach Elyne.“ Sie erhob sich und umarmte Dannyl kurz. „Passt auf Euch auf, Botschafter.“

Auch Yaldin erhob sich und klopfte Dannyl auf die Schulter. „Ich wünsche Euch eine gute Reise.“

„Danke“, sagte Dannyl.

„Ich werde ebenfalls gehen“, erklärte Rothen. „Ich muss für den morgigen Unterricht noch einiges vorbereiten. Gute Nacht Euch beiden.“

Dannyl lächelte wissend. So wie er seinen Freund kannte, wollte er nicht allein den neugierigen Fragen der beiden ausgeliefert sein.

Yaldin und Ezrille wünschten ihnen eine gute Nacht, dann traten Dannyl und Rothen auf den verlassenen Korridor.

„Also Rothen, jetzt erzähl mir, was da wirklich läuft“, verlangte Dannyl.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ohne ihn anzusehen, schlug Rothen den Weg zu seinem Quartier ein.

Dannyl lachte. „Komm schon, alter Freund. Du kannst mir nichts vormachen. Darin warst du noch nie gut. Sonea muss es dir erzählt haben. Du weißt, ich bin sehr verschwiegen. Deswegen bin ich Botschafter geworden. Und morgen reise ich zurück nach Elyne. Wem also sollte ich euer Geheimnis verraten?“

„Alter Freund, wahrhaftig!“, rief Rothen.

„Dann eben alter Feind.“

Sie grinsten sich an. Manche Dinge würden sich niemals ändern.

„Bitte, Rothen“, drängte Dannyl. „Ich möchte doch nur wissen, ob ich recht habe.“

Rothen betrachtete ihn mit schmalen Augen. „Du kannst es nicht lassen, nicht wahr?“

„Das weißt du doch.“

Sein Freund stieß einen resignierten Seufzer aus. „Was hältst du von einer guten Flasche Porreni-Wein? Ich habe zufällig noch ein paar in meinem Quartier, die ich von einem alten Freund bekommen habe.“

Dannyl betrachtete seinen ehemaligen Mentor zweifelnd. „Du meinst den Wein, den ich dir im Frühjahr geschickt habe?“

Rothen neigte den Kopf. „Nun, ja“, sagte er und lächelte schief. „Dann können wir noch ein wenig plaudern. Schließlich ist heute dein letzter Abend.“

Dannyl verkniff sich ein hinterhältiges Grinsen. Während sie zu Rothens Quartier gingen, spürte er, wie sich die Vorfreude auf ein neues Gerücht in ihm ausbreitete.

 

 

***

 

Mit einem Seufzen legte Sonea ihre Schreibfeder zur Seite. Es war ihr unmöglich, mit ihrem Bericht für Lady Vinara fortzufahren. Die Erinnerungen an den Kampf gegen die letzten drei Ichani drohten sie zu überwältigen. Die Augen schließend versuchte sie, ruhig zu atmen und den Schmerz zurückzudrängen.

Alles war wieder gut geworden. Sie hatte Akkarin gerettet. Doch dieses Wissen half nicht.

Sie schob Bücher und Notizen beiseite und bettete den Kopf auf ihre Unterarme. Es war sinnlos. Sie konnte nicht gegen die Tränen ankämpfen. Für ihren Geschmack weinte sie in letzter Zeit viel zu oft. Sie begriff nicht, was mit ihr los war und warum sie weinte, obwohl ihre Welt wieder in Ordnung war. Seit wann war sie so schwach?

Was, wenn es wieder geschah und sie ihn dieses Mal nicht retten konnte? Sie wäre dumm, so zu tun, als existiere diese Möglichkeit nicht. Aber Sonea wusste nicht, wie sie es ertragen sollte, Akkarin erneut zu verlieren. Ganz besonders nicht jetzt, wo sie endlich zusammen waren und alles so perfekt schien. Natürlich würde er nicht ewig leben. Aber sie fand, es machte einen Unterschied, ob es geschah, wenn sie beide ihr Leben gelebt hatten oder ob es in einem Kampf passierte.

Sonea spürte kaum, wie etwas ihre Schulter berührte. Dann griffen kräftige Hände nach ihr. Sie nahm einen vertrauten Geruch wahr.

Akkarin.

Verschwommen registrierte sie, dass er neben ihr auf die Knie gegangen war. Seine gerunzelte Stirn drückte Besorgnis aus.

„Nicht weinen“, flüsterte er und zog sie fest in seine Arme. „Es ist alles gut.“

„Es hört einfach nicht auf“, brachte Sonea hervor. „Ich habe Angst, dich noch einmal verlieren. Ich verstehe nicht, warum das so ist. Ich kann das nicht.“

Er drückte sie noch fester an sich und ließ sie spüren, dass er da war. Obwohl sie es hasste, vor ihm Schwäche zu zeigen, war sie dieses Mal für seine Nähe dankbar.

Akkarin nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah sie an. Die Kühle seiner Hände fühlte sich auf ihren heißen Wangen angenehm an. „Du hast an diesem Tag und auch in den Tagen und Wochen davor viel durchgemacht“, sagte er sanft. „Das zu verarbeiten dauert.“

Als Sonea ihn ansah, registrierte sie den Schmerz in seinen Augen. Er hatte an jenem Tag seinen besten Freund verloren. Wie furchtbar musste die Erinnerung an die Schlacht dann erst für ihn sein? Es erschien ihr falsch, dass er sie trösten musste. Sollte sie nicht für ihn da sein?

„Ich komme schon klar“, versicherte er.

„Wirklich?“, fragte sie nicht überzeugt.

Er nickte. „Schreib deinen Bericht morgen weiter.“

„Aber Lady Vinara …“, begann sie protestierend.

„ … wird es verstehen, wenn du einen Tag länger brauchst.“ In die Sanftheit seiner Stimme mischte sich nun auch eine Spur der vertrauten Autorität. „Falls nicht, rede ich mit ihr.“ Er betrachtete sie nachdenklich, dann küsste er sie behutsam. „Komm jetzt zu Bett. Es ist spät. Außerdem habe ich noch etwas für dich.“

Sie gehorchte und folgte ihm ins Schlafzimmer, dankbar, weil sie den Bericht nicht mehr an diesem Abend zu Ende schreiben musste und weil er da war. Irgendwie schien er genau zu wissen, wie er sie trösten konnte. Zudem hatten seine Worte ihre Neugier geweckt.

Akkarin schloss die Tür hinter ihnen und schritt dann zur Kommode, auf der eine Schachtel lag.

„Das ist für dich“, sagte er. „Mach es auf.“

Noch immer benommen schüttelte Sonea den Kopf. Sie wusste selbst nicht so ganz, womit sie gerechnet hatte. Sie war es nicht gewohnt, Geschenke zu bekommen und fand auch nicht, es verdient zu haben. Selbst von ihm hätte sie das nicht erwartet.

„Für mich?“

Er bedachte sie mit einem Halblächeln. „Das sagte ich.“

Sie starrte ihn an. „Aber warum?“

Das Lächeln vertiefte sich. „Warum nicht?“

Mit zunehmender Verwirrung öffnete Sonea die Schachtel. Ihr entging nicht, wie er sie dabei beobachtete, als sei er amüsiert. Die Schachtel war mit teurem Seidenpapier ausgelegt, was ihrer Meinung nach schon Geschenk genug gewesen wäre. Sie schlug es zurück und griff in einen weichen Stoff. Sonea runzelte die Stirn und zog ihn heraus.

Es war ein Nachthemd aus dunkelblauer Seide.

„Oh Akkarin, das ist wunderschön“, hauchte sie. Besser, sie dachte gar nicht erst darüber nach, was für ein Vermögen es gekostet haben musste. Das hatte er also mit angemessen gemeint!

Akkarin schien erfreut. „Ich hatte gehofft, es würde dir gefallen.“

Sonea schenkte ihm ein verlegenes Lächeln. „Aber das kann ich nicht annehmen“, brachte sie hervor.

„Sonea, ich wünsche, dass du dieses Nachthemd trägst“, sagte er ein wenig strenger. „Versuche nicht, mit mir darüber zu verhandeln.“

Natürlich nicht. Obwohl Akkarin nur wenig Wert auf Äußerlichkeiten zu legen schien, hatte er in manchen Dingen ganz offenkundig seine eigenen Vorstellungen. Wir sind jetzt ein Paar, rief Sonea sich ins Gedächtnis. Sie fand, es war ein gutes Gefühl, von ihm begehrt zu werden. Allerdings waren Magierroben nicht gerade dafür gedacht, Weiblichkeit zu betonen.

Nachdenklich ließ Sonea ihre Hand über den feinen Stoff gleiten. Das Nachthemd war ein einziger Traum. Sie wusste, sie wäre dumm, ein solches Geschenk auszuschlagen. Und da Akkarin das wusste, hatte er ihr diese Möglichkeit genommen.

„Wo hast du …“, begann sie und hielt inne, als sie ein schrecklicher Verdacht befiel. „Du hast dich in die Stadt geschlichen!“

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Sonea, glaubst du wirklich, ich würde Balkans Regeln für deine Nachtwäsche missachten?“

Sie betrachtete ihn zweifelnd. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich jederzeit aus der Gilde schleichen konnte.

„Da würde ich dann doch die Alternative bevorzugen.“

„Das Novizennachthemd?“

„Du weißt, was ich meine.“

Auf eine charmante Art und Weise ist er ganz schön unverschämt, befand Sonea. Sie entschied sich jedoch dagegen, ihm das zu sagen. Diese Form von Bestätigung wollte sie ihm nicht zugestehen. Es war schon schlimm genug, dass es ihr gefiel, wenn er sich in gewissen Situationen über ihren Willen hinwegsetzte.

„Ich habe Takan geschickt.“

Sonea starrte ihn an als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. „Du hast was?“, entfuhr es ihr. Sie deutete auf die feingearbeitete Spitze im Brustbereich. „Das ist unanständig. Ich habe kein Problem damit, es für dich zu tragen. Und ich habe wirklich nichts gegen Takan. Im Gegenteil. Aber es behagt mir nicht, wenn er weiß, dass ich so etwas trage!“

Akkarin lachte leise. „Takan würde es spätestens erfahren, wenn er unsere Sachen zur Wäscherei bringt.“ Er fasste sie an den Schultern und küsste sie auf die Stirn. „Du weiß, ich hätte ihn nicht geschickt, würde ich ihm nicht absolut vertrauen“, fuhr er ein wenig sanfter fort. „Sich vorzustellen wie die Frau, die sein Meister liebt, darin aussieht, wäre für ihn ein unvorstellbarer Ungehorsam.“

Seine Worte beruhigten Sonea. Einen flüchtigen Augenblick lang fragte sie sich, ob ihr Nachthemd dann nicht spätestens in der Wäscherei jemandem auffallen würde. Aber wahrscheinlich trugen die meisten Magierinnen und möglicherweise nicht wenige Novizinnen ähnliche Nachthemden, weil sie aus den Häusern stammten und gewisse Ansprüche hatten. Sonea vertraute darauf, dass Akkarin wusste, was er riskieren durfte und was nicht.

„Es tut mir leid“, sagte sie und sah zu ihm auf. „Ich wollte nicht undankbar erscheinen. Ich bin es nur nicht gewohnt, Geschenke zu bekommen.“

„Dann gewöhne dich lieber nicht daran. Ich halte nichts davon, mir die Zuneigung der Frau, die ich liebe, mit Geschenken zu erkaufen.“

Sonea lächelte unwillkürlich. „Ich habe nichts anderes erwartet.“

Akkarin bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Probier es an“, forderte er sie auf. „Ich will wissen, wie es an dir aussieht.“

Hoffentlich nicht allzu unanständig, dachte sie.

Er hob kaum merklich die Augenbrauen.

„Aber komm mir bloß nicht zu nahe“, warnte sie und drohte ihm spielerisch mit dem Finger.

Akkarin trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann mich beherrschen“, bemerkte er trocken.

Sonea nahm dies mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis. Nach letzter Nacht glaubte sie ihm kein Wort. Während sie sich umzog, spürte sie wie sein Blick unentwegt auf ihr ruhte und fühlte sich in ihrer Vermutung bestätigt. Ohne, dass sie es verhindern konnte, beschleunigte sich ihr Puls.

„Ich finde es keineswegs unanständig“, sagte Akkarin, als sie das Nachthemd übergestreift hatte und sich ihm zuwandte. „Sieh es dir an.“

Sonea drehte sich zu dem Spiegel über der Kommode und betrachtete sich, die noch vom Weinen verquollenen Augen ignorierend. Die Spitze war tatsächlich leicht durchsichtig. Es wirkte verspielt, aber erwachsen. Und entgegen all ihren Befürchtungen nicht unanständig.

Akkarin war hinter sie getreten. Seine Hand strich ihren Hals entlang. Ein leiser Schauer lief ihren Rücken hinab.

„Gefällt es dir?“

Sie nickte und begegnete seinem Blick im Spiegel.

„Danke.“

Akkarin antwortete nicht. Durch den Spiegel beobachtete sie, wie er mit nachdenklichem Gesichtsausdruck ihre Haare nach vorn über ihre Schultern legte. Seine Berührung verursachte einen weiteren angenehmen Schauer. Obwohl ihr dieses Gefühl inzwischen vertraut war, löste es eine seltsame Erregung in ihr aus.

Akkarin löste die Schnürung im Rücken, dann streifte er das Nachthemd von ihrem Schultern. Sonea beobachtete, wie die Seide leise raschelnd zu Boden glitt. Akkarin hob ihr Kinn und richtete ihren Blick wieder nach vorne. Sonea erschauderte ein weiteres Mal. Sie hatte sich noch nie zuvor völlig entblößt im Spiegel gesehen und sie versuchte, sich nicht vor sich selbst zu schämen.

Sie befand, sie war nicht hässlich, aber sie fand auch, ein Mann wie Akkarin könne weitaus attraktivere Frauen haben. Aus irgendeinem ihr unerklärlichen Grund hatte er sich jedoch für sie entschieden.

„Woher wusste ich bloß, dass ich das Nachthemd nur angezogen habe, damit du es mir wieder ausziehst?“, fragte sie, als seine Hände verlangend ihre Brüste umschlossen.

„Es hat zu viel gekostet, um nicht einmal eine Nacht zu überstehen“, murmelte er dicht an ihrem Ohr. Seine Lippen streiften ihren Hals, während er sprach. „Und ich möchte Takan morgen nur ungern erneut in die Stadt schicken müssen.“

„Ich dachte, du kannst dich beherrschen“, neckte sie ihn.

Akkarin begann ihre Halsbeuge zu liebkosen und sie schloss die Augen. Bei dem Gedanken an eine Fortsetzung der vergangenen Nacht verspürte Sonea eine ungeahnte Vorfreude. Sie wusste, er würde gleich wieder ihre Gedanken lesen und gegen sie verwenden, bis sie ihm bereitwillig das gab, was er von ihr haben wollte. Und obwohl alles in ihr danach schrie, sich ihm einfach hinzugeben, nahm sie sich vor, es ihm nicht allzu leicht zu machen.

Er lachte leise und Sonea registrierte verschwommen, dass er ihre Gedanken erneut gehört hatte. Dann zog er sie fester in seine Arme und murmelte:

„Nur, wenn ich das will.“

 

 

***

Kapitel 5 - Solange es eben dauert

  Kapitel 5 – Solange es eben dauert

 

 

Ihre erste Stunde Kriegskunst bei Akkarin übertraf sämtliche Vorstellungen, die Sonea von einem lebendig gewordenen Albtraum hatte. Als sie an ihren zweiten Unterrichtstag durch das Portal in die Arena trat, wartete er bereits auf sie. An der Hüfte trug er seinen juwelenbesetzten Dolch und sie begann sich zu fragen, wofür er ihn in der Arena brauchen würde. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er verärgert. Hastig verneigte sie sich.

„Du bist spät“, sagte er statt einer Begrüßung und runzelte missbilligend die Stirn. „Ich hoffe, es gibt dafür einen guten Grund.“

„Es gab einen Notfall im Heilerquartier“, beeilte Sonea sich zu sagen. Es hätte sie nicht gewundert, hätte er ihr eine Strafarbeit aufgegeben, wäre ihre Verspätung ihr eigenes Verschulden gewesen. „Ein Herrenhaus im Innern Ring ist beim Wiederaufbau eingestürzt. Lady Vinara hat mich gebeten, auszuhelfen.“

Akkarins Miene verfinsterte sich.

„Das war zu erwarten“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Ich hatte Balkan gewarnt.“

Sonea atmete innerlich auf, weil sein Zorn nicht ihr galt, wenn auch das nicht zu bedeuten hatte, dass er in der folgenden Stunde nicht weniger streng sein würde. Sie blickte sich um. Außer ihnen beiden befand sich noch niemand in der Arena. Nur auf der Zuschauertribüne saßen ein paar Novizen. Sie erkannte Genel, Jarend und Yaen und verdrehte die Augen. Den ganzen Tag über waren sie wie aus dem Nichts aufgetaucht, wo auch immer sie gerade war. Beim Mittagessen hatten sie ihr sogar einen Platz freigehalten. Dass sie und Trassia sich an einen anderen Tisch gesetzt hatten, hatte die drei Novizen nicht davon abgehalten, ihr weiterhin nachzustellen und sie erneut nach einer Verabredung zu fragen.

„Sind das deine Verehrer?“

Sonea unterdrückte ein Stöhnen. „Ja“, antwortete sie missmutig. „Es ist, als hätte sich mein Schatten plötzlich verdreifacht.“

Zu ihrem Verdruß schien ihn das zu amüsieren.

„Und die Novizinnen?“, fragte er weiter. „Ist Trassia eine von ihnen?“

Sie blickte zu der Gruppe von Mädchen und schüttelte den Kopf. Sie waren aus höheren Klassen, die meisten aus dem fünften Jahr. Es gefiel ihr nicht, Zuschauer zu haben. Ganz besonders nicht diese.

„Ihr glaube, sie sind Euretwegen hier, Mylord.“

Akkarin hob kaum merklich die Augenbrauen. „Wir sollten anfangen“, sagte er dann. „Wir haben bereits genug Zeit verloren.“

Sonea blinzelte verwirrt. „Ohne meinen Gegner?“

Ich bin dein Gegner.“

Soneas Mund klappte auf. Seine Worte bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen und es erklärte den Dolch, auch wenn sie noch nicht ganz verstand, warum er ihn trug. Sie hatte gehofft, er würde sie gegen ein paar ältere Novizen oder einen der Krieger kämpfen lassen. Gegen Akkarin war sie indes noch nie angetreten und sie war auch nicht sonderlich erpicht darauf. Sie hatte genug gesehen, um zu wissen, wozu er fähig war. Und als wenn das nicht schlimm genug wäre: Wie überhaupt sollte sie gegen ihn kämpfen, wo sie ihn doch hatte sterben sehen?

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wohlwissend ihn mit ihrem Ungehorsam zu verärgern. Doch sein Zorn war ihr in diesem Augenblick lieber, als noch einmal daran erinnert zu werden.

„Lord Akkarin, ich kämpfe nicht gegen Euch.“

„Das ist mir egal“, entgegnete er ungerührt. „Das Ziel deines Unterrichts ist es, deine Techniken im Kampf gegen einen schwarzen Magier zu verbessern. Da ich der einzige andere schwarze Magier bin, mit dem du trainieren kannst, wirst du mit mir als Gegner vorliebnehmen. Und jetzt halt still, damit ich deinen Inneren Schild errichten kann.“

„Wozu brauche ich einen Inneren Schild?“, fragte sie aufmüpfig. Während der Schlacht hatte sie auch keinen Inneren Schild gehabt. Sie fand, wenn er sie schon persönlich unterrichtete, dann sollte er seinen Beschützerinstinkt beim Betreten der Arena ablegen.

„Es ist Vorschrift. Niemand hat einen Nutzen davon, wenn du im Unterricht stirbst.“

Sonea starrte ihn entsetzt an. Was um alles in der Welt hatte er mit ihr vor?

Wenn er nur auf den Schild besteht, weil er um mich besorgt ist, dann verbirgt er es ziemlich gut, dachte sie und seufzte leise. Andererseits war er für die nächste Stunde ausschließlich ihr Mentor. Sie ahnte, er würde alles andere als nett sein. Besser, sie nahm seine Distanziertheit nicht persönlich. Für Gefühle durfte in der Arena kein Platz sein.

Akkarin legte eine Hand auf ihre Schulter und sie schloss die Augen. Sonea spürte kaum, wie seine Magie sie durchströmte, noch spürte sie viel von dem Schild, mit dem er sie ausstattete. Sie erinnerte sich, dass es sich bei ihrem Duell mit Regin genauso angefühlt hatte. Damals hatte sie noch befürchtet, Akkarin habe sie mit Absicht mit einem schwachen Schild ausgestattet, um sie auf diese Weise loszuwerden. Doch inzwischen bezweifelte sie das. Dieser Schild hielt gewiss mehr aus, als er erahnen ließ.

„Ich habe zusätzliche Kraft von Takan bezogen, damit es möglichst realistisch ist“, sagte er, nachdem er wieder von ihr abgelassen hatte. „Für den Fall, dass es dir gelingen sollte, mich zu besiegen …“

Er zog einen Dolch mit einer ledernen Halterung aus seiner Robe und reichte ihn ihr.

Soneas Augen weiteten sich, als sie den Dolch erkannte. Es war Karikos Dolch. Erinnerungen daran, wie sie ihn aus Akkarins Brust gezogen hatte, bahnten sich mit aller Macht ihren Weg von dem Ort, an die sie sie verbannt hatte, zurück in ihr Bewusstsein.

„Das kann ich nicht annehmen“, stammelte sie.

„Du hast Kariko getötet“, antwortete er. „Er gehört dir.“

Mit zitternden Fingern nahm Sonea den Dolch entgegen und befestigte ihn an ihrer Hüfte.

„Es versteht sich von selbst, dass du mir damit nicht den geringsten Kratzer zufügst“, fügte Akkarin leise hinzu. „Solange du keine anderen Anweisungen von mir bekommst, wirst du nur so tun, als würdest du meine Kraft nehmen. Das beendet die Runde.“

Sonea hörte ihn kaum. Sie war wie gelähmt von der Aussicht, dass sie beide versuchen sollten, sich gegenseitig umzubringen. Die Sache mit den Gefühlen und dem Unterricht erschien ihr mit einem Mal unmöglich.

„Ja, Mylord“, sagte sie schwach.

Er musterte sie mit undurchdringlicher Miene. „Bist du bereit?“

Sie zögerte. Es kümmerte sie nicht, ob er stärker war und sie diese Runde wahrscheinlich verlieren würde. Sie hatte ihn kämpfen sehen, sie hatten gemeinsam gekämpft. Es hatte sogar eine lange Zeit gegeben, in der sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als stark genug zu sein, um ihn zu vernichten.

Aber sie hatte ihn auch sterben sehen.

Sie schüttelte den Kopf. „Lord Akkarin, ich kann das nicht.“

Akkarin hatte sich ein paar Schritte von ihr entfernt. Er fuhr herum. „Was kannst du nicht?“

Sonea zwang sich, ihn anzusehen. Sein Blick hatte jede Wärme verloren.

Sie erschauderte unwillkürlich.

„Gegen Euch kämpfen.“

Akkarin betrachtete sie ungehalten. „Dann lässt du mir keine Wahl.“

Ohne Vorwarnung griff er an.

Sonea fluchte und warf sich zur Seite. Noch im Fallen riss sie einen starken Schild hoch. Sich schwörend, ihm das heimzuzahlen, schleuderte sie eine Reihe von Kraftschlägen gegen seinen Schild. Zu ihrer Verärgerung prallten ihre Angriffe jedoch wirkungslos ab.

Akkarin lachte leise. „Du musst dich schon ein wenig mehr anstrengen.“

Einen weiteren Fluch murmelnd verstärkte Sonea ihren Angriff. Akkarin konterte mit einem Kraftschlag, dessen Wucht ihren Schild erbeben ließ. Instinktiv wich sie zurück.

Eine Weile umkreisten sie sich, Kraft- und Feuerschläge austauschend, ohne dass der Schild des Anderen ernsthaften Schaden nahm. Sonea versuchte, Akkarins Schwächen herauszufinden. Hatte er überhaupt welche? Wahrscheinlich war nicht einmal sie selbst eine seiner Schwächen. Sie erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam gegen die Ichani gekämpft hatten. Selbst als sie in Gefahr gewesen war, hatte das seine Konzentration nicht gebrochen.

Ganz anders als bei ihr.

Bei ihrem letzten Kampf hatte ihn ihre Unaufmerksamkeit fast das Leben gekostet. Andererseits hatten weder er noch sie damit gerechnet, dass Kariko mit einer solchen List von unten angreifen würde. Sollte sie etwas Ähnliches versuchen? Selbstverständlich nicht mit dem Dolch. Dann verwarf sie die Idee jedoch wieder. Akkarin würde darauf vorbereitet sein. Und weil er ihr an Stärke überlegen war, würde sie ihn auch nicht mit brutaler Stärke besiegen können. Sie musste sich etwas Besseres einfallen lassen.

Fieberhaft ging Sonea in ihrem Kopf sämtliche Tricks durch, die Lord Yikmo ihr während ihrer Vorbereitung auf das Duell mit Regin gezeigt hatte, um einen stärkeren Magier zu besiegen. Damals war sie selbst die Stärkere gewesen, aber sie hatte sie gelernt, um keine unangenehme Überraschung zu erleben. Auch Akkarin kannte diese Tricks. Sie war sicher, auch im Kampf gegen die Ichani instinktiv davon Gebrauch gemacht zu haben, obwohl die Ichani so viel stärker gewesen waren, dass diese Tricks an ihnen verschwendet waren. Sonea seufzte frustriert. Es kam ihr vor, als hätte sie alles vergessen, was sie je über Kriegskunst gelernt hatte.

„Ist das schon alles, was du kannst?“ Akkarin wirkte, als würde der Kampf eher zu seiner Erheiterung beitragen. „Ich habe dich schon besser kämpfen sehen.“

Er legt es wirklich drauf an, mich zu provozieren, fuhr es Sonea durch den Kopf. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, sie gegen jemand anderen kämpfen zu lassen, wenn er schon darauf bestand, sie persönlich zu unterrichten. Doch es gab nichts, was sie im Kampf gegen einen gewöhnlichen Magier noch lernen konnte. Sie waren ihr auch ohne schwarze Magie an Stärke unterlegen. Sonea ahnte, sie würde Akkarin eines Tages für seine Härte dankbar sein. Im Augenblick war sie jedoch zu wütend, um Dankbarkeit zu verspüren. Die Zähne zusammenbeißend bombardierte sie ihn mit einem Hagel von Kraftschlägen, die sie so umlenkte, dass sie seinen Schild aus allen Richtungen trafen, in der Hoffnung eine Schwachstelle zu finden.

Akkarin lachte und konterte mit einer Wucht, die sie zurücktaumeln ließ.

„Wir können das gerne fortsetzen, bis du dich erschöpft hast. Ich muss morgen früh nicht zum Unterricht.“

Sonea funkelte ihn an. Sie spürte, wie ihr Schild schwächer wurde. Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, würde sie auf jeden Fall gegen ihn verlieren. Sie überlegte, ob sie den Zusammenbruch ihres Schildes vortäuschen sollte. Vielleicht würde ihn das dazu verleiten, seinen ebenfalls fallenzulassen, weil er fürchtete, sie verletzt zu haben. Aber Akkarin würde ihre List wahrscheinlich durchschauen.

Dann kam ihr eine andere Idee. Sonea lächelte humorlos. Einen ähnlichen Trick hatte sie im vergangenen Halbjahr gegen einige ältere Novizen angewandt. Die Novizen hatten die Runde verloren und Akkarin war von ihr beeindruckt gewesen. Aber dieses Mal würde sie den Trick ein wenig abändern. Die einzige Schwierigkeit bestand indes darin, dass sie das, was sie zu tun beabsichtigte, bisher nur an Gegenständen im Klassenzimmer geübt hatte.

Sie streckte ihren Willen aus und ließ den sandigen Boden der Arena aufwirbeln, bis sie nichts mehr sehen konnte. Doch Akkarin konnte nun nicht mehr sehen, was sie tat. Damit er sie nicht traf, brauchte Sonea sich nur von der Stelle fortbewegen, auf der sie zuvor noch gestanden hatte. Wahrscheinlich würde Akkarin ebenfalls seine Position verändern und sie in die Irre führen, indem er seine Angriffe umlenkte oder schwache Angriffe wie Betäubungsschläge in verschiedene Richtungen sandte, um sie zu finden.

Und deswegen musste sie schnell sein.

Sich konzentrierend schuf Sonea neun Illusionen ihrer selbst. Während sie durch die Arena rannte, sandte sie ihre Abbilder in alle Richtungen, wobei sie Akkarins Angriffen möglichst auswich. Als die Illusionen ihre Positionen eingenommen hatten, ließ sie den Sandsturm verebben und sah sich um. Sie stand leicht seitlich von Akkarin. Zu ihrer Freude wirkte er beeindruckt. Ihr Plan war aufgegangen, die Illusionen perfekt. Sie unterdrückte ein Kichern.

Dann durchbrach etwas ihre Konzentration, traf ihren Geist wie ein gewaltiger Hammer und die Illusionen lösten sich vor ihren Augen auf.

Sie blinzelte verwirrt. Als ihr klarwurde, was gerade passiert war, setzte ihr Herz einen Schlag aus.

Akkarin hatte einen Gedankenschlag gegen sie eingesetzt.

Die Erinnerung an einen anderen Kampf blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

Akkarin ging langsam auf sie zu und griff unbarmherzig an. Das Beben ihres Schildes brachte Sonea wieder zur Besinnung. Entsetzt erkannte sie, dass ihre Kraft fast aufgebraucht war. Sie hatte zuviel davon für ihre Illusionen verwendet. Sie begriff, dass sie die Niederlage nicht mehr aufhalten konnte. Aber wenn sie diese Runde schon verlor, dann wenigstens hocherhobenen Hauptes.

Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, gab sie all ihre verbleibende Magie in einen einzigen Kraftschlag. Die Wucht ihres Angriffs schleuderte Akkarin mehrere Schritt rückwärts durch die Luft.

Auf der Tribüne brach Jubel aus.

Sonea Entsetzen schlug in Panik um.

„Akkarin!“

Sie ließ ihren Schild fallen und rannte auf ihn zu. Akkarin lag völlig reglos auf dem Boden der Arena. Sie sank neben ihm auf die Knie.

„Das wollte ich nicht“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid.“

Sie sandte ihren Geist in seinen Körper, fürchtend, was sie dort finden würde. Was, wenn er am Ende schwächer gewesen war, als sie angenommen hatte?

Etwas warf sie nach hinten und presste ihr die Luft aus den Lungen. Der Innere Schild erlosch.

So viel ist also nötig, um ihn zu zerstören, dachte sie flüchtig und erschrak. Dieser Kraftschlag hätte sie töten können.

Sonea versuchte, sich aufzurichten, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie fest. Dann war Akkarin über ihr und drückte seinen Dolch an ihren Hals.

„Was tut dir leid?“, fragte er. „Dass du denselben Fehler zweimal gemacht hast?“

„Das auch“, presste sie hervor.

„Und was noch?“

„Dass ich unaufmerksam war.“

„Das sollte es auch.“

Seine Stimme war hart. „Du wirst diese Fehler von jetzt an vermeiden. Hast du das verstanden?“

„Ja, Mylord.“

Akkarin ließ sie los und zog sie auf die Füße. Sonea war verstört. Erst allmählich begann sie zu begreifen, was da gerade geschehen war. Sie begriff, sie sollte erleichtert sein, weil ihm nichts passiert war. Doch was er gerade getan hatte, entsetzte sie. Er hatte sie hereingelegt. Aber als wenn dieses Täuschungsmanöver nicht schon genug gewesen wäre, hatte er auch noch mit Gedankenschlag angegriffen. In der Arena galt dies als unsportlich, weswegen es Novizen nicht gelehrt wurde. In Duellen war es sogar verboten. Das alles wäre für Sonea noch verzeihbar gewesen. Eine Sache konnte sie ihm dabei jedoch nicht verzeihen:

Er hatte mit ihrem Ängsten gespielt.

Von der Tribüne ertönte neuerlicher Applaus. Sonea und Akkarin wandten ihre Köpfe. Dieses Mal waren es die Novizinnen.

Akkarin runzelte missbilligend die Stirn. „Genug für heute“, entschied er und ließ sie los. „Du hast dich beinahe erschöpft. Gehen wir nach Hause.“

Sie nickte benommen und folgte ihm aus der Arena, erleichtert, weil sie für den Rest des Tages von Kriegskunst verschont bleiben würde.

„Was war das vorhin?“, wollte sie wissen, nachdem sie sich wieder halbwegs gefangen hatte.

„Ich habe meinen Schild nach innen gezogen, damit es so aussieht, als hättest du ihn durchbrochen. Dadurch konnte mich dein Kraftschlag durch die Luft schleudern“, antwortete er. „Ich werde es dir in einer unserer nächsten Stunden zeigen.“

Sonea starrte ihn an. „Ihr habt unfair gekämpft!“, protestierte sie.

„In einem richtigen Kampf interessiert sich niemand für Fairness“, entgegnete Akkarin ungerührt. „Das gilt insbesondere für die Sachakaner. Du darfst deinen Schild niemals fallenlassen, bevor du dich überzeugt hast, dass du deinen Gegner auch wirklich besiegt hast.“

Sonea wollte erneut protestieren, wollte ihm erklären, dass sie geglaubt hatte, ihm ernsthaften Schaden zugefügt zu haben, doch Akkarin fuhr unbeirrt fort: „Ich verstehe, warum du nicht gegen mich kämpfen willst. Aber wenn wir in der Arena sind, erwarte ich, dass du deine persönlichen Gefühle ablegst. In der Arena bin ich dein Lehrer, und wenn wir gegeneinander kämpfen, dein Feind. Ich weiß, du kannst weitaus besser sein. Ich erwarte, dass du bis zu den Nachprüfungen dein Trauma überwindest und mindestens zu deinem früheren Niveau zurückgefunden hast.“

Sonea seufzte innerlich. Diese Stunde hatte sie wieder daran erinnert, wie hart und unerbittlich er sein konnte. Sie hätte ihn gehasst, hätte sie nicht gewusst, dass er das auch für sie tat.

„Ja, Mylord“, sagte sie, obwohl ihr ein Monat viel zu wenig erschien, um die Ereignisse nach der Schlacht zu vergessen.

„Du hast dieses Halbjahr an drei Tagen Kriegskunst. Morgen werde ich dir beibringen, wie man einen Gedankenschlag ausführt und abwehrt“, sagte er ein wenig weicher. „Ab übermorgen werden wir an jedem Vierttag gegen Balkan und einige Krieger antreten. Wir müssen an unserer gemeinsamen Strategie gegen einen stärkeren Gegner arbeiten, damit so ein … Missgeschick wie bei der Schlacht kein zweites Mal passiert. Nach deinen Prüfungen werden wir damit beginnen uns dabei einander die Kraft zu nehmen. Warum erkläre ich dir, wenn es soweit ist.“

Sonea erstarrte. Am liebsten hätte sie erneut protestiert, doch Akkarins Entscheidung schien bereits festzustehen. Sich gegen ihn durchzusetzen würde eher seinen Zorn erregen, als Erfolg versprechen.

„Ihr verlangt viel von mir“, brachte sie hervor.

„Ich weiß“, murmelte Akkarin, „aber du wirst es irgendwann verstehen.“

Sie durchquerten den Innenhof. Ein paar Magier verließen die Universität in Richtung der Magierquartiere. Selbst aus der Entfernung wirkten sie beim Anblick der beiden schwarzen Magier furchterfüllt.

Wenn sie wüssten, wie sehr ich mich manchmal selbst vor Akkarin fürchte, hätten sie sicher weniger Angst vor mir, dachte Sonea trocken.

Den Rest ihres Heimwegs legten sie schweigend zurück. Ihr Versagen in der Arena und Akkarins Worte bedrückten Sonea, während sie durch die unter den Bäumen einsetzende Dämmerung schritten. Erst als sie die Empfangshalle der Arran-Residenz betraten und der Geruch von frisch zubereitetem Essen in ihre Nase stieg, hob sich ihre Stimmung wieder ein wenig. Mit einem Mal spürte sie, wie hungrig sie war. Sie stellte ihre Tasche ab und wollte in den Speisesaal eilen.

„Sonea, warte“, hörte sie Akkarin hinter sich sagen.

Sie hielt inne und wandte sich zu ihm um.

„Ja, Mylord?“

Akkarin bedachte sie mit dem Halblächeln, das sie so an ihm liebte. „Du weißt, du brauchst zuhause nicht so förmlich sein“, sagte er mit einer Spur von Strenge.

Sonea lächelte unwillkürlich und sparte es sich, ihm zu erklären, dass sie ihn in diesem Augenblick noch immer mehr als ihren Mentor denn als ihren Geliebten empfand.

„Ich bedaure, dich vorhin in der Arena mit deinen Ängsten konfrontiert zu haben“, sagte er. „Es musste sein.“

Er trat auf sie zu und schloss sie in seine Arme.

„Ich weiß“, flüsterte sie. „Du brauchst dich dafür nicht entschuldigen.“

„Sonea, du sollst mich nicht für ein Ungeheuer halten.“

Sonea legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Akkarin streckte eine Hand aus und strich behutsam eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

Sie lächelte schief. „Diese Phase habe ich bereits hinter mir.“

Er runzelte die Stirn und wurde unvermittelt ernst. „Sonea, ich habe meine Gründe, warum ich in Kriegskunst so hart zu dir bin.“

Sie spürte, dass mehr hinter seinen Worten steckte, als er bereit war ihr zu sagen und erschrak. „Werde ich diese Gründe auch erfahren?“

„Ja. Nach deinen Prüfungen. Sie sind jetzt wichtiger als alles andere. Ich bitte dich, mir solange zu vertrauen.“

„Ich vertraue dir“, sagte sie und stieß einen leisen Seufzer aus. Sie wusste, er wollte sie nur beschützen. Dabei hätte sie die Wahrheit der nagenden Ungewissheit vor dem, was er ihr verschwieg, vorgezogen.

„Du hast mein Wort, dass du es erfahren wirst“, versprach er und küsste sie auf die Stirn.

Die Tür zum Speisezimmer ging auf und Takan bat sie zum Essen hinein. Akkarin legte eine Hand auf ihre Taille und sie folgten seinem Diener. Wie am Abend zuvor war der Tisch mit Speisen überladen. Sonea blinzelte überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, jeden Abend ein so üppiges Mahl zu erhalten.

„Wie weit bist du mit deinem Bericht für Lady Vinara?“, fragte Akkarin, nachdem Takan sich zurückgezogen hatte und sie sich aufgetan hatten.

„Fast fertig.“ Sonea hatte in der Mittagspause in der Bibliothek ein wenig daran geschrieben. „Warum?“

„Ich möchte ihn lesen, bevor du ihn abgibst. Es sollte nichts darin stehen, das Lady Vinara nichts angeht.“

Sonea verschluckte sich fast an dem Bissen Harrelfleisch, an dem sie gerade kaute. Hastig trank sie einen Schluck Wein.

„Hast du etwas dagegen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Du kannst ihn ruhig lesen. Vorausgesetzt, es macht dir nichts aus.“

An seiner Stelle hätte sie nichts über ihre Rettung wissen wollen. Wie verstörend musste es sein zu wissen, das man für einige Minuten tot gewesen war?

„Zerbrich dir nicht meinetwegen den Kopf.“

Sonea nickte nur mäßig überzeugt. Dachte er wirklich, er könne bis an sein Lebensende alles mit sich selbst ausmachen? „Dann werde ich den Bericht gleich nach dem Essen fertigstellen und dir geben.“

Hoffentlich findet er nichts Anstößiges, dachte sie unbehaglich. Sie wollte den Bericht nicht noch einmal schreiben müssen. Als sie ihn verfasst hatte, hatte es sich angefühlt, als hätte sie Akkarin erneut verloren. Sie wollte das nicht noch ein drittes Mal durchleben. Sonea versuchte sich damit zu trösten, dass es vorbei sein würde, wenn sie den Bericht abgab. Danach würde sie nicht mehr an diesen Tag denken müssen. Aber das stimmte nicht. Sie würde jedes Mal daran erinnert werden, wenn sie gegen Akkarin in der Arena kämpfte und wahrscheinlich auch dann, wenn sie beide gegen Balkans Krieger antraten. Und er erwartete von ihr, dass sie in einem Monat dieses Erlebnis so weit verarbeitet hatte, dass sie in Kriegskunst über ihren alten Stand hinausgewachsen war.

Als sie den Blick hob, stellte sie fest, dass Akkarin sie nachdenklich betrachtete.

„Ich weiß, es ist schwer“, sagte er. „Aber du wirst lernen, damit umzugehen.“

 

 

***

 

Nachdem er das Abendessen, das Tania ihm gebracht hatte, verzehrt hatte, lehnte Rothen sich in seinem Sessel zurück. Ein langer und anstrengender Tag lag hinter ihm. Es bereitete ihm Freude die Novizen, die Alchemie als Disziplin gewählt hatten, zu unterrichten. Im Gegensatz zu manchen Novizen der unteren Jahrgänge waren sie mit Leidenschaft bei der Sache. Die oft komplexen Experimente erforderten jedoch eine sorgfältige Unterrichtsvorbereitung.

Im Laufe des Tages waren außerdem zwei Alchemisten an ihn herangetreten, die ihre Forschungsprojekte genehmigt haben wollten. Lord Davin wollte den Bau seines Wetterausgucks wieder aufnehmen. Im Frühjahr hatte er dazu von Akkarin die Erlaubnis bekommen, doch über den Angriff der Sachakaner waren die Baumaßnahmen eingestellt worden. Rothen wusste nicht, wie Balkan zu der Wiederaufnahme dieses seit langem umstrittenen Projektes stand, und hatte Davin gebeten, sein Anliegen bei der Gildenversammlung am nächsten Vierttag erneut vorzutragen.

Der andere Magier, Lord Krelin, hatte ihm von seiner abstrusen Idee berichtet, Textilien zu erfinden, die nicht nass wurden oder verschmutzten. Er hatte Rothen fast zwei Stunden lang bis ins kleinste Detail erläutert, wie er Gewebe aus verschiedenen Materialien mit Magie dazu bringen wollte, gegen Nässe und Schmutz resistent zu werden und welchen Nutzen das für die Allgemeinheit haben würde.

Rothen konnte nur den Kopf darüber schütteln, womit manche Magier ihre Zeit verbrachten. Morgen würde er mit Lord Peakin sprechen, ob er so etwas nicht lieber sofort ablehnen sollte. Das Projekt war nicht uninteressant, aber hatte wirtschaftliche Nachteile, die man nicht ignorieren durfte. Sollte sich ein solches Material auf dem Markt durchsetzen, würde dies das Ende der Wäschereien bedeuten und die dort Beschäftigten würden sich nach einer neuen Arbeit umsehen müssen. Zudem bestand die Möglichkeit, dass der Stoff die Farbe mit der er gefärbt worden war, durch Lord Krelins Methode verlieren würde oder sich gar nicht erst färben ließ. Es war ein hehres, aber unrealistisches Ziel.

Als seine Dienerin seine allabendliche Tasse Sumi vor ihm abstellte, sah er auf. Die Dunkelheit im Raum war dabei, sich zu verdichten. Rothen schuf eine Lichtkugel und ließ sie hinter einen Wandschirm schweben.

„Danke, Tania“, sagte er und griff nach der Tasse.

Tania zögerte. Sie machte ein Gesicht, das Rothen nur zu gut von ihr kannte. So sah sie ihn immer an, wenn sie etwas sagen wollte, sich aber nicht sicher war, ob sie es wirklich tun sollte.

Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Tania, was bedrückt dich?“, fragte er freundlich.

Sie zuckte kaum merklich zusammen. Dann sah sie ihn direkt an.

„Sie fehlt Euch, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Rothen. „Aber ich wusste, sie würde wieder gehen, wenn Akkarin aus dem Heilerquartier entlassen wird.“

„Glaubt Ihr, er wird Ihr dieses Mal erlauben, Euch zu besuchen?“

Er zuckte die Schultern. Seit der Anhörung hatte er Sonea nicht mehr gesehen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es ihr seitdem ergangen war. Sicher hatte sie ihn noch nicht besucht, weil sie sich erst wieder an den Alltag an der Universität und an ihr neues Leben gewöhnen musste. Inzwischen dämmerte ihm, dass ihre Wut nach der Anhörung Akkarin gegolten hatte. Fing er wieder an, sie zu kontrollieren? Würde sie sich das überhaupt noch von ihm gefallen lassen?

„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Doch ich hoffe es.“

Tania nickte. Sie schien nicht glücklich über seine Antwort und das bestärkte Rothens Vorhaben, nach Sonea zu sehen, sollte sie nach ihrer ersten Woche noch nicht von selbst zu ihm gekommen sein. Dieses Mal würde er sich Akkarin den Kontakt nicht verbieten lassen.

„Habt Ihr noch einen Wunsch, Mylord?“, fragte Tania und räumte das schmutzige Geschirr vom Abendessen auf ein Tablett.

„Nein. Du kannst für heute gehen.“

„Dann gute Nacht, Lord Rothen.“

„Gute Nacht, Tania.“

Sie war schon fast an der Tür, als es klopfte.

Rothen runzelte die Stirn. Wer konnte das jetzt noch sein? Hoffentlich nicht schon wieder Lord Krelin, dachte er flehentlich. Für heute hatte er wahrhaftig genug von diesem Mann. Doch als Tania die Tür öffnete, erblickte er seinen neuen Novizen.

„Guten Abend, Mylord“, sagte er und verneigte sich. „Bitte verzeiht die Störung.“

Rothen lächelte. „Komm herein, Farand.“

„Soll ich … ?“, begann Tania.

„Nicht nötig“, winkte Rothen ab. „Ich kümmere mich um ihn.“

Sie lächelte dem jungen Elyner scheu zu und schloss dann leise die Tür hinter sich.

„Setz dich“, forderte Rothen seinen Novizen auf. „Möchtest du etwas trinken? Sumi vielleicht?“

Der junge Mann setzte sich in einen der Sessel. „Danke Lord Rothen, ein Glas Wasser reicht völlig.“

Rothen erhob sich und schritt zur Anrichte. Er befüllte ein Glas mit Wasser von der Quelle und brachte es Farand.

„Was führt dich so spät noch zu mir?“, fragte er, als er Farand gegenüber Platz nahm.

„Oh, eigentlich wollte ich Euch nur das hier zurückbringen.“

Rothens Novize zog ein kleines Buch aus seiner Robe. Rothen erkannte den Einband auf der Stelle wieder. Es war das Buch, das er Farand am Tag zuvor geliehen hatte.

Er runzelte die Stirn. „Hat es dir nicht gefallen? Oder war es zu kompliziert?“

„Im Gegenteil.“ Farand lächelte, ein fiebriger Glanz in seinen Augen. „Es war unglaublich interessant. Ich habe es letzte Nacht ausgelesen. Eigentlich bin ich gekommen, um Euch zu fragen, ob Ihr noch mehr davon habt.“

Beeindruckt hob Rothen die Augenbrauen. Diese Aspekte der Alchemie verstanden Novizen normalerweise erst gegen Ende ihres Studiums. Doch Farand war mit Mitte zwanzig älter als die Novizen der Abschlussklasse. Sein Denken war viel weiter entwickelt und zudem schien er intelligenter und wissbegieriger als der durchschnittliche Novize.

„Was ich dir gestern gegeben habe, war für Novizen im fünften Jahr“, sagte Rothen. „Das entbindet dich aber nicht davon, weiterhin die Grundlagen der Alchemie zu lernen.“

Der junge Elyner nickte. „Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss, bevor ich es anwenden kann, Mylord.“ Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. „Oder ist mir noch nicht erlaubt, solch fortgeschrittene Alchemie zu erlernen?“

„Doch“, antwortete Rothen. „Niemand kann dir verbieten, die Theorie zu lernen. Aber es besteht die Gefahr, dass du das meiste davon wieder vergessen hast, bis du bereit bist, es anzuwenden.“

„Oh, das macht nichts“, erwiderte Farand. „Wenn ich es einmal gelernt habe, brauche ich das Wissen nur aufzufrischen. Und so kann ich mich jetzt schon auf das freuen, was mich in ein paar Jahren erwartet.“

Rothen lächelte erfreut. Farands Neugier sorgte dafür, dass er alles Wissen in sich aufsog wie ein trockener Schwamm. Er hatte selten solch einen lernbegierigen Novizen unterrichtet, der so viel Interesse an Alchemie zeigte. Selbst Dannyl oder Sonea, die beide auf ihre Weise klug, interessiert und wissbegierig waren, wären nie auf die Idee gekommen, etwas zu lernen, was sie erst viel später brauchen würden. Allerdings hatten beide neben ihrem Studium auch andere Sorgen gehabt.

„In diesem Fall habe ich tatsächlich noch etwas, was dir gefallen würde.“ Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zu seinem Bücherregal. Die Rücken der Einbände betrachtend zog er schließlich ein Buch heraus und reichte es Farand.

„Das hier wird dir noch tiefere Einblicke in die Welt der alchemistischen Substanzen geben.“

Ehrfürchtig nahm Farand das Buch entgegen. „’Einführung in die Theorie über die Theilbarkeit der untheilbaren Materie’“, las er begeistert. Er sah auf. „Vielen Dank, Lord Rothen.“

Rothen lächelte. „Wenn du es ausgelesen hast, können wir darüber diskutieren, wenn du magst.“

 

 

***

 

Sonea vollendete den Abschnitt ’Beobachtungen’ des Protokolls, das sie zu dem Experiment ihres heutigen Alchemieunterrichts schreiben musste, und gähnte. Für diese Disziplin hatte sie noch nie sehr viel Begeisterung aufbringen können – wenn auch anfangs mehr als für die Kriegskunst. Vielen Experimenten mangelte es an praktischem Nutzen. Sie dienten vor allem dazu, das Verständnis für die theoretischen Grundlagen zu schaffen. Nützliche und interessante Anwendungen der Alchemie wurden erst zu einem Zeitpunkt im Studium unterrichtet, zu dem sich die meisten Novizen bereits einer der anderen beiden Disziplinen zugewandt hatten. Sonea fand das unlogisch. Wie sollte man sich für eine Disziplin entscheiden, bevor sie anfangen konnte, zu begeistern?

Sich die Augen reibend lehnte sie sich zurück. Es war spät geworden. Nach dem Abendessen hatte sie zunächst für ihre bevorstehenden Prüfungen gelernt, bevor sie zu ihren Hausaufgaben übergegangen war, die ihr im Augenblick weniger wichtig erschienen. Der gesamte Stoff des letzten Halbjahres würde Bestandteil der Nachprüfungen sein und sie hatte das meiste vergessen. Sie befand jedoch, für heute genug gelernt zu haben. Sie brauchte nur noch das Resultat ihres Experiments zu interpretieren, dann konnte sie endlich schlafen gehen.

Es klopfte.

„Herein“, rief sie ein wenig unwirsch über die Störung und öffnete die Tür mit ihrem Willen.

Es war Akkarin. „Ich habe deinen Bericht gelesen“, sagte er ungewöhnlich ernst und glitt wie ein großer schwarzer Schatten in den Raum.

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Ihre Befürchtung, alles neu schreiben zu müssen, nahm mit einem Mal Gestalt an.

„Ist es sehr schlimm?“, fragte sie.

„Nein.“ Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie. „Du hast deine Sache sehr gut gemacht. Nur in einem Detail solltest du nicht so viel erklären.“ Akkarin legte den Bericht auf ihren Schreibtisch und wies auf eine Stelle im Text. „Hier hast du Folgendes geschrieben: … um Lord Akkarins magische Quelle zu finden, habe ich meine eigenen Erinnerungen an Situationen, in denen unsere Gedanken miteinander verbunden waren, zur Hilfe genommen …“ Sein Blick begegnete ihrem. „Jeder Magier, der das liest, weiß auf der Stelle, worauf du anspielst.“

Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Aber darauf bin ich doch gar nicht näher eingegangen!“, protestierte sie.

„Das ist auch nicht nötig. Die Gedanken und Gefühle zweier Magier verbinden sich während des Liebesaktes von selbst, sofern es erwünscht ist und man das nicht unterdrückt. Das eine Folge des dabei auftretenden Herabsenkens der natürlichen Barriere.“

„Oh, das wusste ich nicht“, sagte sie und war mit einem Mal seltsam enttäuscht.

„Natürlich konntest du das nicht wissen.“

„Ich dachte nur …“, sie zögerte und sah ihn an, „ … das mit uns wäre etwas Besonderes.“

„Das ist es auch“, sagte er sanft. „Würden wir nicht so stark füreinander empfinden, hättest du mich vielleicht nicht retten können.“

„Du hättest nicht sterben müssen“, sagte Sonea heftig. „Warum überhaupt musste es soweit kommen?“

„Weil das der einzige Weg war.“

Sonea spürte, wie sich der Zorn wie ein dunkler Sturm in ihr zusammenbraute. „Das ist nicht wahr!“, fuhr sie ihn an. „Ich hätte dich heilen können. Meine Magie hätte dafür noch ausgereicht. Ich …“ Sie brach ab und begann hilflos mit ihren Händen zu gestikulieren.

Akkarin bekam ihre Handgelenke zu fassen und hielt sie fest. „Hör auf“, sagte er leise.

„Aber …“

„Sonea, es geht nicht darum, wieviel Magie du noch übrig hattest“, sagte er behutsam. „Karikos Dolch hatte mich zu stark verletzt, um den Kampf zu überleben. Hätte ich dir nicht meine ganz Kraft übertragen, hätte meine Magie uns beide getötet, noch bevor die Ichani besiegt gewesen waren. Ich hätte nicht mit dem Gedanken versagt zu haben sterben können, weil ich die Sicherheit der Gilde riskiert hätte, damit wir beide überleben. Ich würde eher sterben, als dich in Gefahr zu bringen.“

„Nein!“ Sonea versuchte sich von ihm loszureißen, weil sie diese Wahrheit nicht hören wollte, doch er hielt sie unerbittlich fest. „Ich will nicht, dass du für mich stirbst. Und auch nicht für irgendjemand anderen. Denkst du, ich will zurückgelassen werden?“

„Das ist mir lieber, als wenn du auch gestorben wärst und wir versagt hätten.“

Sie schnaubte lautstark. „Denkst du, ich würde ohne dich weiterleben wollen? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es sich anfühlt, zurückgelassen zu werden?“

„Ja, die habe ich“, sagte er leise. Als er sie ansah, waren seine Augen jedoch wieder hart. „Doch das ändert nichts an meiner Einstellung.“

Hatte er den Verstand verloren? Sonea war entsetzt. Sie begriff nicht, wie er ihr das antun konnte. „Dann wirst du damit leben müssen, dass ich immer wieder mein eigenes Leben aufs Spiel setzen werde, um dich zu retten“, gab sie zurück. Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen, doch sie kämpfte sie zurück. „Denn ich bin lieber tot, als ohne dich.“

Akkarins dunkle Augen bohrten sich in ihre. „Was willst du damit sagen?“

Sonea unterdrückte ein Seufzen. Sie ahnte, dieser Streit würde nicht so schnell beigelegt sein. „Nachdem ich die drei Ichani erledigt hatte, hatte ich fast all meine Kraft aufgebraucht. Dorrien musste mir helfen, dich zu retten. Ohne seine Magie hätte ich es nicht geschafft.“ Sie betrachtete Akkarin unwirsch. „Denn das alles hat sehr viel mehr Magie erfordert, als ich benötigt hätte, um deine Verletzung sofort zu heilen“, fügte sie säuerlich hinzu. „Mit Rothen, Balkan und Dorrien auf dem Dach hätte es gereicht.“

Hoffentlich wird er nicht wütend, weil es Dorrien war, dachte Sonea. Ihr war nicht entgangen, wie sich sein Gesicht bei ihrem Worten zusehends verfinstert hatte. Aber er wusste doch bereits aus dem Bericht, dass es Dorrien gewesen war! Sie verstand nicht, warum er sich noch daran störte, jetzt wo er wusste, dass sie nichts mit Dorrien verband.

Eine Weile musterte Akkarin sie schweigend. Dann erhob er sich und begann den Raum zu durchtigern.

„Sonea“, sagte er schließlich. „Ich muss dir hoffentlich nicht sagen, wie verantwortungslos das war. Du hättest dein Leben nicht für die unwahrscheinliche Möglichkeit mich wiederzubeleben riskieren dürfen. Nicht, wenn du nur noch so wenig Kraft übrig hattest.“

Sonea starrte ihn an. Sie konnte kaum glauben, was er da sagte. Wie konnte er nur so undankbar sein?

„Es ist mein Leben“, widersprach sie trotzig. „Ich riskiere es, wofür es mir wert ist.“

„Wenn du bei dem Versuch, mich zu retten, gestorben wärst, dann wäre alles, wofür wir gekämpft haben, umsonst gewesen. Einer von uns muss übrigbleiben und das Wissen über schwarze Magie weitergeben. Sonea, wir haben eine Verpflichtung der Gilde gegenüber. Verstehst du das?“

„Das verstehe ich. Aber wir hätten beide in der Schlacht sterben können, ohne dass wir es hätten verhindern können“, widersprach sie mit bebender Stimme. „Das kann uns immer passieren. Dann würde unser Wissen auch verlorengehen und die Gilde wäre auf sich allein gestellt.“

Akkarin hielt inne. „Selbstverständlich besteht diese Möglichkeit“, räumte er ein. „Aber …“

Sonea ahnte, was er sagen wollte und schnitt ihm das Wort ab. Sie wollte es nicht hören.„Wenn ich es nicht versucht hätte, dann hätte ich mir das den Rest meines Lebens vorgeworfen“, sagte sie heftig. „Und wenn du nicht so leichtsinnig gewesen wärst, auf die Magie aus der Arena zu verzichten, wäre es gar nicht erst so weit gekommen!“

Es war absurd, deswegen mit ihm zu streiten. Sonea musste zugeben, in gewisser Weise hatte Akkarin recht. Doch ungeachtet seiner Sicht der Dinge fand sie, an jenem Tag, das einzig Richtige getan zu haben.

Ohne Akkarin wäre sie nicht gewillt gewesen, der Gilde weiterhin zu helfen. Sie hätte niemals wieder schwarze Magie benutzt. Vielleicht, so überlegte sie, hätte sie ihre Kräfte blockieren lassen und wäre fortgegangen. Irgendwohin, wo es nichts gab, das sie immerzu an ihn erinnerte. Aber sie hätte ihn niemals vergessen. Und sie hätte niemals aufgehört, ihn zu lieben.

Und das hätte sie nicht ertragen.

„Hätte ich dich verloren, so hätte ich nicht mehr leben wollen. Dich zu retten, war ich mir selbst schuldig. Und dir.“

Akkarin seufzte. „Sonea, seit wann bist du so selbstsüchtig?“

Die Tränen ließen sich jetzt nicht mehr zurückhalten.

Seit ich erkannt habe, dass ich dich mehr liebe, als ich es je für möglich hielt.

Wortlos zog er sie in seine Arme.

„Wenn ich statt deiner gestorben wäre, hättest du dann nicht versucht, mich zu retten?“, fragte sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben.

„Doch“, flüsterte er. „Aber hätte ich erkannt, dass es aussichtslos ist, hätte ich dich gehenlassen. Dasselbe erwarte ich von dir.“

Sonea begann zu weinen und er hielt sie fest. Es war nicht aussichtslos gewesen. Nicht für sie. Sie hatte ihn nicht aufgeben wollen. Er liebte sie doch genauso wie sie ihn. Konnte er das denn nicht verstehen?

„Sonea, es gibt nichts, das aufwiegen könnte, was du für mich getan hast“, sagte Akkarin leise. „Denk nicht, ich würde die Alternative vorziehen, denn ich will dich nicht unglücklich wissen. Aber wir müssen unsere Verantwortung über unsere Beziehung stellen.“

Seine Worte beruhigten und bewegten sie. Sonea erkannte, es war nichts Persönliches, das seine Verärgerung ausgelöst hatte. Natürlich war Akkarin dankbar, dass sie ihn gerettet hatte. Aber er verlangte auch, dass sie ihre Bedürfnisse für das Wohl der Gilde zurückstellte. Obwohl Sonea diese Vorstellung nicht behagte, wusste sie, es war das einzig Richtige.

„Ich weiß“, murmelte sie.

„Wir dürfen nicht ausschließen, dass einer von uns beiden in einem Kampf gegen einen schwarzen Magier stirbt. Aber ich werde mein Möglichstes tun, um das zu verhindern“, versprach Akkarin. Er hob ihr Kinn und sah sie an. „Auch wenn du mich von nun an hasst, weil du mich in Kriegskunst ertragen musst“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

„Dann werde ich freiwillig durch diese Hölle gehen“, erwiderte Sonea unter Tränen. Der Gedanke, gegen ihn zu kämpfen und dabei jedes Mal an jenen verhängnisvollen Tag erinnert zu werden, entsetzte sie noch immer.

Aber selbst das war besser, als ihn erneut zu verlieren.

Wenn es jedoch am Ende dazu führte, dass sie im Kampf weniger Fehler machte, würde sie eine Wiederholung jener Ereignisse weniger fürchten brauchen.

Akkarin lachte leise. Behutsam wischte er ihre Tränen fort. „Es wird mit der Zeit leichter werden. Ich werde dich nicht mehr fordern, als du ertragen kannst. Aber wir sind mehr als ein Liebespaar oder als Mentor und Novize. Wir tragen jetzt eine große Verantwortung. Wir müssen unsere Beziehung zurückstellen, wann immer es die Situation erfordert.“

Sonea nickte. „Das verstehe ich.“

Trotzdem gefiel ihr der Gedanke nicht. Es wäre einfacher, hätte sie sich nicht in ihn verliebt. Aber das war etwas, das sich jetzt nicht mehr rückgängig machen ließ. Geschweige denn, dass sie das gewollt hätte.

Akkarin betrachtete sie nachdenklich und strich kurz über ihre Wange. Dann wandte er sich wieder dem Bericht zu.

„Trotz allem wirst du diese Passage umschreiben müssen.“

Sonea schnitt eine Grimasse. Über ihren Streit hatte sie das völlig vergessen.

„Und wie? Soll ich etwas erfinden?“

Akkarin runzelte die Stirn. „Sonea, du sollst nicht lügen“, erinnerte er sie streng. Eine Weile starrte er nachdenklich auf das Papier auf dem Tisch. „Wie wäre es hiermit?“, sagte er dann. „Auf Grund meiner Ausbildung zur schwarzen Magierin und einiger Ereignisse auf Flucht vor den Sachakanern, welche eine Verbindung unserer Gedanken erforderten, hatte ich die Gelegenheit, einen einzigartigen Blick in Lord Akkarins Geist zu erhalten. Dies gab den ausschlaggebenden Beitrag, den Ort seiner magischen Quelle zu lokalisieren.

„Das formuliert die Textstelle ohne von der Wahrheit abzuweichen so um, dass jeder Leser denkt, was wir getan haben, hätte mit schwarzer Magie zu tun gehabt.“

Sonea lachte. „Das klingt viel zu sehr nach dir. Sicher wird sie es sofort merken.“

„Nun, es steht dir frei, es in deinen Worten auszudrücken. Achte nur darauf, den Anlass für die Verbindung unserer Gedanken möglichst neutral zu halten.“

Sonea seufzte. Jetzt würde sie den Bericht tatsächlich noch einmal schreiben müssen. Doch wenn sie es geschickt anstellte, war es nur die Seite, auf der diese Passage stand.

„Wenn es dein Wunsch ist, bleibe ich hier, bis du den Bericht fertig geschrieben hast“, bot Akkarin an.

Sonea schnaubte verächtlich. „Danke, aber ich bin kein Baby mehr!“

Akkarins Mundwinkel zuckten. Seine Roben raschelten leise, als er sich erhob. „Falls dich aus welchen Gründen auch immer, die Sehnsucht nach mir ergreift, findest du mich in der Bibliothek.“

 

 

***

 

Von außen betrachtet war das Bolhaus nicht das Beste, doch Dannyl hatte in den Hüttenvierteln von Imardin schon weitaus üblere Spelunken besucht. Er stieg aus der Kutsche und streckte seine verspannten Glieder. Das ständige Geschaukel und das lange Sitzen hatten seine Muskeln steif gemacht.

„Allzu vertrauenerweckend sieht es ja nicht aus.“

Dannyl wandte sich um. Hinter ihm verließ Tayend gerade ihr Reisegefährt. Der Gelehrte sah genauso aus, wie Dannyl sich nach dem langen Tag fühlte. „Beim nächsten Mal reisen wir wieder mit dem Schiff“, versprach er.

Tayend verzog das Gesicht. „Das meinst du nicht ernst, Botschafter“, sagte er mit leisem Vorwurf in der Stimme.

Dannyl grinste. „Doch. Und jetzt lass uns reingehen. Ich habe Hunger.“

Das Bolhaus befand sich in einem kleinen Dorf auf halben Weg zu der Stadt Davlin, die sie auf dem Weg zu den Grauen Bergen, der Grenze zu Elyne, passieren würden. Am Morgen hatten sie den Tarali mit einer Fähre überquert. Gegen Nachmittag hatten sie den Fluss hinter sich gelassen und waren der Straße einen Nebenfluss hinauf gefolgt. Ihr Weg hatte sie entlang lieblicher Auen, Viehweiden und Felder, auf denen goldgelber Tenn geerntet wurde, geführt.

Dannyl gab ihrem Fahrer ein paar Münzen, damit er sich davon etwas zu essen besorgen konnte. Dann betraten er und sein Gefährte das Bolhaus.

Ein überwältigender Geruch von Bol, Essen und Schweiß schlug ihnen entgegen. Bemüht, sich davon nicht irritieren zu lassen schritt Dannyl auf die Theke zu, hinter der der Wirt gerade ein paar Krüge spülte. Als er Dannyl erblickte, weiteten sich seine Augen.

„Guten Abend, Mylord“, sagte er und verneigte übertrieben. „Ich bin Burin, der Wirt. Was kann ich für Euch tun?“

Anscheinend kommen nicht oft Magier hierher, dachte Dannyl amüsiert. „Mein Assistent und ich möchten hier übernachten. Habt Ihr noch zwei Zimmer frei?“

Burin nickte. „Ja, Mylord. Ein Gold pro Zimmer.“

Dannyl runzelte die Stirn. Das war eine ordentliche Summe für eine Nacht in einem Bolhaus. Für einen Magier war alles mindestens dreimal so teuer wie für gewöhnliche Leute. Und der Wirt wusste, dass Dannyl genug Geld besaß, um sich seine horrenden Preise leisten zu können. Er hegte ein gewisses Verständnis für den Mann. Die auf dem Land lebenden Menschen waren nicht wohlhabend und versuchten, zu überleben. Dennoch musste er richtigstellen, dass er sich nicht ausnehmen ließ.

„Da waren die Zimmer im letzten Bolhaus, wo wir gefragt haben, billiger und das Bolhaus sah besser aus“, sagte er. „Fünfzig Silberstücke für beide.“

„Es sind gute Zimmer“, wandte Burin ein. „Achtzig Silber für beide. Und das ist ein verdammt guter Preis.“

„Fünfzig Silberstücke für zwei Zimmer“, beharrte Dannyl. Er fand, das war noch immer sehr großzügig von ihm. „Und Ihr bekommt noch zehn Silber obendrauf, wenn Ihr uns dafür ein ordentliches Abendessen und Frühstück serviert. Es sei denn, es macht Euch nichts aus, wenn ich meinen Kollegen erzähle, sie sollten auf ihren Reisen besser dort nächtigen, wo keine Wucherpreise verlangt werden.“

Der Wirt war blass geworden. „Natürlich nicht, Mylord“, sagte er unterwürfig. „Fünfzig Silber ist ein guter Preis. Essen gibt’s umsonst dazu.“

Dannyl lächelte. „Dann verstehen wir uns.“

„Ich sag eben meiner Magd, sie soll die Zimmer fertigmachen. In der Zwischenzeit lass ich Euch etwas zu Essen bringen.“

„Danke“, erwiderte Dannyl.

Er steuerte auf einen noch freien Tisch zu und setzte sich. Tayend ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.

„Endlich sitzen, ohne herumgeschaukelt zu werden“, seufzte er.

„Es war deine Idee, per Kutsche zu reisen“, erinnerte Dannyl seinen Freund.

„Ich will mich ja auch gar nicht beklagen. Es ist immer noch besser, als sich die ganze Zeit übergeben zu müssen.“

Dannyl sparte sich die Mühe, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass er ihn jederzeit heilen konnte. Auch wenn Tayend sich inzwischen von ihm heilen ließ, zog er es vor, darauf zu verzichten, bis er es nicht mehr aushielt. Dannyl ahnte, dass es dabei auch um Stolz und Abenteuer ging.

Burin erschien mit zwei Krügen Bol. Ihm folgte eine junge Magd. Auf dem einen Arm balancierte sie zwei dampfende Schalen, auf dem anderen ein Tablett mit gebratenem Rassook.

„Das ist das Beste, was unsere bescheidene Küche zu bieten hat“, erklärte Burin ein wenig verlegen.

„Ich bin sicher, es schmeckt hervorragend“, erwiderte Dannyl.

„Falls Ihr trotzdem noch was wollt, ruft mich“, sagte Burin. Er und die Magd entfernten sich.

Der Gelehrte blickte mit gerunzelter Stirn auf seinen Teller.

„Was ist?“, fragte Dannyl.

„Es ist nur … ich dachte, kyralische Hausmannskost wäre so ähnlich wie in Elyne“, erklärte er ein wenig hilflos. „Aber das kyralische Essen ist so … schwer.“

„Du kannst es essen“, ermutigte Dannyl seinen Freund. „Es dauert noch ein paar Tage, bis wir wieder in Elyne sind. Willst du die ganze Zeit hungern?“ Er tauchte seinen Löffel in die Suppe und schob ihn in den Mund. Gar nicht so übel, dachte er. „Siehst du? Es ist wirklich gut. Auch wenn es vielleicht nicht das ist, was wir gewohnt sind.“

Nachdem sie gegessen hatten, führte der Wirt sie zu ihren Zimmern, die sich im Obergeschoss des Bolhaus befanden. Sie wünschten einander gute Nacht, dann betrat Dannyl sein Zimmer.

Es war nicht besonders groß. Die Möbel waren abgenutzt, doch das Zimmer war tadellos sauber. An der linken Wand stand ein Bett, unter dem Fenster mit blauen Papierblenden befand sich ein Tisch mit einer Schüssel und Tüchern zum Waschen.

Dannyl zog seine Stiefel aus und streckte sich auf dem Bett aus. Die Matratze aus Stroh war bei weitem nicht so bequem, wie die Betten, in denen er sonst schlief. Aber es war allemal besser als die Holzbank in der Kutsche.

Seine Augen schließend entspannte er sich von dem langen Sitzen. Er war schon fast eingeschlafen, als es an der Tür klopfte. Er schrak hoch und streckte seinen Willen nach der Tür aus.

Draußen stand Tayend. Er wirkte aufgelöst.

„Tayend!“ Dannyl sprang auf. Er sah sich rasch um, ob niemand außer ihnen auf dem Flur war. Dann bedeutete er dem Gelehrten, einzutreten und schloss rasch die Tür hinter ihnen.

„Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht, wie ich schlafen soll, wenn ich weiß, dass du im Zimmer nebenan bist“, antwortete sein Gefährte hilflos. „Seit du die Rebellen nach Imardin überführt hast, haben wir zwei nicht mehr …“

Also darum geht es. Dannyl wusste nicht, ob er verärgert sein oder Mitleid mit Tayend haben sollte. Solange er in Imardin gewesen war, hatte er versucht, seinen Freund möglichst selten zu sehen, damit sie kein Misstrauen erregten. Wenn sie sich getroffen hatten, hatte er Abstand gewahrt. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, Tayend in Kyralia so nahe zu kommen.

Mit einem leisen Seufzen nahm er seinen Gefährten die Arme. „Ich weiß“, sagte er. „Aber wir sind immer noch in Kyralia.“

„Hier kennt uns niemand. Wer soll denn schon bemerken, wenn ich heute Nacht bei dir bleibe?“

„Vielleicht die Magd, die unsere Zimmer aufräumt?“

Tayend grinste mit einer ungewohnten Hinterhältigkeit. „Ah, ich habe mein Bett zerwühlt. Sie wird es nicht merken.“

Dannyl runzelte die Stirn. Ihm war noch immer nicht wohl dabei. Während er in Imardin gewesen war, hatte er sein Verlangen unterdrückt, so wie er es all die Jahre getan hatte, bevor er Tayend begegnet war. Aber jetzt waren sie beide allein in diesem Zimmer. Niemand würde sie stören.

Als Dannyl die Hand nach seinem Freund ausstreckte und seine Wange berührte, kehrten seine Gefühle mit aller Macht zurück.

Er streckte seinen Willen aus und belegte die Tür mit einem magischen Schloss. Dann küsste er Tayend verlangend und zog ihn aufs Bett hinab.

 

 

***

 

Sonea rannte durch die Straßen irgendwo im Inneren Ring. Akkarin glitt wie ein großer, dunkler Schatten neben ihr her. Angesichts der zunehmenden Verwüstung rings um sie herum konnten die Sachakaner nicht mehr weit sein. Wohin sie auch blickte, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Überall lagen Leichen und die Trümmer eingestürzter Villen. Die Sachakaner hatten ganze Arbeit geleistet und sich jeder Energiequelle bemächtigt, auf die sie unterwegs gestoßen waren. Tief an dem rauch- und staubverhangenen Himmel, hing eine Sonne, deren Strahlen die Welt in Blut badeten.

Sie bogen um eine Ecke und fanden sich plötzlich einer Gruppe von acht Sachakanern gegenüber, die von Kariko angeführt wurde.

Die plötzliche Panik war überwältigend. „Das schaffen wir nicht“, brachte Sonea hervor. „Wir müssen zur Arena.“

„Nein“, widersprach Akkarin entschlossen. „Wir sind stark genug.“

Sonea bezweifelte das und öffnete protestierend den Mund, doch Akkarin hatte bereits begonnen, die Sachakaner anzugreifen. Die Sachakaner konterten mit einer Stärke, die sie erschaudern ließ und die Luft zwischen ihnen und ihren Gegnern mit gleißendem Licht und dem Vibrieren von Magie erfüllte. Ihr gemeinsamer Schild bebte bedrohlich.

„Sie sind uns überlegen!“, rief sie. Das Entsetzen legte sich derweil mit einer bleiernen Lähmung über sie. „Wir müssen uns zurückziehen und uns stärken!“

„Sonea“, sagte Akkarin, Ärger blitzte in seinen dunklen Augen auf. „Wenn wir anfangen, Magie aus Gebäuden zu beziehen, werden wir zu denselben Barbaren, die auch sie sind.“

„Besser Häuser als Menschen“, gab sie zurück.

Akkarin erwiderte darauf nichts und fuhr fort, die Sachakaner zu attackieren. Fieberhaft suchte Sonea nach einer Möglichkeit, ihre Kraft zu sparen, wenn er schon nicht gewillt war, ihren Vorschlag zu befolgen. Währenddessen nahmen die Angriffe ihrer Gegner an Intensität zu.

Wenn ich die Energie im hinteren Teil des Schildes nach vorne leite, dann brauche ich keine zusätzliche Kraft um den Schild zu verstärken, überlegte sie. So würden sie länger durchhalten und hatten vielleicht eine Chance, die Sachakaner zu besiegen. Sie war sicher, niemand würde sie von hinten angreifen und entschied, es zu riskieren.

Für eine Weile schien ihr Plan vielversprechend. Ein Sachakaner brach zusammen, als Akkarin ihn mit Kraftschlag attackierte. Ihr Herz machte einen Sprung. Mit etwas Glück würden sie diese Schlacht vielleicht doch noch gewinnen können.

Plötzlich wurde sie zu Boden gerissen. Sie wollte sich befreien, doch dann sah sie, dass es Akkarin war. Karikos Dolch steckte tief in seiner Brust. Als er sie ansah, las sie die Enttäuschung in seinen Augen, dann wurde sein Blick leer.

Und da wurde Sonea klar, dass sie ihn getötet hatte. Ihr wurde kalt. Sie blickte an sich hinab, ihre Hände waren voller Blut.

Seinem Blut.

„Nein!“ Ihre Hände berührten seine Wange und sie begann zu weinen. „Das habe ich nicht gewollt. Es tut mir so leid. Bitte komm zurück!“

Sie versuchte, ihn zu heilen, hoffend dass es noch nicht zu spät war. Aber die Wunde schloss sich nicht. Verzweifelt versuchte sie es wieder und wieder, während Tränen heiß und unaufhörlich über ihr Gesicht rannen. Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden, es fiel ihr immer schwerer zu denken oder sich zu bewegen, aber sie wollte nicht aufgeben.

Sie durfte nicht aufgeben!

„Sonea“, sagte jemand und fasste sie sanft an den Schultern.

Sie schlug um sich.

„Lass mich los! Ich muss ihn retten!“

Der Griff an ihren Schultern verstärkte sich und sie machte sich bereit, sich mit Kraftschlag zu befreien …

„Sonea, wach auf“, sagte die Stimme erneut. „Es ist nur ein Traum.“

Ein Traum?

Sie schlug die Augen auf und erblickte Akkarins Gesicht dicht über ihrem. Seine Stirn war sorgenvoll gerunzelt.

Der Mond tauchte ihr Schlafzimmer in silbriges Licht. Die Welt um sie war friedlich und still und strafte ihre tränenfeuchten Wangen Lügen. Es war nur ein Traum gewesen. Aber er hatte sich viel zu real angefühlt.

Sonea setzte sich auf und vergrub das Gesicht zwischen ihren angewinkelten Knien. Sie wollte nicht, dass er sie schon wieder weinen sah. Nicht wegen eines dummen Traumes. Doch das Entsetzen, das sie in ihrem Traum verspürt hatte, weigerte sich zu weichen. So auch der damit verbundene Schmerz.

Sonea wollte, dass es endlich aufhörte. Sie hasste es, nicht darüber hinwegzukommen, ihn für eine kurze Weile verloren gehabt zu haben. Sie war kein Baby mehr. Doch seit der Schlacht suchten sie Träume, in denen er starb, immer wieder heim. Während Akkarin noch im Heilerquartier gelegen hatte, war es so schlimm gewesen, dass sie sich in manchen Nächten vor dem Einschlafen gefürchtet hatte.

In ihren ersten beiden Nächten in der Arran-Residenz, waren die Albträume jedoch fern geblieben waren. Sonea hatte geglaubt, es wäre endlich vorbei. Tatsächlich war es jedoch noch nie so furchtbar gewesen wie jetzt.

Es muss an dem liegen, was heute passiert ist, überlegte sie. Ihr Unterricht in Kriegskunst und ihr Gespräch über den Bericht für Lady Vinara mussten ihre Ängste wieder an die Oberfläche gebracht haben.

„Sonea, rede mit mir“, sagte Akkarin sanft, aber fordernd. Seine Hand strich über ihren Rücken. In diesem Moment half es jedoch nicht.

„Ich habe dich getötet“, brachte sie hervor.

„Es war nur ein Traum“, wiederholte er geduldig.

„Nein.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Es ist auch in der Schlacht passiert. Es ist meine Schuld, dass du sterben musstest, weil ich unseren Schild vernachlässigt habe. Dabei hätte ich es wissen müssen, nachdem ich dieselbe Strategie bei der Ichani verwendet hatte.“

„Sonea, sieh mich an.“

„Nein.“

Er fasste sanft ihr Kinn und drehte ihren Kopf. Sie presste ihre Lider zusammen, als würde er sie dann nicht sehen können. „Sieh mich an“, wiederholte er. Seine Stimme war noch immer sanft, doch dieser Autorität erfüllt, die es ihr unmöglich machte, sich ihm zu widersetzen. Sie erkannte, er würde nicht nachgeben, nur weil sie sich ihrer Tränen schämte. Widerwillig öffnete sie die Augen.

„Ja, du hast den Schild vernachlässigt“, sagte Akkarin. „Aber das wird dir jetzt nicht mehr passieren.“

Behutsam küsste er ihre Tränen fort und zog sie in seine Arme. Sonea ließ zu, dass er sie tröstete, obwohl sie nicht wollte, dass er sie in einem solchen Moment der Schwäche erlebte. Sie wusste, sie war härter als das.

„Warum hört es nicht auf?“, fragte sie. „Warum kann ich es nicht einfach vergessen?“

„Sonea, so funktioniert das nicht. Wenn du etwas verdrängst, nimmst du deinem Geist damit die Möglichkeit, es zu verarbeiten. Hat man dich das in Heilkunst nicht gelehrt?“

„Doch“, gab sie widerstrebend zu.

„Es ist nicht einfach, ich weiß. Ich fürchte, ich habe dir heute zu viel zugemutet.“

Sonea spürte Ärger in sich aufwallen, weil er sie schon wieder beschützen wollte, und kam sich im selben Augenblick undankbar vor.

Sie richtete sich auf, so dass sie ihn ansehen konnte. „Es musste sein“, widersprach sie. „Das hast du selbst gesagt.“

„Ja. Aber vielleicht war es noch zu früh.“

Das sah Sonea anders. Ja, es tat weh. Aber wenn sie nur darüber hinwegkommen konnte, wenn sie mit ihren Ängsten und Erinnerungen konfrontiert wurde, dann war ihr das lieber, als in der Furcht zu leben, dass diese sie immer wieder einholten. Sie hatte es satt, wegen einer Geschichte leiden zu müssen, die am Ende gut ausgegangen war.

„Ich werde es schaffen“, versicherte sie ihm. „Und wenn es dauert, solange es eben dauert.“

Akkarin schenkte ihr ein schiefes Lächeln und strich über ihre Wange. „Das habe ich auch nicht angezweifelt.“

Sonea schüttelte den Kopf. Wie konnte er nach allem, was passiert war nur so gelassen mit diesem Thema umgehen? Sie begriff einfach nicht, wie er das machte. An seiner Stelle wäre sie zutiefst verstört, würde sie wissen, dass sie für eine kurze Zeit tot gewesen war.

„Sonea, ich habe mich jahrelang darauf vorbereitet, Kariko gegenüberzutreten. Ich wusste, ich würde bei dem Versuch, ihn zu töten wahrscheinlich selbst sterben. Nachdem ich fünf Jahre lang Dakovas Sklave gewesen war, war mir mein Leben nicht mehr viel wert. Ich hatte keine Angst zu sterben. Und ich habe es aus Loyalität zu Kyralia und allem, was mir lieb und teuer ist getan.“

Sie starrte ihn an. Nicht, weil er schon wieder ihre Gedanken gelesen hatte, sondern wegen dem, was er gesagt hatte. Es war wahrscheinlich nicht schwer, sich für das Wohl einer Sache zu opfern, hatte man nichts mehr zu verlieren.

Plötzlich setzte ihr Herz einen Schlag aus. Was, wenn er es eines Tages wieder tat?

„Und jetzt?“, fragte sie die Antwort fürchtend. Aber sie musste es wissen. Wie sollte sie sonst mit ihm zusammen sein können? „Ist dir dein Leben jetzt wieder etwas wert?“

Akkarin küsste sie und ließ sich mit ihr zurück in die Kissen sinken.

- Ja.

Erleichtert schmiegte sie sich an ihn. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wäre seine Antwort anders ausgefallen. Es hätte ihre Angst, ihn erneut zu verlieren nicht gerade gemindert. Doch Sonea verstand, warum sein Leben für ihn bedeutungslos geworden war. An seiner Stelle wäre es ihr nicht anders ergangen, aber auch noch nach so langer Zeit?

Sie war schon fast wieder eingeschlafen, als sie erkannte, dass diese Frage ihr keine Ruhe ließ.

„Akkarin?“

Er murmelte etwas Unverständliches und Sonea fürchtete schon fast, ihn geweckt zu haben.

„Darf ich dich etwas fragen?“ Sie zögerte. „Es ist etwas Persönliches.“

Er seufzte leise.

„Sonea, du sollst schlafen.“

„Das ist wohl kaum möglich, wenn ich die ganze Zeit nachdenke“, gab sie zurück.

„Dann frag.“

Sonea holte tief Luft, hoffend, sie würde ihn mit ihrer Frage nicht verärgern.

„Bist du jemals über die Zeit als … bei Dakova hinweggekommen?“

Schweigen.

Sonea sah ihre Befürchtungen bestätigt. Anscheinend hatte sie ein Thema angeschnitten, über das er nicht reden wollte. Nach einer Weile begann sie sich jedoch zu fragen, ob er inzwischen nicht doch eingeschlafen war. Sie ärgerte sich über sich selbst. Wieso hatte sie damit nicht bis zum Morgen warten können? Sicher hätte sie einen Weg gefunden, sich abzulenken, bis ihre Müdigkeit irgendwann zurückgekehrt wäre.

„Nein“, antwortete er schließlich und sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Das heißt nicht bis zu dir.“

Sonea kam nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen.

„Du hast mir zugehört, ohne dir ein Urteil anzumaßen. Du hast dich mir angeschlossen, obwohl ich strikt dagegen war. Du hast dich mir widersetzt, wenn ich dabei war, einen Fehler zu begehen. Tatsächlich hast du mehr für mich getan, als ich jemals erwartet oder verlangt hätte.“

„Und ich habe angefangen, dich zu lieben.“

„Ja.“

Das war alles, was er dazu sagte. Aber er sagte es so, dass es sehr viel mehr implizierte, als in Worten auszudrücken war. Sonea lächelte und wurde dann wieder ernst.

„Und trotzdem verlangst du von mir, dass ich dir dasselbe antue, was Dakova dir all die Jahre angetan hat?“, fragte sie und strich behutsam über die Narben auf seinem Unterarm.

„Ja“, sagte er erneut. „Oder vielleicht gerade auch deswegen.“

Sie runzelte verwirrt die Stirn. „Wie kannst du das nur ertragen?“

„Ich habe eine Theorie, wie man das Abfließen von Magie verhindern kann. Wenn ich recht habe und es funktioniert, dann täten wir beide gut daran, es lernen. Als wir gegen die Ichani gekämpft haben, gab es genügend Situationen, in denen einer von uns fast auf diese Weise gestorben wäre. Das macht es wichtig genug, um die … Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.“

Sonea schauderte. Das hatte er also vorhin in der Arena gemeint. „Ich dachte immer, man kann sich nicht dagegen nicht wehren“, sagte sie. Sie hatte die Trägheit und den Verlust der Kontrolle über ihre Magie selbst erlebt. Sie konnte sich nichts vorstellen, was dagegen helfen sollte.

„Wenn man ein großes magisches Potential und einen starken Willen besitzt, könnte es möglich sein.“ Akkarin machte eine Pause und fügte dann trocken hinzu: „Bis jetzt hatte ich nie die Mittel, es auszuprobieren. Aber Dakova hat mir genügend Gelegenheiten gegeben, eine Theorie aufzustellen. Tatsächlich ist mir das jedoch erst kürzlich bewusst geworden.“

Und er brauchte sie, um es zu versuchen.

„Aber wie?“

„Das erkläre ich dir, wenn wir damit anfangen. Nach deinen Prüfungen.“

Sonea verdrehte die Augen. Immerzu musste sie Geduld haben. Wenigstens war sie sicher, Akkarin würde sein Wort halten und sie rechtzeitig einweihen. Der Gedanke an das, was er von ihr verlangte, behagte ihr indes ganz und gar nicht. Sie wusste, sie konnte damit leben, wenn er ihre Kraft nahm, damit sie lernte, sich dagegen zu wehren. Bevor sie gewusst hatte, dass sie ihm ihre Kraft auch freiwillig geben konnte, hatte sie gedacht, es gäbe nur diesen einen Weg. Aber sie konnte es nicht über sich bringen, dasselbe bei ihm zu tun.

„Ich weiß nicht, ob ich deine Kraft nehmen kann“, sagte sie leise.

„Wenn ich es dir befehle, wirst du mir gehorchen“, erwiderte Akkarin ungerührt. „Es ist zu wichtig, als dass ich dabei auf deine Gefühle Rücksicht nehmen darf. Und das solltest du auch tun.“

„Ich verstehe“, sagte sie. Doch das machte es nicht leichter. Sie konnte ihm das nicht antun. Wenigstens blieben ihr noch ein paar Wochen, um sich darauf vorzubereiten.

„Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen“, fuhr er ein wenig sanfter fort. „Du tust es schließlich nicht, um mich gefügig zu machen. So wie Dakova.“ Er unterdrückte ein leises Lachen. „So würdest du mich gar nicht mögen.“

Da hat er recht, musste Sonea zugeben.

Sie schnaubte. „Nein, das wäre irgendwie seltsam“, stimmte sie zu. Besonders angesichts dessen, was sie für ihn empfand und was er für sie war. Sie runzelte die Stirn. „Es wäre irgendwie … verdreht.“

Bevor Sonea wusste, wie ihr geschah, war Akkarin über ihr.

„Weil du es vorziehst, dass ich dich gefügig mache.“

Soneas Puls beschleunigte sich, als sie erkannte, dass er die Gelegenheit genutzt hatte, den Ernst ihrer Unterhaltung in etwas sehr viel Angenehmeres zu verwandeln.

„Das ist nicht wahr!“, protestierte sie schwach.

Akkarin lachte leise. „Gedanken lügen nicht“, murmelte er und küsste sie.

Sonea versuchte, ihn von sich zu schieben, doch er war zu schwer.

„Du liest schon wieder meine Gedanken?“, fragte sie um einen Vorwurf in ihrer Stimme bemüht.

„Das war nicht nötig. Du schreist es mir entgegen. Bei Gelegenheit sollte ich dir zeigen, wie du das vermeiden kannst.“ Akkarin hielt inne und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Vielleicht sollte ich es dich auch nicht lehren. Es ist so viel amüsanter.“

„Wie kannst du es wagen!“, rief Sonea und schlug nach ihm.

Akkarin lachte und fasste ihre Handgelenke. Sonea versuchte sich zu befreien, doch er packte sie so fest, dass es unmöglich war, sich seinem Griff zu entwinden.

„Au!“, entfuhr es ihr.

„Du tust dir selbst weh.“

Die Erheiterung in seinen Augen bemerkend begnügte Sonea sich damit, ihn anzufunkeln. Sie wusste selbst, dass es nicht weh tun würde, würde sie einfach stillhalten. Doch sie war nicht gewillt, ihm diesen Gefallen zu tun.

Akkarin schüttelte den Kopf. „Anscheinend willst du es nicht anders“, bemerkte er und drückte ihre Arme zurück in die Kissen. Sonea spürte, wie eine magische Barriere sie dort festhielt.

„Lass mich sofort los!“, verlangte sie gegen seine Magie ankämpfend.

Akkarin küsste sie verlangend. Dann spürte Sonea weitere Barrieren auf ihren Beinen.

„Nein.“

Seine Hand fuhr unter ihr Nachthemd und strich über ihren Bauch. Obwohl seine Berührung einen angenehmen Schauer in ihr auslöste und sie nach mehr verlangen ließ, zog Sonea es vor, weiterhin Widerstand zu leisten. Er sollte nicht denken, dass sie sich so leicht geschlagen gab.

„Hör auf dich mir zu widersetzen“, murmelte er dicht an ihrem Ohr. „Du verschwendest deine Kraft. Warum versuchst du es immer wieder?“

„Vielleicht weil ich dir nicht den Gefallen tun will, mich dir so einfach zu ergeben“, brachte sie hervor.

Seine Hand wanderte zwischen ihren Schenkel. Sonea hielt den Atem an und unterdrückte ein Stöhnen.

„Du bist mir doch bereits völlig ergeben.“

Es machte keinen Sinn, sich gegen ihn zu wehren, erkannte Sonea mit einem neuerlichen Schaudern. Nicht, wenn sie das gar nicht wollte.

„Aber nur, weil ich dich so sehr liebe“, brachte sie hervor.

Akkarin lächelte und beugte sich zu ihr herab. Seine Lippen streiften ihre. Dann gab er ihre Arme frei, damit sie ihn berühren konnte. Der Rest ihres Körpers blieb indes von seiner Magie gefesselt. Vorsichtig zog er ihr Nachthemd aus, wobei er die magische Barriere gerade so weit wie nötig löste.

Während seine Lippen über ihre Haut wanderten, fragte Sonea sich flüchtig, ob sie je erfahren hätte, was ihr fehlen würde, hätte sie Akkarin niemals so kennengelernt, wie sie ihn jetzt kannte. Dann schob sie alle Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

 

 

***

Kapitel 6 - Damit sie ihre Macht nicht missbrauchen

Kapitel 6 – Damit sie ihre Macht nicht missbrauchen

 

 

Die Türen der Gildehalle öffneten sich. Ein grauuniformierter Diener eilte durch den Mittelgang zur Empore der höheren Magier. Er verneigte sich und reichte Administrator Osen ein zusammengefaltetes Blatt Papier.

Rothen beobachtete, wie der Administrator es entfaltete und einen Blick darauf warf. Obwohl es nicht seine erste Gildenversammlung als Leiter der alchemistischen Studien war, hatte er sich noch nicht vollständig an seinen Platz unter den höheren Magiern gewöhnt. Es überraschte ihn, wie viel mehr er sich dadurch als Teil eines Ganzen empfand. Seine Meinung war jetzt gefragt, denn er war mehr als nur ein Zuschauer, der gelegentlich eine Lichtkugel schuf, um an einer Abstimmung teilzunehmen. Als Osen aufsah, spürte Rothen, wie seine Anspannung wuchs.

„Die Anhörung bezüglich des Wiederaufbaus von Lord Davins Wetterausguck wird vertagt“, verkündete er und schlug einen kleinen Gong.

Auf dem Gesicht des Alchemisten machten sich Ärger und Enttäuschung breit. Rothen verspürte ein jähes Mitgefühl mit dem Mann. Davin kämpfte bereits seit Jahren für die Genehmigung seines Projekts. Es schien, als würden ihm immer wieder Steine in den Weg gelegt. Rothen hatte sich für eine erneute Genehmigung ausgesprochen, weil Lord Davins Vorhersagen inzwischen recht häufig zutrafen, was seinem Projekt eine gewisse Wissenschaftlichkeit verlieh. Die endgültige Entscheidung musste jedoch durch eine Abstimmung in der Gildenversammlung geschehen und war fraglich, weil seit der Schlacht das Geld an allen Enden fehlte.

Rothen ließ seinen Blick durch die Gildehalle schweifen. Für einen Vormittag waren die Sitze erstaunlich gut gefüllt. Lord Davins Wetterforschung löste immer wieder kontroverse Diskussionen unter den Magiern aus. Der eigentliche Grund, warum fast die gesamte Gilde anwesend war, war jedoch von anderer Natur. Rothen suchte in der Menge nach Dorrien, aber keiner der grüngewandeten Magier ähnelte seinem Sohn.

Rothen verspürte eine vage Enttäuschung. Er hatte erwartet, Dorrien würde sich diese Versammlung nicht entgehen lassen. Aber wahrscheinlich war genau der Punkt in der Tagesordnung, weswegen er so fest mit Dorriens Anwesenheit gerechnet hatte, der Grund für sein Fortbleiben.

„Lord Davin, bitte kehrt zurück auf Euren Platz“, wies Osen den Alchemisten an, der noch immer vor der Empore stand an. Mit hängenden Schultern wandte dieser sich zu den Reihen der Magier und setzte sich auf einen freien Platz.

Der Administrator erhob sich verkündete mit magisch verstärkter Stimme: „Erhebt Euch und beugt Euer Knie vor König Merin, dem Herrscher über Kyralia.“

Ein Raunen ging durch die Halle. Roben raschelten, als mehrere hundert Magier sich von ihren Plätzen erhoben und auf ein Knie sanken. Rothen und seine Kollegen auf der Empore taten es ihnen nach.

Die Türen öffneten sich erneut. König Merin, gehüllt in ein kostbares, orangefarbenes Gewand, das mit seinem Incal, dem goldenen Mullook bestickt war, schritt gefolgt von seinen Beratern durch die Gildehalle. Ein goldener Halbmond baumelte an einer langen Kette aus Gold – das königliche Siegel. Er bestieg die Empore und setzte sich auf den freien Stuhl oberhalb von Balkan. Lord Rolden und Lord Mirken nahmen zu seinen beiden Seiten Platz.

„Erhebt Euch“, sprach Merin. Die Magier erhoben sich und setzten sich wieder auf ihre Plätze.

Der König nickte dem Administrator zu. „Administrator, wir können anfangen.“

Osen neigte den Kopf. „Sehr wohl, Euer Majestät.“ Er winkte den Diener herbei. „Holt sie herein.“

Der Diener verneigte sich und eilte zurück zur Tür. Nur wenige Augenblicke später kehrte er gefolgt von zwei schwarzgewandeten Gestalten zurück.

Akkarin und Sonea.

Es war immer wieder bemerkenswert, wie winzig sie neben ihm wirkte, was nicht nur an Akkarins hochgewachsener Gestalt lag. Sonea schien nervös und blickte allenthalben zu ihrem Gefährten auf. Auf ihrem Weg durch die Halle war nichts außer ihren Schritten zu hören. Vor den höheren Magiern blieben sie schließlich stehen. Akkarin berührte kurz ihre Schulter, worauf Sonea sich ein wenig entspannte.

Offenkundig stolz, eine solch wichtige Ankündigung machen zu dürfen, schwoll Osens Brust an, als er verkündete: „Die Gilde wird nun Zeuge sein, wie Lord Akkarin von Delvon, Haus Velan, und seine Novizin Sonea, seit vier Tagen wieder in die Gilde aufgenommen, vor unserem König Merin, Sohn von Terrel folgenden Eid leisten: Sie werden schwören, niemals schwarze Magie zu einem anderen Zwecke als zur Verteidigung Kyralias einzusetzen und das nur mit Erlaubnis der Gilde und des Königs. Zur Information der Anwesenden möchte ich Folgendes hinzufügen: Nach der letzten Versammlung haben die höheren Magier sich das Recht genommen, mit dem Einverständnis des Königs einige Teile des Eids abzuändern, über den wir bei der letzten Versammlung abgestimmt haben. Wir sehen darin eine Verbesserung.“

Was für ein Gefühl muss das sein, schon wieder dort unten zu stehen?, fragte Rothen sich. Noch vor wenigen Wochen hatten Sonea und Akkarin dort gestanden, als die Gilde sie für ihren Gebrauch schwarzer Magie verurteilt und ausgestoßen hatte. Jetzt sollten sie schwören, diese Macht nur auf Befehl einzusetzen. Sonea würden diesen Eid vermutlich albern finden. Ihr Respekt vor schwarzer Magie war groß und sie war viel zu anständig und ehrenhaft, um sie für finstere Zwecke zu missbrauchen. Und auch wenn Rothen gegenwärtig keine allzu hohe Meinung von Akkarin hatte, so bezweifelte er Selbiges bei ihm.

Aber es musste sein. Von nun an würde jeder, der sich der schwarzen Magie verschrieb, diesen Eid sprechen müssen. Heute würden es nur Akkarin und Sonea sein, aber eines fernen Tages würden sie Nachfolger ausbilden. Jedem in diesem Saal war bewusst, dass dieser Eid niemanden davon abhalten würde, mit schwarzer Magie Böses zu tun. Aber zumindest heute wurde er von zwei Menschen mit ehrbaren Prinzipien gesprochen. Das würde die Furcht der übrigen Magier vor Akkarin und Sonea verringern, auch wenn es noch lange dauern würde, bis die Gilde die beiden wieder als zwei von ihnen betrachten konnte.

König Merin erhob sich. „Lord Akkarin, sprecht mir nach.“

Akkarin trat vor und ging auf ein Knie, seine dunklen Augen auf den König gerichtet. Die Stille in der Gildehalle war absolut.

„Ich, Lord Akkarin von Delvon, Haus Velan, gelobe schwarze Magie nur auf Befehl der Gilde und des Königs und dann auch nur einzig zur Verteidigung Kyralias einzusetzen. Ich gelobe, mein darüber erlangtes Wissen einzig an meine Novizin Sonea weiterzugeben und sie so in schwarzer Magie zu unterweisen, dass niemand Schaden davonträgt. Ich gelobe weiterhin, meine Novizin daran zu hindern, schwarze Magie für böse Zwecke einzusetzen und dies der Gilde zu melden, sollte dieser Fall eintreten. Ich erkenne an, dass ein Bruch dieses Eids mit dem Tode bestraft wird.“

Akkarin wiederholte den Eid. Dabei strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die Rothen mit widerwilliger Bewunderung erfüllte. Als der schwarze Magier geendet hatte, erhob er sich mit einem leisen Rascheln seiner Roben.

„Dann möge nun Sonea den Eid sprechen.“

Sonea machte einen zögernden Schritt nach vorne. Rothen schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Doch sie war offenkundig zu nervös, um ihn zu bemerken. Ihr Blick war auf einen Punkt über ihm gerichtet und er konnte darin Furcht und Entschlossenheit lesen. Dann ging sie auf ein Knie.

„Sonea, sprich mir nach“, forderte Merin sie auf.

Dem verhassten Herrscher Kyralias einen Schwur zu leisten gehörte vermutlich zu den letzten Dingen, die Sonea tun wollte. In diesem Augenblick schien ihre Furcht jedoch zu überwiegen.

Als sie den Eid wiederholte, war ihre Stimme dennoch klar und deutlich.

„Ich, Sonea, gelobe schwarze Magie nur auf Befehl der Gilde und des Königs und einzig zur Verteidigung Kyralias einzusetzen oder unter Anleitung meines Mentors Lord Akkarin – und dann auch nur zu Unterrichtszwecken. Ich gelobe, meinem Mentor den Gehorsam zu verweigern und es der Gilde zu melden, sollte er mich dazu verleiten, schwarze Magie für böse Zwecke einzusetzen oder selbst schwarze Magie für einen solchen Zweck zu verwenden. Ich erkenne an, dass ein Bruch dieses Eids mit dem Tode bestraft wird.“

Nachdem sie den Eid gesprochen hatte, erhob sie sich und trat zurück an Akkarins Seite. Der Blick, den sie tauschten, war seltsam ernst. Rothen fragte sich, was sie in diesem Augenblick empfand. Dieser Eid hatte das Potential sie beide auseinander zu treiben. Egal ob einer von beiden tatsächlich dagegen verstieß.

Rothen hoffte, dies würde niemals geschehen. Er wollte sich nicht ausmalen, was das für sie alle bedeuten würde.

„Somit sind nun Lord Akkarin von Delvon, Haus Velan und seine Novizin Sonea offiziell schwarze Magier der Magiergilde von Kyralia“, verkündete Administrator Osen. Rothen glaubte, eine leise Resignation in seiner Stimme zu hören. „Lord Akkarin wird uns von nun an als Experte für schwarze Magie und Sachaka zur Seite stehen. Die Versammlung ist hiermit beendet.“

Er schlug erneut auf den kleinen Gong. Die Magier erhoben sich von ihren Plätzen und strömten nach draußen. Rothen eilte die Stufen hinab. Akkarin und Sonea standen noch immer vor der Empore.

Als Sonea ihn erblickte, lächelte sie.

„Hallo, Rothen.“

„Hallo, Sonea“, erwiderte er erfreut. „Lord Akkarin.“

Der schwarze Magier nickte kaum merklich. „Lord Rothen.“

„Wie geht es dir, Sonea?“, fragte Rothen. „Das war nicht gerade angenehm, nicht wahr?“

„Es hätte schlimmer sein können.“ Sie wirkte überraschend gefasst. „Es war nur völlig anders, als ich erwartet habe.“

„Du hast nicht damit gerechnet, dass sie von uns verlangen, einander zu verraten“, sagte Akkarin. Es war vielmehr eine Feststellung als eine Frage.

Sie nickte.

„Es war zu erwarten, dass sie das tun.“ Sein Blick wanderte zu Rothen.

Rothen erschauderte unwillkürlich. Selbst jetzt, wo er keinen Grund mehr dazu hatte, fürchtete er Akkarin. Er war noch nicht einmal sicher, ob er ihn überhaupt jemals mögen konnte. Das, was Akkarin ihm und Sonea angetan hatte, stand noch immer unausgesprochen zwischen ihnen. Sie mochte ihm verziehen haben. Doch Rothen war nicht sicher, ob er das konnte.

„Das war der einzige Weg, die Gilde davon zu überzeugen, Euch so etwas wie Vertrauen zu schenken“, sagte er. Viele Magier sahen seit der Anhörung im Sommer in Akkarins Loyalität gegenüber dem König und der Gilde seine einzige positive Eigenschaft. Nur dank seiner starken moralischen Prinzipien war es ihnen gelungen, ihn ins Exil zu schicken und nur deswegen war er zurückgekommen. Die Gilde hielt daran fest, dass sie ihn auf diese Weise kontrollieren und daran hindern konnte, die Macht an sich zu reißen. Denn sie alle waren sich bewusst, dass sie machtlos gegen ihn waren. Akkarin hatte offen zugegeben, mit schwarzer Magie getötet zu haben. Wenn er sich gegen die Gilde stellte, würde niemand ihn aufhalten können.

Plötzlich veränderte sich Soneas Gesichtsausdruck. Ihre Kiefermuskeln spannten sich an und ihr Mund wurde zu einer dünnen Linie. Bevor Rothen sich darüber wundern konnte, erklang neben ihm eine inzwischen nur allzu vertraute Stimme.

„Lord Akkarin“, sagte König Merin. „Sonea. Willkommen zurück in der Gilde.“ Er nickte Rothen zu. „Lord Rothen.

„Ich danke Euch, Euer Majestät“, sagten Akkarin und Sonea fast gleichzeitig. Letztere jedoch mit zusammengebissenen Zähnen.

Zu Rothens Überraschung lächelte der König huldvoll. „Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich dessen noch nicht auf angemessene Weise erkenntlich gezeigt habe. Jedoch habe ich noch keinen Weg gefunden, meinen Dank für das, was Ihr für Kyralia getan habt, auf eine Weise ausdrücken, die Euren Taten gerecht wird.“

„Das Vertrauen, das Ihr mir und meiner Novizin schenkt, ist mehr als genug“, erwiderte Akkarin glatt.

Der König neigte den Kopf. „Ich bedauere, das nicht schon viel eher getan zu haben. Doch jetzt entschuldigt mich bitte. Ich habe einen Termin im Palast. Aber wir werden uns schon bald wiedersehen.“

Akkarin nickte. „Auf Wiedersehen, Euer Majestät.“

„Auf Wiedersehen.“

Sonea verabschiedete sich förmlich und deutete eine unsichere Verneigung an. Jäh wurde Rothen bewusst, dass sie nicht wusste, wie man sich bei Hofe oder in Anwesenheit des Königs benahm. Woher auch? Falls der König dies bemerkte, so sah er darüber hinweg. Er nickte Rothen und den beiden schwarzen Magiern zu und schritt dann mit seinen beiden Beratern zum Ausgang.

Als er fort war, stieß Sonea geräuschvoll die Luft aus, die sie offenbar angehalten hatte.

„Das war wild“, hauchte sie um ihre Fassung ringend.

„Sonea …“, sagten Rothen und Akkarin mahnend.

Sie verzog das Gesicht. „Tut mir leid“, murmelte sie. Sie wirkte außer sich. „So nahe war er mir noch nie.“

„Er hat sicher nicht bemerkt, dass du ihn nicht besonders magst“, versuchte Rothen sie zu trösten.

„Das bezweifle ich“, sagte Akkarin. „Merin besitzt eine hervorragende Beobachtungsgabe.“

Sonea blickte unbehaglich zu ihm auf. „Glaubt Ihr, er hat etwas gemerkt?“

„Das ist möglich“, antwortete Akkarin. „Aber zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Er weiß, nicht alle Kyralier ihn mögen. Ganz besonders von jene, die nicht aus den Häusern kommen. Doch selbst in den Häusern ist er nicht überall beliebt.“

Sonea schnaubte. „Sehr beruhigend“, sagte sie in einem Anflug von Sarkasmus.

Rothen runzelte die Stirn. „Wie auch immer, du hast es nun hinter dir“, sagte er aufmunternd. „Deinen nächsten Eid brauchst du erst in zwei Jahren sprechen. Und normalerweise erscheint der König nicht zur Abschlusszeremonie.“

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Das ist richtig“, sagte Akkarin ihm. Seine Augen begegneten denen Rothens. „Meistens erscheint nur einer seiner Berater, vor dem die Absolventen ihren Eid sprechen.“

Rothen zuckte unwillkürlich zusammen und überlegte, wie er das Thema wechseln konnte.

Inzwischen hatten auch die letzten Magier die Gildehalle verlassen. Sonea blickte von Rothen zu Akkarin und zurück. Es schien, als habe noch etwas anderes außer Merins unerwartetem Auftitt ihr Missfallen erregt.

„Ich muss zurück zum Unterricht“, erklärte sie. „Es tut mir leid, Rothen. Bis bald.“

Sie sah zu Akkarin.

„Ich bringe dich zurück zu deinem Klassenzimmer“, sagte der schwarze Magier. „Einen schönen Tag noch, Lord Rothen.“

„Euch beiden auch“, wünschte er, ein Seufzen unterdrückend.

Akkarin legte eine Hand zwischen Soneas Schulterblätter und führte sie nach draußen.

Wenn man es nicht weiß, könnte man nicht auf die Idee kommen, dass die beiden ein Liebespaar sind, fuhr es Rothen durch den Kopf.

Dass Akkarin seine Beziehung mit Sonea sehr diskret behandelte, war Rothen bereits bei der Trauerfeier aufgefallen. Akkarin suchte als einziger der beiden Körperkontakt. Aber auf eine Weise, die von der Fürsorge eines Mentors sprach, dem seine Novizin nicht egal war. Sie hingegen suchte den Kontakt zu ihm nur mit Blicken, aus denen mehr hervorging, als wie bedingungslos sie ihm vertraute. Aber solange nur sie ihre Gefühle so offen zeigte, war die Beziehung der beiden sicher. Jeder in der Gilde schien bereits zu vermuten, dass Sonea in ihren Mentor verliebt war. Doch nach allem, was die beiden zusammen erlebt hatten, sollte eine jugendliche Schwärmerei nicht überraschend kommen. Rothen kam jedoch nicht umhin, sich zu fragen, ob sie sich auch so verhielt, wenn sie und Akkarin alleine waren. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf.

Besser, er dachte gar nicht erst darüber nach.

 

 

***

 

„Hm“, machte Lady Vinara. Mit einem Stirnrunzeln sah sie von dem Bericht auf, den Sonea ihr einen Tag zuvor gegeben hatte.

Sonea begegnete ihrem Blick mit unheilvoller Erwartung. Sie scheint nicht sehr zufrieden, dachte sie. Ich hätte mir nicht so viel auf Akkarins Meinung zu meinem Bericht einbilden sollen. Nicht, wenn es um etwas geht, das mit Heilkunst zu tun hat. Akkarins Wissen daüber beschränkte sich vermutlich auf das, was er als Novize gelernt hatte und was er später bei Gildenversammlungen oder irgendwelchen Besprechungen erfahren hatte. So außergewöhnlich er auch sein mochte, so war er wie jeder Magier ein Experte auf dem Gebiet der Disziplin, der er einst gewählt hatte.

Und das war in seinem Fall die Kriegskunst.

Als ihre Lehrerin sie gebeten hatte, etwas früher zu ihrem Unterricht zu erscheinen, weil sie ihr zu dem Bericht noch einige Fragen stellen wollte, hatte Sonea bereits das Schlimmste befürchtet. Seit fast einer halben Stunde fühlte sie sich einer Art Verhör durch das strenge und zuweilen sauertöpfische Oberhaupt der Heiler ausgesetzt. Es war schwierig, sich dabei nicht zu verraten.

„Mir ist noch immer unklar, wie es dir gelungen ist, Akkarins Kraftquelle zu finden. Welche Übungen hat er mit dir gemacht, die dir einen solchen Einblick erlaubt haben?“

Sonea spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Die Müdigkeit, die sie ob der vergangenen Nacht kurz zuvor noch verspürt hatte, war wie weggewischt und ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie sah keinen Ausweg, der unverfänglich genug war, dass sie ihr Geheimnis nicht preisgab. Sie konnte nur das tun, was Akkarin ihr verboten hatte.

Es tut mir leid, dachte sie, obwohl sie wusste, dass er sie jetzt unmöglich hören konnte.

„Es war, als er mich in schwarzer Magie unterwiesen hat“, log sie.

Lady Vinara runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich“, sagte sie nachdenklich. „Aber nun gut. Ich weiß zu wenig über schwarze Magie, um das wirklich beurteilen zu können. Und ich will auch nicht, dass du es mir erklärst.“

Sonea stieß einen leisen Seufzer aus. Nichtsdestotrotz glaubte sie zu spüren, dass Lady Vinara ihr nicht glaubte. Für das sauertöpfische Oberhaupt der Heiler war dieses Thema gewiss noch nicht beendet.

„Dein Bericht vermittelt den Eindruck, als hätte es länger gedauert, Akkarins magische Quelle zu finden“, fuhr Vinara fort.

Sonea unterdrückte ihre Verärgerung. Was sollte sie darauf bloß antworten? Sie hatte diesen Teil absichtlich gestreckt, in der Hoffnung es würde die intimen Details verschleiern und den Eindruck erwecken, sie und Akkarin hätten nicht miteinander geschlafen.

„Ich hatte Angst zu versagen und wusste zunächst nicht genau, was ich tun muss“, antwortete Sonea. Das zumindest war keine Lüge. Es war ihr tatsächlich so ergangen, wenn auch bevor sie den Einfall mit der magischen Quelle gehabt hatte.

„Wie deinen Körper zu verlassen und deine eigene Magie in seiner Quelle zu bündeln?“

Sonea nickte. „Aber auch danach.“

„Nun, auf solch eine Idee kommt man auch nicht so einfach“, sagte Lady Vinara. Sie machte eine Pause und ihre grauen Raubvogelaugen blickten Sonea direkt an. „Sonea, ich finde du hast in dieser Situation außerordentlichen Verstand und große Geistesgegenwart bewiesen.“

„Vielen Dank, Mylady“, sagte sie erfreut über das Lob.

Über Lady Vinaras harsches Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. Sie wandte sich wieder dem Bericht zu. „Und dann hast du auf Grund deiner Theorie seine Vitalfunktionen angeregt und ihn mit deinen Gedanken gerufen?“

„So ist es, Mylady.“ Sonea hoffte, die Heilerin würde nicht weiter bohren. Außer ihr, Akkarin und Dorrien wusste niemand, was sie ihm durch ihr Blutjuwel kommuniziert hatte, damit er zurückkam. „Ich hatte erkannt, dass sein Körper erst wieder arbeiten muss, damit seine Präsenz zurückkehren kann. Weil er eine lebendige Hülle braucht, um darin gehalten zu werden.“

Lady Vinara bedachte Sonea mit einem Blick, indem sich Strenge und eine tiefe Intelligenz, aber auch Mitgefühl widerspiegelten. „Sonea“, sagte sie. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich von dir keine befriedigenden Antworten bekommen werde. Weder heute noch in ein paar Tagen oder Wochen.“

„Wie ich bereits sagte, Mylady, ich hatte große Angst, zu versagen. Wenn ich deswegen ein Detail vergessen habe, dann bitte ich um Verzeihung.“

Lady Vinara nickte langsam. „Sollten deine Erinnerungen zurückkehren, lass es mich wissen. Und du sollst wissen, dass du jederzeit mit mir über deinen Mentor sprechen kannst.“

Sonea nickte erneut. Sie mochte Lady Vinara. Aber sie würde ihr niemals die Details ihrer Gefühle für Akkarin anvertrauen. Mit leisem Unbehagen erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie an dem Tag geführt hatten, an dem er aufgewacht war. Dennoch verspürte sie im Nachhinein Dankbarkeit für das, was die Heilerin damals getan hatte. Nicht auszudenken, was allein in den letzten Tagen hätte passieren können, würde sie nicht wissen, wie sie sich schützte.

„Vielen Dank, Mylady.“

Das Oberhaupt der Heiler verschränkte die Unterarme auf ihrem Schreibtisch und blickte Sonea direkt an.

„Sonea, ich weiß, dieses Thema ist nicht sehr angenehm für dich“, begann sie. „Und deswegen frage ich dich nur ungern nach diesen Dingen. Doch für die Heilkunst wäre es ein gewaltiger Fortschritt, wenn wir diese Methode bei Patienten, die während einer Behandlung oder einer Operation sterben, anwenden könnten.“

„Ich weiß nicht, ob es ohne schwarze Magie überhaupt möglich ist“, sagte Sonea vorsichtig.

Lady Vinara betrachtete sie nachdenklich. „Selbst wenn dem so ist, wärst du eine große Bereicherung für uns. Du hast ein unglaubliches Potential, Sonea. Aus dir könnte eine großartige Heilerin werden.“

Sonea freute sich über diese Worte. Dennoch fiel es ihr schwer, sie zu akzeptieren. „Ich habe die Heilkunst benutzt, um zu töten“, wandte sie ein.

„Weil du keine andere Wahl hattest“, widersprach Vinara ungewöhnlich sanft. „Jedes Wissen und jede Macht kann missbraucht werden. Selbst die Heilkunst ist nicht davor gefeit, wie du bewiesen hast.“

Dann müsstest du auch verstehen, dass schwarze Magie nicht böse ist, dachte Sonea.

„Sonea, von deinem ehemaligen Mentor Lord Rothen weiß ich, dass du der Gilde beigetreten bist, um Heilerin zu werden“, fuhr Lady Vinara fort. „Es wäre bedauerlich, wenn du diesen Traum aufgibst, weil du diese Disziplin auf eine Weise eingesetzt hast, die du für unmoralisch hältst.“

„Ich verstehe“, sagte Sonea langsam. Doch sie wusste nicht, wie sie der anderen Frau erklären sollte, dass es nicht nur das war, was sie zweifeln ließ. „Was ist mit den anderen Heilern?“, fragte sie.

Lady Vinara runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Nun …“ Sonea hielt inne. „Sie fürchten mich. Ich sehe es ihnen an, wenn ich ihnen auf den Fluren begegne. Sicher wäre es ihnen lieber, wenn ich mich einer anderen Disziplin zuwende.“

Die Heilerin schürzte missbilligend die Lippen. „Das darf dich bei deiner Entscheidung nicht beeinflussen, Sonea“, sagte sie streng. „Es ist wahr, einige fürchten dich. Doch ich bin sicher, das wird sich bessern, wenn sie sehen, dass du mit deiner Macht verantwortungsvoll umgehst.“

Sonea nahm diese Worte in sich auf. Sie hoffte, Lady Vinara würde recht behalten. Aber würde sie ihre Bedenken, die Heilkunst zu wählen, überhaupt überwinden können? Würde sie irgendwann aufhören sich daran zu erinnern, dass sie damit getötet hatte? Dann schoss ihr eine neue Frage durch den Kopf.

Nein, das kannst du sie nicht fragen, dachte sie dann. Damit wirst du sie bestimmt erzürnen.

Aber sie musste es wissen. Sie waren viermal die Woche einen halben Nachmittag zusammen. Sie wusste, sie würde sich in Lady Vinaras Unterricht nicht wohl fühlen, wenn sie dies nicht in Erfahrung brachte.

„Lady Vinara, fürchtet Ihr mich?“

Die Heilerin schwieg einen Augenblick.

„Nein“, antwortete sie schließlich. „Ich kenne dich gut genug, um dazu keinen Grund zu haben. Doch ich habe Respekt vor dem, wozu du fähig bist.“

 

 

***

 

Cery verließ das Lager und ging zurück zu dem Raum, den er als Esszimmer benutzte. Auf dem Tisch lagen ein Laib frisches Brot und ein großer Käse. Er hatte schon fürstlicher gegessen. Aber auch schon weitaus schlechter. Gol lümmelte sich auf einem der Stühle und entfernte den Dreck hinter seinen Fingernägeln mit seinem Messer.

Als Cery eintrat, steckte Gol das Messer wieder in seinen Gürtel und sah auf. Ein Vorteil seines noch bis vor kurzem andauernden Wohlstandes war der Luxus von richtigem Essensbesteck. Cery hätte es nicht begrüßt, hätte einer seiner Männer mit dem Messer gegessen, mit dem er sich rasierte oder seine Nägel bearbeitete.

Er stellte die Weinflasche auf den Tisch. „Das war die Letzte“, sagte er. „Ab morgen gibt’s nur noch Bol.“

Sein Leibwächter nickte nur. „Wär’ auch zu schön gewesen, auf ewig wie die feinen Leute zu leben“, brummte er.

Cery entkorkte die Flasche und schenkte ihnen beiden ein. Dann ließ er sich mit einem Seufzer in seinen Stuhl fallen. Ein weiterer anstrengender Tag, den er dem Wiederaufbau seines Territoriums gewidmet hatte, lag hinter ihm. Solange er einen Großteil seines Tages in den Trümmern der Hütten verbrachte, regelte Gol die wenigen seiner Geschäfte, die noch liefen. Cery vertraute seinem zweiten Mann genug für diese Aufgabe und Gol erledigte diese Arbeit verlässlich und gewissenhaft.

Er hob sein Glas und rang sich ein müdes Lächeln ab. „Auf die letzte Flasche Anurischer Dunkelwein!“, sagte er und sie stießen an.

„Prost!“, sagte Gol und rülpste.

Einen tiefen Schluck nehmend lehnte Cery sich zurück. „Was gibt’s Neues von meinen Klienten?“, fragte er.

„Nicht viel“, antwortete der andere Mann. „Bullin hat endlich bezahlt.“

„Hai!“, rief Cery aus. „Das’s ja mal ’ne gute Neuigkeit!“

„Wie man’s nimmt.“ Gol deutete auf das Brot zwischen ihnen. „’Nen Teil hat er mit Brot bezahlt, weil er nicht mehr Geld auftreiben konnt’. Hat uns drei Brote gebracht und sagte, er kann noch mehr bringen, wenn dir das nicht reicht.“

Cery winkte ab, wenn auch nicht allzu begeistert. „Er hat wirklich versucht, das Geld aufzutreiben“, sagte er. „Ihm erneut ’nen Tritt zu verpassen, wäre dumm. In Zeiten wie diesen müssen wir nehmen, was wir kriegen können, ohne unsere Klienten noch mehr auszunehmen. Sonst verlieren wir sie am Ende an die Konkurrenz. Wenigstens haben wir so was Ordentliches zu essen.“

„Wohl wahr!“, stimmte Gol zu. Er langte nach dem Brotmesser und schnitt sich eine dicke Scheibe von Bullins Bezahlung ab. Dann schnitt er eine mindestens ebenso dicke Scheibe Käse ab, legte sie auf das Brot und begann zu essen.

Cery betrachtete ihn neiderfüllt. Nach dem heutigen Tag hätte er hungrig sein müssen. Tatsächlich war er einfach nur müde. Dennoch schnitt er sich ein wenig Brot und Käse ab und begann sein Nachtmahl.

„Was’s mit Kun?“, fragte er. „Seine Schulden sind noch von vor der Invasion.“

„Er sagt, du kriegst übermorgen ’ne Anzahlung“, antwortete Gol kauend. „Eigentlich morgen, aber da macht er seinen Laden zu, weil Wochenende’s.“

Als ob das ein Grund wäre, nicht zu zahlen! Cery schnitt eine Grimasse. „Das sagt er seit Wochen. Langsam fang’ ich wirklich Feuer. Er kann nicht so arm sein, wie er tut. Nicht, wenn er sich’n neues Pferd für seinen Karren leisten kann.“

„Sein altes Pferd war krank“, wandte sein Leibwächter ein.

Cery schnaubte verächtlich. „Kun’s einer der wenigen in meinem Territorium, die keinen Schaden durch die Schlacht erlitten haben. Ich seh’ nicht ein, was mich sein altersschwaches Pferd kümmern soll.“

Der andere Mann erwiderte nichts darauf. Der Tuchhändler aus Vin hatte sich vor einigen Jahren in der Hoffnung, mit seinen exotischen Stoffen Profit zu machen, in Imardin niedergelassen. Seinem nur mäßigen Erfolg hatte er zu verdanken, dass er in die Hüttenviertel gezogen war. Die Hüttenleute konnten sich seine überteuerten Textilien indes kaum leisten, weswegen Cery den Vindo für einen Halsabschneider hielt. Mit seinen monatlichen Zahlungen ließ er sich zu Cerys Ärger meist viel zu viel Zeit. Cery war sicher, Kun hatte keinen Grund, mit den Zahlungen derart in Verzug zu sein, denn trotz seiner horrenden Preise verkaufte er das beste Tuch in den Hüttenvierteln und machte damit ordentliche Einnahmen. Was machte der Mann mit all dem Geld? War er vielleicht wirklich so geizig, wie man den Vindo im Allgemeinen nachsagte?

„Morgen geh ich mich davon überzeugen, wie arm er wirklich ist“, erklärte Cery finster.

„Ich komm’ mit dir“, erbot sich Gol erfreut.

Cery nickte. „Gut. Am besten, wir nehmen noch’n paar andere aus der Familie mit und machen ihm klar, dass er unseren Schutz verliert, wenn er nicht brav zahlt.“

Gol grinste. „Und dann schickst du nachts ein oder zwei Messer, um seinem Geschäft ’nen Besuch abzustatten. Natürlich so, dass er nicht merkt, dass sie von dir sind.“

Fast hätte Cery sich vor Lachen an Bullins Brot verschluckt. Hastig spülte er die Krümel mit Wein hinunter. „Hai!“, rief er um Atem ringend. „Das sollte ihn überzeugen, in Zukunft pünktlich zu zahlen.“ In jeden Fall würde ihm Kun einige Gefälligkeiten für diesen Aufschub schulden.

„Wollen wir’s hoffen.“ Gol stopfte sich die Reste seiner Brotscheibe in den Mund und griff nach dem Messer, um sich eine weitere abzuschneiden. „Wie läuft’s mit dem Aufbau der Hütten?“

Augenblicklich wurde Cery wieder ernst. „Scheiße“, sagte er. „Es fehlt viel Holz. Dafür gibt’s so viele Schindeln, dass man damit sämtliche Dächer der Hüttenviertel neu decken könnte.“

„Vielleicht kannst du mit Ravi tauschen. Ich hab’ von einem seiner Leute gehört, dass er ziemlich viel Holz zum Bauen hat.“

Cery horchte auf. „Hai! Wo hat er denn das her?“

Gol zuckte mit seinen massigen Schultern. „Vielleicht hat er gute Verbindungen zu ’nem Holzhändler. Oder er hat seine Leute selbst in die Wälder geschickt, um’s zu schlagen. Der Kerl, mit dem ich gesprochen hab’, wusst’ auch nicht mehr.“

Im Gegensatz zu anderen Teilen der Hüttenviertel war die Verwüstung in Ravis Territorium verhältnismäßig gering. So wie Cery den anderen Dieb kannte, besaß er weitaus mehr Holz, als er zum Bauen brauchte. Gewiss war Ravi sich dessen wohlbewusst und würde einen hohen Preis dafür verlangen. Cery zweifelte, dass seine Schindeln dafür ausreichen würden. Er würde sich einen guten Plan überlegen müssen.

Er schenkte sich etwas Wein nach. „Dann werden wir gleich morgen zu Ravi gehen und ihm ein Geschäft anbieten.“

 

 

***

 

Auch an diesem Tag hatte Dorrien in den Hüttenvierteln mehr Menschen behandelt hatte, als er zählen konnte. Er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft und wollte nichts lieber, als endlich schlafen. Zuvor musste er jedoch seinen Vater sprechen. Rothen frequentierte den Abendsaal mit großer Regelmäßigkeit an jedem Vierttag. Die Chancen, ihn hier zu finden, standen demnach sehr gut.

Der Abendsaal war voller, als Dorrien ihn von seinen gelegentlichen Besuchen kannte. Aus den Gesprächsfetzen, die er auf seinem Weg durch die Menge aufschnappte, drehten sich die Gespräche um die heutige Gildenversammlung. Dorrien hatte nichts anderes erwartet. Er war aus demselben Grund gekommen.

Ein Diener mit einem Tablett eilte an ihm vorbei. Dorrien griff ein Weinglas heraus. Während er davon trank, ließ er seine Augen durch den Raum schweifen.

Ganz hinten in einer Ecke entdeckte er seinen Vater. Er und sein ältlicher Freund Lord Yaldin saßen zusammen in bequemen Sesseln, offenkundig in eine angeregte Diskussion vertieft. Dorrien eilte auf sie zu.

Als Rothen aufsah und ihn näherkommen sah, hob er die Hand und winkte ihn zu sich.

„Dorrien!“, rief er überrascht. „Was tust du hier?“

„Guten Abend, Vater“, grüßte Dorrien. „Lord Yaldin.“

„Guten Abend, Dorrien“, sagte Yaldin ein äußerst griesgrämiges Gesicht machend. „Dein Vater und ich hatten gerade ein interessantes Gespräch über die aktuelle Gildenpolitik.“

„So könnte man es auch nennen“, murmelte Rothen in sein Glas.

„Geht es um die heutige Versammlung?“, fragte Dorrien hoffnungsvoll. „Leider konnte ich nicht dabei sein. Die Menschen in der Stadt brauchten meine Hilfe.“

Tatsächlich war das nur die halbe Wahrheit. Vielmehr hatte er Sonea aus dem Weg gehen wollen, weil er wusste, sie würde dort sein. Er hatte noch nicht beschlossen, wie er mit ihr umgehen sollte, jetzt wo sie unumstößlich mit Akkarin zusammen war.

„Du hast nicht viel verpasst. Wir haben jetzt zwei schwarze Magier“, antwortete Yaldin grantig. „Ganz offiziell, mit der Genehmigung des Königs.“

Dorrien bemerkte, wie sein Vater leise seufzte. Anscheinend ärgerte er sich über seinen Freund. Bis zu einem gewissen Punkt konnte Dorrien ihn verstehen, denn er hatte Akkarin und Sonea selbst in Aktion erlebt. Schwarze Magie mochte böse und verachtenswert sein, aber war sie alles, was Kyralia vor den Sachakanern schützte. Er wohnte nur einen halben Tag vom Südpass entfernt. Seit der Begegnung mit Parika war er sich der drohenden Gefahr von der anderen Seite der Berge nur allzu bewusst. Schwarze Magie war ein notwendiges Übel, doch Dorrien war weder bereit, Akkarin deswegen Sympathie entgegen zu bringen, noch Soneas Entscheidung gutzuheißen.

„Also hat sie den Eid gesprochen?“, fragte er atemlos.

Sein Vater nickte und schilderte ihm detailliert den Verlauf der Versammlung.

Bei seinen Worten spürte Dorrien, wie sich etwas in seiner Brust schmerzvoll zusammenzog. Er hatte gar nicht erst gehofft, Sonea würde der schwarzen Magie abschwören. Dafür war sie viel zu sehr davon überzeugt, das Richtige zu tun. Dass sie den Eid gesprochen hatte, hätte ihn insofern beruhigen sollen, dass er jetzt sicher wusste, sie würde keine Dummheiten damit anstellen. Aber das bedeutete auch mit einer Endgültigkeit, die ihm die Luft zum Atmen nahm, dass sie den von ihr eingeschlagenen Weg nicht mehr verlassen würde. Und das traf ihn mehr als er für möglich gehalten hatte.

„Du siehst also, weit ist es mit unserer Gilde schon gekommen ist“, brummte Yaldin verdrießlich, als Rothen mit seinem Bericht geendet hatte.

Dorrien wusste von seinem Vater, dass der betagte Magier gegen die Wiederaufnahme von Akkarin und Sonea gestimmt hatte. Nicht weil er Sonea keine zweite Chance zugestand, sondern weil er sich von dem ehemaligen Hohen Lord betrogen fühlte. Dorrien selbst hatte nur Sonea zuliebe für eine Wiederaufnahme gestimmt. Wenn es nach ihm ginge, hätte die Gilde Akkarin nach seiner Genesung auf der Stelle wieder nach Sachaka verbannt.

Bei der ersten Versammlung, bei der dieses Thema aufgekommen war, war eine hitzige Diskussion darüber entbrannt, nur einen der beiden schwarzen Magier wieder aufzunehmen. Die einen fühlten sich von ihrem ehemaligen Anführer betrogen, die anderen sahen in Sonea den Beweis, dass es ein Fehler war, Novizen aus den Hüttenvierteln aufzunehmen. Am Ende waren sie jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, Sonea und Akkarin nicht zu trennen, weil die Gilde sonst die Unterstützung beider verlieren würde. Sonea war ihrem Mentor schon einmal in die Verbannung gefolgt und würde es ohne Zweifel wieder tun. Und Akkarin würde nicht zulassen, dass die Gilde sie allein fortschickte. Zudem waren sich die Magier uneins, ob Soneas Wissen über schwarze Magie ausreichte, um allein für die Verteidigung der Gilde zu sorgen.

„Yaldin mein Freund, wir brauchen die beiden“, sagte Rothen sanft, aber eindringlich. „Ihr müsst Akkarin nicht mögen, aber Ihr solltet akzeptieren, dass er zurück ist. Ohne ihn wären wir alle nicht mehr am Leben.“

Yaldin schnaubte leise. „Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Doch die Gilde hätte ihm nicht so viel Macht geben sollen.“

„Sie hat ihm keine Macht gegeben, die er nicht bereits über uns hat“, widersprach Rothen. Dorrien musste ihm widerwillig zustimmen. Wahrscheinlich würde Akkarin selbst mit blockierten Kräften noch so etwas wie Macht ausstrahlen.

„Er ist bereits wieder ein höherer Magier“, widersprach Yaldin. „Wie lange wird es dauern, bis sie ihn wieder zum Hohen Lord machen?“

„Akkarin ist nur ein Berater“, stellte Rothen richtig. „Selbst wenn er dafür an den Treffen der höheren Magier teilnehmen wird oder bei Gildenversammlungen auf der Empore sitzt, macht ihn das noch lange nicht zu einem höheren Magier.“

„Ist es das, was Eure Kollegen sich einreden?“, fragte Yaldin.

Rothen unterdrückte ein Seufzen und sah hilfesuchend zu Dorrien.

„Es tut mir leid Vater“, sagte Dorrien. „Aber für mich hört sich das so an, als hättet ihr ihn heute zum Leiter der schwarzmagischen Studien oder so etwas ernannt.“

„Darüber müsste die Gilde in einer Versammlung erst abstimmen.“ Rothen wirkte verzweifelt. „Bei der letzten Versammlung haben sie dagegen gestimmt, dass Akkarin jemals wieder ein Amt ausüben darf. Deswegen haben wir ihm keins gegeben und dabei wird es auch bleiben. Der König würde das nicht wollen.“

Doch, das habt ihr, wollte Dorrien erwidern. Ihr wollt es nur nicht wahrhaben. Yaldin hatte recht, die Gilde hatte, wenn vielleicht auch ohne Akkarins direkten Einfluss, ihm ein inoffizielles Amt gegeben. Grund dafür war sowohl ihre Furcht vor den Sachakanern als auch ihre Furcht vor dem schwarzen Magier selbst. Dorrien schwante indes, sein Vater habe für heute genug über dieses Thema diskutiert und entschied daher seine Gedanken für sich zu behalten.

„Vergiss, was ich gesagt habe, Vater“, sagte er stattdessen. „Im Augenblick bin ich nicht ganz ich selbst.“

Rothens Augen, die so blau waren wie die seinen, begegneten ihm. Er legte eine Hand auf Dorriens Arm.

„Dorrien, sie tut nur, was sie tun muss“, sagte er sanft. „Daran kannst du nichts ändern.“

„Ich weiß“, erwiderte Dorrien leise. Er trank einen Schluck Wein. „Eigentlich bin ich auch nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich heute Nacht in meinem alten Zimmer schlafen werde.“

„Das ist schön“, sagte Rothen erfreut.

Dorrien wurde ernst. „Vater, ich reise morgen früh ab.“

Die Augen seines Vaters weiteten sich. Aber das änderte nichts für Dorrien. Sein Entschluss stand fest.

„Brauchen die Heiler dich nicht mehr?“

Dorrien schüttelte den Kopf. „Nein. Es wird Zeit, nach Hause zugehen. Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss Lady Vinara noch Bescheid geben, dass ich ab morgen nicht mehr zur Verfügung stehe.“

 

 

***

 

„Du bist nicht bei der Sache.“ Das war keine Frage. Es war eine Feststellung.

Sonea fühlte sich ertappt. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie schämte sich.

„Nein“, sagte sie und sah auf. „Bitte entschuldige.“

Sie wollte damit fortfahren, ihn zu liebkosen, doch Akkarin bekam ihren Arm zu fassen. „Dann hör auf“, sagte er mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme. „Das ist, als würde ich dich benutzen.“

Er zog sie hoch in seine Arme und hielt sie fest.

Sonea wollte erwidern, es mache ihr nichts aus, von ihm benutzt zu werden, aber sie wusste, das würde seine Entscheidung nicht ändern. Akkarin legte Wert darauf, dass sie sich ihm bedingungslos hingab, wenn sie sich liebten. Besonders im Bett schien er für ihre Gedanken und Gefühle empfänglich. Es machte keinen Sinn es überhaupt zu versuchen, wenn sie nicht zur Ruhe kam. Sie verstand, warum er darauf bestand. Sie würde es ebenfalls nicht mögen, wenn er ausgerechnet dann abgelenkt war.

„Es hat mit dem Eid zu tun, den wir heute gesprochen haben“, stellte er fest.

Sie nickte nur.

„Sonea, warum hast du den Eid geleistet, wenn du Zweifel hast?“

Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und sah ihn an. In dem gedämpften Licht der Lichtkugel, die hinter einem Wandschirm schwebte, wirkten seine Augen fast schwarz.

„Weil ich das Richtige tun will.“

Trotzdem hatte ihr dieser Eid Angst eingejagt. Das war ihr jedoch erst im Laufe des Tages bewusstgeworden. Sie fürchtete, die Gilde könne ihn verwenden, um sie beide zu trennen. Doch das war noch nicht alles, was sie beunruhigte.

Sie hatte geglaubt, diese Gedanken würden verschwinden, wenn sie erst einmal im Bett lagen. Sie hatte gehofft, Akkarins Nähe würde sie ablenken. Stattdessen hinderten ihre Ängste sie daran, sich ganz auf ihn einzulassen.

Akkarin streckte eine Hand nach ihr aus und strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Er betrachtete sie nachdenklich und Sonea fragte sich unwillkürlich, wie viel von ihrem Gedanken ihm in diesem Augenblick offenbar wurden.

„Nachdem ich Dakova und seine Sklaven getötet hatte, habe ich mir geschworen, schwarze Magie niemals für etwas Böses einzusetzen“, sagte er. „Daran habe ich mich bis heute gehalten. Und das werde ich auch weiterhin.“

„Akkarin, das brauchst du mir nicht sagen. Davor habe ich keine Angst.“

Er runzelte die Stirn. „Wovor dann?“

Sie seufzte und holte tief Luft.

„Davor, dass ich etwas Böse damit tue.“

„Sonea, das ist Unsinn“, wies er sie zurecht. „Dazu bist du viel zu gut.“

Dann frag mal die ganzen Magier, was sie von mir halten. Gewiss wartete die Gilde nur darauf, dass sie einen Fehler machte, um sie erneut nach Sachaka zu schicken oder um ihre Kräfte zu blockieren. Niemand hatte seine Meinung ihr gegenüber laut ausgesprochen, doch Sonea brauchte nur durch die Universität zu gehen, um es in den Blicken der anderen zu sehen und ihrem Geflüster zu hören, wenn sie die Köpfe zusammensteckten. Die Furcht, das Misstrauen und die Abneigung der meisten Magier waren nur schwer zu ignorieren. Einzig die Novizen schienen von ihr begeistert.

Aber sie waren naiv. Sie verstanden nicht, was sie getan hatte. Sie wussten nicht, wie es war zu töten.

„Was, wenn ich dieser Verantwortung nicht gewachsen bin?“, fragte sie. „Was, wenn ich mit dieser Macht nicht umgehen kann?“

„Allein die Tatsache, dass du das fürchtest, sollte dich beruhigen“, sagte Akkarin.

Das sah Sonea anders. Bloß über die Möglichkeit nachzudenken, ihre Macht zu missbrauchen, erschien ihr als der erste Schritt dazu, es wirklich zu tun. Wenn sie nicht vor Größenwahn gefährdet war, warum musste sie dann immerzu daran denken?

„Sonea, wenn ich nicht aus deinen Gedanken gelesen hätte wie gewissenhaft, verantwortungsbewusst und willensstark du bist, hätte ich dich niemals in schwarzer Magie unterwiesen“, fuhr Akkarin fort. „Ich hätte es abgelehnt, egal wie sehr du mich darum gebeten hättest.“

„Aber das ist fast zwei Jahre her“, wandte sie ein. „Ich habe mich verändert. Woher willst du wissen, ob ich noch immer so bin?“

Sie war nicht mehr die Sonea, die in ihm einst ihren größten Feind gesehen und schwarze Magie für böse gehalten hatte. Aber sie war auch nicht mehr die Sonea, die ihm auf Grund ihrer Ideale und ihrer aufkeimenden Gefühle nach Sachaka gefolgt war. Diese Erfahrung hatte sie verändert. Ein Teil von ihr war davon unangetastet geblieben, aber vieles andere hatte sich verändert. In mancher Hinsicht war sie härter geworden, in anderer weicher und verletzlicher. Sie überlegte, ob sie ihn bitten sollte, ihre Gedanken noch einmal zu lesen.

Akkarin bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Weil wir beide dann jetzt nicht hier wären.“ Seine Augen bohrten sich in ihre. „Und solange du bei mir bist, wirst du dich hüten, etwas anderes mit schwarzer Magie zu tun, als was ich dir befehle.“

Sonea erschauderte, doch sie verspürte zugleich eine unendliche Erleichterung, weil sie darauf vertrauen konnte, dass er sie von irgendwelchen Dummheiten abhielt. Akkarins Worte gaben ihr Sicherheit. Irgendwie schien er einen tieferen Einblick in ihr Wesen zu haben, als sie selbst. Vielleicht waren ihre Ängste wirklich unbegründet. Und sollten sie es nicht sein, so würde er dafür sorgen, dass sie es blieben.

„Das werde ich.“ Sonea lächelte. „Danke.“

Akkarin streckte seine Hand nach ihr aus und zog sie zu sich hinab. „Und jetzt mach weiter“, befahl er leise und küsste sie.

Ein angenehmer Schauer lief ihren Rücken hinab.

„Ja, Lord Akkarin“, sagte sie, unfähig sich ein unanständiges Grinsen zu verkneifen.

Dann ließ sie sich von der Hand in ihrem Nacken dorthin führen, wo immer er sie haben wollte.

Kapitel 7 - Neue Freunde, neue Feinde

Kapitel 7 – Neue Freunde, neue Feinde

 

 

Der Morgen war überraschend frisch. Die schrägstehende Sonne strahlte aus einem stahlblauen Himmel, tauchte die Welt in einen frühherbstlich goldenen Schimmer und tränkte selbst die Luft mit Gold. Das Gras war nass vom Tau und über den freien Flächen rings um die Universitätsgebäude hingen feine Nebelschwaden. Über alldem lag die friedvolle Stille eines Freitagmorgen. Es war Wochenende.

„Vergiss nicht, dich hin und wieder zu melden“, ermahnte Rothen seinen Sohn, der damit beschäftigt war, sein Pferd mit ein paar Habseligkeiten, Proviant und Medizin für die Menschen in den Bergen zu bepacken. „Und komm mich nicht erst wieder besuchen, wenn die nächste größere Katastrophe bevorsteht oder dir deine medizinischen Vorräte ausgehen.“

Dorrien verdrehte entnervt die Augen „Ich komme dich besuchen, wenn meine Arbeit es erlaubt, Vater.“

„Also nie.“ Sonea löste sich von Akkarins Seite und machte einen Schritt auf ihn zu.

Dorriens plötzliche Abreise hatte sie überrascht und mit leiser Bestürzung erfüllt. Spät am vergangenen Abend war ein Diener zur Arran-Residenz geeilt, um ihr die Nachricht zu überbringen, dass Rothens Sohn am nächsten Morgen aufbrechen würde. Obwohl Sonea bewusst gewesen war, dass er irgendwann wieder in sein Dorf in den Bergen zurückkehren würde, hatte sie nicht erwartet, er würde diesen Entschluss so kurzfristig fassen. Es hatte sie ein wenig traurig gestimmt, weil sie gehofft hatte, vorher noch einmal mit zu sprechen.

Wir werden uns wiedersehen, keine Sorge“, sagte Dorrien ein wenig sanfter.

Sonea lächelte erleichtert. „Das will ich doch sehr hoffen“, erwiderte sie.

Wahrscheinlich hatte er in den letzten Tagen viel in der Stadt zu tun und sich deswegen nicht früher bei mir gemeldet, überlegte sie. Nach ihrer Begegnung im Heilerquartier zu Beginn der Woche hatte sie befürchtet, sie und Dorrien würden niemals wieder Freunde werden. Jetzt schien er indes wie ausgewechselt, so als würde nichts zwischen ihnen stehen. Ja, sie waren wieder Freunde.

Doch das galt nur für sie allein.

Dorrien warf einen finsteren Blick zu Akkarin. „Wahrscheinlich früher, als so manch anderem lieb ist“, fügte er hinzu.

Akkarin tat, als habe er Dorriens Bemerkung nicht auf sich bezogen. „Ich danke Euch, weil Ihr Sonea geholfen habt, mein Leben zu retten“, sagte er förmlich. „Ich stehe tief in Eurer Schuld.“

„Was das angeht, sind wir quitt“, erwiderte Dorrien kalt. „Ich habe das einzig für Sonea getan. Wenn Ihr mir etwas schuldig seid, dann, dass Ihr mir die einzige Frau, die mir je etwas bedeutet hat, gestohlen habt.“

Sonea trat neben Akkarin und legte eine Hand auf seinen Arm. Sie befürchtete, die beiden Männer würden jeden Augenblick aufeinander losgehen. Wieso musste Dorrien seine Rivalität mit Akkarin so offen austragen? Und warum musste das überhaupt sein? Ihr Herz gehörte Akkarin. Dorrien war für sie nichts mehr als ein sehr guter Freund. Trotzdem wirkten die beiden Männer, als wären sie kurz davor, sich ihretwegen in der Arena zu duellieren. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Was war so besonders an ihr?

Sie war doch nur das Hüttenmädchen.

„Sonea hat sich für mich entschieden. An Eurer Stelle würde ich ihre Entscheidung respektieren und darüber hinwegkommen“, sagte Akkarin kühl.

Dorrien schwang sich auf den Rücken seines Pferdes und blickte mit schmalen Augen auf Akkarin hinab. „Wenn Ihr Sonea das Herz brecht, dann …“

„Ihr tätet besser daran, Eure Kraft nicht auf Dinge zu verschwenden, die nicht geschehen werden“, schnitt Akkarin ihm das Wort ab.

Dorrien ignorierte diese Bemerkung. Er wandte sich zu Rothen. „Auf Wiedersehen, Vater.“ Sich hinabbeugend strich er kurz über Soneas Kopf. „Pass auf dich auf, kleine Sonea.“

Dann gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte durch die geöffneten Tore der Universität.

„Irgendetwas muss ich bei seiner Erziehung falsch gemacht haben“, murmelte Rothen, während er kopfschüttelnd seinem Sohn nachschaute. „Er weiß einfach nicht, wenn es an der Zeit ist, aufzugeben.“

Ein beklommenes Schweigen trat ein, in dem niemand etwas zu sagen wagte. Sonea begann sich unwohl zu fühlen. Schließlich holte sie tief Luft. „Ich muss jetzt gehen“, sagte sie. „Ich bin zum Lernen verabredet.“

Sie sah zu Akkarin hoch und lächelte voller Zuneigung. Er erwiderte ihr Lächeln kaum merklich, doch sein Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie bedauerte, ihn nicht küssen zu können. Auch wenn das Universitätsgelände noch im Tiefschlaf lag, war sie nicht so töricht dieses Risiko einzugehen. Wie an den vergangenen Tagen hatte ihr Abschied in der Arran-Residenz stattgefunden. Irgendwie fühlte sich das für Sonea noch immer seltsam an. Sobald sie das Haus verließen, war sie nichts anderes als seine Novizin. Sie hoffte, sie würde sich daran gewöhnt haben, bevor sie ihr Studium beendet hatte und diese Maßnahme nicht mehr nötig war.

Sie schlug die Augen nieder und verneigte sich vor ihm. „Bis heute Abend, Lord Akkarin.“ Sie wandte sich zu ihrem ehemaligen Mentor. „Bis bald, Rothen.“

„Bis bald, Sonea.“

Sie wandte sich zum Gehen, doch Akkarin bekam ihren Arm zu fassen. „Solltest du das Gefühl haben, du müsstest Garrels Neffen zu Asche zu verbrennen, kommst du nach Hause“, sagte er streng.

Sonea konnte sich ein hinterhältiges Grinsen nicht verkneifen. „Er hat seine Lektion gelernt, glaube ich.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Und ihr zwei solltet das Wochenende nutzen und euch aussprechen“, wies sie die beiden Männer an und bedachte sie mit einem finsteren Blick.

Sie war erschrak, wie herrisch ihre Stimme gelang. Und wie gut es sich anfühlte. Sie erwartete nicht, dass Rothen und Akkarin eines Tages Freunde wurden, doch die Spannung zwischen ihnen war unerträglich.

Die beiden Männer betrachteten sie überrascht.

„Also von mir hat sie das nicht“, sagte Rothen mit einem entschuldigenden Blick zu Akkarin.

Akkarins Mundwinkel zuckten.

„Von mir auch nicht.“

„Also wirklich!“, rief Sonea und verdrehte die Augen. „Ihr zwei seid nicht auszuhalten!“

Mit diesen Worten stieg sie die Stufen zur Universität empor und verschwand in Richtung Bibliothek. Sie hörte Rothen noch sagen: „So, sie lernt also nun mit Regin …“

Akkarins Antwort darauf konnte sie jedoch nicht mehr verstehen.

 

 

***

 

Rothen betrachtete den Mann mit den schwarzen Roben voll Unbehagen. Dieses Gefühl rührte in diesem Augenblick jedoch weniger von seiner Furcht vor dem ehemaligen Oberhaupt der Gilde, als davor mit ihm über das zu sprechen, was noch immer unausgesprochen zwischen ihnen stand. Er war nicht sicher, ob er Akkarins Gesichtsausdruck richtig deutete, doch auch ihm schien nicht ganz wohl dabei zu sein.

Dieser Gedanke machte Rothen neuen Mut. Er holte tief Luft. „Sonea hat recht“, sagte er. „Wir sollten tun, was sie sagt. Wir müssen uns unterhalten.“

„Dem stimme ich zu.“

Rothen verspürte eine Mischung aus Erleichterung und leichter Panik. Ersteres, weil der andere Mann zu diesem Gespräch bereit war und Letzteres, weil es ohne Zweifel unangenehm würde. Wenn es vorbei ist, werde ich mich besser fühlen, redete er sich ein. Ich war schon in schlimmeren Situationen.

„Wollen wir in mein Apartment gehen?“, schlug er vor. „Dort sind wir ungestört.“

„Wie es Euch beliebt“, erwiderte der andere Mann kühl.

Schweigend ließen sie die Universität zu ihrer Linken und gingen zu den Magierquartieren. Außer einem sehr betagten Alchemisten und einem Heiler, der hektisch zu seiner Frühschicht eilte, waren die Flure verlassen. Die meisten Magier nutzten das Wochenende zum Ausschlafen. Besonders diejenigen, die am Vierttag zu lange im Abendsaal geblieben waren, wovon es nach der gestrigen Versammlung nicht wenige gab. Die eine Hälfte von ihnen hatte die offizielle Wiederaufnahme von Akkarin und Sonea gefeiert, weil sie sich nun sicherer vor den Sachakanern wähnte. Die andere Hälfte hatte ebendies als ihren Untergang begossen, weil sie glaubten, die Gilde hätte ihren schwarzen Magiern durch die leicht abgeänderten Bedingungen ihrer Wiederaufnahme zu viele Freiheiten gelassen.

Rothen konnte darüber nur den Kopf schütteln. Am vergangenen Tag war nichts geschehen, was nicht schon zuvor bekannt gewesen wäre. Obwohl die Gildenversammlung den Veränderungen in der Gilde eine gewisse Endgültigkeit verliehen hatte, die viele verstörte, fand Rothen, Akkarins und Soneas Gegnern war genügend Zeit geblieben, um sich daran zu gewöhnen oder ernsthafter gegen ihre Wiederaufnahme zu protestieren. Sie haben wirklich keinen Grund sich aufzuregen, dachte er. Aber vielleicht brauchen sie irgendetwas, über das sie sich aufregen können, damit sie glücklich sind.

Auch Rothen war länger als gewöhnlich im Abendsaal geblieben. Zahlreiche Magier waren auf ihn zugekommen und hatten ihn nach seiner Meinung zur Wiederaufnahme der beiden schwarzen Magier gefragt, was nicht immer unverfänglich war, da seine Zuneigung für Sonea allgemein bekannt war. Als er sich zurückziehen wollte, hatte er sich Lord Davin gegenübergefunden, der ihn gefragt hatte, welche Möglichkeiten ihm bezüglich des Ausgucks blieben. Erst lange nach Mitternacht war ihm die Flucht in die Magierquartiere gelungen. Ungeachtet der kurzen Nacht fühlte Rothen sich jedoch frisch und ausgeruht, was vor allem daran lag, dass er nicht so sehr dem Wein zugesprochen hatte wie seine Kollegen.

Sie stiegen eine Treppe empor und schritten den Flur entlang, auf dem Rothens Apartment lag. Rothen öffnete die Tür und bedeutete dem anderen Mann, einzutreten.

Tania trat mit einem Korb schmutziger Bettwäsche aus seinem Schlafzimmer. Als sie Akkarin erblickte, weiteten sich ihre Augen und ein ehrfurchtsvoller Ausdruck leuchtete darin auf.

„Guten Morgen, Hoher Lord“, sagte sie und verneigte sich.

„Guten Morgen“, erwiderte Akkarin. „Doch ich fürchte, ich bin nicht mehr Hoher Lord.“

Tania errötete. „Oh, für mich werdet Ihr das immer bleiben“, antwortete sie scheu.

„Das ist schmeichelhaft.“

„Sonea spricht sehr oft von Euch“, fuhr sie fort. „Sie hält ziemlich viel von Euch.“

Akkarin erwiderte darauf nichts.

Rothen schüttelte den Kopf. Wie so viele Nichtmagier hatte Tania nie verstanden, wie gefährlich schwarze Magie war. Sie hatte nie einen Grund gehabt, Akkarin zu fürchten. Stattdessen bewunderte sie ihn.

„Tania, würdest du uns bitte allein lassen?“, bat Rothen. Ihm missfiel die Richtung, in die dieses Gespräch lief. „Lord Akkarin und ich haben einige Dinge zu besprechen.“

„Natürlich, Mylord. Kann ich Euch etwas bringen?“

„Danke Tania, das ist nicht nötig.“

Tania verneigte sich und zog sich zurück. Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.

„Sie weiß es nicht“, sagte Rothen, als sie alleine waren.

„Das habe ich auch nicht angenommen.“

Rothen atmete innerlich auf. Er wollte nicht wissen, wozu Akkarin fähig war, um seine Beziehung zu Sonea geheimzuhalten, wenn er schon vor nichts zurückgeschreckt hatte, um zu verbergen, dass er schwarze Magie praktizierte. Er hatte sich an sein Versprechen gehalten und Soneas und Akkarins Geheimnis gewahrt. Einzig seinem Freund Dannyl gegenüber hatte er einige Andeutungen gemacht, weil Dannyl es bereits erraten hatte und Rothen keinen Weg gesehen hatte, sich herauszureden. Zudem war Dannyl ein Freund Soneas und in Bezug auf vertrauliche Dinge diskret.

Er wies zu den Sesseln. „Bitte nehmt Platz.“

Während Akkarin sich in einen der Sessel setzte und seine langen Beine übereinanderschlug, trat Rothen zu seiner Anrichte.

„Sumi?“

„Ja. Bitte.“

Rothen griff nach dem Krug, in dem sich noch frischer Sumi vom Frühstück befand und befüllte zwei Tassen mit dem bitteren Getränk. Mit ein wenig Magie erhitzte er die nur noch lauwarme Flüssigkeit. Er reichte Akkarin eine der Tassen und nahm dann in einem Sessel ihm gegenüber Platz.

Eine Weile tranken sie schweigend Sumi.

Rothen überlegte, ob er den Anfang machen sollte, und fragte sich, ob Akkarin wohl dasselbe dachte.

„Ich bedaure die Umstände, unter denen ich Euch und Sonea getrennt habe“, begann der schwarze Magier schließlich. „Doch es war die einzige Möglichkeit, Kyralia zu schützen.“

„Das verstehe ich jetzt“, sagte Rothen. „Doch ich wünschte, ich hätte die Wahrheit gekannt.“

„Ihr hättet die Wahrheit doch gar nicht geglaubt, Rothen.“

„Es hätte an Euch gelegen, mich zu überzeugen“, entgegnete Rothen hart. „Sonea habt Ihr doch auch überzeugt.“

„Ich habe Sonea eingeweiht, weil ich einen verlässlichen Mitwisser brauchte, der meine Aufgabe fortführt, sollte ich scheitern.“

„Ich hätte Euch helfen können, Euer Geheimnis zu wahren“, gab Rothen zurück. „Und das nicht, weil ich dazu gezwungen war. Ich hätte es freiwillig getan, wenn Ihr offen und ehrlich gewesen wärt.“ Gewiss hätte das ihm und Sonea eine Menge Leid erspart, hätten sie beide die Wahrheit schon früher gekannt. Er hätte sich nicht den Umgang mit Sonea verbieten lassen, sondern darauf bestanden, sie regelmäßig zu sehen. Und vielleicht hätte das sogar die Invasion der Ichani verhindert.

Akkarin hob eine Augenbraue. „Ihr hättet Eure Karriere riskiert, nur um etwas zu tun, wozu ich auch alleine in der Lage war?“

„Ja.“ Rothen erschauderte unwillkürlich. „Das heißt, sofern ich dabei nicht mit schwarzer Magie in Berührung gekommen wäre.“

„Lord Rothen, ich weiß Eure Hilfsbereitschaft zu schätzen. Doch ich konnte keine weiteren Mitwisser riskieren.“

„Natürlich nicht“, sagte Rothen eine Spur zu heftig und war zugleich erschrocken über seine Reaktion. Es muss an den stundenlangen Gesprächen mit Sonea in den vergangenen Wochen liegen, überlegte er. Erst diese hatten ihm wirklich bewusstgemacht, wie sehr er Akkarin zu Unrecht verurteilt hatte. Dennoch fand er, der schwarze Magier hätte besser daran getan, ihn und Sonea nicht derart zu erpressen, damit sie sein Geheimnis für sich behielten.

Einen tiefen Atemzug nehmend zwang Rothen sich, dem Blick des anderen Mannes zu begegnen. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich Euch verzeihe“, sagte er dann. „Was nicht heißen soll, dass die letzten anderthalb Jahre damit vergessen sind.“

Akkarin nahm das mit einem kaum merklichen Nicken zur Kenntnis. Es schien als habe er nichts anderes erwartet.

„Und ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen, dass ich Euch für ein Ungeheuer gehalten habe“, fuhr Rothen fort. „Ich habe mich in Euch getäuscht. Das bereue ich jetzt.“

„Angesichts der Umstände ist das verständlich.“

Akkarin leerte seine Tasse und stellte sie auf einem kleinen Tisch neben seinem Sessel ab. Seine Fingerspitzen aneinandergelegt, betrachtete er Rothen mit einem Blick, der so durchdringend war, dass Rothen sich zu fragen begann, ob der andere Mann in diesem Augenblick seine Gedanken las.

„Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen“, sagte Akkarin schließlich. „Doch wenn es irgendetwas geben sollte, wie ich Euch für die letzten anderthalb Jahre entschädigen kann, lasst es mich wissen.“

Es gibt nichts, was das wieder gutmachen könnte, dachte Rothen unwillkürlich.

Anderthalb Jahre hatte er nicht mit Sonea sprechen dürfen. Wie es ihr erging, hatte er nur aus dritter Hand von einem ihrer Lehrer oder durch Tania erfahren. Die meiste Zeit hatte er in der Sorge gelebt, Akkarin könne ihr etwas antun oder sie in seine finsteren Machenschaften hineinziehen. Auch wenn Akkarin das letztendlich getan hatte, um Kyralia vor den Sachakanern zu schützen, fiel es Rothen schwer, zu verzeihen, dass dieser ihn und Sonea getrennt hatte.

Und mit einem Mal wusste er, was er einfordern wollte.

„Ich möchte an jedem Ersttag mit Sonea zu Mittag essen.“

„Das müsst Ihr mit Sonea ausmachen“, sagte Akkarin kühl.

Rothen blinzelte verwirrt. „Isst sie denn nicht mit Euch zu Mittag?“

Der schwarze Magier schüttelte den Kopf. „Sie frühstückt mit mir und kommt zum Abendessen zurück. Mittags pflegt sie in der Universität zu essen. Es wäre eine unsinnige Zeitverschwendung, die Mittagspause zuhause zu verbringen. Zudem braucht sie den Kontakt zu den anderen Novizen.“

Diese Antwort überraschte Rothen. Er hätte nicht gedacht, Akkarin würde Sonea so viele Freiheiten lassen. Dann rief er sich jedoch ins Gedächtnis, dass die beiden jetzt ein Paar waren. Sonea wäre gewiss nicht begeistert, würde er ihr Vorschriften machen, die über ihre Ausbildung hinaus gingen.

„Wenn das Euer Wunsch ist, werde ich Sonea heute Abend fragen, ob sie morgen mit Euch essen möchte“, bot Akkarin an. „Ich bin sicher, sie wird zusagen.“

„Danke“, sagte Rothen erfreut. Er stellte seine Tasse zur Seite. Dann lehnte er sich zurück und überlegte, wie er seine nächsten Worte am besten wählte. „Ich habe mich zu diesem Gespräch nicht nur bereit erklärt, um unsere Differenzen beizulegen“, begann er. „Ich möchte auch über Sonea sprechen.“

Akkarin runzelte die Stirn. „Inwiefern?“

„Bis jetzt habe ich Euch geholfen, Euer Geheimnis zu wahren“, sagte Rothen. „Ich habe dafür gesorgt, dass Euch die höheren Magier in der Arran-Residenz wohnen lassen. Dies habe ich jedoch hauptsächlich Sonea zuliebe getan. Sollte ich herausfinden, dass Ihr sie schlecht behandelt oder Eure Absichten Ihr gegenüber unehrenhaft sind oder Soneas Ausbildung unter dieser Beziehung zu Euch leidet, dann werde ich nicht zögern und Euch bloßstellen.“

Akkarin bedachte ihn mit einem langen, berechnenden Blick.

„Ich verstehe Eure Bedenken gegenüber meiner Person“, sagte er schließlich. „Aber ich kann Euch versichern, ich habe Sonea gegenüber nichts als ehrenhafte Absichten. Ihre Ausbildung ist mir wichtiger denn je. Ich werde zu verhindern wissen, dass sie sich durch mich von ihrem Studium ablenken lässt.“

Leise stieß Rothen die Luft aus, die er angehalten hatte. Die Ernsthaftigkeit, mit der Akkarin die Worte gesprochen hatte, überzeugten ihn davon, dass der andere Mann Wort halten würde.

Der schwarze Magier hob die Augenbrauen, als wäre er überrascht, dann fixierte er Rothens Blick. „Vielleicht wollt Ihr das nicht hören, Lord Rothen, doch ich liebe Sonea“, sagte er ungewöhnlich ernst. „Ich liebe sie bereits sehr lange. Ich möchte, dass sie glücklich ist. Es käme mir nie in den Sinn, ihr Schaden zuzufügen.“

Rothen zuckte zusammen. „Wie lange schon?“, brachte er hervor.

Akkarin schien amüsiert. „Das wollt Ihr nicht wissen.“

So wie er das sagte, wollte Rothen das wirklich nicht wissen. Zugleich quälte es ihn, es nicht zu tun. Widerwillig musste er Akkarin jedoch positiv anrechnen, dass er sich von Sonea ferngehalten hatte, solange sie seine Gefühle nicht erwidert hatte.

Sie ist erwachsen, rief er sich ins Gedächtnis. So etwas musste früher oder später passieren. Ah, aber warum muss es ausgerechnet Akkarin sein?

Er unterdrückte ein Seufzen. Obwohl etwas in seinem Inneren sich vehement dagegen wehrte, den schwarzen Magier zu mögen, spürte Rothen instinktiv, dass Sonea mit diesem Mann eine gute Wahl getroffen hatte. Akkarin war mysteriös, furchteinflößend und distanziert, aber er war auch ein Mann von Ehre. Soweit Rothen wusste, hatte Akkarin nur ein einziges Mal gelogen. Um Sonea zu beschützen.

Vielleicht ist er doch nicht so übel, wie ich geglaubt habe, überlegte er. Vielleicht sollte ich Soneas Urteil mehr vertrauen. Sie wäre nicht so verrückt nach ihm, wenn er wirklich das Ungeheuer wäre, für das ich ihn immer gehalten habe.

„Möchtet Ihr noch Sumi?“, fragte er mit einem unbeholfenen Lächeln.

„Gern.“

Sie genossen ihre zweite Tasse Sumi in erneutem Schweigen. Dieses Mal empfand Rothen die Stille zwischen ihnen weniger befremdlich, als bei ihrer ersten Tasse. Er dachte darüber nach, ob es überhaupt noch etwas zu sagen gab. Doch auch Akkarin schien keinen weiteren Klärungsbedarf zu haben. Ihre Unterhaltung war kurz gewesen, aber es war alles gesagt, was gesagt werden musste.

Schließlich stellte Akkarin seine Tasse beiseite. „Wenn Ihr keine weiteren Anliegen habt, werde ich nun gehen. Ich muss noch ein paar Bücher für unsere Bibliothek in Auftrag geben. Ich werde Sonea ausrichten, sie soll Euch bezüglich morgen Mittag rechtzeitig eine Nachricht zukommen lassen.“ Er erhob sich mit einem leisen Rascheln seiner Roben. „Ich danke Euch für den Sumi und dieses aufschlussreiche Gespräch, Lord Rothen.“

Erneut fiel Rothen Akkarins Ausdrucksweise auf. Er hatte unsere Bibliothek gesagt und zuvor Sonea würde nach Hause kommen. Er konnte nicht glauben, dass Akkarin sich in der Absicht, ihn zu manipulieren, so ausgedrückt hatte. Denn dann hätte er sich anders verhalten. Nein, solche Worte wählte man nur, wenn man mit jemandem zusammenlebte.

Akkarin hatte bereits die Hand auf den Türknauf gelegt, als Rothen einen Entschluss faste. Er räusperte sich.

„Bevor Ihr geht, solltet Ihr eines noch wissen.“

Der schwarze Magier wandte sich um und Rothens Mut sank erneut.

„Ja?“

Rothen holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Das, was er sagen wollte, fiel ihm alles andere als leicht. Doch nach allem, was er von Sonea während der letzten Wochen erfahren hatte, und nach diesem Gespräch schien es ihm angemessen. Er hatte nie gedacht, diese Worte jemals zu einem anderen Mann zu sagen, der seine Sonea begehrte. Überhaupt hatte er lange Zeit vielmehr geglaubt, ein solches Gespräch eines Tages mit seinem Sohn zu führen.

Aber ganz bestimmt nicht mit Akkarin.

„Ihr wisst, dass Sonea für mich wie eine Tochter ist“, begann er ernster, als er beabsichtigt hatte. Unter Akkarins kühlen Blick schien sein Mut weiter zu schwinden. „Ihr Wohlergehen liegt mir mehr am Herzen, als das eigene. Ich habe immer versucht, sie zu beschützen. Und genau wie Ihr möchte ich, dass sie glücklich ist.“

Er stockte, dann sah er dem anderen Mann in die Augen.

„Falls Ihr beabsichtigt, sie eines Tages zur Frau zu nehmen, so habt Ihr meinen Segen.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über Akkarins Lippen. „Danke“, sagte er leise. „Eure Worte bedeuten mir mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt.“

 

 

***

 

Obwohl Wochenende war, herrschte in den Hüttenvierteln reger Betrieb. Die wenigsten Bewohner konnten sich einen freien Tag in der Woche leisten. Ganz besonders nicht, wenn die Hälfte der Hütten in Trümmern lag.

Cery und Gol schritten eine der wenigen unversehrten Straßen im besseren Teil der Hüttenviertel entlang. Ihnen folgten vier von Cerys Leuten. Nach der Schlacht von Imardin hatte Cery es aufgegeben, vor seinen Klienten so zu tun, als würde er für den mysteriösen Dieb Ceryni die Drecksarbeit erledigen. Inzwischen war sein Gesicht in seinem Territorium und darüber hinaus wohlbekannt. Cery bedauerte das jedoch nicht. Denn nur so hatten die er und die Diebe die Hüttenleute vor den Ichani in Sicherheit bringen können. Entgegen seinen anfänglichen Befürchtungen wurden er und die anderen Diebe seitdem sogar noch mehr von den Hüttenleuten respektiert.

Vor einem kleinen Laden blieben sie stehen. Im Schaufenster lagen mehrere Ballen bunter Stoff aus.

Gol rüttelte an der Tür. „Sie’s zu“, stellte er fest. „Scheint wirklich Geld zu haben.“

Cery nickte. Alle anderen Läden in dieser Straße hatten bereits geöffnet. Das bestärkte ihn in seinem Vorhaben, Kun einen Denkzettel zu verpassen. Er wandte sich zu seinen Begleitern. Auf sein Zeichen verschwanden zwei der Männer hinter dem Haus. Nur wenige Augenblicke später kehrte einer von ihnen zurück und machte das Zeichen für ’alles klar’.

„Komm“, sagte Cery zu seinem Leibwächter. Mit einem Blick zum Rest seiner Truppe fügte er hinzu: „Und ihr zwei bleibt hier und haltet ein Auge auf die Vordertür. Aber unauffällig.“

Die beiden Männer nickten und schlenderten ein Stück die Straße entlang, wobei sie die Auslagen der anderen Geschäfte betrachteten. Cery und Gol schritten derweil rechts an der Hauswand entlang. Hinter dem Haus verbreitete sich der Weg zu einem Hof, an den ein Stall und ein Lagerraum grenzten.

„Lager und Stall’s sauber“, verkündete der erste der Männer, die Cery vorgeschickt hatte. „Und Kerran hat die Hintertür geknackt.“

Dann schliefen Kun und seine Familie also noch. Cery grinste in sich hinein. Er würde Kun ein Erwachen bereiten, das er so schnell nicht vergessen würde.

„Gute Arbeit“, sagte er. „Wartet hier. Gol und ich gehen rein.“

Während die beiden Männer rechts und links von der Tür Stellung bezogen, betraten Cery und sein Leibwächter das Haus des Tuchhändlers. Sie fanden sich in einer Küche wieder. Das Feuer im Herd war heruntergebrannt. An einer Wand hingen mehrere Pfannen. Die Küche war jedoch überraschend sauber und aufgeräumt.

Cery ließ sich auf einem der Stühle nieder und legte die Füße auf den Tisch. „Lass uns hier warten“, sagte er. „Irgendwann wird er schon aufstehen.“

Gol grinste. „Soll ich mal rumgucken, was’s hier so zu essen gibt?“

„Nur zu“, forderte Cery ihn auf. „Er schuldet mir eh’ genug.“

Sein Leibwächter begann in Schränken und Regalen zu stöbern, wobei er sich keine Mühe gab, leise zu sein. Schließlich kehrte er mit einem Laib Brot, einem Schinken und einem Krug Bol zurück. Er durchsuchte die Küche ein weiteres Mal und brachte ein Messer und zwei Becher zum Tisch. Cery schnitt sich eine dicke Scheibe Schinken ab und lehnte sich genussvoll kauend zurück.

Gol säbelte zwei Scheiben Brot ab, zwischen die er eine Scheibe Schinken legte. Dann trank er einen tiefen Schluck Bol und rülpste geräuschvoll.

„So gut, wie Kun’s hier hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er nicht zahlen kann“, bemerkte er.

„Ich auch nicht.“ Cery sah sich um. Die meisten seiner Klienten wohnten in schäbigeren Behausungen. Er würde das Geld aus dem Tuchhändler herauspressen, egal wie. Und er würde keine Kompromisse eingehen.

Während sie aßen, machten sie sich keine Mühe, leise zu sein. Je lauter sie waren, desto schneller würde Kun aus seinem Bett kriechen.

Plötzlich erklang ein leises Tapsen.

Alarmiert hob Gol den Kopf. „Was’s das?“

Er zog sein Messer und sah sich um.

„Weiß nicht“, antwortete Cery. „Hört sich an wie ein Yeel … hai!“

Ein kleines Mädchen stand in der Küchentür. Als sein Blick auf die beiden Männer fiel, stieß sie einen schrillen Schrei aus und stürmte davon. Den Geräuschen ihrer Schritte nach zu urteilen lief sie eine Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Für einen Augenblick tat Cery das Mädchen leid. Er hatte sie nicht erschrecken wollen.

Mit einem Grinsen sah er zu Gol. „Kun’s sicher gleich bereit, uns zu empfangen.“

Sein Leibwächter gluckste nervös.

„Was’s los, Gol? Hat dir die Kleine etwa ’nen Schrecken eingejagt?“

Gol erwiderte nichts darauf, aber sein mürrisches Gesicht sagte genug. Cery lachte.

In dem Zimmer über ihnen waren nun Stimmen zu hören, dann erklangen Schritte. Wenige Augenblicke später betraten der Tuchhändler und eine Vindo-Frau die Küche. Als sie die beiden Diebe essend an ihrem Küchentisch erblickten, erstarrte das Paar und die Augen der Frau weiteten sich vor Entsetzen.

„Guten Morgen, Kun“, sagte Cery mit gespielter Höflichkeit. Neben ihm rülpste Gol erneut nach einem zweiten Becher Bol. „Hast du gut geschlafen?“

„Ceryni“, brachte der Mann hervor. „Ich hab’ deinem Gehilfen schon gesagt, dass du morgen ’ne Anzahlung kriegst.“

„Ich warte schon sehr lange auf mein Geld“, sagte Cery noch immer freundlich. „Ich will die Anzahlung sofort. Langsam verlier’ ich die Geduld. Wenn ich mir dein Haus so ansehe, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass du das Geld, das du mir schuldest, nicht aufbringen kannst.“

Kun wandte sich zu seiner Frau. „Jinda, geh nach oben“, zischte er.

Die Frau gehorchte wortlos und verschwand.

„Die Geschäfte laufen schlecht in letzter Zeit“, verteidigte sich der Tuchhändler, nachdem sie fort war. „Ich brauche mehr Zeit, Ceryni.“

„Die Leute brauchen ihr Geld, um ihre Häuser wiederaufzubauen. Da bleibt nix um deine Wucherpreise zu bezahlen.“

Kun öffnete protestierend den Mund, doch Cery schnitt ihm das Wort ab.

„Das Mädchen vorhin. Ist das deine Tochter?“

Der Tuchhändler nickte schwach.

„Gut“, sagte Cery gedehnt. Er nahm die Füße vom Tisch und richtete sich auf. „Du wirst mir die Hälfte deiner Schulden jetzt auszahlen“, fuhr er in einem weniger freundlichen Ton fort. „Den Rest gibst du mir in ’ner Woche. Wenn du das nicht tust … dann werd’ ich mir bis dahin überlegen, ob ich dir’n Messer schicke oder dir meinen Schutz verwehre oder …“, er machte Pause und sah Kun fest in die Augen, „… ob ich mir deine Tochter als Pfand hole. Sie’s ’n wirklich süßes Ding.“

Kun war blass geworden. „Nicht meine Tochter“, hauchte er. „Sie hat damit nix zu tun.“

Cery lächelte breit. „Dann verstehen wir uns.“

Zehn Minuten später verließen er und Gol mit einer ordentlichen Anzahlung das Haus des Vindo.

„Auf zu Ravi“, sagte er zu seinen Begleitern und sie wandten sich zum nächsten Zugang zur Straße der Diebe.

„Hast du das mit dem Mädchen ernst gemeint?“, fragte Gol, während sie durch die unterirdischen Tunnel schritten.

Cery brach in lautes Gelächter aus. „Nein, aber sein Gesicht war’s wert!“, rief er.

„Hai!“, machte Gol und stimmte in sein Gelächter mit ein.

Als Dieb hatte Cery gewisse Prinzipien für den Umgang mit seinen Klienten. Er scheute nicht davor zurück, einem Squimp ein Messer zu schicken. Doch er erpresste andere weder mit Geiseln noch verging er sich an kleinen Kindern. Und er achtete sehr genau darauf, dass seine Familie sich daran hielt. Die anderen Diebe mochten das anders halten, doch Cery empfand sich auch als Beschützer der Menschen in seinem Territorium. Er wusste indes, es würde ihn den Respekt seiner Klienten kosten, wüssten sie von dieser Regel.

Nachdem sie eine halbe Stunde durch die Tunnel gewandert waren, verließen sie diese in dem Hinterhof eines Bolhauses. Auf einem Fass saß ein bulliger Mann, der damit beschäftigt war, Messer in eine Holzwand zu werfen. Als Cery und seine Begleiter den Hof betraten, sah er auf.

„Ich will zu Ravi“, verlangte Cery.

Der Mann stutzte. „Und wer bist du?“

„Ceryni.“

Der bullige Mann begann zu lachen. „Das hätt’ ich mir denken können!“

Cery schnitt eine Grimasse. „Bringst du mich jetzt zu Ravi?“, fragte er ungehalten.

„Ja.“ Der andere Mann deutete auf Cerys Begleiter. „Aber deine Leute bleiben hier.“

Nicht jeder Dieb mochte es, von seinen Kollegen in Begleitung von dessen Leibwächtern aufgesucht zu werden. Allerdings mochte es auch nicht jeder Dieb, ohne Begleitschutz einen anderen Dieb zu besuchen.

„Ich will, dass Gol mitkommt“, verlangte Cery.

Der Mann musterte Cerys Leibwächter, als wolle er abschätzen, ob er es mit ihm aufnehmen konnte. „Meinetwegen. Aber er kommt nicht mit rein zu Ravi.“

Cery nickte und schob sein Unbehagen beiseite. Er kannte Ravi, seit sein Vater gestorben war, und sie hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Er bezweifelte, der andere Dieb würde die Gelegenheit nutzen, um ihn aus dem Weg zu schaffen.

Der bullige Mann verband ihnen die Augen und führte sie zurück in die Tunnel. Nach einem längeren Marsch und mehreren Richtungswechseln traten sie durch eine Tür. Cery hätte nicht sagen können, in welchem Teil der Tunnel sie sich befanden. Sein Führer hatte ihn unterwegs mehrmals um die eigene Achse gedreht, was schließlich dazu geführt hatte, dass Cery seine Orientierung gänzlich verloren hatte.

Cery hörte, wie jemand gegen Holz klopfte.

„Ceryni für Ravi“, hörte er den bulligen Mann sagen.

Das leise Quietschen einer Tür erklang und Cery wurde vorwärts geschoben.

„Nimm ihm die Binde ab“, sagte eine vertraute Stimme und Cery spürte, wie jemand den Knoten seiner Augenbinde löste.

Gegen das helle Licht blinzelnd blickte Cery sich um. Er befand sich in einem engen, aber komfortablen Raum. An den Wänden hingen kostbare Gemälde, die entweder Diebesgut oder Gefälligkeiten waren. An einer Wand standen ein Schrank und eine Anrichte, auf der mehrere Weinflaschen standen. Ravi saß hinter einem Schreibtisch und lächelte.

„Ceryni“, sagte er. „Ich bin überrascht, dich zu sehen. Was führt dich in mein bescheidenes Versteck?“

„Ich bin gekommen, um dir ’nen Handel anzubieten.“

Der andere Dieb musterte ihn mit schmalen Augen. „Was könntest du besitzen, was ich von dir wollen würde?“

„Schindeln“, sagte Cery. „Ich hab’ mehr, als ich für die Bauarbeiten in meinem Territorium brauche. Und man erzählt sich, du hättest ’ne Menge Bauholz.“

„Mit dem ich die Hütten in meinem Territorium wieder aufbauen will.“

„Komm schon, Ravi, von einem Nagetier zum anderen. So viele Hütten sind in deinem Territorium nicht zerstört. Und ich weiß zufällig, dass du keine Schindeln hast.“

Ravi lachte leise und schüttelte den Kopf. „Ceryni“, erwiderte er sanft und breitete die Hände in einer gönnerhaften Geste aus. „Die Schindeln, die ich brauche, würden niemals das ganze Holz aufwiegen, das du für den Wiederaufbau deiner Hütten brauchst. Dafür könnt’ ich dir Holz für höchstens zehn Hütten geben. Du musst mir schon’n wenig mehr bieten.“

Cery besaß nichts, was dem anderen Dieb im Gegenzug geben konnte. Er leistete seinen Beitrag zum Wiederaufbau der Hüttenviertel, indem er den Bewohnern Baumaterialien zur Verfügung stellte. Er hatte die Zahlungen all jener ausgesetzt, die von der Schlacht in den Ruin getrieben worden waren, weil er wusste, die Hüttenleute würden sich erkenntlich zeigen sobald sie ihr Leben wieder aufgebaut hatten. Aber das würde Zeit brauchen.

In seiner Tasche hatte er noch die Anzahlung des Tuchhändlers. Doch die würde ihm höchstens Holz für zwei Hütten einbringen. Und davon musste er seine Männer bezahlen und mit Essen versorgen, damit sie weiterhin für ihn arbeiteten. Er befand sich in einer verzweifelten Situation. Jetzt kam es darauf an, wie viel Dieb er wirklich war und ob das reichte, um zu überleben.

„Sag mir, was du willst und ich besorg’s dir, sobald meine Geschäfte wieder laufen.“

Der andere Dieb tat als zögere er. „Ich weiß nicht, Ceryni“, sagte er. „Du hast deinen größten und wichtigsten Klienten verloren. Was, wenn du deine Geschäfte nicht geregelt kriegst? Wie steh’ ich dann da?“

Cery unterdrückte ein Seufzen. Es war etwas anderes, einem seiner Klienten zu drohen, als mit einem anderen Dieb zu verhandeln. Während die meisten Klienten leicht einzuschüchtern waren, versuchten die anderen Diebe Selbiges bei ihm. Und es gefiel ihm nicht, dass Ravi in einer offenen Wunde bohrte. Es rief ihm wieder ins Gedächtnis, dass ein Dieb niemals der Freund eines anderen Diebes war. In diesem Augenblick machte diese Tatsache ihn jedoch wütend.

„Als es darum ging, die Stadt zu verteidigen, haben alle Diebe zusammengearbeitet. Warum können wir nicht zusammenarbeiten, um die Stadt wiederaufzubauen? Wir profitieren doch alle davon.“

„Weil die Zerstörung nicht bei allen Dieben gleich groß ist. Diejenigen mit dem geringsten Schaden hätten am Ende den größten Nachteil.“

Du meinst wohl Vorteil. Cery schnaubte verächtlich. Warum musste jeder Dieb immer nur an seinen eigenen Profit denken? Ravi schien dabei jedoch schlimmer zu sein, als die übrigen Diebe. Selbst Sevli und Limek, die beide dadurch, dass ihr Territorium die Märkte umschloss, in den letzten Jahren ein ordentliches Vermögen angehäuft hatten, hatten in den Wiederaufbau der Stadt investiert, weil sie verstanden hatten, dass sie davon langfristig mehr profitieren würden.

„Ich werd’ dir alles zurückzahlen, sobald ich wieder im Geschäft bin“, versprach Cery. „Mehr kann ich dir nicht bieten. Du hast mein Wort, dass ich dich nicht squimpe. Oder zählt das Wort eines Diebes nix mehr?“

Ravi entblößte seine spitzen gelben Zähne und schenkte ihm ein raubtierhaftes Lächeln. „Ah Ceryni, bevor du dir dein Geschäft ruinierst und anfangen musst, für mich zu arbeiten – warum fragst du nicht bei den anderen Dieben, ob sie Schindeln brauchen? Vielleicht bieten sie dir im Gegenzug was, wofür ich dir dein Holz geben würde?“

Weil mich das ihren Respekt kosten würde, dachte Cery in einem Anflug von Verzweiflung. Er hatte über diese Möglichkeit bereits nachgedacht. Wie würde das aussehen, wenn der noch vor wenigen Wochen mächtigste aller Diebe bei seinen Kollegen betteln ging? Vielleicht, wenn er seine Spione schickte, um herauszufinden, welche Tauschgeschäfte er mit den anderen Dieben machen konnte, und ihnen dann einen direkten Handel anbot und Ravi niemandem von seinen Schwierigkeiten erzählte… vielleicht würden sie seine Notlage dann nicht bemerken.

Er unterdrückte ein resigniertes Seufzen.

Hatte er überhaupt eine Wahl?

„Dann sag mir, was du für dein Holz willst, Ravi.“

 

 

***

 

Für einen Freitag war die Novizenbibliothek war nur mäßig gefüllt. Für gewöhnlich kamen am Wochenende nur Novizen aus den höheren Jahrgängen her und das nur selten vor dem Mittagessen. Die jüngeren Novizen nutzten den freien Tag, um ihre Familien in der Stadt zu besuchen, oder ins Theater oder zu Pferderennen zu gehen. Sonea wusste, die Novizen aus den Häusern waren froh, zumindest an einem Tag in der Woche so lange schlafen zu können, wie sie es von zuhause gewohnt waren.

Sie selbst hatte das nie verstanden. Für die Hüttenleute war ausschlafen ein unbezahlbarer Luxus und Sonea hatte ihren Tagesrhythmus, seit sie in der Gilde war, nicht geändert. Es war so viel schöner, die morgendliche Stille zu genießen, als von den anderen Novizen belagert zu werden. Sie war dankbar, dass Akkarin selbst nicht lange zu schlafen pflegte, denn sie ahnte, dass ihr andernfalls das Aufstehen sehr viel schwerer gefallen wäre.

Lady Tya saß an ihrem Schreibtisch und sah Listen entliehener Bücher durch.

„Guten Morgen, Lady Tya“, grüßte Sonea und verneigte sich.

Die Bibliothekarin zuckte zusammen. Als sie Sonea erblickte, weiteten sich ihre Augen.

„Guten Morgen“, murmelte sie kaum hörbar und sah zu Boden.

Sonea verspürte eine vage Enttäuschung. Früher hatte sie Lady Tya oft beim Sortieren der Bücher geholfen. Sie hatten sich gut verstanden, aber jetzt konnte die Bibliothekarin ihr nicht einmal mehr in die Augen sehen.

Sie verdrängte die Frage, ob die andere Frau sich so verhielt, weil sie sie fürchtete, oder weil sie ihr nicht verziehen hatte. Offenkundig empfanden manche Magier ihren Entschluss, schwarze Magie zu erlernen, auch nachdem sie die Gilde vor den Ichani gerettet hatte, als Verrat. Ob das auch für die zierliche Bibliothekarin galt? Sonea seufzte. Wenn sie sich bei jedem Magier und jedem Novizen, der ihr auf diese Weise begegnete, diese Frage stellte, würde sie noch verrückt werden.

Ich sollte dankbar sein, wieder hier sein zu dürfen, dachte sie. Das letzte Mal, als sie die Gilde verlassen hatte, hatte sie geglaubt, niemals wieder zurückzukehren.

Sie sah sich um. Bis auf drei Novizen aus dem fünften Jahr war die Bibliothek verlassen. Tatsächlich hatte sie nicht erwartet, Regin jetzt schon hier vorzufinden. Sie hatte ihm am vergangenen Tag nur gesagt, dass sie früh hier sein würde. Sonea schwante jedoch, dass sie beide eine unterschiedliche Definition von früh hatten. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob er überhaupt auftauchen würde. Dann entschied sie jedoch, nicht allzu schlecht von ihm zu denken und ihm diese zweite Chance zuzugestehen. Seit sie wieder am Unterricht teilnahm, hatte er nicht den Eindruck vermittelt, ihr nicht wohlgesonnen zu sein.

Als sie an den Novizen vorbei ging, sahen diese auf. Sie erkannte Genel und Jarend. Der dritte Novize hingegen war ihr fremd.

„Hallo, Sonea“, sagte Genel. „Lernst du heute auch hier?“

Sie nickte.

„Das ist übrigens Finlen“, stellte Genel vor. „Er ist in unserer Klasse. Wir drei haben Alchemie gewählt.“

„Hallo, Finlen“, sagte Sonea, höfliches Interesse heuchelnd. „Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen.“

Finlen schenkte ihr ein bewunderndes Lächeln, brachte jedoch kein Wort hervor.

Bitte nicht noch einer, flehte Sonea innerlich. Jarend, Genel und sein kleiner Bruder Yaen, der an diesem Morgen nicht mit von der Partie war, waren ihr in dieser Woche wiederholt über den Weg gelaufen. Sie tauchten überall auf, wo sie war und sahen bei jeder Stunde Kriegskunst zu, weswegen sie ihren Verehrern inzwischen den Namen Die drei Schatten gegeben hatte. Wenn Finlen jetzt auch noch ein Auge auf sie warf, würden es vielleicht bald die vier Schatten sein.

„Wenn du willst, kannst du dich zu uns setzen“, bot Jarend an. „Falls du Fragen hast, können wir dir helfen.“

„Danke, aber ich bin schon zum Lernen verabredet“, lehnte Sonea ab.

Die drei Novizen machten enttäuschte Gesichter.

„Ein anderes Mal vielleicht“, fügte sie daher hinzu, auch wenn sie insgeheim befürchtete, dass das ihre Schatten erst recht motivieren würde, ihr nachzustellen.

Genel und seinen Freunden den Rücken zukehrend sah sie sich nach einem Tisch um, der weit genug weg von denen der anderen war. Ein kleiner Tisch zwischen einem der Fenster und einem Bücherregal war perfekt. Sie öffnete ihre neue Tasche und zog die Bücher und Unterlagen für Alchemie heraus. Dass Regin sich verspätete, brauchte sie nicht daran hindern, mit dem Lernen zu beginnen.

Sie hatte gerade ihr Exemplar von ’Alchemistische Experimente für Fortgeschrittene’ aufgeschlagen, als sie hastige Schritte hörte. Regin eilte auf sie zu, einen Stapel Bücher unter seinem Arm. Er warf sie auf den Tisch und ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen.

„Morgen, Sonea“, keuchte er. „Entschuldige die Verspätung. Ich hab verschlafen.“

Sonea betrachtete Regin überrascht. War er wirklich ihretwegen früher aufgestanden?

„Ich habe frühestens in zwei Stunden mit dir gerechnet“, sagte sie. Und weil sie befürchtete, sarkastisch zu klingen, fügte sie lächelnd hinzu: „Schön, dass du schon da bist.“

„Wenn du jetzt etwas anderes angefangen hast zu lernen, dann kannst du das noch zu Ende machen“, bot er an. „Ich lerne so lange für Theoretische Kriegskunst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Regin, so war das nicht gemeint. Wir können anfangen.“

Sie betrachteten einander verlegen. Sonea wusste nicht, was sie sagen sollte. Regin schien es nicht anders zu ergehen. Schließlich beugte sie sich zu ihrer Tasche hinab und zog einen Stapel Papier heraus.

„Hier, deine Notizen“, sagte sie. „Danke dafür. Ich bin damit durch.“

Regin hob die Augenbrauen. „Du bist damit schon durch?“

Sonea nickte. „Ich habe sie mit meinen verglichen und alles ergänzt, was mir fehlt.“ In Wirklichkeit jedoch hatte sie sich beeilt, weil sie Regins Freundlichkeit nicht überstrapazieren wollte. Wer konnte schon wissen, wie lange sie anhielt? „Lass uns anfangen.“

Während sie lernten, füllte sich die Bibliothek allmählich. Wie sich herausstellte, war Alchemie auch nicht Regins Lieblingsdisziplin. Sie diskutierten ausgiebig ihre unterschiedliche Ansichten darüber, wie man ein Experiment interpretierte. Zu Soneas Freude war er dabei nicht so rechthaberisch, wie sie befürchtet hatte, und war bereit, auf ihre Argumente einzugehen.

Er kann richtig nett sein, wenn er will, stellte Sonea fest und fragte sich, warum es nicht schon früher so gewesen war. Sie hätten Freunde sein können, doch stattdessen hatte er ihre Notizen gestohlen oder zerstört, ihr Regelverstöße untergeschoben und ihr zusammen mit anderen Novizen aufgelauert, um sie anzugreifen, bis sie sich erschöpft hatte. Seit der Schlacht war Regin indes wie ausgewechselt. Er war nett und zuvorkommend und hatte sogar aufgehört, überall im Mittelpunkt stehen zu wollen, egal ob Sonea in der Nähe war oder nicht. Wenn das nur war, weil sie und Akkarin seinen Hals gerettet hatten, war das reichlich übertrieben, fand Sonea. Oder hatte die Schlacht ihm den Kopf etwa zurechtgerückt?

Was es auch war, Sonea hoffte, es würde anhalten.

„Ich muss dir etwas sagen“, begann er, als sie nach dem Mittagessen auf ihre Plätze zurückkehrten. Noch waren nicht alle Novizen aus der Pause zurückgekehrt. Eine Gruppe kichernder Mädchen aus dem fünften Jahr, die Sonea vage bekannt vorkamen, setzte sich gerade an einen Tisch am Nebenfenster.

„Was?“, fragte sie.

Regin beugte sich über die Tischplatte. „Mein Onkel erwartet von mir, dass ich herausfinde, ob du und Akkarin wirklich zusammen sind“, sagte er leise. „Also sprich möglichst wenig mit mir über ihn. Je weniger ich weiß, desto besser.“

Sonea lachte trocken.

„Regin, ich werde ganz sicher nicht mit dir über Akkarin reden.“

Dass er es überhaupt wusste, war nur einem unglücklichen Zufall während der Schlacht zu verdanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals mit ihm über Akkarin zu sprechen. Nicht einmal, wenn sie eines Tages die besten Freunde sein sollten. Ihre Beziehung ging niemanden etwas an. Regins Worte hatten jedoch ihre Neugier geweckt.

„Warum will dein Onkel das wissen?“

„Weil er ihn loswerden will. Er glaubt, Akkarin wolle ihm sein Amt wegnehmen.“

Sonea schnaubte verächtlich. „So ein Unsinn! Warum sollte er das wollen?“

Ein paar Novizen drehten sich zu ihr um. Die Mädchen am Fenster starrten sie vorwurfsvoll an. Dann steckten sie die Köpfe erneut tuschelnd zusammen.

„Ssch“, zischte Regin. „Nicht so laut!“

Sonea senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Warum denkt Garrel, Akkarin wolle seinen Posten?“, wiederholte sie.

„Weil er jetzt für unsere Verteidigung zuständig ist.“

„Regin“, zischte Sonea. „Akkarin darf kein Amt ausüben. Und es interessiert ihn ganz sicher nicht, Garrel als Oberhaupt der Krieger abzulösen.“

„Weil er lieber den direkten Weg zurück an die Macht nehmen will?“

Sonea funkelte ihn an. Sie schlug ihr Buch in einer heftigen Bewegung zu und griff nach ihrer Tasche. Die Mädchen am Fenster fuhren erneut herum.

„Warte! So war das nicht gemeint.“

Sie betrachtete Regin unwirsch. „Wie dann?“, gab sie zurück.

„Das ist nicht meine Meinung“, antwortete er leise. „Es ist das, was mein Onkel glaubt. Und einige seiner Freunde glauben das auch. Sie sind überzeugt, dass Akkarin auf welchem Weg auch immer, versucht wieder zu Macht zu gelangen. Mein Onkel versucht, weitere Magier auf seine Seite zu ziehen und sie davon zu überzeugen.“

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Wenn Garrel ihre Beziehung ans Licht brachte, würde das ihrem und Akkarins Ruf erheblichen Schaden zufügen. Sie überlegte, ob sie Akkarin davon erzählen sollte. Aber was, wenn Garrel genau das beabsichtigte? Es würde seine Vermutungen nur bestärken. Sonea fand, Streitigkeiten unter den höheren Magiern gingen sie nichts an. Akkarin wurde auch gut alleine mit Garrel fertig, er brauchte sie dafür nicht. Alles, was sie tun brauchte, war sich nicht zu verraten.

„Bist du sicher?“, fragte sie.

Regin nickte. „Aber solange mein Onkel keine Beweise hat, wird er nichts unternehmen können.“

Sehr beruhigend, dachte Sonea. Wenn das wirklich Garrels Angst ist, dann hat Akkarin es wahrscheinlich schon längst aus seinen Gedanken erfahren.

„Lass uns lieber weiterlernen“, schlug sie vor. Sie hatte keine Lust, über dieses Thema zu streiten. Den ganzen Vormittag hatten sie sich so gut verstanden. Sie fand, Regins Onkel war es nicht wert, dass die Stimmung kippte. „Hast du ’Die Chemie fester Körper’?“

Regin schüttelte den Kopf. „Du?“

„Nein.“ ’Die Chemie fester Körper’ gehörte zu den Büchern, von denen Akkarin eine Kopie für ihre Bibliothek in der Arran-Residenz anfertigen wollte, weswegen Sonea bis jetzt davon abgesehen hatte, ein Exemplar auszuleihen. „Ich gehe mal nachsehen, ob es hier eine Ausgabe gibt.“

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Während sie durch die Reihen von Bücherregalen ging, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Regins Worten zurück. Was, wenn sein Onkel tatsächlich etwas fand, womit er Akkarin schaden konnte? Hatte Akkarin überhaupt genug Einfluss, um etwas gegen Garrels Intrigen zu unternehmen? Und würden die anderen Magier eher ihm oder Garrel Glauben schenken?

Sonea trat in den Gang, wo die Bücher für Alchemie ab dem dritten Jahr aufbewahrt wurden. Zwischen den Regalen herrschte ein ständiges Dämmerlicht. Aber es war noch hell genug, um die Schrift auf den Einbänden zu entziffern. Mit einem Finger über die Buchrücken fahrend, suchte las sie die Titel. Plötzlich stieß sie gegen etwas Weiches.

„Verzeihung“, murmelte sie, als sie die Novizin vor sich erblicke.

Es war eines der Mädchen, die am Fenster gesessen hatten. Sie war hochgewachsen, das dunkle, kyralische Haar trug sie zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt. Ihre blasse Haut spannte sich über vornehme Gesichtszüge.

„Beim nächsten Mal passt du besser auf.“ Die Stimme der anderen Novizin klang eisig.

Dieses Mädchen ist es gewohnt, das Sagen zu haben, fuhr es Sonea durch den Kopf. Sollte sie sich das wirklich bieten lassen? Andererseits wollte sie keinen Ärger. Denn genau das war es, worauf alle warteten.

Einen tiefen Atemzug nehmend straffte sie ihre Schultern und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Trotzdem musste sie zu der anderen Novizin aufsehen.

„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte sie mit aller Selbstsicherheit, die sie aufbringen konnte. „Ich mache niemals denselben Fehler zweimal.“

Das Mädchen beugte sich zu ihr herab. Ein blumiger Duft stieg in Soneas Nase. Sie konnte den Atem der anderen spüren, als sie zu sprechen begann. „Wir wissen beide, dass das nicht wahr ist. Es gibt einen Fehler, den du immer wieder begehst.“

Sonea konnte nicht glauben, was die andere Novizin da sagte. Seit ihrer Rückkehr hatte keiner der anderen Novizen es gewagt, ihr mit so offener Feindseligkeit zu begegnen.

„Dieser ’Fehler’ hat unter anderem dir das Leben gerettet“, sagte sie. „Erst gestern habe ich einen Eid darauf geschworen.“

Das Mädchen lachte leise. Es klang gefährlich.

„Süße, das meine ich nicht.“ Sie streckte eine Hand aus und strich über Soneas Wange. „Ich weiß, mit wem du jede Nacht ins Bett gehst“, flüsterte sie dicht an ihrem Ohr.

Sonea wollte protestieren. Doch das Mädchen legte ihr einen Finger auf die Lippen.

„Versuch gar nicht erst es zu leugnen. Ich würde dir sowieso kein Wort glauben.“

Sonea erstarrte. Wie konnte sie das überhaupt wissen? Sie konnte ihr unmöglich nachspioniert haben. Die wenigen, die von ihrer heimlichen Beziehung mit Akkarin wussten, waren vertrauenswürdig. Selbst Regin. Er hatte ihr das auf eine Art und Weise klar gemacht, bei der es ihm unmöglich gewesen war, zu lügen.

Nein, diese Novizin wollte sie provozieren. Und sie tat es dort, wo sie sich unbeobachtet fühlte. Aber warum tat sie das? Was hatte Sonea ihr getan?

„Sonea?“

Das Mädchen ließ von ihr ab und fuhr herum. Am anderen Ende des Ganges stand Regin.

„Wo bleibst du?“

„Sie hat das Buch, das sie gesucht hat, nicht sofort gefunden. Da habe ich ihr geholfen“, antwortete die andere Novizin mit honigsüßer Stimme. „Und darüber sind wir ins Gespräch gekommen.“

Sie wandte sich zu dem Regal in ihrem Rücken und zog ein Buch heraus. „Das ist doch, wonach du gesucht hast, richtig?“, fragte sie und hielt Sonea das Buch hin.

Sonea starrte auf den Einband. Es war ’Die Chemie fester Körper’.

„Ja“, antwortete sie verdattert. „Danke … wie war noch dein Name?“

Die andere Novizin schenkte Sonea ein raubtierhaftes Lächeln. „Veila“, sagte sie. „Veila von Naril, Haus Velan. Es war schön, sich mit dir zu unterhalten. Bis bald, Sonea.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ Sonea stehen.

Regin runzelte die Stirn. „Was war das denn?“

Sonea zuckte die Schultern. „Nur ein Gespräch unter Frauen.“

Sollte sie ihm erzählen, dass diese Novizin ihr gerade indirekt damit gedroht hatte, sie und Akkarin auffliegen zu lassen? Nein. Besser, sie behielt es für sich.

Sie durfte es nicht einmal Akkarin erzählen.

 

Kapitel 8 - Dubiose Pläne

Kapitel 8 – Dubiose Pläne

 

 

„Hast du dich inzwischen wieder bei uns eingelebt?“ Rothen legte sein Besteck zur Seite und musterte seine ehemalige Novizin über den Esstisch hinweg, während er zu seinem Wasserglas griff.

Sonea zuckte die Achseln. „Es fühlt sich irgendwie seltsam an“, antwortete sie. „Manche Dinge haben sich geändert. Aber es gibt auch Dinge, die noch genau wie früher sind.“ Sie griff nach der Sauciere mit der Chebolsoße und tat sich einen Nachschlag über ihre Portion.

Rothen freute sich über ihren Appetit. Überhaupt hatte er sich auf dieses Essen gefreut, seit sie ihm am vergangenen Abend eine Nachricht hatte zukommen lassen, in der sie seine Einladung zum wöchentlichen Mittagessen annahm.

„Was hat sich denn geändert?“, fragte er. „Außer deinem Freund.“

Sie runzelte die Stirn und ein Anflug von Ärger huschte über ihr Gesicht. Sie schien es nicht zu mögen, wenn er so von Akkarin sprach.

Wahrscheinlich hat sie recht damit, fuhr es Rothen durch den Kopf. ’Freund’ wäre vielmehr die passende Bezeichnung, würde es sich um einen gleichaltrigen Novizen handeln. Aber etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein.

Akkarin war dreizehn Jahre älter als Sonea und eine Beziehung auf Augenhöhe, wie es mit einem Novizen oder jungen Magier der Fall gewesen wäre, war auf Grund seiner Persönlichkeit völlig undenkbar. Soneas Erzählungen nach zu urteilen, war das in Sachaka anders gewesen, doch es war eine völlig andere Situation gewesen, in der sie aus ihren alltäglichen Rollen herausgelöst waren und um ihr Überleben gekämpft hatten. Ihren Erzählungen entnahm Rothen jedoch auch, dass Sonea sich an dem Machtgefälle nicht zu stören schien und es sogar zu den Dingen gehörte, die sie an Akkarin liebte. Rothen wusste nicht, ob ihm das gefallen sollte, doch sein Gespräch mit Akkarin hatte ihm versichert, dass dieser das nicht zu seinem Vorteil ausnutzen würde. Zudem hatte Sonea offenkundig eine Vorliebe dafür, sich gegen Akkarin aufzulehnen, wann immer er etwas in ihren Augen Törichtes tat. Und das machte ihn sicher, dass sie sich nicht alles von ihm gefallen lassen würde.

Ich würde mich nicht so wohl dabei fühlen, würde ich Grund zu der Annahme haben, dass Akkarin ihr nicht guttut, überlegte Rothen. In der Gilde war sie eine Außenseiterin. Wäre sie auf sich gestellt, so hätte sie es noch schwerer als in ihrem ersten Jahr. Weil sie gefürchtet wurde und weil jeder jetzt genau auf jeden ihrer Fehltritte achtete.

Die eine Woche mit Akkarin schien Sonea jedoch gutgetan zu haben. Ihre Ängste und Unsicherheiten der Wochen davor hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst, was zum einen daran lag, dass ihre Beziehung den Schwebezustand, in dem sie sich seit der Schlacht befunden hatte, verlassen hatte. Zum anderen war Außenseiterdasein leichter zu ertragen, wenn man nicht der einzige Außenseiter war. Offenkundig hatte beides dazu beigetragen, dass sie ihre Selbstsicherheit zurückerlangt hatte.

„Ich habe mich mit einer Klassenkameradin angefreundet“, erzählte Sonea. „Ihr Name ist Trassia. Und Regin ist neuerdings ziemlich nett. Vielleicht werden er und ich irgendwann doch noch Freunde.“

Rothen lächelte. „Das freut mich für dich“, sagte er. Er hatte sich oft gefragt, ob Sonea jemals Freunde unter den anderen Novizen finden würde. Im Gegensatz zu früher gab es jedoch nichts mehr, was dem im Wege stand. Selbst, dass sie schwarze Magie praktizierte, schien nur noch wenige Novizen von ihr abzuschrecken. Anders als die Magier feierten viele Novizen sie wie eine Heldin. Aber er konnte sich auch vorstellen, dass sie das nicht besonders mochte.

„Glaubst du, du kannst Regin vertrauen?“

Sie zögerte. „Bis jetzt scheint es, als wäre er aufrichtig. Es wird sich zeigen, wie ernst er es damit wirklich meint.“

„Ich verstehe“, nickte er. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie Regin sie in ihrem ersten Jahr schikaniert hatte. Allein das wäre Grund genug, sich nicht mit ihm anzufreunden. Allerdings beschlich Rothen so eine Ahnung, Sonea würde es ihrem einstigen Widersacher heimzahlen, sollte er ihr erneut weh tun. „Es ist gut, dass du misstrauisch bleibst.“

„Und es ist komisch, von anderen entweder bewundert oder gefürchtet zu werden“, kam sie wieder auf seine ursprüngliche Frage zurück. „Oder beides zugleich. Das ist wirklich wild.“

„Sonea“, mahnte Rothen.

Einst hatte er alles getan, um ihr den Hüttenslang abzugewöhnen. Es war lange gutgegangen, doch irgendetwas hatte sich geändert. Rothen hoffte Akkarin würde darauf achten, dass sie sich so ausdrückte, als käme sie aus den Häusern. Wenn die Beziehung der beiden irgendwann bekanntwurde, würde es umso skandalöser sein, wenn Sonea durch ihre Ausdrucksweise auf ihre niedere Herkunft aufmerksam machte.

„Es tut mir leid, Rothen“, sagte sie zerknirscht. „In letzter Zeit rutscht mir der Hüttenslang dauernd raus.“

Rothen betrachtete sie mitfühlend. „Du hast viel durchgemacht“, sagte er. „Doch es wird auch wieder besser werden. Spätestens, wenn du dich wieder ganz bei uns eingelebt hast und sich dein Leben normalisiert hat.“

Er beobachtete, wie sie nach dem Brotkorb langte. Ihr Appetit war nahezu ansteckend. Er entschied sich doch noch etwas zu essen und spießte den Rest Jerras auf seinem Teller mit seiner Gabel auf.

„Was hat sich denn nicht geändert?“, fragte er dann.

Soneas Gesicht verfinsterte sich. „Ich stehe wieder im Mittelpunkt, obwohl ich das überhaupt nicht will. Einige Novizen und Lehrer zeigen ihre Verachtung sehr offen. Ich habe Verehrer, die mir auf Schritt und Tritt folgen …“

Rothen kicherte. Er hatte bereits mitbekommen, dass einige Novizen aus seiner Klasse Sonea sehr zugetan waren. Das war sicher nicht nur ungewohnt für sie, sondern auch lästig, da sie kein Interesse an ihnen hatte.

„… und Akkarin ist wie immer hart und unerbittlich. Das heißt, als mein Mentor.“

„Es ist bestimmt nicht leicht, ihn abwechselnd als deinen Geliebten oder als deinen Mentor zu betrachten“, sagte Rothen.

Sonea machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Wenn er nur mein Mentor wäre, wäre es viel schlimmer. Ich will mich nicht über ihn beschweren, er ist wirklich ein guter Lehrer. Aber er ist so viel härter als die anderen. Ich wusste gar nicht, wie glücklich ich mich früher schätzen konnte, als er mich noch nicht persönlich in Kriegskunst unterrichtet hat. Er ist so fürchterlich anspruchsvoll.“

Rothen brauchte nicht viel Phantasie, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie hart Akkarin als Lehrer sein musste. Wahrscheinlich ist er auf Grund ihrer Beziehung besonders streng zu ihr, überlegte er. Nach dem gestrigen Gespräch wusste Rothen, der schwarze Magier legte großen Wert darauf, dass Sonea ihr Studium nicht wegen ihrer Gefühle für ihn vernachlässigte.

„Ich bin sicher, er will nur das Beste für dich“, sagte er daher lächelnd.

Sie nickte ernst. „Ja, ich weiß. Es ist nur …“, sie zögerte, „ich will eigentlich gar nicht in der Arena gegen ihn antreten, wegen … Ihr wisst schon. In unserer ersten Stunde hat er dafür gesorgt, dass ich die gleichen Fehler mache, wie in dem Kampf, in dem er … in dem Kampf vor der Universität. Das war … schrecklich.“

Das konnte Rothen sich nur allzu gut vorstellen. „Sonea, du kannst nicht mehr so in Kriegskunst unterrichtet werden, wie die anderen Novizen“, sagte er sanft. „Das, was die Gilde von dir erwartet, kann nur Akkarin dir beibringen. “

„Das weiß ich.“ Sie starrte auf ihren Teller, während sie weitersprach. „Als Kariko das Messer warf, hat er zur Ablenkung einen Gedankenschlag benutzt. Dasselbe hat Akkarin in unserer ersten Stunde gemacht. Danach konnte ich vor Angst nicht mehr klar denken. Am nächsten Tag haben wir nur Gedankenschläge trainiert, bis ich Kopfschmerzen hatte. Aber das Schlimmste war, dass ich die ganze Zeit an den Kampf gegen die letzten drei Ichani denken musste.“

Sie schloss für einen Moment die Augen und Rothen bekam eine Ahnung davon, was sie in ihrer ersten Woche durchgemacht hatte. Er verspürte jähes Mitleid mit Sonea, weil sie auf diese Weise mit den Ereignissen der Schlacht konfrontiert worden war. Hätte er nicht gewusst, dass sie mit ihrer sturen Entschlossenheit schließlich daran wachsen würde, wäre er zu Akkarin gegangen und hätte ihn zur Rede gestellt. Er musste jedoch widerwillig einsehen, dass Akkarin sie auf diese Weise am besten auf all das vorbereiten konnte, was in einer nahen oder fernen Zukunft noch auf sie zukommen mochte.

„Gewiss tut er das nur, um euer beider Chancen gegen die Sachakaner zu verbessern und nicht, um dir weh zu tun“, sagte er. „Es ist wichtig, dass eure persönlichen Gefühle euch im Kampf nicht beeinflussen. Bis zum Ende des Halbjahres wirst du dich an seinen Unterricht gewöhnt haben.“

Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Das hat Akkarin auch gesagt. Aber es tut gut, das von Euch zu hören, Rothen.“ Sie trank einen Schluck Pachisaft. „Er ist wirklich großartig“, fuhr sie dann fort. Ein schwärmerischer Ausdruck ließ ihre dunklen Augen aufleuchten. „Ich glaube, es gefällt ihm selbst nicht, wenn er so hart zu mir sein muss.“

Rothen nickte langsam. Es musste schwer für Akkarin und Sonea sein, dass sie ihre Beziehung nicht so ausleben konnten, wie sie das wollten. Seine Pflichten als ihr Mentor und ihre gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit der Gilde, standen ihnen im Weg.

Ohne Letzteres hätten sie womöglich niemals zueinandergefunden. Die beiden schwarzen Magier waren so unterschiedlich in ihren Persönlichkeiten, dass Rothen sich kaum vorstellen konnte, wie das gutgehen konnte. Dennoch schien Sonea glücklicher denn je. Für Rothen war dies das Wichtigste. Sie war stark. Solange ihre Welt in Ordnung war, würde sie vor den Herausforderungen, die ihre seltsame Beziehung zu Akkarin mit sich brachte, nicht zurückschrecken.

Tania kam und brachte den Nachtisch. Sie lächelte Sonea zu, als sie einen Teller mit Piorreskuchen vor ihr hinstellte.

„Sonea, das brauchst du mir nicht sagen“, sagte Rothen, nachdem seine Dienerin den Raum verlassen hatte. „Ich weiß, wie sehr er dich liebt.“

Ihre Augen weiteten sich. „Hat er Euch das gesagt?“

„Unter anderem“, antwortete er ausweichend.

„Worüber hat Ihr gestern denn nun gesprochen?“

„Oh, nicht über viel“, wich er aus. „Wir haben uns beieinander entschuldigt. Und dann haben wir Sumi getrunken.“

Sie starrte ihn ungläubig an. „Das war alles?“

Rothen nickte. Besser, er verschwieg, dass er Akkarin die Erlaubnis gegeben hatte, Sonea zur Frau zu nehmen. Wenn der schwarze Magier das wirklich beabsichtigte, dann wollte er diese Überraschung nicht verderben. Andererseits wollte er ihr auch keine falschen Hoffnungen machen, denn Akkarin würde sie kaum fragen, bevor sie ihre Ausbildung beendet hatte. Sonea war jung. Für sie waren zwei Jahre noch eine halbe Ewigkeit.

„Mehr war nicht zu sagen.“

Sonea starrte ins Leere, die Stirn nachdenklich gerunzelt. „Das ist seltsam“, murmelte sie. „Er hat genau dasselbe gesagt.“

Rothen unterdrückte ein Kichern. Es hätte ihn gewundert, hätte Akkarin ihr von dem zweiten Teil ihres Gesprächs erzählt. Gut, dass ich es auch nicht getan habe!

„Wie läuft es mit dem Lernen für deine Prüfungen?“, wechselte er das Thema.

„Ganz gut“, antwortete sie. „Es ist nicht schwer, aber ich muss sehr viel Stoff aufholen.“

Das war keine Überraschung. Sonea hatte einige Wochen des letzten Halbjahres versäumt. Jetzt musste sie alles für die Prüfungen wiederholen, die sie ebenfalls verpasst hatte. Zudem fehlten ihr einige Wochen Unterricht des laufenden Halbjahres.

„Sonea, es gibt etwas, das du wissen solltest“, sagte Rothen einer plötzlichen Eingebung folgend. Diese Sache quälte ihn schon zu lange und er wusste, er würde erst Ruhe finden, wenn er es ihr gesagt hatte.

Sie sah auf. „Das hört sich ganz so an, als wäre es etwas Schlimmes.“

„Nicht ganz. Versprich mir nur, mich nicht zu Asche zu verbrennen.“

Ihre Augen verengten sich und für einen Augenblick verstand Rothen, warum sie von so vielen Magiern gefürchtet wurde. „Was habt Ihr getan?“

„Ich habe Dannyl von dir und Akkarin erzählt. Er hatte es bereits erraten und ich konnte mich nicht mehr herausreden. Es war am Abend vor seiner Abreise.“

„Es ist in Ordnung“, sagte sie ungewöhnlich sanft und zu Rothens Überraschung huschte ein schiefes Lächeln über ihr Gesicht. Er hatte mit Jähzorn oder Enttäuschung gerechnet, aber nicht damit. „Ich vertraue Dannyl. Er ist einer der wenigen, die unsere Roben nicht zerrissen haben.“

Er lächelte. „Das beruhigt mich.“ Insgeheim hatte er befürchtet, ihr Vertrauen zu verlieren, wenn sie es erfuhr. Doch es war Rothen unmöglich, seinem besten Freund etwas zu verheimlichen, wenn dieser es bereits erahnte. Allerdings war kaum jemand besser darin, vertrauliche Informationen für sich zu behalten, als Dannyl.

„Wie spät ist es?“

Rothen sah auf. „Die Mittagspause dauert noch eine Stunde.“

Hastig schob Sonea ihren Stuhl zurück. „Dann muss ich jetzt gehen. Ich bin mit Trassia zum Lernen verabredet. Tut mir leid, Rothen.“

Rothen versuchte nicht allzu enttäuscht über ihren plötzlichen Aufbruch zu sein. Dass sie überhaupt zum Essen gekommen war, machte ihn bereits glücklich.

„Schon gut“, winkte er ab. „Ich verstehe das.“

Er legte seine Serviette beiseite und erhob sich, um Sonea zum Abschied zu umarmen.

„Pass auf dich auf“, sagte er und strich kurz über ihren Rücken.

„Das tue ich, Rothen.“

Er schob sie auf Armeslänge von sich, um sie anzusehen. „Kommst du nächste Woche wieder zum Essen?“

Sie lächelte und Rothen verstand, warum sie so viele Verehrer hatte. Wahrscheinlich war sie sich dessen nicht einmal bewusst. Aber mit diesem Lächeln und ihrer Natürlichkeit konnte sie jeden Mann um den Finger wickeln. Früher wäre ihm das nicht aufgefallen. Aber Sonea war erwachsen geworden.

Kein Wunder, dass Dorrien ihr verfallen ist, fuhr es ihm durch den Kopf und er kam nicht umhin, seinen Sohn zu bedauern.

„Sehr gern komme ich nächste Woche, Rothen“, sagte Sonea.

Sie löste sich von ihm und wandte sich zur Tür. Dann hielt sie noch einmal inne.

„Danke, dass Ihr dafür gesorgt habt, dass wir in der Arran-Residenz wohnen dürfen. Ich hätte Euch das schon letzte Woche sagen sollen. Stattdessen habe ich Euch angefahren. Das tut mir so leid, Rothen. Ich war an dem Abend einfach so … wütend.“

„Sonea, dafür brauchst du dich bei mir nicht zu entschuldigen. Ich habe so eine Ahnung, was an jenem Abend mit dir los war.“

Sie sah auf. Ihr Blick war hart geworden. „Es war nur ein Missverständnis, Rothen. Das weiß ich jetzt.“

 

 

***

 

Als es am offiziellen Eingang zu seinem Büro klopfte, sah Cery von dem Buch, in das er seine Einkünfte und Ausgaben schrieb, auf. Auch die Gefälligkeiten, die er erhielt oder anderen schuldete, waren darin aufgelistet. Wenn er nicht gerade so viel Verlust wie in den vergangenen Wochen machte, war das eine erfreuliche Arbeit. Dieses Mal verspürte er daher eine vage Erleichterung ob der Störung.

„Wer’s da?“

Die Tür ging auf und Gol trat ein. „Du hast hohen Besuch, Chef.“

Cery runzelte die Stirn. „Jemand aus der Gilde oder jemand, den der König geschickt hat?“

Seit der König das falsche Bild, das er zumindest in Teilen von den Dieben gehabt hatte, während der Schlacht von Imardin korrigiert hatte, rechnete Cery fast jeden Tag mit Besuch aus dem Palast. Er war sicher, spätestens, wenn die Reparaturen im Palast beendet waren, würden die Diebe von Merin hören. Von seinen Spionen wusste er, das würde bald sein.

Der andere Mann schüttelte den Kopf. „Nicht ganz so hoch, aber schwerer als deine üblichen Besucher.“

Cery verdrehte die Augen. Musste Gol immer so geheimnisvoll tun? Nach seinem Besuch bei Ravi fühlte er sich nicht in der Stimmung zum Rätselraten.

„Jetzt spann’ mich nicht auf die Folter!“, rief er. „Wer will mich sehen?“

„Faren. Er sagt, er hätt’ was Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Das war ungewöhnlich. Nachdem Cery dem Dieb aus Lonmar wieder zu Ansehen verholfen hatte, hatten sie nur wenig miteinander zu tun gehabt. Eine Weile hatte Cery für Faren kleinere Aufträge erledigt. Aber das war vor seiner Zusammenarbeit mit Akkarin gewesen. Was also konnte der Dieb von ihm wollen? Wollte er Cery anbieten, wieder für ihn zu arbeiten, weil er gehört hatte, dass Cerys Geschäft so schlecht lief?

Niemals, dachte Cery grimmig. Egal, wie tief er noch sinken mochte, lieber ging er alleine unter, als seine Freiheit aufzugeben und noch einmal für einen anderen Dieb zu arbeiten.

Er öffnete eine Schublade und legte das Buch mit seinen Finanzen hinein. Dann lehnte er sich mit seinem Dieb-Lächeln zurück.

„Schick ihn rein, Gol.“

Gol verschwand und wenig später trat Faren in das kleine Büro. Als sein Blick auf Cery fiel, entblößte er zwei Reihen blendend weißer Zähne.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Cery ohne Umschweife und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Der andere Dieb setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er wirkte beunruhigt angespannt.

„Die Frage sollte eher lauten: Was kann ich für dich tun?“

Überrascht hob Cery die Augenbrauen. „Wie soll ich das verstehen?“, fragte er eine unschuldige Miene aufsetzend.

Faren lächelte. „Ich hab dir’n Geschäft anzubieten.“

„So“, sagte Cery gedehnt. „Ein Geschäft also. Was für’n Geschäft?“

Faren zog ein in Blätter eingewickeltes Päckchen aus seinem Mantel und legte es auf den Tisch. „Ich hab gestern ’ne Lieferung hochfeinen Raka aus Sachaka bekommen. Sieben Kisten davon könnt’ ich dir geben.“

„Hai!“, rief Cery. „Sieben Kisten sind verdammt viel und sachakanischer Raka’s teuer.“ Er öffnete das Päckchen und begutachtete die Rakabohnen. Das Aroma, das ihm entgegenströmte, war viel intensiver als von dem Raka, den er kannte.

Faren lachte leise. „Schmuggelware. Das macht’s erschwinglich.“

Cery musterte den Dieb mit schmalen Augen. Das konnte kein Zufall sein. Sachakanischer Raka war eines der Dinge auf Ravis Liste, für die der Dieb bereit war, Cery Bauholz zu geben. Irgendwie musste Faren davon erfahren haben und wahrscheinlich wollte er Cerys Situation zu seinem Vorteil auszunutzen. Wenn es ums Geschäft ging, kümmerten sich die Diebe nicht um untereinander bestehende Freundschaften, dann ging es nur um den eigenen Profit.

„Worauf bist du aus, Faren?“

„Ich will die Hälfte des Bauholzes, das Ravi dir für den Raka geben würde“, antwortete der andere Dieb und bestätigte damit Cerys Verdacht.

„Woher weißt du von meinem Handel mit Ravi?“, verlangte Cery zu wissen. Selbst wenn er nur die Hälfte des Holzes, das er von Ravi erhielt, an Faren abgab, würde er genug haben, um eine ganze Straße in seinem Territorium neu aufzubauen. Und er hätte auf einen Schlag mehr Holz, als er in nächster Zeit ohne Hilfe beschaffen konnte. Der Handel war trotz allem verlockend.

Faren entblößte seine Zähne und musterte Cery abschätzend. „Denkst du wirklich, ich geb’ meine Quellen preis, Ceryni?“

„Nein“ Cery lachte. „Denn wenn du das tätest, dann wärst du’n ziemlich mieser Dieb.“ Von seinen Leuten wussten nur er und Gol, was er mit Ravi besprochen hatte. Cery vertraute seinem Leibwächter, er konnte Faren nicht informiert haben. Die undichte Stelle musste bei Ravis Leuten liegen. Vielleicht war es der Dieb selbst gewesen, der Faren informiert hatte. Die Gründe dafür konnte Cery nur erahnen. Er fand, es war Zeit Ravi eine Lektion zu erteilen. Und er wusste auch schon wie.

Sich aufrichtend, stützte er die Unterarme auf seinen Schreibtisch und musterte den anderen Dieb abschätzend.

„Wenn du Holz brauchst, warum gehst du dann nicht direkt zu Ravi und bietest ihm deinen Raka an?“

„Weil ich hoffe, dass du mir dafür eines Tages ’ne Gefälligkeit zurückgeben wirst“, antwortete Faren zähnebleckend.

Darum ging es also. „Was hat Ravi dir geboten?“

„Er hat mir gar nix geboten. Ich hab’s über meine Kontakte erfahren.“ Faren fuhr sich über die Stirn. Als er weitersprach, wirkte er ungewohnt verzweifelt. „Cery, auch in meinem Territorium müssen Hütten neu aufgebaut werden. Ich weiß selbst, wie das ist, wenn die eigenen Klienten nicht zahlen können. Aber ich hab’ mehr Raka, als ich selbst Holz brauche. Die Konkurrenz mag’s als Zeichen von Schwäche ansehen, doch in Zeiten der Not sollten wir Diebe zusammenhalten.“

Cery war sich noch nicht sicher, ob er Faren so weit vertrauen konnte. Dieser Mann kannte seine Stärken und Schwächen, denn er hatte Cery ausgebildet. Andererseits hatten seine eigenen Spione ihn bereits über Farens missliche Lage informiert. Das ließ vermuten, dass die Motive des anderen Diebes von ehrlicher Natur waren.

Cery entschied, das Risiko einzugehen. Tat er es nicht, steckte er sowieso in Reibereien. Zudem hatte er Faren auch geholfen, als dessen gescheitertes Geschäft mit Sonea ihn in den Ruin getrieben hatte. Und daher kannte Cery auch das eine oder andere Druckmittel, um dafür zu sorgen, dass Faren seinen Teil der Vereinbarung hielt.

„Ravi wird deinen Raka zu Wucherpreisen weiterverkaufen und’n riesiges Geschäft damit machen“, sagte er. „Damit darfst du ihn nicht davonkommen lassen.“

„Natürlich nicht!“, rief Faren. „Aber hab ich ’ne Wahl?“

Cery grinste. „Ja, die hast du. Ich hab nämlich ’ne Idee, wie du mit dem Raka dennoch ein ordentliches Geschäft machen kannst. Oder besser gesagt, wie wir damit ein ordentliches Geschäft machen können.“

Der andere Dieb war offenkundig verwirrt.

„Und wie?“

„Dir das zu verraten, wär’ sozusagen die Gefälligkeit, die ich dir für das Holz schulden würde“, antwortete Cery mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Und die Hälfte dessen, die mein Vorschlag einbringt. Damit du mich nicht squimpst, werden wir das in ’nem Vertrag festhalten, den wir beide unterschreiben.“

Cery wusste, ein solcher Vertrag würde ihm vor keinem Gericht weiterhelfen, sollte Faren ihn hintergehen. Er traute keinem Dieb – nicht einmal Faren – genug, um sich auf sein bloßes Wort zu verlassen. So würde er jedoch etwas in der Hand haben, womit er Faren festnageln konnte, sollte dieser seinen Teil der Vereinbarung nicht einhalten.

Die dunkle Haut auf Farens Stirn legte sich in Falten. „Indem ich dir den Raka gebe und du die Hälfte des Holzes behältst, helfe ich dir schon mehr als ich müsste“, sagte er. „Du willst mich doch selbst squimpen.“

„Wenn du’s nicht tust, machst du mit deinem Raka nur Verlust“, entgegnete Cery. „Du würdest gar nix von dem sehen, was er wert ist. Aber mit dem Gewinn, von dem ich spreche, können wir beide weitere Baumaterialien kaufen und unsere Territorien schnell wieder in ihren alten Zustand bringen. Bei den anderen Dieben wurde nicht so viel zerstört wie bei uns, auf der Südseite waren die Ichani überhaupt nicht.“ Er machte eine Pause und bemühte sich darum, seine Stimme bei den folgenden Worten eindringlich klingen zu lassen.

„Faren, wir müssen im Geschäft bleiben. Je länger wir uns mit dem Wiederaufbau quälen, desto mehr Macht bekommt die Konkurrenz. Wir beide stecken in derselben Scheiße. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, hat Ravi bald das Sagen über alle Diebe, weil er das meiste Geld gehortet hat. Kein Dieb sollte über die anderen Diebe herrschen. Das war schon immer so und das soll auch so bleiben.“

Faren stützte eine Hand auf sein Kinn und schwieg. Von den Falten in seiner Stirn konnte Cery sagen, dass er angestrengt nachdachte.

„Es wär’n guter Versuch“, sagte er schließlich. „Nicht auszudenken, wenn Ravi oder einer der anderen Diebe die Macht an sich reißt. Sag mir, was für’n Plan du hast und dann sag ich dir, ob ich dazu bereit bin.“

Cery zog unauffällig an einer Schnur hinter seinem Schreibtisch, die mit einer kleinen Glocke in einem Nebenzimmer verbunden war, von wo aus Gol jede Unterredung mitverfolgte.

„Entweder du unterschreibst erst den Vertrag, oder wir kommen nicht ins Geschäft.“ Der offizielle Eingang zu seinem Büro öffnete sich und Gol trat ein. Cery lächelte sein Dieb-Lächeln. „Mein Leibwächter wird bezeugen, dass dieser Vertrag existiert.“

Faren nickte schwach. Er wirkte nicht sehr erfreut ob der Möglichkeiten, die Cery ihm geboten hatte, doch das war Cery egal. Wenn er diese Sache durchzog, dann würden er und Faren den gleichen Gewinn daraus ziehen. Er selbst würde jedoch der wahre Sieger sein und sich damit ein Stück seines Respekts zurückkaufen.

Er öffnete eine Schublade seines Schreibtischs und zog einen frischen Bogen Papier heraus. Er tauchte seine Schreibfeder in ein Tintenfass und begann den Bestandteil des Vertrages und die Vereinbarungen, an die er und Faren sich halten würden, darauf niederzuschreiben. Es war nicht das erste Geschäft, das Cery auf diese Weise abschloss, und so kannte er jedes Schlupfloch und sorgte dafür, dass Faren keines finden würde.

Als er fertig war, reichte er Faren den Vertrag und seine Schreibfeder.

„Unterschreib“, wies er den anderen Dieb an.

Der andere Dieb nahm die Schreibfeder entgegen und setzte neben Cerys Unterschrift das Symbol, das jeder Mann und jede Frau in der Unterwelt sofort als sein Zeichen erkennen würde. Das giftige, achtbeinige Tier, dessen Namen er sich gegeben hatte.

Cery stand auf und umrundete den Schreibtisch. Er nahm das Dokument entgegen und klopfte Faren auf die Schulter.

„Dann sind wir jetzt Partner“, sagte er feierlich. Er trat zu einem Schrank und holte drei Becher und eine Flasche Bol heraus. Nachdem er sich und den beiden anderen Männern eingeschenkt und sie einen Schluck getrunken hatte, erklärte er ihnen seinen Plan.

„Wir kaufen sieben Kisten billigen, kyralischen Raka. Das wird uns nicht viel kosten. Aus jeder Kiste nehmen wir zwei Schichten Bohnen heraus und ersetzen sie mit dem guten Raka. Den übrigen Raka verkaufen wir für viel Geld. Jeder, der die Ware auf ihre Qualität prüft, wird denken, es wäre nur sachakanischer Raka in den Fässern. Ravi und seine Kunden werden nix bemerken, bis es zu spät ist. Aber dann werden wir das Holz längst verbaut haben und der echte Raka wurde von seinen Käufern getrunken.“

Cery warf einen Blick zu Gol, der anerkennend nickte und von einem Ohr zum anderen grinste.

Faren brach in lautes Gelächter aus. Seine gelben Augen leuchten unheilvoll. „Hai!“, rief er. „Du bist wirklich gerissen, Ceryni!“ Dann wurde er plötzlich ernst. „Aber wenn Ravi das herausfindet, stehen wir vor ihm wie Squimps da.“

Cery grinste. Faren hatte recht, das konnte ihnen Reibereien bereiten, aber wenn sie Erfolg hatten, dann hatte er bei diesem Geschäft am meisten gewonnen.

„Dann behaupten wir, wir hätten nix davon gewusst. Er wird uns nix nachweisen können. Unsere Klienten mögen blöd genug sein, dass wir es merken, wenn sie uns squimpen. Aber wir sind Diebe. Wir wissen, wie man unauffällig squimpt.““

 

 

***

 

Die Sonne hatte die Gartenbank mit ihrem Strahlen aufgewärmt. Trotz der hellen Mittagsstunde verweilte ein Rest der morgendlichen Kühle in der Luft, die jedem unweigerlich ins Gedächtnis rief, dass sich der Sommer seinem Ende neigte.

Mit einem seligen Seufzen schloss Sonea die Augen und genoss den herrlichen Spätsommertag. Nach einer Woche, in der sie wieder offiziell am Unterricht teilgenommen hatte, hatte sich so etwas wie ein neuer Alltag für sie eingestellt. Das tägliche frühe Aufstehen und der Umgang mit Trassia und zuweilen auch Regin suggerierte wie ihr Leben mit Akkarin eine neue Normalität, die ihr Halt verlieh. Ihre Ängste und Albträume waren, nachdem sie ihren Bericht über Akkarins Wiederbelebung abgegeben hatte, weniger geworden, doch auch wenn Sonea sich dadurch wieder befreiter fühlte, ahnte sie, die Erinnerungen an die Schlacht würden noch nicht aufgehört haben, sie heimzusuchen.

Doch das war eine deutliche Verbesserung gegenüber den ersten Wochen nach jenem Tag.

„Ich finde, Lord Larkin ist wirklich ein wundervoller Lehrer.“ Trassia tauchte ihre Schreibfeder in Tinte und wandte sich wieder ihrem Aufsatz für Architektur zu.

„Das ist wahr“, stimmte Sonea zu. „Er schafft es, seine Schüler immer wieder zu begeistern. Das gelingt nicht jedem Lehrer.“

Trassia stieß einen seligen Seufzer aus. „Und darüber hinaus sieht er so unglaublich gut aus.“

Daher also ihre Begeisterung, dachte Sonea.

Warum interessierten sich so viele der weiblichen Novizen für ihre Lehrer? Lag das daran, dass die Mädchen aus den Häusern meist mit sehr viel älteren Männern verheiratet wurden? Sie unterdrückte ein Kichern. Tatsächlich erging es ihr nicht anders, als den Mädchen aus den Häusern. Wenigstens gab es nur einen, für den sie sich interessierte.

Und der hatte sie bereits.

„Versteh das jetzt bitte nicht falsch, Sonea“, fügte Trassia hinzu.

Sonea runzelte die Stirn. Was gab es da falsch zu verstehen? Sie musste indes zugeben, sich noch nie über Lord Larkins Aussehen Gedanken gemacht zu haben. Auf Anhieb hätte sie nicht einmal sagen können, ob sie ihn gutaussehend fand. Bei keinem ihrer Lehrer hatte sie je über so etwas nachgedacht. Selbst bei Akkarin war ihr das erst aufgefallen, als sie bereits ein Paar gewesen waren.

„Ich habe schon kapiert, dass du ein Auge auf ihn geworfen hast“, sagte sie trocken.

„Oh, ja.“ Trassia kicherte. „Aber du sollst nicht von mir denken, dass ich deinen Geschmack für schlecht halten würde. Dein Liebster sieht natürlich auch gut aus. Nur eben auf seine Art. Und das ist auch gut so. Schließlich gehört er dir.“

„Er ist nicht mein Liebster!“ Sonea schnaubte. „Und er gehört ganz bestimmt nicht mir.“

Denn das wäre irgendwie seltsam … Sie unterdrückte ein Seufzen und vertrieb ihre unanständigen Gedanken. Das würde warten müssen, bis sie am Abend mit dem Lernen fertig war. Wenn sie dann nicht zu erschöpft war …

Ihre Freundin hob die Augenbrauen und lächelte wissend. „Nein, das wäre auch ziemlich anmaßend.“

Sonea zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Ihre Mittagspause war fast vorbei und sie wollte noch ihren Aufsatz fertigbekommen. Doch bevor sie Trassias Aufmerksamkeit zurück auf ihre Arbeit lenken konnte, fiel ihr etwas ein, das sie seit dem Vortag quälte.

„Sag mal, kennst du eine Veila? Sie ist im fünften Jahr. Ich bin ihr gestern in der Bibliothek begegnet.“

Trassias Augen weiteten sich. „Du meinst Veila von Naril, aus Haus Velan?“, entfuhr es ihr.

„Ja, kann sein. Was ist mit ihr?“

„Nimm dich bloß vor der in acht“, warnte Trassia. „Sie ist ein Biest.“

„Diese Seite an ihr habe ich bereits kennengelernt“, bemerkte Sonea. Jemanden wie Veila hätte sie früher nicht als Feind haben wollen. So betrachtet war es seltsam, dass Veila sie bis jetzt in Ruhe gelassen hatte.

„An deiner Stelle würde ich ihr aus dem Weg gehen. Sie hat es auf Akkarin abgesehen. Im Novizenquartier verbreitet sie überall, sie habe ein Anrecht darauf ihn zu heiraten.“

Sonea blinzelte verwirrt. Das war mit Abstand das Albernste, das sie je gehört hatte. Was bildete Veila sich ein?

„Wieso sollte sie das Recht dazu haben?“

„Sie kommt aus demselben Haus wie er. Ihre Eltern wollen sie mit jemandem aus der Familie Delvon verheiraten.“

„Aber sind sie denn nicht verwandt, wenn sie aus demselben Haus kommen?“

„Nur sehr weitläufig.“

„Es gibt doch sicher noch andere unverheiratete Männer aus dieser Familie, oder?“

Trassia zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Wenn Akkarin schon so verdammt gut aussieht, dann ist es unwahrscheinlich, dass der Rest seiner Familie hässlich ist. Aber das weißt du doch sicher besser als ich.“

Woher sollte Sonea wissen, ob es in Akkarins Familie noch andere gutaussehende Männer im heiratsfähigen Alter gab? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie gar nichts über seine Familie wusste. Aber wenn ihm dieses Thema wichtig wäre, dann hätte er mir schon von seinen Verwandten erzählt, überlegte sie dann. Schließlich sprach sie auch nicht andauernd von Jonna und Ranel.

„Du solltest ihm wirklich sagen, dass du ihn liebst“, riss Trassia sie aus ihren Gedanken.

„Trassia, er ist mein Mentor“, erinnerte Sonea die andere Novizin streng. „Das kann ich nicht machen.“

Sie bezweifelte, Akkarin würde sich für jemanden wie Veila interessierten. Er wäre nicht mit ihr zusammen, würde er sie nicht lieben. Wenn Veilas Eltern eine Ehe mit ihm arrangieren wollten, würde er das sicher ablehnen – als Magier war das sogar sein gutes Recht. Aber jetzt verstand sie Veilas Feindseligkeit. Sie hatte das ungute Gefühl, diese Begegnung am vergangenen Tag würde nicht die letzte ihrer Art sein.

Es läutete. „Mist, jetzt sind wir nicht fertig geworden“, fluchte Sonea und stopfte die Mappe mit ihren Notizen und ihre Schreibfeder und Tintenfass zurück in ihre Tasche.

„Wir können heute Abend nach dem Unterricht weitermachen“, schlug Trassia vor.

Sonea zögerte. Wenn sie ihren Aufsatz nach dem Unterricht zu Ende schrieben, würde sie Akkarin eine Nachricht schicken müssen, dass sie später kam. Dann brauchte er nicht mit dem Abendessen auf sie warten oder konnte Takan anweisen, das Essen später zu servieren. Aber sie wollte auch nicht länger auf seine Gesellschaft verzichten, als unbedingt nötig. Sie war hin und her gerissen.

Wenn ich den Aufsatz in der Universität fertigschreibe, muss das nicht heute Abend machen, überlegte sie. Es wird nicht von meiner Zeit mit Akkarin abgehen. Er wird es verstehen. Für ihn hatte ihre Ausbildung Priorität, also musste das für sie ebenso gelten.

„In Ordnung“, willigte sie daher ein.

Sie eilten zurück in die Universität. In der Eingangshalle begegneten sie nur wenigen Novizen. Die meisten hatten das schöne Spätsommerwetter genutzt, um die Mittagspause draußen zu verbringen.

„Sonea! Trassia!“, rief eine vertraute Stimme hinter ihnen.

Sonea und Trassia wandten sich um. Regin eilte keuchend auf sie zu, einen Stapel Bücher und eine Mappe mit Notizen unter seinem Arm.

„Hallo, Regin“, sagte Trassia erfreut. „Wie war Kriegskunst?“

Er brummte eine einsilbige Antwort. Als Sonea ihn näher betrachtete, bemerkte sie eine gewisse Erschöpfung in seinen Augen. Der Unterricht bei Balkan war anstrengend, wusste sie. Sie entschied jedoch, ihn nicht zu bedauern. Kriegskunst bei Akkarin war weitaus härter.

Zu dritt hasteten sie die gewundene Treppe empor. Die Alchemieräume lagen im dritten Stock und Lord Elben reagierte nicht sehr erfreut auf Nachzügler.

Sonea spürte, wie etwas ihren Arm berührte.

- Können wir reden?

Überrascht hielt sie inne und starrte Regin an.

- Was willst du?

Er warf ihr einen verschwörerischen Blick zu, woraufhin sie die Stirn runzelte. Um sie herum füllte sich die Universität mit Novizen, die zum Nachmittagsunterricht eilten.

„Ich habe meinem Onkel gesagt, ich hätte nichts aus dir herausbekommen“, raunte er, während Trassia vorausging. „Er war nicht sehr erfreut. Er sagte, ich solle es weiter versuchen und erst einmal dein Vertrauen gewinnen.“

Sonea zuckte zusammen. Sie hatte gehofft, Garrel würde sich leichter geschlagen geben. Oder war das ein Trick, dass sie Regin ihr Vertrauen schenkte und mit ihm über Akkarin sprach? Nun, dann waren sowohl er als auch sein Onkel dumm. Selbst, wenn sie Regin eines Tages gut genug kennen und ihm vertrauen sollte, würde sie ihm das nicht erzählen.

„Und was willst du jetzt tun?“

Regin zuckte die Achseln. Er fasste ihr Handgelenk.

- Keine Ahnung. Wir müssen ihn irgendwie von dir und Akkarin ablenken. Du könntest behaupten, dass du Akkarin zwar bewunderst, dein Herz aber jemand anderem gehört.

Sie zögerte.

- Regin, ich weiß nicht. Nachher kam das raus und derjenige machte sich Hoffnungen. Das wollte sie nicht verantworten müssen. Das ist keine gute Idee. Außerdem hat er mir verboten, zu lügen.

- Niemand würde dich einer Wahrheitslesung unterziehen können.

- Das ist egal. Er würde es wissen.

- Du hast noch immer Angst vor ihm, stellte Regin erheitert fest.

- Sonea unterdrückte ihre Verärgerung. Ihre Gefühle für Akkarin, welcher Natur sie auch waren, gingen Regin nichts an. Aber es ging nicht nur darum, ob sie ihn manchmal fürchtete.

- Ich möchte ihn nicht enttäuschen.

Regin musterte sie prüfend, ging zu ihrer Erleichterung jedoch nicht weiter auf das Thema ein.

- Wenn du willst, dann denke ich mir etwas aus. Bis jetzt habe ich dir immer nur Schlechtes unterstellt. Es wird Zeit, dir etwas zu unterstellen, das sich zu deinen Gunsten auswirkt. Sieh es als Teil meiner Wiedergutmachung.

Überrascht wandte Sonea sich ihm zu. Es schien ihm wirklich ernst zu sein. Sie wusste nicht viel über Regin, aber sie wusste inzwischen, wann er sie verhöhnte. So verlockend sein Angebot schien – konnte sie wirklich zulassen, dass sie in eine Intrige zwischen den höheren Magiern gerieten?

- Ich werde darüber nachdenken.

Sie waren am Ende der Treppe angelangt. Trassia stand oben und wartete mit ungeduldigem Gesichtsausdruck.

„Was trödelt ihr solange? Wir müssen uns beeilen!“

Regin ließ von ihr ab. „Sag mir, wenn du dich entschieden hast“, flüsterte er.

Sonea nickte.

Trassia bedachte sie mit einem Blick, den Sonea nicht zu deuten wusste. Sie verspürte einen jähen Anflug von Schuldgefühl. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin sich ausgeschlossen fühlte und dachte, sie würde ihren ehemaligen Widersacher bevorzugen. Aber sie wollte Trassia nicht auch noch in diese Sache hineinziehen. Es war sicherer, wenn sie nur die offizielle Version von Soneas Beziehung kannte.

Gemeinsam bogen sie in den Flur ein, auf dem Alchemie unterrichtet wurde. Ihr Klassenzimmer lag an seinem anderen Ende. Die Novizen, die bereits vor ihren Unterrichtsräumen warteten, machten ihnen ehrfurchtsvoll Platz.

„He, Regin! Warte mal kurz!“

Sonea wandte den Kopf und erblickte Regins ehemalige Klassenkameraden Kano und Alend. Sie starrten Sonea an, als sähen sie sie zum ersten Mal. Sie erwiderte ihren Blick finster.

„Geht ihr schon mal weiter“, sagte Regin zu ihr und Trassia. „Ich komme gleich nach.“ Er lief zu seinen Freunden.

„Regin!“, rief Trassia ihm nach. „Wir kommen zu spät.“

Regin ignorierte sie.

„Lass ihn“, murmelte Sonea und zog ihre Freundin weiter. „Wenn Lord Elben ihm eine Strafarbeit gibt, ist das allein seine Schuld.“

„Aber …“, begann ihre Freundin protestierend.

„Trassia, er nicht mehr im ersten Jahr. Er kennt die Regeln.“

„Gehen wir am nächsten Freitag zum Pferderennen?“, hörte sie Alend noch fragen. Dann waren sie und Trassia außer Hörweite.

Auf dem Flur war inzwischen Stille eingekehrt. Alle hatten sich ihnen zugewandt. Sonea fragte sich, ob dieser Wirbel um sie irgendwann wieder aufhören würde. Auch nach einer Woche schienen sich die Novizen noch nicht an die neue Sonea gewöhnt zu haben. Sie bemerkte ein Pärchen, das noch eng umschlungen an der Wand lehnte und offenkundig zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um ihre Umgebung wahrzunehmen.

Issle und Narron.

Erst als ein anderer Novize Narron am Ärmel zupfte, löste dieser sich von seiner Freundin. Als er Sonea und Trassia erblickte, weiteten sich seine Augen. Während sie an ihm vorbeigingen, starrte er ihnen mit offenem Mund hinterher. Issles Gesicht verfinsterte sich. Sie stieß Narron in die Seite und drehte seinen Kopf zurück zu ihr.

Sonea unterdrückte ihre Erheiterung. Sie fasste ihre Freundin am Arm und schob sie in ihr Klassenzimmer.

„Er scheint noch einiges für dich übrig zu haben“, flüsterte sie, als sie zu ihren Plätzen gingen.

„Narron?“ Trassia schüttelte den Kopf. „Er hat dich angesehen.“

„So ein Unsinn!“ Nach der Sache mit der Schreibfeder war sicher, Narron würde sie niemals mögen und sie wollte auch nicht, dass er es tat. Nicht auf diese Weise. „Sicher hängt er noch an dir.“

„Oh nein“, sagte Trassia. „So hat er mich nie angesehen.“

Sonea wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es war ihr unangenehm, von den Novizen bewundert zu werden. Die Reihe ihrer Verehrer war seit ihrer Rückkehr größer, als ihr lieb war, wenn auch die drei Schatten, die einzigen wirklich hartnäckigen waren. Zu keinem von ihnen hegte sie jedoch eine persönliche Beziehung. Aber Narron war früher mit Trassia zusammen gewesen. Was, wenn das ihre gerade entstandene Freundschaft gefährdete?

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn er wirklich ein Auge auf mich geworfen hat?“, fragte sie.

Trassia runzelte die Stirn. „Nein“, sagte sie. „Es macht mir nichts aus.“ Dann lächelte sie unvermittelt. „Nicht einmal, wenn du in ihn verliebt wärst.“

Wahrscheinlich, weil er sich nicht mit Lord Larkin messen kann, fuhr es Sonea durch den Kopf. Gegen einen sympathischen und attraktiven Lehrer mussten die meisten Novizen wie Kinder wirken.

„Wenn Sonea in wen verliebt wäre?“

Sonea und Trassia fuhren herum. Regin war unbemerkt zu ihnen getreten.

„Regin, das geht dich nichts an“, zischte Sonea. „Und schleich dich nicht so an andere heran!“

Regin grinste. „Frauen“, sagte er verächtlich.

„Wenn du es wissen willst, es ging um Narron“, sagte Trassia ungewohnt hitzig. „Meinen Exfreund.“

„Ah, Narron!“ Ein Lächeln breitete sich auf Regins Gesicht aus. „Der jetzt mit Issle zusammen ist.“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Hübsches Mädchen.“

Sonea bemerkte, wie sich die Gesichtszüge ihrer Freundin versteinerten. Sie war verwirrt. Hatte Trassia ihr nicht soeben zu verstehen gegeben, dass sie über Narron hinweg war? Oder konnte sie Issle einfach nur nicht leiden?

Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, huschte Narron ins Klassenzimmer.

Dicht gefolgt von Lord Elben.

„Guten Tag alle miteinander“, wünschte der Alchemist.

Sonea und die anderen Novizen erhoben und verneigten sich.

„Guten Tag, Lord Elben.“

Lord Elben bedeutete ihnen, sich wieder zu setzen. „Holt bitte die Protokolle heraus, die ihr als Hausaufgabe für die heutige Stunde schreiben solltet.“

Sonea öffnete ihre Tasche und zog die Mappe mit ihren Notizen heraus. Ihr Lehrer ging durch die Reihen und sammelte die Protokolle ein. Als sie ihm das Pergament reichte, nahmen seine harschen Gesichtszüge einen missbilligenden Ausdruck an. Sonea tat, als würde sie das nicht bemerken. Lord Elben gehörte zu denjenigen ihrer Lehrer, die sie für ihren Gebrauch schwarzer Magie verachteten. Und die Farbe ihrer Robe erinnerte ihn jedes Mal daran, wenn er sie sah.

Es wäre so viel besser, hätte Rothen mich unterrichten können!, dachte sie mit einem leisen Seufzen.

Der Alchemie-Lehrer legte die Protokolle auf sein Pult. „Schlagt eure Bücher auf Seite sechsunddreißig auf“, wies er seine Klasse an. „Ich möchte, dass ihr heute das dort beschriebene Experiment durchführt. Dazu geht ihr bitte in Zweiergruppen zusammen.“

Sonea und Trassia tauschten einen erfreuten Blick, doch Lord Elben sagte: „Sonea, du wirst mit Regin arbeiten, Trassia du gehst zu Narron.“

Arme Trassia, dachte Sonea mitleidig. Wie unangenehm musste es für sie sein, mit ihrem Exfreund zusammenzuarbeiten? Wäre Trassia nicht gewesen, hätte es ihr nichts ausgemacht, das Experiment gemeinsam mit Regin durchzuführen. Nicht nachdem sie den ganzen vergangenen Tag für Alchemie gelernt hatten. Doch jetzt wünschte sie, Elben hätte sie nicht getrennt.

Schweigend nahm sie ihre Sachen und schritt zu Regins Tisch.

„Möchtest du lieber die Utensilien oder die Chemikalien holen?“, fragte er, nachdem sie die Anleitung gelesen hatten.

Sonea zuckte die Schultern. „Mir egal.“

„Dann geh du die Chemikalien holen“, sagte er übertrieben großzügig.

Sie betrachtete ihn von erneutem Misstrauen erfüllt. Während sie zu dem Schrank am hinteren Ende des Klassenzimmers ging, fragte sie sich, ob er das gesagt hatte, weil er hoffte, sie würde durch eine Unachtsamkeit mit den Chemikalien in Berührung kommen und den Rest der Stunde im Heilerquartier verbringen. Aber vielleicht hatte er das auch nur gesagt, weil das seiner Meinung nach der spannendere Teil war. Die männlichen Novizen schienen allesamt verrückt nach gefährlichen Chemikalien.

Wahrscheinlich war es Letzteres, entschied Sonea, denn die Enttäuschung blieb seinen Augen fern, als sie unversehrt mit mehreren Phiolen und Dosen zurückkehrte und sie auf ihren Arbeitstisch stellte.

Ich sollte ihm ein wenig mehr vertrauen, dachte sie, während sie das Experiment aufbauten. Er mag mir furchtbare Dinge angetan haben, aber er gibt sich wirklich Mühe, es wiedergutzumachen.

Sie schützten sich und ihren Arbeitsplatz mit magischen Schilden. Dann begannen sie mit der Durchführung.

„Wir könnten Narron nehmen“, sagte Regin nach einer Weile leise. Sie saßen nebeneinander und beobachteten, wie sich die Flüssigkeit in dem Kolben vor ihnen allmählich erhitzte.

Sonea blinzelte verwirrt. „Lord Elben hat gesagt, wir sollen zu zweit arbeiten.“

„Ich meine als Alibi“, entgegnete Regin. „Das wäre doch perfekt.“

Gibt er denn niemals Ruhe?, dachte Sonea unwirsch. Wenn er ihr helfen wollte, sollte er sich etwas Besseres ausdenken. Etwas, bei dem nicht noch andere involviert wurden.

„Was soll daran perfekt sein?“, entfuhr es ihr. „Wenn er wirklich in mich verliebt ist, wie Trassia behauptet, dann werde ich ihn nicht mehr los, sobald er hört, ich hätte romantische Gefühle für ihn!“

„Du sollst ihm ja auch keine Hoffnungen machen“, raunte Regin. „Da er schon eine Freundin hat, kannst du gar nicht mit ihm zusammen sein. Du könntest behaupten, dass so etwas gegen deine Prinzipien verstößt, weil Issle deine ehemalige Klassenkameradin ist.“

Sonea starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. Sie erinnerte sich noch allzu lebhaft daran, wie Issle bei seinen ’Späßen’ mitgemacht hatte.

„Regin!“, zischte sie. „Das kommt auf keinen Fall in Frage!“

Aus dem Kolben perlten kleine Blasen und zogen ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Experiment.

„Ich denke, wir können jetzt das Schwefelpulver hineingeben“, sagte sie, bevor er etwas erwidern konnte.

Regin nickte und zählte drei Spatelspitzen von dem gelben Pulver ab. Die Flüssigkeit in dem Kolben begann zu zischen und zu schäumen. Sonea zählte langsam bis zweihundert, dann kühlte sie die Flüssigkeit mit Magie ab.

„Aber wenn nicht Narron, wer dann?“, fragte Regin.

„Niemand“, sagte Sonea bestimmt.

„Was ist mit Lord Rothens Sohn? Lief da nicht mal was zwischen euch?“

„Ich sagte nein!“ Sonea schnappte erregt nach Luft. „Was verstehst du daran nicht?“

„Sonea, ich will dir helfen.“

Lord Elben schritt an ihrem Tisch vorbei und begutachtete den Verlauf ihres Experiments. Er warf ihnen beiden einen strengen Blick zu und ging dann kommentarlos weiter.

„Wir sollten unsere Unterhaltung vielleicht ein anderes Mal fortführen“, flüsterte Sonea, nachdem er außer Hörweite war. „Auch wenn das Gespräch für mich eigentlich schon längst beendet ist.“

„Verehrteste Sonea, bitte, ich flehe dich an!“, bettelte Regin. „Sei nicht so unerbittlich und grausam!“

Sie hob die vielsagend Augenbrauen, musterte ihn kurz und schüttelte den Kopf.

„Was das angeht, hatte ich den besten Lehrer.“

 

 

***

 

 

Kapitel 9 - Eine Einladung

Kapitel 9 – Eine Einladung

 

 

„Oh, bevor ich es vergesse: Lady Vinara sagte heute, ich hätte ein besonderes Talent mit Patienten umzugehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube sie hat das nicht nur gesagt, weil sie hofft, ich würde die Heilkunst wählen“, schloss Sonea ihren allabendlichen Bericht. „Wenn sie nicht ehrlich wäre, könnte ich das fühlen.“

Sie streckte ihren Willen aus und ließ die Schüssel mit Crots und die Platte mit den Harrelkeulen heranschweben, um sich einen Nachschlag aufzutun.

„Wenn du ungeeignet für den Umgang mit Menschen wärst, würde sie nicht andauernd versuchen, dich für die Heilkunst zu gewinnen“, bemerkte Akkarin. „Etwas mehr Vertrauen in deine eigenen Fähigkeiten würde dir manchmal gut tun.“

Er faltete seine Serviette und legte sie beiseite. Sonea fragte sich, wie er mit nur einer Portion auskommen konnte, während sie jeden Abend fast zu verhungern glaubte.

„Vielleicht“, stimmte Sonea widerwillig zu. Seit ihrer Rückkehr hatte das Oberhaupt der Heiler ihr mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass sie es begrüßen würde, wenn sie die Heilkunst wählte. Trotzdem konnte Sonea kaum glauben, so gefragt zu sein. „Ich bin es gewohnt, dass die Menschen keine hohe Meinung von mir haben. Deswegen wäre es umso anmaßender, hätte ich eine hohe Meinung von mir selbst. Denn das würde bedeuten, dass die anderen Menschen eine noch schlechtere Meinung von mir hätten.“

Akkarin lachte leise in sein Weinglas.

Sie funkelte ihn an. „Was ist daran so komisch?“, verlangte sie zu wissen.

„Nichts“, antwortete er. „Ich bin nur immer wieder überrascht, wie hart du mit dir selbst ins Gericht gehst. Das bringt mich zu der Frage, ob du mich überhaupt brauchst.“

Sie schüttelte den Kopf. Musste sie das verstehen?

„Was gibt es Neues bei dir?“, fragte sie stattdessen.

Während des gesamten Abendessens hatte sie nur von sich erzählt. Sie wusste, Akkarin verbrachte viel Zeit damit, Lehrpläne für ihren Unterricht in Kriegskunst und für die Zeit nach ihren Prüfungen auszuarbeiten, wenn er sie weiter in schwarzer Magie unterwies. Zudem hatte er wieder begonnen, mit schwarzer Magie zu experimentieren, wozu er sich einen Raum in ihrem Keller eingerichtet hatte. Allerdings sprach er nur wenig davon, um sie nicht von ihren Prüfungen abzulenken.

„Heute kam ein offizielles Schreiben mit einer Einladung von König Merin“, erzählte er. „Er möchte sich in aller Form für unsere Verbannung entschuldigen und sich für unsere Unterstützung bei der Schlacht bedanken.“

Sonea ließ ihre Gabel sinken und starrte Akkarin über den Tisch hinweg an. „Das fällt ihm erst jetzt ein?“, entfuhr es ihr. „Wir sind doch schon seit Wochen wieder zurück.“

„Das ist richtig. Doch die Reparaturen im Palast sind nun abgeschlossen. Merin möchte zu unseren Ehren ein Bankett veranstalten.“

Ein Bankett? Sonea schüttelte den Kopf. Sie fand das reichlich übertrieben.

„Wann?“, wollte sie wissen.

„In drei Tagen.“

Sonea nickte. Sie entschied, einen Abend würde sie ohne Akkarin überleben. Momentan musste sie so viel lernen, dass sie ohnehin kaum Zeit miteinander verbringen konnten. „Wenn ich den Abend über lerne, können wir das Wochenende vielleicht ein wenig für uns nutzen. Ich bin am Freitag zwar wieder mit Regin in der Bibliothek verabredet, aber abends …“

Akkarin runzelte missbilligend die Stirn. „Die Einladung gilt auch für dich, Sonea“, sagte er streng. „Ich dachte, das müsste ich nicht erwähnen.“

„Oh.“

Sonea hätte nicht sagen können, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das. Wenn Akkarin früher an irgendwelchen Feiern im Palast teilgenommen hatte, hatte er seine Novizin auch nicht mitgenommen. Aber es machte durchaus Sinn, da sie die Ichani gemeinsam besiegt hatten. Nichtsdestotrotz missfiel ihr die Aussicht, an einem Fest teilzunehmen, bei dem sie beide womöglich vor sämtlichen Mitgliedern der Häuser gefeiert wurden.

„Muss ich wirklich mit?“

„Ja.“

In einem Anflug von Rebellion schob sie ihr Kinn vor. „Und wenn ich nicht will?“, fragte sie aufsässig.

„Eine Einladung des Königs schlägt man nicht aus“, entgegnete er ungerührt. „Außerdem wünsche ich, dass du mitkommst.“

Das klang vielmehr wie ein Befehl. Sonea seufzte. Die Autorität in seiner Stimme erfüllte sie mit widerwilliger Resignation.

„Warum hat er sich nicht etwas anderes einfallen lassen?“

„Weil er uns auf diese Weise offiziell rehabilitieren wird. Die wichtigsten und einflussreichsten Angehörigen der Häuser werden zu diesem Bankett kommen. Das ist Politik, Sonea. Sieh es ihm nach.“

Sonea wusste nicht, ob sie dem Mann, der sie beide nach Sachaka verbannt hatte und die Hüttenleute wie lästigen Abschaum behandelte, auch nur irgendetwas nachsehen wollte. Und Politik interessierte sie nun wirklich nicht.

„Ich muss lernen“, wandte sie ein. „Es sind keine drei Wochen mehr bis zu meinen Prüfungen. Und ich habe Unterricht. Weiß er das denn nicht?“

„Es würde mich wundern, wenn er das nicht weiß. Deswegen findet das Fest an einem Vierttag statt.“

Sonea wollte erneut protestieren, doch Akkarin fuhr unbeirrt fort: „Du lernst mehr als gesund ist, Sonea. Ein freier Abend wird dir nicht schaden. Im Gegenteil, dich ein wenig zu amüsieren, wird dir guttun.“

Sie wollte einwenden, dass sie nicht amüsieren würde, weil sie sich im Palast vollkommen fehl am Platz fühlen würde. Zudem wusste sie überhaupt nicht, wie man sich bei Hofe benahm. Doch sie schwieg, weil sie wusste, es war sinnlos zu protestieren. Es war schwer genug, sich gegen Akkarin auflehnen, wenn er auf etwas bestand. Aber sich gegen Akkarin und den König aufzulehnen, war schlichtweg unmöglich.

Mit nachdenklicher Miene trank Akkarin einen Schluck Wein. „Drei Tage sind nicht viel Zeit, um dich die Hofetikette zu lehren und dir die wichtigsten Gesellschaftstänze zu zeigen. Aber wenn du dich nicht ungeschickt anstellst, sollte es gehen.“

„Ich soll tanzen?“, entfuhr es Sonea. „Also das kannst du wirklich nicht von mir verlangen!“

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Jede andere junge Frau wäre über die Chance, auf einem Ball im Palast zu tanzen, mehr als glücklich“, bemerkte er trocken.

„Wie du sehr gut weißt, bin ich nicht jede andere junge Frau. Ich dachte immer, das wäre einer der Gründe, warum du mich liebst!“, gab sie zurück.

„Das ist es auch.“ Akkarin schien unbeeindruckt von ihrem Zorn. „Aber ich muss darauf bestehen. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Wenn du für heute mit Lernen fertig bist, fangen wir an.“

Sonea verdrehte die Augen, wofür sie sich einen missbilligenden Blick von Akkarin einfing. Sie ahnte, aus dieser Sache würde sie nicht mehr herauskommen und wahrscheinlich war es besser, wenn sie sich schnell damit abfand. In wenigen Tagen würde ohnehin alles wieder vorbei sein.

„Müssen wir in Begleitung dorthin?“, fragte sie unwirsch.

„Das ist kein Muss, aber erwünscht. Besonders, wenn man nicht mit einer fremden Person tanzen möchte.“

Sonea fragte sich, wie sie es schaffen sollte, einen Begleiter zu finden und wen Akkarin wohl wählen würde. Wenn er früher bei Hofe gewesen war, hatte er dann auch immer eine Frau mitgenommen? Sie würde einen Magier fragen müssen, wenn sie nicht mit einem Mann aus den Häusern tanzen wollte. Allein der Gedanke war ihr unerträglich.

„Weißt du schon, wer dich begleiten soll?“, fragte sie.

„Selbstverständlich.“

Obwohl Sonea wusste, dass es unmöglich für sie war, als Paar zu einer solchen Veranstaltung zu gehen, verletzten seine Worte sie. Sie fand, er hätte wenigstens sagen können, dass es ihm leidtue, weil er eigentlich sie als Begleitung wollte.

Ihre Enttäuschung unterdrückend überlegte sie, wer für sie überhaupt in Frage kam. Die Schatten wären sicher hellauf begeistert und würden sich anschließend darüber streiten, wer von ihnen sie nun begleiten durfte. Aber Sonea konnte sich Besseres vorstellen, als von Genel, seinem kleinen Bruder, oder Jarend einen ganzen Abend lang angeschmachtet zu werden.

Vielleicht mit Regin? Nein, er war jünger als sie. Das wäre wirklich seltsam. Und was für einen Eindruck würde es hinterlassen, wenn sie, die schwarze Magierin, mit einem Novizen kam? Besser sie fragte einen ihrer Lehrer. Doch auf Anhieb fiel ihr nur Lord Larkin ein, der ihr sympathisch genug und nicht alt genug war, um ihr Vater zu sein.

Doch wie sollte sie das Trassia beibringen?

„Sonea, du wirst meine Begleitung sein“, riss Akkarin sie aus ihren Gedanken.

Ihr Herz machte einen Sprung.

„Aber das … das geht nicht!“, protestierte sie.

„Der König hat sich in seiner Einladung so ausgedrückt, als würde er genau das erwarten. Es wird niemanden überraschen, wenn wir gemeinsam zu dem Fest gehen. Es ist unangenehm, den Abend mit jemandem zu verbringen, wenn man weiß, dass diese Person einen fürchtet.“

Sonea nickte. Von dieser Seite hatte sie das noch gar nicht betrachtet. Ob ihm unsere früheren Abendessen auch unangenehm waren?, fuhr es ihr durch den Kopf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihm unrecht getan zu haben, weil sie ihn damals nicht besser gekannt hatte.

„Sonea, ich werde nicht dulden, dass dich jemand anderes begleitet“, fügte Akkarin leise hinzu. Es klang beinahe wie eine Warnung. „Schon gar nicht Garrels Neffe.“

Hatte er etwa schon wieder ihre Gedanken gelesen?

„Und wenn ich genau das will?“, fragte sie und sah ihn herausfordernd an.

„Dann würde ich es dir als dein Mentor verbieten.“

Die Unverfrorenheit, mit der seine Position missbrauchte, verschlug Sonea den Atem. Das war so typisch für ihn. Obwohl sie ihn dazu provoziert hatte, war sie überrascht, wie deutlich er damit zum Ausdruck brachte, dass sie ihm allein gehörte.

„Sonea, es ist mein Wunsch, dass du mich an diesem Abend begleitest“, sagte er ein wenig weicher, während Sonea ihn noch für seine Unverfrorenheit bewunderte. „Es gibt keine andere Frau, die ich lieber an meiner Seite sähe.“

Seine Worten erfüllten sie mit einem Gefühl von Wärme. An Akkarins Seite würde sie diesen Abend so viel besser überstehen und sie würden Zeit miteinander verbringen können. Sie schenkte ihm ein verlegenes Lächeln und leerte ihr Weinglas. Dann schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

„Ich sollte jetzt besser lernen gehen“, sagte sie. Umso eher konnten sie mit dem Tanzunterricht beginnen. Nicht auszudenken, wenn sie ihn vor den Angehörigen der Häuser blamierte!

Sie umrundete den Tisch, um Akkarin zu küssen. „Dürfen wir denn die Gilde für dieses Fest überhaupt verlassen?“

Akkarin umschlang ihre Hände und zog sie zu sich. „Die höheren Magier haben eine Ausnahme gemacht. Wir werden eine Eskorte von Kriegern erhalten. Außerdem hat der König die gesamte Führung der Gilde mit eingeladen. Rothen wird also auch mitkommen.“

Soviel Aufwand wegen einer dummen Feier, dachte Sonea.

Warum konnte der König sich nicht etwas Sinnvolleres einfallen lassen, um sich zu entschuldigen? Dann müsste nicht die halbe Gilde ausrücken, weil ihre beiden schwarzen Magier die Gelegenheit nutzen könnten, um das zu tun, was alle fürchteten. Und sie müsste nicht tanzen lernen. Doch ein wenig freute sie sich auch. Rothen würde dabei sein.

Sie wollte sich von ihm lösen und hielt dann inne.

„Werde ich ein Kleid brauchen?“

Akkarin schüttelte den Kopf. „Du bist eine Magierin. Es gibt, wenn überhaupt, nur einen einzigen Anlass, zu dem es dir erlaubt ist, ein Kleid zu tragen.“

„Zu welchem Anlass?“

„Zu deiner Hochzeit.“

„Oh.“

Seine Worte erfüllten sie mit Verlegenheit. Sie hatte es bis jetzt vermieden, mit Akkarin über dieses Thema zu sprechen und sie wollte nicht diejenige sein, die damit anfing. Bis jetzt hatte sich nie der passende Zeitpunkt ergeben und bis zu ihrem Abschluss waren es noch zwei Jahre. Es machte überhaupt keinen Sinn, vorher über eine Hochzeit nachzudenken.

Akkarin musterte sie durchdringend. Obwohl Sonea inzwischen wusste, warum er sie so ansah, spürte sie, wie ein Schauer ihren Rücken herablief. Und sie begriff, sie würde ihre Furcht vor ihm niemals ganz ablegen.

„Ich bin sicher, ein Brautkleid würde dir hervorragend stehen“, sagte er mehr zu sich selbst und runzelte nachdenklich die Stirn.

Sonea blinzelte verwirrt.

Was war denn das schon wieder?, fuhr es ihr durch den Kopf. Fürchtete er sich so wie sie vor diesem Thema? Oder hatte er ihr gerade einen Antrag gemacht? Dann schalt sie sich selbst für ihre Dummheit. Akkarin gehörte ganz sicher nicht zu den Männern, die einen Heiratsantrag wie beiläufig in ein Gespräch einfließen ließen.

Nein, es war besser, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen schenkte sie ihm im Hinausgehen ein äußerst verlegenes Lächeln und konnte nicht verhindern, dass dabei die Hitze in ihre Wangen stieg.

 

 

***

 

Ich bin viel zulange fort gewesen, fuhr es Dorrien durch den Kopf. Vor ihm machte der Weg eine Biegung. Dahinter kam ein sanft geschwungener Grashang in Sicht, auf dem eine einsame Kate stand.

Das Haus von Kullen, dem Reberhirten.

Seit einer Woche war Dorrien zurück in Windbruch. Während er sich freiwillig in das nach der Schlacht in der Stadt herrschende Chaos gestürzt hatte, um vor dem unerträglichen Chaos zwischenmenschlicher Beziehungen zu fliehen, war er aus selbigem Grund schließlich in das Bergdorf in der Nähe des Südpasses geflohen, jedoch nicht ohne einen ordentlichen Vorrat an Arzneien. Obwohl Sonea für Dorriens Vater wie eine Tochter war, schien Rothen kein Verständnis dafür zu haben, wie es Dorrien ihretwegen erging. Verschiedene Diskussionen darüber, warum sie unbedingt mit diesem schwarzen Magier zusammen sein musste, hatten Rothens Meinung nicht ändern können und Dorrien war deswegen umso erleichterter, die Stadt endlich verlassen zu haben. Wenn er weit fort von der Gilde war, machte das den Schmerz Sonea verloren zu haben ein wenig erträglicher.

Dorrien hatte gehofft, die friedliche Einsamkeit der Berge würde ihn wieder auf andere Gedanken bringen. Aber er war kaum zuhause gewesen, als die ersten Dorfbewohner an seine Tür klopften, weil sie oder ihr Vieh krank waren.

Dorrien seufzte. Es war niemals eine gute Idee, Windbruch für länger als die Zeit zu verlassen, die die Reise nach Imardin, die Berichterstattung bei Lady Vinara und ein Besuch bei seinem Vater erforderten. Die Erntezeit war vorbei, das Heu war gemäht, getrocknet und in die Scheunen gebracht worden. Die Nächte waren spürbar länger und kälter und die Menschen in den Bergen bereiteten sich auf den Winter vor. Inzwischen hatte die Jagdsaison begonnen. In dieser Zeit geschah es immer wieder, dass Männer während der Jagd von wilden Tieren angegriffen wurden und er ihre Wunden behandeln musste.

Am vergangenen Abend war Kullen zu ihm gekommen, weil seine Frau seit einigen Tagen hohes Fieber hatte und hustete.

„Hustet sie schwarzen Schleim aus?“, hatte Dorrien gefragt, woraufhin der Reberhirt angstvoll genickt hatte.

„Dann hat sie wahrscheinlich das Lungenfieber befallen“, hatte er Kullen erklärt. „Ist sie noch bei Bewusstsein?“

„Ja, Mylord.“

„Lass niemanden zu ihr“, hatte Dorrien ihn angewiesen. „Ganz besonders nicht deine Kinder – sie könnten sich anstecken. Und du solltest nicht mit deiner Frau im selben Bett schlafen, solange sie krank ist.“

Er hatte Kullen versprochen, sofort am nächsten Morgen vorbei zu kommen, weil er noch die nötigen Arzneien zusammenmischen musste, und den Reberhirten angewiesen, das Fieber seiner Frau bis dahin mit Wadenwickeln zu kühlen. Im Laufe des Abends und der Nacht waren weitere Dorfbewohner und Bauern aus den umliegenden Höfen zu ihm gekommen, weil ein oder mehrere Familienmitglieder von demselben Leiden befallen waren.

Jedes Jahr mit dem Beginn des Herbstes gab es eine Welle von Lungenfieber in den Bergen. Dorrien musste seine Kenntnisse über Heilkräuter und Medizin zur Hilfe nehmen, um all seine Patienten zu behandeln, weil seine Magie nicht ausreichte, um halbe Dörfer zu heilen. Nur in Fällen mit einem schweren Krankheitsverlauf vollzog er die Behandlung ausschließlich mit Magie.

Vor der Kate war ein kleiner Platz aus ebenem Erdboden mit einem Brunnen in der Mitte. Der Stall neben dem Haupthaus diente Kullens Rebern als Winterquartier. Das übrige Jahr grasten sie auf der weitläufigen Weide unterhalb von Kullens Haus. Dorrien versuchte einen Blick auf die störrischen Tiere zu erhaschen, bis auf einige vereinzelte weiße und braune Flecken war die Weide verlassen. Wahrscheinlich grasten die Reber am Fuße des Hangs, an dem ein kleiner Bach umsäumt von Tirobäumen entlang plätscherte.

Die Dächer beider Gebäude waren mit Schindeln gedeckt, die in regelmäßigen Abständen mit Steinen beschwert waren. Zum Schutz vor den in den Bergen oft heftig tobenden Stürmen, wusste Dorrien. Für gewöhnlich genügte das, doch nachdem zwei Winter zuvor ein heftiger Schneesturm das Dach von Gadens Bauernhof abgedeckt hatte, hatte Dorrien begonnen, sein eigenes Dach zusätzlich mit Magie zu verstärken.

Dorrien zügelte sein Pferd und band es neben dem Stall an einen Pfahl. Dann schritt er zum Haus und klopfte an.

Eine junge Frau von vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahren öffnete ihm die Tür. Ihre langen Haare waren golden wie die Tennfelder im Spätsommer und zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Kullens ältere Tochter Viana.

Als sie Dorrien erblickte, weiteten sich ihre braunen Augen.

„Lord Dorrien!“, entfuhr es ihr.

Sie verneigte sich anmutig. Dann wandte sie sich um und rief in das Innere der Kate. „Vater, Lord Dorrien ist hier!“

„Ich komme!“, hörte Dorrien den Reberhirten von drinnen rufen.

Während sich Kullens schwere Schritte der Tür näherten, betrachtete die junge Frau ihn stumm. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte Dorrien an einen verängstigten Harrel. Er wollte nicht, dass sie sich vor ihm fürchtete. Doch bevor er etwas sagen konnte, um die Spannung zwischen ihnen zu lösen, trat ein großer, vierschrötiger Mann, neben Viana. Sein Haar war so tennblond wie das seiner Tochter, sein gutmütiges Gesicht, war indes von Sorgenfalten durchfurcht. Als er Dorrien erblickte, glomm Hoffnung in seinen Augen auf.

„Seid gegrüßt, Mylord“, sagte er und verneigte sich. „Kommt rein.“

Dorrien trat durch die Tür in eine kleine Wohnstube und sah sich um. Die Mitte des Raumes wurde von einem großen, grob gezimmerten Tisch mit zwei Bänken ausgefüllt. Hinter der Feuerstelle befand sich ein Alkoven, in dem Kullens Töchter schliefen. Unter einem der Fenster entdeckte Dorrien ein Spinnrad und einen Webstuhl – die verwaiste Arbeitsstelle von Kullens Frau.

„Wie geht es Yuna?“

Kullen hob die Schultern. „Sie hat noch immer Fieber und hustet schwarzen Schleim.“

„Hast du ihr kalte Wadenwickel gemacht?“

Der Reberhirt nickte. „Wie Ihr gesagt habt. Das Wasser aus unserem Brunnen ist kalt wie Eis. Aber sie hat nichts gespürt.“

Wenn Yuna keine Reaktion auf eiskaltes Wasser zeigte, dann war ihr Fieber so hoch, dass sie bereits im Delirium war. Das bedeutete, die Krankheit war schon weit fortgeschritten. Dorrien unterdrückte einen Fluch. Er hoffte, noch etwas für die Frau des Reberhirten tun zu können.

„Seit wann ist das so?“

„Es fing in der Dämmerung an.“

„Bring mich zu deiner Frau“, befahl Dorrien.

Kullen nickte und bedeutete Dorrien ihm durch eine Tür am anderen Ende des Raumes zu folgen. Dorrien trat in ein kleines Zimmer, das von einem großen Bett und einem Schrank beinahe komplett ausgefüllt wurde. Die vergilbten Papierblenden am Fenster gaben teilweise den Blick auf den grasbewachsenen Berghang frei.

Kullens Frau lag unter mehreren Wolldecken. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war aschfahl Farbton und ihre Stirn war mit Schweiß bedeckt. Ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren saß an ihrer Seite auf dem Bett. Ihre Haare hatten wie die ihres Vaters und ihrer Schwester die Farbe von reifem Tenn.

„Lina!“, brüllte Kullen. „Geh sofort raus da!“

„Ich will bei meiner Ma sein!“, protestierte das Mädchen.

Kullens Gesicht verfärbte sich in ein bedenkliches Dunkelrot. „Raus!“

Lina brach in Tränen aus.

„Lina, komm zu mir.“

Kullens ältere Tochter stand auf der Türschwelle. Sie hatte eine Hand ausgestreckt.

„Du kannst mir mit dem Mittagessen helfen“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Lass Lord Dorrien seine Arbeit tun.“

Noch immer weinend gehorchte Lina und lief zu ihrer älteren Schwester.

„Viana, pass auf, dass sie dir nicht wieder wegläuft“, sagte Kullen. „Sie darf nicht auch noch krank werden.“

Viana nickte. Sie schenkte Dorrien ein entschuldigendes Lächeln und führte Lina dann zur Kochstelle.

Mit einer entschuldigenden Grimasse schloss der Reberhirt die Tür hinter ihnen. „Tut mir leid, Mylord. Lina hängt noch so fürchterlich an ihrer Mutter. Wenn sie auch krank wird, könnt ich das nicht ertragen. Sie ist so ein süßes Kind. Wenn Viana einen Mann findet, der sie ernähren kann, und dann hab ich nur noch sie.“

Dorrien nickte verständnisvoll. Der Reberhirt liebte seine beiden Töchter über alles. Das Leben in den Bergen war hart. Und die Mitglieder einer Familie waren sehr viel mehr aufeinander angewiesen, als es in den reichen Familien in der Stadt der Fall war. Die Kinder kümmerten sich um ihre Eltern, wenn diese alt wurden und frühzeitige und unerwartete Verluste waren stets schmerzhaft.

Kullen wandte sich seiner Frau zu. „Yuna, mein Liebes“, sagte er mit seiner rauen Stimme. Er streckte eine schwielige Hand aus und strich über ihre Wange. „Lord Dorrien ist hier. Er wird dich wieder gesund machen.“

Yuna antwortete nicht. Ihr Atem ging schwer und rasselnd.

Dorrien trat zu ihr und legte eine Hand auf die Stirn der Frau. Seinen Geist ausstreckend untersuchte er, wie weit die Krankheit inzwischen fortgeschritten war. Entsetzt stellte er fest, dass sich der Schleim bereits auf einen Großteil der Lunge gelegt hatte. Yunas Puls ging viel zu schnell. Das Fieber war sehr hoch und drohte, ihren Körper zu verzehren. Er würde es lindern, doch er würde es nicht ganz zurückgehen lassen, weil es notwendig war, um die Infektion zu bekämpfen.

Dorrien setzte sich auf die Bettkante und begann die Behandlung. Zuerst kümmerte er sich um die winzigen Organismen, die ihre Lunge befallen hatten und die für den Schleim verantwortlich waren. Hätte er an diesem Tag nicht noch mehrere Hausbesuche wegen Lungenfieber vor sich, so hätte er Yuna vollständig geheilt. Doch er musste seine Kräfte einteilen, weswegen er nur so viele der Organismen zerstörte, dass Yunas Körper mit den Übriggebliebenen alleine fertig werden konnte. Dann senkte er das Fieber auf ein Maß herab, das ihrem Körper keinen Schaden mehr zufügen konnte und ihr stattdessen bei der Selbstheilung half.

Als er die Augen öffnete, hatte Yunas Gesicht wieder eine etwas gesündere Farbe angenommen. Ihr Puls hatte sich beruhigt, aber ihre Atmung war noch immer schwerfällig.

„Wird sie wieder gesund?“

Dorrien sah auf und blickte in das besorgte Gesicht des anderen Mannes. „Das Lungenfieber deiner Frau war bereits sehr fortgeschritten. Ich habe die Infektion bekämpft und das Fieber gesenkt. Nun muss ihr Körper den Rest erledigen.“

Er griff in seine Tasche, die diverse Arzneien und Verbände enthielt, und zog eine kleine Flasche heraus.

„Gib ihr davon morgens, mittags und abends einen Löffel voll“, wies der den Reberhirten an. „Es wird ihr helfen, den Schleim abzuhusten. Am besten, du vermischst es mit Wasser. Achte darauf, dass sie viel trinkt. Das ist wichtig, damit ihr Körper die Krankheit auswäscht. Und wechsele das Bettzeug und ihr Nachtgewand und koch die Sachen aus.“

„Kann ich ihr auch was zu essen geben?“

Dorrien nickte. „Aber noch keine feste Nahrung. Suppe, Brei oder Grütze ist alles, was sie im Augenblick zu sich nehmen sollte.“

„Danke, Mylord“, sagte Kullen und verneigte sich.

Dorrien lächelte. „Dank mir lieber erst, wenn sie wieder gesund ist“, entgegnete er. Yuna hatte es noch lange nicht überstanden. „Morgen werde ich wiederkommen und erneut nach deiner Frau sehen. Bevor ich gehe, möchte ich aber noch dich und deine Kinder untersuchen.“

 

 

***

 

Nach einem eher herbstlichen Beginn war der Spätsommer noch einmal überraschend warm geworden. Sonea und Trassia saßen auf einer Gartenbank, um in den warmen Strahlen der Mittagssonne zu lernen. In der Nähe jagten sich ein paar Squimps einen Baumstamm hinauf. Sonea gähnte ausgiebig und vertrieb ihre Müdigkeit mit ein wenig Magie. In der letzten Nacht hatte sie nicht viel Schlaf bekommen.

Nachdem sie mit ihren Hausaufgaben fertig geworden war, hatte sie mit Akkarin bis spät in die Nacht Gesellschaftstänze geübt. Takan hatte sie auf einer Laute begleitet, damit sie ein besseres Gefühl für den Rhythmus und die Abfolge der Tanzschritte bekam. Für Sonea war dieser Unterricht ein einziger Albtraum gewesen. Sie verstand nicht, was die Frauen aus den Häusern so toll am Tanzen fanden. Erst gegen Ende hatte sie begonnen, zumindest ein wenig Gefallen daran zu finden.

Während ihres gemeinsamen Unterrichts bei Lady Indria hatte Sonea darauf gebrannt, Trassia von dem bevorstehenden Fest zu erzählen. Doch die junge Lehrerin für Medizin hatte ihre volle Aufmerksamkeit verlangt und so hatte sie sich bis zur Mittagspause gedulden müssen. Die Begeisterung ihrer Freundin überraschte Sonea nach dem vergangenen Abend nur mäßig. Offenkundig waren die Bälle am Hofe des Königs ein besonderer Höhepunkt im Leben der Mädchen und jungen Frauen aus den Häusern.

„Ich beneide dich.“ Trassia stieß einen kleinen Seufzer aus. „Wie gerne würde ich mit dir tauschen!“

„Wenn das ginge, dann dürftest du das auf der Stelle“, erwiderte Sonea trocken und stieß damit bei ihrer Freundin auf erneutes Unverständnis. „Lass uns noch einmal die Liste mit den Heilkräutern und ihren Anwendungen durchgehen“, schlug sie dann vor, um eine neuerliche Diskussion darüber, warum sie nicht auf diesen Ball wollte, zu vermeiden. Irgendwie schien es Trassias Vorstellungsvermögen zu übersteigen und Sonea wusste nicht, wie sie sich ihr verständlich machen konnte. „Ich möchte sichergehen, dass ich nichts vergessen habe.“

Trassia reichte ihr die Aufzeichnungen, die sie sich für die Sommerprüfungen gemacht hatte.

„Am besten du vergleichst meine Notizen mit deinen“, sagte sie.

Sonea nahm die Unterlagen entgegen und beugte sich darüber. Sie hatte gerade die erste Seite mit ihren Aufzeichnungen abgeglichen, als sie Schritte auf dem Kiesweg hörte und ein Schatten auf sie fiel. Verstimmt sah sie auf. Vor ihr standen Genel, Jarend und Yaen.

Die drei Schatten.

„Hallo, Sonea“, sagte Genel.

„Hallo“, sagte sie und unterdrückte ihre Verärgerung. Wann würden die beiden Novizen aus dem fünften Jahr und Genels kleiner Bruder endlich aufhören, ihr nachzustellen? Jede Woche versuchten sie, sich mit ihr für Freitag zu verabreden oder ihr beim Lernen zu helfen und tauchten überall auf, wo sie war. Sie kamen sogar in die Arena, wenn sie Kriegskunst hatte. Und das, obwohl Sonea noch kein einziges Mal gegen Akkarin gewonnen hatte. Dass sie den Schatten jedes Mal einen Korb gab, schien diese indes völlig unbeeindruckt zu lassen.

„Was wollt Ihr?“

„Wir haben von dem Bankett gehört, das dir und deinem Mentor zu Ehren übermorgen im Palast stattfindet“, erklärte Genel eifrig.

Sonea runzelte die Stirn. „Das ist richtig. Es wird ein Bankett geben.“

„Und da haben wir uns gefragt, ob wir dich begleiten können“, fuhr Yarend fort. „Das heißt natürlich, nur einer von uns. Du kannst dir aussuchen, mit wem du gehen möchtest.“

„Aber wenn du dich nicht entscheiden kannst, können wir uns auch duellieren“, fügte sein Freund hinzu.

Nur mühsam gelang es Sonea, ihre Erheiterung ob der Vorstellung, wie sich die drei Schatten ihretwegen duellierten, zu verbergen. Allein der Gedanke daran war es wert vorzugeben, dass sie einen von ihnen als Begleiter wollte.

„Danke, aber ich brauche keine Begleitung“, lehnte sie ab.

„Aber du willst doch sicher tanzen“, wandte Yaen vorsichtig ein. „Dazu brauchst du einen Tanzpartner.“

„Dann habe ich mich wohl nicht richtig ausgedrückt.“ Sonea unterdrückte ihre Gereiztheit und versuchte, mitfühlend zu klingen, weil sie den drei Novizen schon wieder einen Korb geben musste. „Ich habe bereits einen Begleiter.“

„Wer ist es?“, wollte Genel wissen.

Sonea betrachtete ihn mit schmalen Augen. „Warum interessiert dich das?“

„Dann könnten wir ihn fragen, ob er etwas dagegen hat, wenn einer von uns mit ihm tauscht.“

Das kann er unmöglich ernst meinen! Sonea biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.

„Oh, ich glaube, er hätte eine ganze Menge dagegen“, sagte sie kühl.

„Wir könnten uns mit ihm duellieren“, schlug Yaen ungewöhnlich mutig vor.

Sonea brach in lautes Gelächter aus und hielt sich dann rasch die Hand vor den Mund. „Tut mir leid, aber gegen ihn würdet ihr eine ziemlich blamable Niederlage einstecken, fürchte ich. Versucht es lieber gar nicht erst.“

Die drei Schatten waren nun offenkundig neugierig geworden. Vielleicht sollte ich sie wirklich in die Arena schicken, fuhr es ihr durch den Kopf.

„Wer ist denn nun dein Begleiter?“, fragte Genel.

„Jemand, mit dem keiner von euch mithalten kann“, antwortete Trassia für sie.

„Ist es er?“, fragte Jarend und zeigte auf den Anführer einer Gruppe von Novizen, die den Weg entlang stolzierten.

Regin und seine beiden Freunde Kano und Alend. Soneas ehemaliger Erzfeind schenkte ihr ein verschwörerisches Lächeln und nickte Trassia zu. Sonea erwiderte sein Lächeln, während Trassia ihm ein wenig verunsichert zuwinkte.

„Es geht das Gerücht, dass ihr auf einmal ziemlich gute Freunde seid. Manche behaupten sogar, ihr würdet miteinander gehen“, sagte Jarend, als Regin und seine Freunde außer Hörweite waren.

Sonea schnaubte. Allein die Vorstellung war völlig absurd. „Ich gehe nicht mit Regin zu dem Bankett.“

„Sonea und Regin sind nur Freunde“, fügte Trassia hinzu. Sie warf Sonea einen eindringlichen Blick zu. „Du würdest mir doch sicher erzählen, wenn da mehr wäre, nicht wahr?“

Sonea blinzelte verwirrt. „Natürlich würde ich das.“

„Aber wenn es nicht Regin ist, mit dem du zu dem Bankett gehst, mit wem gehst du dann?“, fragte Yaen verunsichert.

„Hast du es noch immer nicht geschnallt?“, rief Trassia. „Sie geht natürlich mit ihrem Mentor auf das Fest. Wegen ihnen wird es doch überhaupt erst veranstaltet. Und ich glaube wirklich nicht, dass Lord Akkarin es wünscht, wenn jemand anders Sonea dorthin begleitet.“

Wenn du wüsstest, wie Recht du damit hast, dachte Sonea. Sie hatte dieses Detail ihrer Freundin bewusst verschwiegen. Trassia wäre misstrauisch geworden und ihr wäre keine passende Ausrede eingefallen.

„Oh“, machte Yaen bedrückt.

„Na, dann wünschen wir dir trotzdem viel Spaß“, sagte Genel mit hängenden Schultern.

„Danke“, sagte Sonea trocken.

„Bis bald, Sonea.“

Sie unterdrückte ein Seufzen.

All ihrer Erfahrung nach, würde bald bald sein. Die Schatten schienen zwar zu akzeptieren, dass sie bezüglich des Banketts gegen Akkarin keine Chance hatten, doch sie glaubten weiterhin, Sonea sei noch zu haben.

„Bis bald.“

Die drei Schatten trollten sich.

„Was ist denn auf einmal in dich gefahren?“, wandte sie sich an Trassia. „So aufbrausend bist du doch sonst nicht.“

„Naja, ich finde, das musste einmal gesagt werden.“ Verlegen strich Trassia eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Zu Soneas Überraschung färbten sich ihre Wangen rosa. Sie senkte den Kopf und begann ihre Notizen zu sortieren. „Lass uns lieber weiterlernen.“

 

 

***

 

Cery betrat das Bolhaus Die lüsterne Jungfrau, das zugleich ein Bordell war. Hinter ihm polterte Gol in die verlassene Schankstube. Corbins Mädchen aalten sich gelangweilt in einer Nische auf einer Gruppe Polstermöbel. Als sie die Neuankömmlinge entdeckten, warfen sie ihm und Gol anzügliche Blicke zu, blieben jedoch, wo sie waren. Sie kannten Cery und wussten, dass er kein Interesse an ihnen hatte.

Corbin, der Besitzer, war damit beschäftigt, die Theke zu polieren. Als er Cery und seinen Begleiter erblickte, weiteten sich seine Augen.

„Du bist früh, Ceryni“, sagte er statt eines Grußes.

„Es war nie Bestandteil unsrer Abmachung, dass ich erst abends komme, um mein Geld zu kassieren“, entgegnete Cery.

„’Türlich“, erwiderte Corbin. Sein Blick wurde unstet und er sah auf die Theke. „Nur dann hätt’ ich dir was mehr geben können.“

Eine drohende Miene aufsetzend und beugte Cery sich über die Theke. „Also heißt das, du kannst nicht zahlen.“

Der andere Mann nickte furchterfüllt. „Das heißt, ich kann dir die Hälfte geben“, sagte er. „Was mehr, wenn du bis heute Abend wartest. Den Rest kriegst du, sobald ich’s hab’.“

„Corbin, so war das nicht vereinbart.“ Cery war es leid, sich von seinen Klienten immer wieder hinhalten zu lassen. „Dein Hurenhaus hat die Schlacht unbeschadet überstanden. Du kannst mir nicht erzählen, du hättest kein Geld.“

„Die Kunden ha’m Schaden erlitten“, verteidigte sich der andere Mann. „Sie kommen nicht, weil ihnen’s Geld für’n bisschen Spaß fehlt.“

Und ich dachte immer, das wäre das einzige Geschäft, das immer läuft, fuhr es Cery durch den Kopf.

„Ceryni, ich hab’ wirklich alles gesammelt, was ich an Einkünften hab“, fuhr Corbin fort. „Aber mehr’s nicht drin. Ich kann meine Mädchen nicht hungern lassen. Und wenn ich die Preise erhöhe, bleiben die Kunden erst recht aus. Wenn du heute Abend wieder kommst, wirst du sehen, wie leer’s hier geworden’s.“

Davon brauchte Cery sich nicht überzeugen. Er brauchte sich nur umzusehen. Selbst tagsüber waren Hurenhäuser für gewöhnlich mit Kundschaft gefüllt. Dennoch konnte er Corbin nicht so leicht davonkommen lassen. Seine Klienten sollten nicht auf die Idee kommen, er würde ihnen jede Zahlungsverzögerung nachsehen. Schließlich war er kein Wohltäter. Er war ein Dieb.

Cery warf einen Blick zu den Huren. Die meisten waren alles andere als attraktiv. Er konnte sich keinen Mann vorstellen, der sein Geld ausgeben würde, um sich von ihnen bedienen zu lassen.

„Wenn ich mir deine Mädchen so ansehe, würd’ ihnen was weniger Fett auf den Rippen ganz gut stehen“, sagte er hart. „Die Freier wären eher bereit, ihr Geld hier zu lassen, du hättest höhere Einnahmen und ich krieg’ meine Zahlung pünktlich und vollständig.“

Corbin zögerte. „Schon“, gab er zu.

„’Ne andere Wahl hast du nicht. Außer, du kündigst unsere Vereinbarung.“

Der Bordellbesitzer erbleichte. „Bitte nimm mir nicht deinen Schutz, Ceryni. Was wird denn dann aus meinen Mädchen? Wie soll ich sie dann vor brutalen Kunden beschützen? Oder den ganzen Überfällen, die hier in der letzten Zeit waren?“

Cery seufzte übertrieben. Ihm war wohlbewusst, dass Huren nicht selten der Gewalt ihrer Freier ausgeliefert waren. Die Frauen, die in dieses Geschäft einstiegen, waren von Armut und Verzweiflung getrieben. Cery wusste das besser als alle anderen. Auch seine Mutter war eine Hure gewesen. Corbins Mädchen trugen keine Schuld daran, dass ihre Großmutter nicht das nötige Geld aufbringen konnte, um für ihren Schutz zu sorgen. Sie mochten keine Schönheiten sein, doch Die lüsterne Jungfrau war eines der am häufigsten besuchten Bordelle in der Gegend. Aber wenn das Geschäft seiner Klienten nicht lief, dann lief Cerys Geschäft ebenfalls nicht.

„Corbin, diese Entscheidung musst du selbst treffen“, sagte er.

„Du hast ja recht“, gab Corbin nach. „Ich brauch’ deinen Schutz, Ceryni. In der letzten Zeit’s hier zu viel passiert.“

Cery nickte, eine verständnisvolle Miene aufsetzend. Vor einigen Wochen war eins von Corbins Mädchen bei einem Überfall auf das Bordell getötet worden. Auf Grund seiner Vereinbarung mit Corbin hatte er den Übeltätern zwei seiner besten Messer geschickt.

„Dann tätest du gut dran, meinen Vorschlag anzunehmen“, sagte er.

„’Türlich“, sagte der andere Mann rasch. „Aber’s wird was dauern, bis ich das restliche Geld hab’“. Er machte eine Pause, als warte er, dass Cery etwas sagte. Cery hielt seinem Blick kühl und unbeeindruckt stand. „Bis dahin kann ich dir als Gefälligkeit eins meiner Mädchen geben. Du kannst sie für umsonst haben, wann immer du willst.“

„Danke, ich hab’ kein Interesse.“

„Du kannst sie auch haben, wenn ich meine Schulden bezahlt hab’“, bot Corbin an. „Du kannst sie haben, solang und so oft du willst.“

Erneut warf Cery einen Blick hinüber zu den Mädchen in der Ecke mit den Sesseln.

„Corbin, was soll ich mit ’ner Hure?“, fragte er. „Davon kann ich mich und meine Leute nicht versorgen.“

„Stimmt. Aber du kannst dich was amüsieren.“ Corbin warf einen Blick zu Gol. „Oder deine Leute. Ihr könntet sie alle haben.“

Gol gluckste unverhohlen.

„Nein“, sagte Cery entschieden. „Aber ich weiß dein Angebot zu schätzen.“

„Aus der Nähe sind sie viel hübscher“, wandte Corbin ein. Er hob eine Hand und bedeutete den Mädchen, näher zu kommen.

Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck erhob sich ein Mädchen nach dem anderen und trottete zur Theke. Sie stellten sich in eine Reihe und betrachteten Cery und Gol mit mäßigem Interesse. Ihre Kleider ließen die Schultern unbedeckt, ihre Mieder waren lässig geschnürt und gaben mehr Blick auf das darunterliegende frei, als anständig gewesen wäre.

Cery unterdrückte ein Seufzen. Corbin würde keine Ruhe geben, bevor er ihm seine Mädchen nicht angepriesen hatte. Er beschloss, es könne nicht schaden, sich zumindest eine auszusuchen. Er brauchte diese Gefälligkeit nicht nutzen, doch er ahnte, im Augenblick musste er von seinen Klienten nehmen, was er bekommen konnte. Es würde dauern, bis Corbin und die anderen wieder komplett zahlungsfähig waren und er wollte keinen an die Konkurrenz verlieren.

„An deiner Stelle würd’ ich danach auswählen, was du am liebsten hast“, riet der Bordellbesitzer. „Tanna’s sehr geschickt mit ihrer Zunge, sie kann dir ungeahnte Höhen der Lust zeigen. Lania mag’s gern sehr hart, an ihr kannst du dich austoben. Und das mein’ ich so. Aber wenn du für ’ne Nacht lieber’n Sklave sein willst, musst du zu Dara gehen.“ Er zeigte nacheinander auf drei verschiedene Mädchen, die allesamt keine Schönheiten waren. Die Haut der Letzten hatte trotz ihrer kyralischen Gesichtszüge eine leichte Goldtönung, was sachakanische Vorfahren vermuten ließ.

Ich glaube nicht, dass ich ein Sklave sein will, fuhr es Cery durch den Kopf. Er schauderte. Nicht einmal im Bett. Aber wenn es Freier gab, die Jungen bevorzugten, gab es sicher auch solche, die es erregte, von einer Frau unterworfen zu werden. Tannas so gepriesene Zunge reizte ihn indes auch nicht. Ebensowenig wie der Gedanke, grob zu sein.

„Was’s mit den anderen?“, fragte er Interesse heuchelnd und deutete auf die vier restlichen Mädchen.

„Die machen alles, was du willst. Egal was.“

Cery runzelte die Stirn und musterte die sieben Mädchen eingehend, die seinen Blick inzwischen erwartungsvoll erwiderten. Offenkundig war die Aussicht, sich einem Dieb hinzugeben, für die meisten von ihnen verlockend.

„Das Mädchen dort, wie’s ihr Name?“, verlangte Cery zu wissen und deute auf ein kleines, kyralisches Mädchen, von höchstens sechzehn Jahren. Sie gehörte zu jenen, die laut Corbin alles taten, aber sie war mit Abstand die Hübscheste.

„Das’s Nenia“, antwortete Corbin. „Aber die gehört mir.“

Es war nichts Ungewöhnliches, dass ein Bordellbesitzer sich ab und an selbst mit seinen Huren vergnügte oder unter ihnen seine Lieblinge hatte, die er regelmäßig in sein eigenes Bett holte. Aber wenn Corbin ihm schon diese Gefälligkeit anbot, dann durfte er keine Einschränkungen machen, fand Cery.

„Die und keine andere“, befahl er. „Oder unser Geschäft platzt.“

Die Augen des anderen Mannes weiteten sich. „Aber ich hab’ keine Frau“, protestierte er.

„Dann such dir eine“, sagte Cery ungerührt. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sich Gol drohend neben ihm aufbaute. „Am besten in deinem Alter. Ich will Nenia und keine andere und ich werd’ sie jetzt mitnehmen. Ich bring’ sie dir morgen zurück.“

„Sie gehört dir“, stammelte Corbin.

Cery lächelte. Neben ihm entspannte sich sein Leibwächter.

„Dann verstehen wir uns.“ Cery nahm Nenias Hand. Sie blickte ihn aus ängstlichen Augen an, was ihn seine Entscheidung fast wieder bereuen ließ. Er entschied, sie nicht zu verführen, solange sie kein Vertrauen zu ihm gefasst hatte und er nicht den Drang verspürte, sie sich zu nehmen. Aber für heute Nacht würde sie ihm gehören.

 

 

***

 

„Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, Euch wohlbehalten zurück in Elyne zu wissen.“ Botschafter Errend zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

„Dasselbe gilt für mich“, erwiderte Dannyl. Nach dem frühherbstlichen Wetter in Kyralia schien es, als sei der Sommer noch einmal zurückgekehrt. Die Nachmittagssonne schien angenehm warm auf die Hänge des Gartens der Botschaft zu Capia. Aus der Bucht wehte eine schwache Brise die Hänge hinauf. Ein paar Insekten summten über den in allen Farben des Sommers blühenden Blumen in den akkurat angelegten Beeten.

Dannyl ließ seinen Blick über den lieblichen Ausblick schweifen. Es tat unendlich gut, wieder hier zu sein. Spät am gestrigen Abend waren er und Tayend in Capia angekommen. Die erste Nacht in seinem eigenen Bett hatte er genutzt, um auszuschlafen. Anschließend hatte er ein ausgiebiges Bad genommen, bevor er sich bei Botschafter Errend gemeldet hatte.

„Auch wenn ich befürchte, dass viel Arbeit auf mich wartet“, fügte er mit einem unterdrückten Seufzen hinzu.

Seit Dannyl vor zwei Jahren nach Elyne gekommen war, hatte Errend einen Großteil seiner Pflichten auf ihn abgewälzt. Dannyl beklagte sich darüber indes nur selten, weil er seine Arbeit als Diplomat liebte.

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Errend. „Ich werde Euch eine Liste mit Aufgaben zukommen lassen. In den nächsten beiden Monaten wird es zudem mehrere Feierlichkeiten geben, zu denen Ihr eine Einladung erhalten habt. Die erste ist Bel Fiores Geburtstagsfeier in vier Wochen.“

Dannyl lächelte. „Diesen Teil meiner Arbeit mache ich noch immer am liebsten“, scherzte er. „Was gibt es sonst Neues?“

Botschafter Errend gab ihm eine kurze Zusammenfassung, wer von den Dems und Bels geheiratet hatte, wer gestorben war, welche Familien miteinander im Streit lagen und was sich politisch in Elyne während seiner Abwesenheit getan hatte.

„Und der König möchte Euch so bald wie möglich sprechen“, beendete er seinen Bericht. „Er will wissen, ob Elyne auch Gefahr von Sachaka droht.“

Dannyl unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht bewiesen, dass Farand wirklich von König Marend vergiftet worden war. Die Gilde hatte die Ermittlungen aus politischen Gründen einstellen müssen. Und daher verspürte er keine große Lust, dem Herrscher von Elyne gegenüberzutreten. Ein paar Tage würde er diese Angelegenheit vielleicht aufschieben können, aber auch nicht länger.

„Ich werde sehen, ob ich morgen Zeit finde“, sagte er. „Spätestens zum Wochenende sollte sich ein Termin gefunden haben.“

Errend nickte. „Es wäre ungünstig, wenn Ihr Seine Majestät zu lange warten lasst.“

Sie erreichten eine Anhöhe, von der aus sich ein atemberaubender Blick über Capia und die Bucht bot. Errend schwebte zu einer Gartenbank aus behauenem Stein, die unter einem Baum mit ausladenden Ästen stand. Ein wenig schwerfällig ließ er sich mit seiner gesamten Körpermasse darauf nieder.

„Setzt Euch, mein Freund“, sagte er. „Genießt den Duft der Heimat.“

Dannyl setzte sich neben ihn und berührte mit den Handflächen den kühlen Stein der Sitzfläche. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Ja, er war zuhause.

Eine Weile saßen sie da und genossen die Stille.

„Erzählt mir von der Schlacht von Imardin“, forderte der andere Mann ihn schließlich auf.

Dannyl unterdrückte einen neuerlichen Seufzer. Er hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde. In beschlich die leise Ahnung, er würde diese Geschichte noch nicht zum letzten Mal erzählt haben.

Er berichtete Errend, was sich während der Schlacht zugetragen hatte, von den anschließenden Aufräumarbeiten in der Stadt und wie sich die Gilde neu organisiert hatte.

„Eine Handvoll sachakanischer Magier hat beinahe die komplette Gilde ausgelöscht“, murmelte Errend. Er hatte sein massiges Kinn auf seine Hand gestützt und sah nachdenklich hinaus in die Bucht.

„Es waren schwarze Magier“, korrigierte Dannyl. „Ich war dabei, wie wir einen von ihnen erledigt haben. Wir waren etwa vierzig Gildenmagier gegen einen Sachakaner. Nachdem wir ihn getötet hatten, hatten wir uns so gut wie erschöpft.“

Errend schüttelte den Kopf. „Das ist grauenhaft, Dannyl. Wirklich grauenhaft.“

Dannyl nickte zustimmend. Selbst jetzt verspürte er noch den Schrecken, den er an jenem Tag empfunden hatte. An das, was wäre, wenn weitere Sachakaner Kyralia angriffen, wollte er gar nicht erst denken.

„Und diese Sachakaner sind allesamt schwarze Magier? Auch ihr König, richtig?“

Dannyl nickte. „Zumindest jene Sachakaner, die über Magie gebieten. Die übrigen sind Sklaven, die für ihre Magie und niedere Arbeiten gehalten werden.“

Errend erschauderte sichtlich. „Nur eine Bergkette trennt uns von diesen Barbaren. Seit Generationen treiben wir Handel mit diesen Leuten. Und die ganze Zeit wussten wir nicht, mit welch gefährlichen Ungeheuern wir es zu tun haben.“

„Die frühere Gilde hat das Wissen über schwarze Magie fast vollständig vernichtet“, erinnerte Dannyl. „Wir wussten weder, was schwarze Magie ist, noch dass die Sachakaner sie praktizieren.“

Botschafter Errend nickte langsam. „Und die Gilde kann sich nur vor ihnen schützen, wenn sie selbst ein paar schwarze Magier hat.“

„So ist es“, sagte Dannyl. „So entsetzlich diese Kunst auch sein mag, so sind wir doch darauf angewiesen.“ Seit Akkarins Anhörung drehten sich seine Gedanken bei diesem Thema im Kreis. Es widerstrebte seinem gesunden Menschenverstand, wie etwas so Böses so gut sein konnte. Dannyl wusste, er würde niemals schwarze Magie zu erlernen – nicht einmal um die Verbündeten Länder vor dem Untergang zu bewahren. Er bewunderte Akkarin und Sonea, weil sie das gewagt hatten, feierte sie sogar, und wusste zugleich nicht, ob ihm das gefallen sollte.

„Dannyl, was denkt Ihr?“, riss Errend ihn aus seinen Gedanken. Dannyl wandte sich ihm zu. Aus dem Gesicht des Botschafters war alle Farbe gewichen. „Ist Elyne in Gefahr?“

„Ich weiß es nicht.“ Dannyl hatte sich diese Frage in den vergangenen Wochen oft gestellt. „Der Hass der Sachakaner bezieht sich hauptsächlich auf Kyralia. Wir waren es, die sie im letzten Krieg besiegt haben, auch wenn Elyne dabei geholfen hat. Wir haben ihr Land so sehr verwüstet, dass es noch immer in großen Teilen unbewohnbar ist. Lord Akkarin behauptet, die politische Lage in Sachaka sei dadurch sehr kompliziert geworden und dass eine Art Bürgerkrieg herrscht.

„Bis vor wenigen Monaten dachten die Sachakaner, die Gilde würde noch immer schwarze Magie praktizieren, weswegen sie uns gefürchtet haben. Sie wissen, dass die Gilde aus Magiern aller Verbündeter Länder besteht, wenn auch die meisten Kyralier sind. Es ist reine Spekulation, ich bin kein Krieger, aber wir sollten uns nicht allzu sicher wähnen. Die Sachakaner könnten zuerst Elyne einnehmen, sich stärken und dann von dort aus Kyralia angreifen. Umgekehrt könnte Elyne ihr nächstes Ziel sein, wenn sie erst einmal Kyralia erobert haben.“

Errend nickte langsam. „Allein durch das Bündnis beider Länder wäre Elyne in Gefahr, weil es zur Hilfe verpflichtet ist, sollte es zu einem Krieg kommen. Es ist sehr schwierig vorauszusagen, was passieren wird.“

Dannyl konnte seine Beunruhigung förmlich spüren. „Ich denke aber nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen“, sagte er. „Die Elyner haben nicht viel getan, was ihnen den Zorn Sachakas einhandeln dürfte.“

„Ist es das, was Ihr glaubt?“

„Ja“, antwortete Dannyl. „Aber wir sollten dennoch anfangen, Sachaka als potentielle Gefahr zu betrachten. Selbst, wenn wir uns aus allem heraushalten, wären wir für die Sachakaner ein leichtes Ziel.“

 

 

***

 

Der von Hecken gesäumte Weg vom Heilerquartier zur Arena war kurz. Sonea beeilte sich, weil Lady Vinara an diesem Tag ihren Unterricht wieder einmal überzogen hatte. Die Behandlung eines Patienten konnte mit dem Gong zum Unterrichtsende nicht einfach abgebrochen werden. Inzwischen hatte Soneas Lehrerin das mit Akkarin besprochen und er nahm ihr Zuspätkommen hin.

Wenn sie später zu Kriegskunst erschien, überzog Akkarin jedoch ebenfalls. Das bedeutete, sie waren später zuhause, aßen später zu Abend und sie fing später mit Lernen an. Und sie gingen später schlafen. Zu Soneas Freude wartete Akkarin mit dem Zubettgehen jeden Abend auf sie, egal wie lange sie lernte. Allerdings hatte sie dann oft nicht mehr viel von seiner Nähe, weil sie sofort einschlief, was zuweilen frustrierend war. An diesem Abend würde es sehr spät werden, weil Akkarin ihr wieder Unterricht in kyralischen Standardtänzen und Hofetikette erteilen würde.

Eine Gestalt trat aus einem der Seitenwege und versperrte ihr den Weg.

Veila.

„Hallo, Veila“, sagte Sonea betont freundlich. „Tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit für dich. Ich muss zu Kriegskunst.“

„Ich weiß, du willst deinen Liebsten nicht warten lassen“, sagte Veila gespielt einfühlsam.

Sonea verschränkte die Arme vor der Brust. Musste sie sich das wirklich bieten lassen? „Er ist mein Mentor“, zischte sie.

Mit einem nachsichtigen Lächeln strich Veila über Soneas Wange. „Süße, lassen wir doch einfach dieses Versteckspiel.“

„Veila, was willst du?“, fragte Sonea kühl, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Es kostete sie all ihre Beherrschung, nicht nach ihrer Magie zu greifen und Veila von sich zu stoßen. Sie wusste, das würde Konsequenzen geben.

„Ich habe gehört, dass du deinen Liebsten zu dem Bankett begleitest, das morgen im Palast stattfindet.“

„Weil er mir befohlen hat, ihn zu begleiten.“

„Und du gehorchst ihm natürlich bereitwillig.“ Veila kicherte leise. „Hoffst du etwa, ihm damit zu gefallen?“

„Wenn ich ihm nicht gehorchen würde, dann wäre ich wohl eine schlechte Novizin“, gab Sonea zurück. Du hättest bestimmt nicht viel bei ihm zu lachen, dachte sie verächtlich und verspürte mit einem Mal einen unverhohlenen Stolz, Akkarins Novizin zu sein.

Veila betrachtete sie mit einem abschätzigen Blick. „Etwas anderes gehört sich für jemanden wie dich auch nicht“, sagte sie herablassend.

„Was soll das heißen?“

„Du kommst aus dem Dreck. Darüber kann weder dein perfekt gekämmtes Haar noch deine makellose Haut hinwegtäuschen. Du bist eine Schande für Haus Velan. Deswegen wirst du nicht mit Lord Akkarin zu dem Ball gehen.“

Nur mit Mühe unterdrückte Sonea das Zittern, das Veilas Worte auslösten. Es stimmte, sie kam aus dem ärmsten Teil der Stadt. Aber sie besaß weitaus mehr Menschlichkeit und Anstand als diese andere Novizin. Nur leider würde ihr das nicht helfen. Veila hatte sich bereits ihre Meinung über sie gemacht.

„Wenn du so dringend mit Lord Akkarin zu dem Bankett gehen willst, warum fragst du ihn dann nicht einfach?“, gab sie zurück. „Ich werde ihn jetzt gleich in der Arena sehen. Du kannst mitkommen und ihn direkt fragen. Ich weiß, du bist sowieso jedes Mal da um ihn anzuschmachten.“

Veila öffnete den Mund, doch Sonea schnitt ihr das Wort ab.

„Ich kenne genügend Männer, die sich sogar mit ihm duellieren würden, um mich morgen Abend zu begleiten. Aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich mir kaum vorstellen, dass er in Begleitung einer so oberflächlichen Reberkuh wie dir zu einer Veranstaltung gehen will, auf der der König ihm vor allen einflussreichen Leuten aus den Häusern verzeiht. Denn das würde wirklich Schade über Haus Velan bringen.“ Sie runzelte die Stirn und tat als denke sie nach. „Geh ruhig und frag ihn. Aber ich bin sicher, er wird nein sagen.“

Veilas Gesicht war vor Zorn dunkelrot angelaufen und ihre vornehmen Gesichtszüge hatten sich verzerrt.

„Das werden wir ja sehen“, zischte sie und stürmte in Richtung Arena davon.

Sonea lächelte humorlos. Sie gewährte Veila einen Vorsprung von einigen Minuten und kam sich dabei überaus großzügig vor. Wahrscheinlich würde Veila sehr viel weniger Zeit benötigen, um einen Korb von Akkarin zu bekommen. Sonea hoffte, das würde der hochnäsigen Novizin eine hinreichend gute Lektion sein, um aufzugeben.

Schließlich nahm sie ihre Tasche und ging zur Arena.

Akkarin erwartete sie auf der Kampffläche.

„Entschuldigt die Verspätung, Mylord“, sagte Sonea und verneigte sich. „Lady Vinara hat mich länger dabehalten.“

Er winkte ab. „Mir ist selbst etwas dazwischen gekommen.“

„Was?“, fragte sie, bemüht ihre Neugier zu verbergen. Aber wahrscheinlich waren ihre Gedanken für ihn in diesem Moment nur unschwer zu ignorieren.

Akkarins Gesicht verfinsterte sich. Sein Blick huschte flüchtig zur Zuschauertribüne. „Jemand hat sich angemaßt, meine Entscheidungen in Frage zu stellen“, sagte er gefährlich leise.

Sonea blickte zur Tribüne. Dort saß Veila zwischen ihren Freundinnen aus dem fünften Jahr. Sie wirkte noch wütender als wenig zuvor beim Heilerquartier. Ein wenig bewunderte sie ihre Rivalin, weil sie tatsächlich den Mut gehabt hatte, Akkarin zu fragen.

Siehst du? Sonea verspürte einen jähen Triumph. Er würde dich niemals in Betracht ziehen.

Als Akkarin ihr eine Hand auf die Schulter legte, um ihren Inneren Schild zu errichten, freute sie sich zum ersten Mal auf Kriegskunst.

 

 

***

Kapitel 10 - Das Bankett

  Kapitel 10 - Das Bankett

 

 

Die Kutsche schaukelte sanft hin und her, als sie das Gelände der Universität verließ und auf die gepflasterte Straße im Inneren Ring einbog. Nervös drehte Sonea die Enden der Schärpe ihrer Robe zwischen den Fingern. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie an diesem Abend erwarten würde und sie fürchtete, sich zu blamieren. An jedem Abend dieser Woche hatte Akkarin sie in der höfischen Etikette unterwiesen, aber ihr fehlte die jahrelange Übung, die sie gehabt hätte, wäre sie in einem der Häuser aufgewachsen.

Davon abgesehen war das nicht ihre Welt.

Gleich nach dem Unterricht war Sonea zu Rothens Quartier geeilt, wo Tania sie frisiert und mit einer Pinzette ihre Augenbrauen in Form gezupft hatte. Als sie anschließend in den Spiegel geblickt hatte, hatte sie sich seltsam entstellt gefühlt. Was ihre Frisur betraf, so hatte Tania sich jedoch selbst übertroffen. Soneas Haar schimmerte seidig und fiel offen über ihre Schultern, nur ein paar einzelne Strähnen hatte die Dienerin miteinander verflochten.

„Kann ich so wirklich zu dem Bankett gehen?“, fragte Sonea nun schon zum wiederholten Mal.

Egal wie aufwändig sie zurechtgemacht war, Sonea war überzeugt, dass alle nur das Hüttenmädchen in ihr sehen würden, das im Palast nichts verloren hatte. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich an Veilas Worte vom Tag zuvor. Du kommst aus dem Dreck, hatte die Novizin aus dem fünften Jahr gesagt. Darüber kann weder dein perfekt gekämmtes Haar noch deine makellose Haut hinwegtäuschen. Sollten alle aus den Häusern so denken, dann würde es Sonea nicht wundern, wenn ihr jemand unterstellte, Besteck oder einen mit Diamanten verzierten Trinkpokal mitgehen zu lassen.

„Du bist hübscher als Rothen und ich zusammen“, bemerkte Akkarin trocken.

Sonea lachte. Diese Antwort hatte sie bis jetzt noch nicht bekommen.

„Das ist ja auch wirklich nicht schwer!“, gab sie zurück.

Rothen machte ein glucksendes Geräusch.

„Sonea, wo bleibt dein Respekt?“, fragte Akkarin streng.

„Wir sind gerade erst losgefahren“, protestierte sie. „Und es ist nur Rothen hier. Und der kennt das schon von mir.“

Rothen prustete los.

Akkarin runzelte missbilligend die Stirn. „Es wird ein langer Abend und ich wünsche, dass du jetzt anfängst, mich wie deinen Mentor zu behandeln“, sagte er. „Wir sind zum ersten Mal lange in der Öffentlichkeit. Ich möchte nicht in die Verlegenheit geraten, zu erklären, warum sich meine Novizin mir gegenüber vertraulicher verhält, als sie es eigentlich sollte.“

Sonea stieß einen leisen Seufzer aus. „Ja, Lord Akkarin.“

Sie lernte so viel für ihre Prüfungen, dass sie kaum Zeit füreinander hatten. Ein freier Abend wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mehr zu lernen und am nächsten Tag mehr gemeinsame Zeit zu haben, doch es wurde erwartet, dass Sonea an diesem albernen Fest teilnahm. Wir sind auch jetzt zusammen, redete sie sich ein. Selbst, wenn Akkarin sie unterrichtete oder sie in der Universität waren, hatte sie das Gefühl, mehr als nur seine Novizin zu sein. Überhaupt in seiner Nähe zu sein, machte sie glücklich.

Aber es wäre so viel besser, sich nicht verstellen zu müssen!

„Was, wenn ich es nicht mehr abstellen kann, wenn wir wieder zuhause sind?“

Rothen kicherte erneut.

Akkarin lange Finger schlangen sich um ihre Hand.

- Ich glaube, ich will lieber nicht wissen, was du ihm alles von uns erzählst.

- Wie gut, dass du das niemals erfahren wirst!, gab Sonea zurück und fing sich einen strengen Seitenblick von Akkarin ein. Rothen weiß nicht mehr, als du ihm auch erzählen würdest, fügte sie ein wenig ernsthafter hinzu. Ich kann gewisse Dinge für mich behalten. Aber manchmal muss ich dich einfach aufziehen.

Akkarin erwiderte nichts darauf. Dennoch er hielt ihre Hand weiterhin umschlungen. Sonea ersparte es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass er sich ebenfalls nicht wie ihr Mentor verhielt, und genoss seine Berührung einfach nur.

„Ich bezweifle, dass du überhaupt noch in der Lage sein wirst, zu sprechen, wenn wir zurück sind“, sagte er plötzlich.

„Wieso?“

„Die Feste bei Hofe pflegen recht ausschweifend zu sein. Es erfordert Übung, die Palastdiener daran zu hindern, das Weinglas immer wieder aufzufüllen. Vielleicht solltet auch Ihr Euch das zu Herzen nehmen, Lord Rothen.“

„Ich werde mein Bestes tun“, erwiderte Rothen.

Soneas früherer Mentor war zuletzt als Kind bei Hofe gewesen. Während Tania sie frisiert hatte, hatte Rothen ihr anvertraut, dass er einen gemütlichen Abend in seinem Wohnzimmer diesem Fest vorziehen würde. Sonea war indes dankbar für seine Begleitung. Sie würde nicht den ganzen Abend bei Akkarin sein können und sie wollte nicht die übrige Zeit des Abends mit Menschen verbringen müssen, die allesamt auf sie herabsahen.

Der Palast kam in Sicht. In der Dunkelheit waren seine Türme nur schemenhaft hinter der hohen Mauer zu erkennen.

„Ich kann nicht behaupten diesen Anblick, abgesehen von der Architektur, vermisst zu haben“, murmelte Akkarin. „Als ich noch Hoher Lord war, habe ich beinahe jede Woche an diesen lästigen, gesellschaftlichen Verpflichtungen teilgenommen.“

Wundervoll, dachte Sonea. Sie war gezwungen, auf ein Fest zu gehen und ihre beiden Begleiter wollten lieber zuhause bleiben.

Auf einem weitläufigen Platz kam die Kutsche zum Stehen. Akkarins Hand löste sich von ihrer. Sonea warf einen Blick durch das Fenster. Die Krieger, die als ihre Eskorte mitgekommen waren, hatten den Platz in einem Kreis umstellt. Ihre Lichtkugeln erleuchteten die Statuen früherer Könige, die wie stille Wächter zwischen den Kriegern standen.

Ein uniformierter Palastdiener öffnete die Tür und sie stiegen aus. Balkan, Administrator Osen, Lord Garrel, und Lady Vinara warteten vor dem Eingang. Hinter Sonea hielt gerade eine weitere Kutsche, aus der Lord Peakin, Lord Telano und Rektor Jerrik ausstiegen.

Das Oberhaupt der Alchemisten und der Leiter der medizinischen Studien hatten ihre Frauen mitgebracht. Lord Telanos Frau trug wie ihr Mann grüne Roben und war eine Vindo, während Lord Peakins Frau, eine Kyralierin mittleren Alters, ein aufwändig geschneidertes Abendkleid trug. Lady Vinara hatte sich bei Balkan eingehakt. Selbst an diesem Abend wirkte ihre Miene streng und sauertöpfisch.

Akkarin blickte zu Sonea. Seine dunklen Augen blitzen. „Nun, Sonea?“, fragte er und bot ihr seinen Arm. „Bist du bereit, dich auf das Schlachtfeld von Politik und feiner Gesellschaft zu stürzen?“

Sie sah zu ihm auf und schüttelte stumm den Kopf.

Er bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Dann komm.“

Sie hakte sich bei ihm unter. Es fühlte sich merkwürdig und hölzern an, doch das würde sie ertragen müssen, weil es bei den Angehörigen der Häuser und bei Hofe so üblich war. Auch die übrigen Frauen hatten sich bei einem Mann eingehakt und Sonea war sicher, dass Lady Vinara und Balkan kein Paar waren, weil sie mindestens zwanzig Jahre älter sein musste.

Wenn unsere Beziehung auffliegt, dann bestimmt nicht heute Abend, versuchte sie sich einzureden. Die Gefahr erschien ihr groß, doch sie war sicher, wenn es geschah, dann geschah es dann, wenn sie es am wenigsten erwartete.

Gemeinsam mit den höheren Magiern stiegen sie die Stufen zum Palast empor und traten in eine Eingangshalle, die jener der Universität ähnelte. Auf dem Boden war das Incal des Königs, der Mullook, aus einem Mosaik vieler winziger Steine dargestellt und von der Decke hingen zahlreiche Leuchter aus Gold. Sonea blinzelte, als ihr Blick auf das große Uhrwerk in der Mitte des Raumes fiel, dessen Zeiger und Zahnräder munter vor sich hintickten.

Ein Palastdiener trat auf sie zu, verneigte sich und führte sie einen Korridor entlang, an dessen Wänden prächtige Gemälde hingen.

Der Korridor endete in einer Halle, in der mehrere Dutzend Männer und Frauen in kostbaren Gewändern versammelt waren, die meisten offenkundig Paare. Zwischen ihne wuselten aufgedrehte, ie wie kleine Prinzessinnen und Prinzen gekleidete Kinder umher. An der Seite wand sich eine fragile Treppe hinauf in ein höheres Stockwerk. Sonea erkannte den Stil von Lord Loren wieder.

Sie sah zu Akkarin. „Was passiert jetzt?“

Er deutete zu zwei großen Türflügeln am anderen Ende der Halle. „Das ist der Bankettsaal. Die Gäste werden gleich mit ihrer Begleitung dort hereingebeten. Der König wird jedes Paar einzeln empfangen.“

„Und da muss ich dann diesen Knicks machen?“

Seine dunklen Augen begegneten ihren.

„Ja.“

Sonea widerstand dem Drang, eine Grimasse zu schneiden. Akkarin hatte ihr erklärt, dass im Gegensatz zu den anderen Begegnungen mit dem König die Frauen bei einem derartigen Empfang knicksten. Er hatte sie diesen Knicks solange wiederholen lassen, bis es anmutig aussah. Sonea war sich dabei reichlich albern vorgekommen. Warum konnte sie sich nicht einfach vor dem König verneigen, so wie sie es vor den Magiern tat oder auf ein Knie gehen, wie sonst auch? Und warum überhaupt musste die Hofetikette so kompliziert sein?

„Sonea, wie sicher bist du in Gesellschaftstänzen?“

Sie wandte sich um und fand sich Lord Garrel gegenüber.

„Sicher genug, um Lord Akkarin nicht auf die Füße zu treten“, antwortete sie.

Einige Magier lachten.

„Es wäre viel unerfreulicher, würde ich ihr auf die Füße treten“, bemerkte Akkarin.

„Also ist es Euch in der kurzen Zeit gelungen, Sonea gesellschaftsfähig zu machen?“, fragte Balkan.

Sonea betrachtete den Hohen Lord verärgert. Er tat, als hätte sie zu Beginn der Woche noch in den Hüttenvierteln gelebt.

„Selbstverständlich. Sonea ist intelligent und alles anderes als untalentiert. Zudem lässt sie sich bereitwillig führen.“

Garrel musterte sie neugierig. Unter seinem Blick begann Sonea sich zusehends unbehaglich zu fühlen. Sie hing noch immer an Akkarins Arm und sie fragte sich, wie viel der Krieger bereits ahnte. Unwillkürlich musste sie an ihr Gespräch mit Regin über seinen Onkel denken. Es war ihr nicht gelungen, ihrem Freund seinen Plan auszureden. Inzwischen hatte Regin seinem Onkel erzählt, sie sei in Rothens Sohn verliebt, was ihr überhaupt nicht gefiel. Wenn Dorrien davon erfuhr, würde er sich erneut Hoffnungen machen, während es ihr ohne Zweifel Akkarins Zorn einhandeln würde. So wie Garrel sie anstarrte, konnte sie sich indes nicht vorstellen, dass das Oberhaupt der Krieger Regins Geschichte glaubte.

Akkarin ist mein Mentor, redete sie sich ein. Ich bewundere ihn. Aber vor allem fürchte ich ihn.

Sie hoffte, das würde helfen. Die Tatsache, dass sie Gefallen daran hatte, ihn zu fürchten, erschwerte die Sache indes.

Am anderen Ende der Halle öffneten sich die großen Türen. Allmählich setzten sich die Gäste in Bewegung. Entweder als Paar oder einzeln schritten sie einen orangefarbenen Teppich entlang.

„Nach Euch, Lord Akkarin“, sagte Balkan, als sie sich den Türen näherten. „Es ist Euer Abend.“

„Nein“, widersprach Akkarin. „Ihr seid Hoher Lord. Ihr solltet zuerst gehen.“

„Ich bestehe darauf“, widersprach Balkan.

„Wie Ihr wünscht“, erwiderte Akkarin kühl.

Sonea runzelte die Stirn. Nach allem, was sie über Hofetikette gelernt hatte, führte das Oberhaupt eines Hauses seine Mitglieder, die mit absteigendem Rang folgen, bei einem solchen Empfang an. In diesem Fall hätten sie und Akkarin den Schluss bilden müssen. Es gefiel ihr nicht, dass sie, die schwarzen Magier, damit das Erste von der Gilde sein würden, das alle Anwesenden zu sehen bekamen.

„Perril von Airen und seine Frau Selana, Haus Dillan“, rief der Palastdiener und notierte sich etwas auf einer Liste.

Sonea beobachtete, wie das Paar vor ihnen einen orangefarbenen Teppich hinab schritt. Am anderen Ende saß König Merin auf einem prachtvollen Thron. Sonea ließ die Frau nicht aus den Augen. Sie musste genau hinsehen, wie sie diesen Knicks machte. Das Paar erreichte den Thron und die Frau knickste, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Sonea seufzte leise. So würde das bei ihr niemals aussehen.

Ein weiterer Palastdiener trat auf das Paar zu. Er sagte etwas zu ihnen und wies zu einer langen Tafel an einer Wand des Saales.

„Lord Akkarin von Delvon, Haus Velan und seine Novizin Sonea.“

Sonea zuckte zusammen. Das sind wir!

„Komm“, murmelte Akkarin.

Sie straffte ihre Schultern und schritt an seiner Seite auf den König zu. Alle Augenpaare im Saal waren auf sie gerichtet, sie konnte die Blicke förmlich spüren. Ihre Panik niederkämpfend zwang sie sich zu einem Lächeln.

- Entspann dich, sandte Akkarin ruhig. Ich bin bei dir. Niemand wird es wagen, dich zu beleidigen.

- Damit könnte ich leben. Ich fürchte vielmehr, dich heute Abend zu blamieren.

Sonea konnte seine Erheiterung spüren.

- Das kannst du gar nicht.

Das Gefühl, das er ihr mit diesen Worten sandte, ließ ihre Knie weich werden und ihr Herz schneller lagen. Fast wäre sie gestolpert, doch sie hatte sich rechtzeitig wieder unter Kontrolle. Dann hatten sie auch schon den Thron erreicht.

„Lord Akkarin und Sonea, ich heiße Euch Willkommen“, sprach König Merin.

Zu Soneas Überraschung lächelte er. Verstört sah sie auf die Spitzen ihrer Stiefel.

„Vielen Dank Euer Majestät. Wir haben Eure Einladung mit Freuden angenommen“, erwiderte Akkarin und verneigte sich.

Sonea knickste. Es fühlte sich plump und unbeholfen an und sie glaubte, die Blicke der Gäste in ihrem Rücken zu spüren.

„Als meine Ehrengäste erhaltet Ihr heute Abend einen besonderen Platz an meiner Tafel“, teilte der König ihnen mit. „Mein Diener wird Euch zu Euren Plätzen führen.“

Er gab dem Palastdiener, der dem Paar vor ihnen ihre Sitzplätze zugewiesen hatte, einen Wink.

„Lord Akkarin, Lady Sonea, bitte folgt mir“, forderte der Mann sie auf.

Sie folgten dem Diener zu der Tafel, an der bereits einige Gäste saßen. Die übrigen hatten sich entlang des orangefarbenen Teppichs aufgestellt und beobachteten die Neuankömmlinge.

Hinter ihnen kündigte der Palastdiener an den Türen Balkan und Lady Vinara an. Sonea kam nicht umhin, den Kopf zu schütteln. Anscheinend zählte es bei Hofe nicht, dass Magier mit dem Beitritt zur Gilde ihre Häuserzugehörigkeiten ablegten. Sie fand, die Hofetikette war alles andere als sinnvoll und konsequent.

Der Palastdiener führte sie zu zwei gegenüberliegenden Plätzen am Kopfende der Tafel. Von irgendwo eilten zwei weitere Diener herbei und schoben ihre Stühle zurück. Sonea fiel auf, dass sich zwischen ihnen am Kopfende des Tisches nur ein einziges weiteres Gedeck befand. Der dazugehörende Stuhl war weitaus größer und prächtiger als die übrigen.

„Dort wird doch nicht etwa er sitzen?“, hauchte sie entsetzt. Der Gedanke, an der Seite des Königs speisen zu müssen, erfüllte sie mit einem ungeahnten Horror.

„Selbstverständlich.“ Akkarin setzte sich auf den Platz ihr gegenüber und musterte sie durchdringend. „Ich bezweifle, dass diese Erfahrung für dich schlimmer wird, als unser erstes formales Dinner.“

Sonea funkelte ihn an. Musste er sie ausgerechnet jetzt daran erinnern?

Während die höheren Magier die Plätze neben ihnen einnahmen und sich die Tafel allmählich mit Gästen füllte, ließ Sonea ihren Blick durch den Bankettsaal schweifen. Der Tisch war mit zahlreichen Blumengestecken geschmückt, dazwischen Kerzenleuchter, deren Licht sanft von den goldenen Tellern und dem Essbesteck reflektiert wurde. Die Stühle aus Nachtholz waren mit einem seidigen Stoff gepolstert und an den Lehnen mit Schnitzereien verziert. Der Stuhl, auf dem der König sitzen würde, war höher als die anderen und überdies mit Goldblatt überzogen. Von der hohen mit Ornamenten verzierten Decke hingen weitere Kerzenleuchter, an denen Diamanten sich das Kerzenlicht brach.

Als auch die letzten Gäste ihre Plätze eingenommen hatten, erhob sich König Merin von seinem Thron und setzte sich an das Kopfende der Tafel.

Palastdiener eilten herbei und füllten die Gläser der Gäste mit dunkelrotem Wein. Weitere Diener brachten Platten und Schüsseln gefüllt mit köstlich duftenden Speisen, die allesamt sehr aufwändig zubereitet aussahen. Nachdem sie sich entfernt hatten, nahm der König einen kleinen Löffel und schlug gegen sein Weinglas.

Die Gespräche der Gäste verstummten. Alle wandten sich ihrem Herrscher zu.

„Ich habe etwas bekanntzugeben“, verkündete er und erhob sich. Er machte eine kleine Pause, wie um sicherzustellen, dass jeder Gast ihm seine vollständige Aufmerksamkeit schenkte.

„Vor zwei Monaten stand ich vor einer schweren Entscheidung. Ich musste entscheiden, ob ich Lord Akkarin, damals noch Hoher Lord der Magiergilde, und seine Novizin Sonea für ihren Gebrauch schwarzer Magie verbannen oder ihren Worten, dass uns ein entsetzlicher Krieg bevorsteht, Glauben schenken sollte.

„Auf Grund mangelnden Wissens und persönlicher Gründe traf ich die falsche Entscheidung. Dies hätte fast den Untergang Kyralias bedeutet. Doch in dieser Stunde bewiesen Lord Akkarin und seine Novizin weitaus mehr Loyalität, als sie mir nach meiner Fehlentscheidung schuldig waren. Aus diesem Grund möchte ich mich heute Abend bei ihnen in aller Form entschuldigen. Ich verziehe ihnen, dass sie ihren Eid gebrochen haben, um uns zu retten. Denn ohne sie wären wir nun tot oder befänden uns unter der Herrschaft von Barbaren.“

Er sah zu Akkarin.

„Lord Akkarin, nehmt Ihr meine Entschuldigung an?“

„Das tue ich, Euer Majestät.“

„Sonea?“

Soneas Herz setzte einen Schlag aus, als der König das Wort an sie richtete.

„Ich nehme Eure Entschuldigung an, Euer Majestät“, sagte sie scheu und senkte den Kopf.

Musste er eine so große Sache aus dieser Angelegenheit machen? Es gefiel ihr nicht, derart im Mittelpunkt zu stehen. Erst recht nicht vor den Häusern. Aber wahrscheinlich war das hier Teil ihrer öffentlichen Rehabilitierung.

Es ist wichtig, redete sie sich ein. Wenn der König uns öffentlich verzeiht, dann zeigt er damit, dass er uns vertraut. Und dann wird die Gilde auch eher geneigt sein, uns wieder zu vertrauen.

Zu ihrem Entsetzen war König Merin noch nicht fertig. Er hob sein Weinglas.

„Auf Akkarin und Sonea“, sprach er. „Unsere Retter.“

„Auf Akkarin und Sonea!“, wiederholten die Gäste, selbst die höheren Magier. Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und sie wünschte sich nichts lieber, als im Erdboden zu versinken.

„Hiermit erkläre ich das Bankett für eröffnet“, sagte Merin und nahm wieder Platz.

Die Gäste füllten ihre Teller mit Speisen und begannen zu essen. Im Hintergrund stimmte ein Orchester leise Musik an. Alsbald erfüllten Stimmen und Gelächter den Bankettsaal. Die höheren Magier und der König begannen ein Gespräch über Gildenpolitik und die Frage, ob es Sinn mache, die Stadtmauer als besseren Schutz vor einem neuen Angriff der Sachakaner auszubauen.

Alsbald begann Sonea sich zu langweilen. Sie fand, sie hatte weder das Recht, noch die nötige Erfahrung, um an einem solchen Gespräch teilzunehmen. Solange sie aß, war sie wenigstens beschäftigt. Die vielen verschiedenen Speisen waren unvorstellbar köstlich und ihr Magen knurrte schon seit Kriegskunst bedenklich.

„Du hast bald deine Prüfungen, richtig?“

Sie wandte den Kopf zu dem Mann neben ihr. Inzwischen hatten die Diener das Dessert gebracht. Dazu gab es einen süßen Wein, den Sonea sehr süffig fand.

„In zwei Wochen, Administrator“, antwortete sie.

Osen lächelte. „Dann lernst du sicher viel.“

Sie nickte an ihrem Weinglas nippend. „Ich hoffe, es reicht, damit ich nicht durchfalle.“

„Du lernst mehr als gut für dich ist“, bemerkte Akkarin.

Sie senkte den Kopf. „Ja, Mylord.“

Zuhause hätte sie ihm in dieser Angelegenheit widersprochen. Aber sie fand, es war besser, es nicht vor dem König und den höheren Magiern zu tun.

Der Blick des Administrators hatte sich derweil verfinstert. Dennoch blieb seine Stimme freundlich, als er fortfuhr: „Ab dem dritten Jahr hat man nicht mehr allzu viel Freizeit. Nach dem Abschluss wird es jedoch wieder besser. Es sei denn, man wird Administrator.“

Sonea lachte. „Ich bedaure, Administrator. Doch ich fürchte, Ihr macht mir diesen Beruf nicht gerade schmackhaft.“

Garrel und der Hohe Lord begannen zu lachen. Selbst Rothen, der ein paar Plätze weiter saß, unterdrückte ein Kichern.

„Wenn Ihr eines Tages einen Nachfolger sucht, solltet ihr gelernt haben, diese Position in ein etwas attraktiveres Licht zu rücken“, bemerkte das Oberhaupt der Krieger.

„Müssen die Novizen nicht spätestens zu Beginn des vierten Jahres entscheiden, welche Disziplin sie wählen?“

Sonea zuckte zusammen. Der König hatte das Wort an sie gerichtet!

„Ja, Euer Majestät“, brachte sie hervor. „Das ist richtig. Weil ich die Sommerprüfungen versäumt habe, brauche ich mich aber erst entscheiden, wenn ich sie nachgeholt habe.“

„Gibt es eine Disziplin, die du bevorzugst?“

Sie sah auf ihren Teller. „Es war immer mein Wunsch, Heilerin zu werden.“

„Und was empfiehlt dir dein Mentor?“

„Darüber haben wir noch nicht gesprochen“, antwortete Akkarin für sie. Seine dunklen Augen blitzten für einen Moment zu ihr. Sonea lächelte in einem jähen Anflug von Zuneigung. „Diese Entscheidung soll Sonea nicht von ihren Prüfungen ablenken.“

„Wird nicht von ihren Noten abhängen, welche Disziplinen überhaupt in Frage kommen?“

„Soneas Noten sind in jedem Fach ausgezeichnet. Ihr steht jede Möglichkeit offen.“

„Nach allem, was passiert ist, hätte ich erwartet, du würdest die Kriegskunst wählen, Sonea“, wandte sich der König erneut an sie.

Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Das würde bedeuten, ich hätte noch mehr Privatunterricht bei Lord Akkarin.“

König Merin runzelte die Stirn. „Sollte sich ein Novize nicht darüber freuen, von seinem Mentor unterrichtet zu werden?“

„Natürlich, Euer Majestät. Aber Lord Akkarin ist ein sehr strenger Lehrer.“ Sie sah, wie Akkarin kaum merklich die Augenbrauen hob, und begegnete seinem Blick. „Was nicht heißen soll, dass Ihr ein schlechter Lehrer seid. Ich könnte mir keinen Besseren vorstellen.“

Einige Sitze entfernt hustete Rothen geräuschvoll. Alle Köpfe wandten sich zu ihm.

Sein Sitznachbar, Lord Peakin, schlug ihm kräftig auf den Rücken. „Habt Ihr Euch verschluckt, Lord Rothen?“

„Nur ein Krümel“, brachte Rothen hervor.

„Trinkt einen Schluck Wein“, riet Lord Telano. „Das beruhigt den Hals.“

Rothen leerte sein Weinglas in einem Zug.

Sonea betrachtete ihn verstört. Als sie Rothens Blick begegnete, schüttelte er unmerklich den Kopf. Er wirkte verärgert. Sonea blinzelte verwirrt. Als sie in die Gesichter der anderen sah, erkannte sie, was gerade geschehen war.

Sie hatte begonnen, mit Akkarin zu flirten.

„Ich denke, es wird Zeit, den Ball zu eröffnen“, erklärte der König zu ihrer Erleichterung. „Lord Akkarin, da der Ball Euch zu Ehren gegeben wird, bitte ich Euch und Eure Novizin um den Eröffnungstanz.“

„Es ist mir eine Ehre, Euer Majestät.“ Akkarin schob seinen Stuhl zurück und umrundete den Tisch.

Nein, dachte Sonea verzweifelt. Warum musste immer, wenn sie glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, etwas noch schlimmeres kommen?

Akkarin blieb neben ihr stehen.

„Darf ich bitten?“

„Sehr gern, Lord Akkarin“, antwortete sie, obwohl es ihr zutiefst widerstrebte. Als sie aufstand, traute sie für einen Moment ihren Beinen nicht. Anscheinend hatte ihr der süffige Wein mehr zugesetzt, als sie geglaubt hatte. Rasch griff sie nach ihrer Magie und heilte ihre Trägheit.

Akkarin bedachte sie mit seinem Halblächeln und führte sie auf die Tanzfläche. Sonea sah, dass die anderen Gäste sich ebenfalls erhoben und am Rand der Tanzfläche aufstellten.

- Bitte entschuldige, dass ich mich gerade daneben benommen habe.

- Das lässt sich nicht mehr ändern. Aber der Abend hat gerade erst begonnen. Morgen werden sich alle nur noch an sein Ende erinnern.

Seine Worte beruhigten Sonea ein wenig.

- Müssen wir das wirklich tun?, fragte sie. Alle werden uns anstarren. Sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache.

Aber was noch viel schlimmer sein würde: Alle würden ihnen ansehen, dass sie sich liebten.

- Du wirst keinen Fehler machen. Entspann dich und überlass mir die Führung.

In der Mitte der Tanzfläche blieb er stehen. Die Musik begann ein neues Stück zu spielen. Akkarin legte eine Hand auf seine Brust und deutete eine Verneigung an. Sonea machte einen Knicks, der weitaus anmutiger war, als der den sie vor König Merin gemacht hatte. Er nahm ihre rechte Hand und legte seine freie Hand auf ihre Taille.

Dann begannen sie zu tanzen.

 

 

***

 

Sonea stieß einen gelangweilten Seufzer aus. „Warum finden sie daran bloß Gefallen?“

Rothen betrachtete seine ehemalige Novizin mitleidig. Sie saßen am Rand des Bankettsaals auf einer gepolsterten Bank und beobachteten die Paare auf der Tanzfläche.

„Das frage ich mich auch“, sagte er.

Er war selbst kein besonders guter Tänzer. Weil er aus keiner allzu einflussreichen Familie kam, war er vor seinem Beitritt zur Gilde von diesen Veranstaltungen weitgehend verschont geblieben. Und irgendwie hatte er den Eindruck, dass Frauen mehr Gefallen daran fanden als die männlichen Gäste. Alle, bis auf Sonea.

Rothen war überzeugt, sie würde den Abend mehr genießen, würde Akkarin ihr mehr Aufmerksamkeit schenken. Angesichts der Umstände war dies jedoch völlig undenkbar.

Obwohl Akkarin nicht mehr Hoher Lord war, hatte er an diesem Abend offenkundig einer Vielzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen nachzukommen. Rothen und Sonea hatten beobachtet, wie er mit einigen Oberhäuptern der einflussreichsten Häuser Kyralias gesprochen hatte. Weil sie beide keine bis gar keine Ahnung von Politik hatten, hatten sie sich die Zeit damit vertrieben, wilde Spekulationen über den Inhalt dieser Gespräche anzustellen. Für eine kurze Weile war das erheiternd gewesen. Zwischendurch war Akkarin zu Rothens Verwunderung mehrfach von einer Gruppe Kinder belagert worden, die aus einem für Rothen unersichtlichen Grund von ihm begeistert waren. Rothen hatte stets geglaubt, wenn schon Erwachsene den schwarzen Magier fürchteten, dann würden Kinder erst recht in Panik ausbrechen, sobald er in der Nähe war.

„Dannyl würde sich sicher amüsieren“, überlegte er laut.

„Habt Ihr seit seiner Abreise etwas von ihm gehört?“, fragte Sonea.

„Bis jetzt nicht. Wahrscheinlich ist er voll und ganz damit beschäftigt, die Arbeit zu erledigen, die sich während seiner Abwesenheit aufgehäuft hat. Aber ich bin sicher, es geht ihm gut, sonst hätte ich bereits davon erfahren.“

„Es wäre schön, würde er uns häufiger besuchen.“

„Das wäre es“, stimmte Rothen zu. „Seine Gesellschaft fehlt mir.“

Mit Dannyl in Elyne war das Leben in der Gilde für Rothen nicht mehr dasselbe. An jedem Ersttag ging er zu Yaldin und Ezrille zum Abendessen und er frequentierte noch immer häufig den Abendsaal. Doch das entschädigte ihn nicht für Dannyls Scherze und seine Vorliebe für Klatsch und Tratsch. Beim Gedanken an seinen Freund fiel ihm jedoch noch etwas anderes ein.

„Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einen neuen Novizen habe?“

Sonea wandte ihm für einen Augenblick den Kopf zu. Anscheinend war es ihm gelungen, ihr Interesse zu wecken.

„Nein“, antwortete sie offenkundig erstaunt. Sie runzelte die Stirn. „Das heißt, Rektor Jerrik hat es einmal kurz erwähnt. Seit wann?“

„Eigentlich, seit das Sommerhalbjahr begonnen hat. Ich habe ihn jedoch erst offiziell erwählt, nachdem feststand, dass Akkarin sich wieder erholt. Es wäre mir dir gegenüber nicht richtig erschienen, hätte ich es vorher getan. Sein Name ist Farand. Dannyl hat ihn aus Elyne mitgebracht kurz, nachdem man dich und Akkarin festgenommen hat.“

Er hatte es ihr schon bei einem ihrer wöchentlichen Essen erzählen wollen. Aber nach ihrem ersten Mittagessen hatte Sonea alle weiteren Essen bis zu ihren Prüfungen abgesagt. Rothen versuchte, darüber nicht enttäuscht zu sein. Im Augenblick nutzte sie jede Gelegenheit zum Lernen und er wusste, wie wichtig es für sie war, die Prüfungen zu bestehen, um nicht den Anschluss an ihre Klasse zu verlieren.

„Oh“, machte sie. „Dann ist mir auch klar, warum ich noch nichts davon weiß. Wie ist er so?“

„Still, aber ziemlich neugierig. Er ist ein paar Jahre älter als du.“ Rothen lächelte. „Ich glaube, er entwickelt eine Vorliebe für Alchemie. Wenn du möchtest, dann stelle ich ihn dir einmal vor, ihr werdet euch sicher gut verstehen.“

„Sehr gern“, sagte Sonea. „Aber wie kommt es, dass ich ihn noch nie gesehen habe?“

„Er bekommt Privatunterricht. Genau wie du, darf er die Gilde nicht verlassen.“

Sie blinzelte überrascht. „Warum nicht?“

„Er hat sich einer verbotenen Vereinigung angeschlossen, deren Mitglieder außerhalb des Einflusses der Gilde Magie erlernen wollten“, erzählte Rothen. „Dann hat Dannyl auch noch ein Buch über schwarze Magie im Besitz ihres Anführers entdeckt, woraufhin er die gesamte Gruppe festnahm und nach Imardin brachte. Ihr Anführer wurde hingerichtet und die übrigen Mitglieder wurden eingekerkert.“

Sonea starrte Rothen entsetzt an.

„Wie schrecklich!“, entfuhr es ihr.

Rothen betrachte seine ehemalige Novizin nachdenklich. Sie war noch so jung und hatte bereits so viel Grauen erlebt. Ihr und Akkarin hätte die gleiche Strafe gedroht, hätte die Gilde ihren Anführer nicht so sehr gefürchtet. Manchmal fragte er sich, wie sie damit zurechtkam.

„Aus diesem Grund habe ich mich Farands Ausbildung angenommen“, lenkte er das Gespräch wieder in weniger deprimierende Bahnen zurück. Er lächelte schief. „Du weißt ja, ich habe eine Schwäche für die schwierigen Fälle.“

Doch Sonea hörte bereits nicht mehr zu. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tanzfläche gerichtet, wobei sich ihr Blick zusehends verfinsterte.

„Seht Euch das an“, murmelte sie. „Jetzt tanzt er schon seit fast einer halben Stunde mit dieser Frau. Und es scheint ihm zu gefallen! Mit mir hat er nur ein einziges Mal getanzt. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir nicht so viel Mühe gegeben, diese ganzen albernen Schritte zu lernen!“

Rothen musterte Akkarins Tanzpartnerin. Sie trug ein weitausgeschnittenes, dunkelblaues Abendkleid, das die Vorzüge ihrer Figur hervorhob. Ihre dunklen von einigen grauen Strähnen durchzogenen Haare waren zu einer komplizierten Turmfrisur hochgesteckt.

Er unterdrückte seine Erheiterung. „Sonea, er macht das nicht um dich zu ärgern. Sicher kommt er nur irgendwelchen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach.“

Sie stöhnte gequält. „Das muss doch irgendwann einmal ein Ende haben.“

Ein Palastdiener kam vorbei und füllte ihre Weingläser auf. Sie trank einen Schluck und fuhr dann fort, die Frau mit der Turmfrisur anzustarren.

„Sie weiß überhaupt nicht, was für ein Mensch er ist“, grollte sie. „Für sie ist er nur der Held, der dafür gesorgt hat, dass sie nicht ihre ganzen Besitztümer verliert. Und dann dieses Kleid!“

„Ich bin sicher, das interessiert Akkarin nicht“, sagte Rothen sanft. „Ich kann mich nicht erinnern, dass er vor dir jemals irgendein Interesse an Frauen hatte.“ Außer als Novize, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das brauchte Sonea nicht zu wissen. Sachaka hatte ihn verändert. Als Akkarin Jahre später völlig zerlumpt und verwahrlost vor den Toren er Gilde aufgetaucht war, war von dem umtriebigen Novizen von einst nichts mehr übrig gewesen.

„Aber seht Euch doch nur an, wie sie ihn die ganze Zeit anstarrt!“, rief Sonea. „Wenn sie könnte, dann würde sie ihn mit ihren Blicken auf der Stelle ausziehen!“

Rothen entfuhr ein Kichern, woraufhin sie ihn wütend anfunkelte.

„Pass auf, dass dich niemand hört“, ermahnte er sie leise. Vorsichtshalber errichtete er jedoch einen schalldichten Schild um sie beide. Die nächsten Gäste standen zwar in einiger Entfernung und über die Stimmen und die Musik würde ihr Gespräch kaum zu verstehen sein, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

Sonea verdrehte die Augen. Rothen runzelte die Stirn. Sie war offenkundig so erregt, dass sie ihre Manieren völlig vergaß. Nervös sah er sich im Saal um. Glücklicherweise schien niemand ihnen Beachtung zu schenken. Die meisten Gäste vergnügten sich auf der Tanzfläche, zu seiner Verwunderung sogar einige der Magier.

„Ich verstehe einfach nicht, was sie an ihm findet“, fuhr sie etwas leiser fort. „Sie weiß doch überhaupt nicht, wie er wirklich ist.“

Rothen brach in schallendes Gelächter aus.

„Was ist denn daran schon wieder so komisch?“, fragte Sonea irritiert.

Rothen rang nach Luft. „Weil du genau dasselbe vor ein paar Monaten auch gesagt hättest“, erklärte er, als er sich wieder beruhigt hatte. „Nur damals hättest du das anders gemeint.“

„Ja“, gab sie zögernd zu. Nachdenklich trank sie noch einen Schluck Wein und ihr Gesicht verfinsterte sich erneut. „Aber sie weiß es wirklich nicht.“

„Ich glaube, du hast für heute genug getrunken.“ Sanft nahm er Sonea das Glas aus der Hand und stellte es auf das Tablett eines vorbei eilenden Dieners.

„Aber ich bin durstig“, protestierte sie.

Wahrscheinlich hat sie mehr Wein getrunken, als jemals zuvor in ihrem Leben, überlegte Rothen. Und ich bald auch. Er erinnerte sich an Akkarins Warnung in der Kutsche. Der schwarze Magier hatte nicht übertrieben.

„Könnt Ihr der Lady bitte ein Glas Wasser bringen?“, wandte er sich an den Diener.

„Sehr wohl, Mylord.“

„Vielleicht sollten wir uns einen Ort suchen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können“, schlug Rothen vor, nachdem der Diener das Wasser gebracht hatte. Er ahnte, er musste sie von hier fortbringen, damit sie nicht die ganze Zeit mit ansehen musste, wie ihr Liebster mit anderen Frauen tanzte. „Was meinst du?“

„Ich weiß nicht“, antwortete sie zögernd, ohne den Blick von Akkarin abzuwenden.

„Es wird schon nichts passieren“, versicherte Rothen. „Du vertraust ihm doch, oder?“

„Ja“, gab Sonea widerstrebend zu. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich vertraue ihm absolut.“

„Dann komm.“ Rothen stand auf. Er wies auf eine Tür an der Wand rechts von ihnen. „Dort drüben scheint mir ein Raum zu sein, in dem es etwas ruhiger ist.“

„Meinetwegen“, brummte Sonea.

Zögernd folgte sie Rothen an der Tanzfläche vorbei, zu dem Nebenraum, den er entdeckt hatte. Er öffnete die Tür und schloss sie sofort wieder. An der gegenüberliegenden Wand neben einem Fenster stand ein Paar, das so mit sich selbst beschäftigt war, dass es die Störung nicht einmal bemerkte.

„Dort gehen wir nicht rein“, entschied er. „Das ist ja der reinste Sündenpfuhl!“

„Warum?“, wollte Sonea wissen.

„Sieh selbst. Oder nein, lass es besser.“

Doch Sonea hatte ihren Kopf schon durch die Tür gesteckt.

„Ihr habt recht“, bemerkte sie trocken, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte. „Vielleicht sollten wir nach draußen gehen.“

Sie warf einen zögernden Blick zu Akkarin und der Frau in dem blauen Kleid. Ein Palastdiener kam auf die beiden zu und sagte etwas zu Akkarin. Dieser nickte kurz und verabschiedete sich von der Frau mit einem Handkuss.

Soneas Augen weiteten sich. „Habt Ihr das gesehen?“, rief sie.

Rothen unterdrückte ein Seufzen. „Ja, das habe ich.“

Heute Abend ist sie wirklich schwierig, fuhr es ihm durch den Kopf. Wer weiß, was sie anstellen würde, wenn ich nicht mitgekommen wäre. Nichtsdestotrotz versuchte er, nachsichtig mit ihr zu sein. Diese Veranstaltung musste für sie mehr Stress als Vergnügen sein. Der König, die vielen Leute aus den Häusern, die Erwartungen, die alle an sie hatten, die seltsamen Regeln bei Hofe und ihre komplizierte Beziehung mit Akkarin – das alles musste einen so jungen Menschen überfordern.

„Das hat er bei mir nicht gemacht.“

„Weil sich jeder wundern würde, wenn er es täte“, erwiderte Rothen.

Sonea runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie. „Wenn zwischen ihm und dieser Frau nichts ist und er sie netter behandelt als mich … das ist doch total verdreht!“

Rothen seufzte. „Lass uns bitte nach draußen gehen, dann versuche ich dir das zu erklären.“

Er fasste Sonea am Arm und führte sie auf die an der Außenwand des Bankettsaals entlang laufende Balustrade. Die Nacht war kalt, doch nach der Hitze im Bankettsaal empfand Rothen dies als angenehme Erfrischung.

Sich gegen die Brüstung lehnend blickte er hinab in den Park. Zwischen den Sträuchern konnte er die Lichtkugeln der patrouillierenden Krieger ausmachen. Er schüttelte den Kopf. Wie konnten die höheren Magier nur glauben, Akkarin und Sonea würden die Wiederherstellung ihrer Ehre nutzen, um gegen ihren Eid zu verstoßen?

Sonea trat neben ihn, die Arme vor der Brust verschränkt. „Also, ich höre, Rothen.“

„Ich weiß nicht, ob es nur mir so ergeht, weil ich über euer Geheimnis Bescheid weiß“, begann er. „Vielleicht liegt es auch an dieser Veranstaltung. Akkarin versteht es wirklich, seine Gefühle für dich zu verbergen. Trotzdem ist er in deiner Gegenwart weniger distanziert, als sonst. Anderen mag das nicht auffallen, weil sie ihn nicht so gut kennen. Deine Gefühle hingegen sind viel offensichtlicher.“

Soneas Augen weiteten sich. „Ist das wahr?“

Rothen nickte. „Verstehst du jetzt, warum er mit dieser Frau tanzt? Ich bin sicher, er würde lieber den ganzen Abend mit dir verbringen.“

„Ja“, antwortete sie und seufzte. „Warum muss immer alles so kompliziert sein?“

Rothen lächelte über ihre Frage. „Das Leben ist selten einfach.“

Sie nickte und sah hinaus in die Nacht. Er konnte ihr ansehen, dass sie noch immer grübelte.

„Rothen?“

„Ja?“

„Ist es schlimm, dass man mir meine Gefühle so sehr ansieht?“

Überrascht wandte er sich ihr zu. „Ich denke nicht. Du bist jung. Ihr wart einige Zeit lang ganz auf euch gestellt. Da ist so etwas zu erwarten. Ich denke, die meisten machen sich eher Sorgen, er könnte deine Gefühle ausnutzen.“

Sonea kicherte. „So wie Lady Vinara.“

„Genau.“

 

 

***

 

Als der Abgesandte von Haus Maron den Raum verließ, stieß Merin einen erleichterten Seufzer aus. Die Angehörigen dieses Hauses hatten einige Eigenarten, die er als anstrengend empfand. Er hatte sich bewusst für eine Weile von den in seinem Bankettsaal stattfindenden Feierlichkeiten zurückgezogen, um mit einigen Oberhäuptern der Häuser über politische Angelegenheiten zu diskutieren, die nicht warten konnten.

Dass der König während seiner Parties Privataudienzen hielt, war nichts Ungewöhnliches. An diesem Abend waren es bereits drei Stück gewesen. Einige einflussreiche Angehörige der Häuser lebten auf abgelegenen Landgütern und kamen nur selten in die Stadt. Andere Angelegenheiten waren so wichtig, dass sie keinen Aufschub duldeten. So auch an diesem Abend.

Er warf einen Blick auf seinen Schreibtisch und begann die darauf liegenden Papiere zu ordnen, bevor sein nächster Besucher kam. Unordnung gehörte zu den Dingen, die er überhaupt nicht schätzte.

Ein Palastdiener trat ein. „Lord Akkarin, Euer Majestät“, meldete er.

Merin sah auf. „Er möge eintreten.“

Akkarin betrat das Arbeitszimmer. Seine dunklen Augen erfassten den Raum mit einem scheinbar flüchtigen Blick. Merin war sich indes sicher, dass ihm dabei nicht das kleinste Detail entging. Es hätte ihn beunruhigen müssen, mit einem derart gefährlichen Mann alleine zu sein. Tatsächlich hatte Merin nur Verärgerung und Enttäuschung empfunden, als er erfahren hatte, dass Akkarin ein schwarzer Magier war.

In diesem Augenblick kam es ihm jedoch vor, als hätte es diesen Vorfall nie gegeben.

„Ihr wolltet mich sprechen, Euer Majestät?“, fragte Akkarin und beugte das Knie.

Merin schob die Papiere zur Seite und wies auf einen Sessel.

„Ja. Bitte nehmt Platz.“

Akkarin setzte sich und schlug seine langen Beine übereinander. „Wenn es sich um Politik handelt, bin ich nicht mehr der richtige Ansprechpartner, fürchte ich.“

Merin verließ seinen Schreibtisch und trat zu einer Anrichte, auf dem eine mit Wein gefüllte Karaffe und mehrere Gläser aus Kristall standen.

„Ich wollte persönlich mit Euch sprechen. Wir hatten heute Abend noch keine Zeit für ein Gespräch unter alten Freunden.“ Er schenkte zwei Gläser ein und reichte eins davon an Akkarin weiter. Dann wählte er einen Platz in einem Sessel Akkarin gegenüber. „Zum Wohl“, sagte er und hob sein Glas.

Akkarin tat es ihm nach.

„Ah, Anurischer Dunkelwein!“, bemerkte er, nachdem er einen Schluck gekostet hatte. Er runzelte die Stirn. „Welcher Jahrgang ist das?“

„Er stammt noch aus der Zeit meines Vaters. Der Wein ist zwanzig Jahre alt.“

Beeindruckt hob Akkarin die Augenbrauen. „Das scheint mir ein sehr guter Jahrgang zu sein.“

Merin lächelte wissend. „In meinen Weinkeller lagern noch einige wenige Flaschen von diesem Wein“, sagte er einer plötzlichen Eingebung folgend. „Ich wäre geehrt, Euch eine davon als Geschenk zu überreichen.“

„Ich danke Euch, Euer Majestät. Das ist sehr großzügig von Euch.“

Der König lächelte. „Ihr solltet sie Euch für einen besonderen Anlass aufheben.“

„Das werde ich.“

Merin lehnte sich zurück und betrachtete den Mann in den schwarzen Roben. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was er sagen wollte. Bei den meisten seiner Untertanen wäre ihm das nicht so ergangen. Aber das hier war etwas Persönliches, weil er und Akkarin Freunde waren.

„Es liegt mir sehr viel daran, mich bei Euch für die Unannehmlichkeiten, die ich Euch bereiten musste, zu entschuldigen“, begann er. „Ihr seid mir stets ein guter Freund gewesen. Ich hoffe, Ihr versteht, dass ich keine andere Wahl hatte, als Euch Eures Amtes zu entheben und ins Exil zu schicken.“

„Das verstehe ich, Euer Majestät“, erwiderte Akkarin.

„Dann hoffe ich, dass Ihr mir auch verzeihen könnt, an Eurer Loyalität gezweifelt zu haben, da mein Vertrauen in Euch erschüttert war“, fügte Merin hinzu.

„Von Eurem Standpunkt aus gesehen waren Eure Zweifel wohlberechtigt.“

Merin nickte. Es erleichterte ihn, mit seinem alten Freund ohne Groll über die Geschehnisse des Sommers sprechen zu können.

„Würde es einzig in meiner Macht stehen, so würde ich Euch wieder in Euer Amt einsetzen. Es wäre nur folgerichtig, jetzt wo Eure Ehre wiederhergestellt ist“, sagte er. „Jedoch obliegt diese Entscheidung der gesamten Gilde.“

Dass Akkarin seinen Eid gebrochen hatte, erschien Merin jetzt, wo er die Motive verstand, nebensächlich. Er hatte es für Kyralia getan. Und damit waren sie einander gar nicht so unähnlich. Als Herrscher über Kyralia und Oberbefehlshaber der Gilde war Merin berechtigt, im Falle einer Bedrohung jede Maßnahme zu ergreifen, die nötig war. Ein guter Anführer musste dazu in der Lage sein. So auch Akkarin. Angesichts der Gesetzeslage und der lange gehegten Einstellung zu schwarzer Magie, verstand Merin, warum Akkarin das heimlich getan hatte.

Er fühlte sich schuldig, weil er blind gegenüber der Gefahr gewesen war, die hinter den Bergen im Osten lauerte, und stattdessen den Feind in den eigenen Reihen gesucht hatte.

„Ich kann nicht behaupten, es zu bedauern, nicht mehr Hoher Lord der Magiergilde zu sein“, sagte Akkarin. „So habe ich endlich Zeit, mich Dingen zu widmen, die ich jahrelang versäumt habe. Ich bin überzeugt, Balkan ist ebenso fähig, die Gilde anzuführen, hat er sich erst an sein Amt gewöhnt.“

König Merin lächelte. Sein Freund war stets verschlossen und distanziert. Dennoch schien seine Gelassenheit echt zu sein.

„Plant Ihr etwa, Euer Junggesellendasein endlich aufzugeben?“, fragte er. „Ich wüsste da einige Kandidatinnen aus einflussreichen Häusern im heiratsfähigen Alter, die sehr an einer Ehe mit Euch interessiert wären.“

„Euer Majestät, ich weiß dieses Angebot zu schätzen, doch ich fürchte, ich muss sowohl Euch als auch diese Frauen enttäuschen, da dieses Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruht.“

Mit einer derartigen Antwort hatte Merin gerechnet. Auch früher hatte sein Freund jeden Heiratsantrag abgelehnt. Aber er hatte so eine Ahnung, warum er das dieses Mal tat.

„Also habt Ihr Euch bereits für eine Frau entschieden?“

„Ich habe nicht die Absicht, in nächster Zeit zu heiraten.“

Merin musterte den anderen Mann eingehend. „Ihr weicht mir aus, mein Freund“, stellte er fest.

„Wieso sollte ich das tun, Majestät?“, erwiderte Akkarin mit unbewegter Miene.

Merin verkniff sich ein Lächeln. „Weil Ihr nicht wollt, dass die Schwäche, die Ihr für Eure Novizin hegt, bekanntwird“, antwortete er und brachte die Sache damit auf den Punkt. „Es ist mir bereits bei Eurer Anhörung im Sommer aufgefallen. Aber sorgt Euch nicht deswegen. Ihr seid wie immer ein Meister darin, Eure Gefühle zu verbergen.“

„Und was bringt Euch zu der Schlussfolgerung, ich hätte Gefühle für Sonea, wenn ich sie so gut verberge?“, fragte Akkarin glatt.

Er scheint nicht im Geringsten überrascht, fiel Merin auf. Aber er war schon immer ein ausgezeichneter Politiker.

„Ich wäre ein schlechter König, wenn ich keine so gute Beobachtungsgabe hätte“, erwiderte er und trank einen Schluck Wein. „Ich möchte lieber nicht wissen, wie oft Ihr sie schon in Euer Bett geholt habt.“

Akkarin erwiderte nichts darauf. Aber das war auch gar nicht nötig. Eine Weile betrachteten beide Männer einander schweigend. Merin fragte sich, wie viel sein Freund bereit war zuzugeben. Früher hatten sie stets offen miteinander reden können. Allerdings hatte er diesen Sommer festgestellt, dass der ehemalige Hohe Lord einen sehr bedeutenden Teil seines Lebens gänzlich vor ihm verborgen gehalten hatte.

Schließlich brach Akkarin das Schweigen. „Es steht Euch frei, mich wieder nach Sachaka zu schicken, wenn Ihr der Meinung seid, dies wäre der Situation angemessen“, sagte er. „Aber ich kann Euch versichern, das würde nicht das Geringste ändern.“

Natürlich nicht!, fuhr es Merin durch den Kopf. Er begann zu lachen. „Nein, da habt Ihr wohl Recht! Besonders, weil Sonea Euch auch dieses Mal wieder folgen würde.“

„Ja, das würde sie“, stimmte Akkarin leise zu.

Merin sah auf. „Dann ist es Euch also ernst?“

Akkarin nickte. „Ihre Natürlichkeit ist erfrischend“, sagte er mehr zu sich selbst, sein Weinglas in seinen Händen drehend. „Ihre Sturheit ist – wenn auch manchmal ärgerlich – liebenswert. Trotz allem, was sie in ihrem kurzen Leben durchmachen musste, hat sie sich eine beneidenswerte Unschuld erhalten. Sie ist nicht wie die Frauen aus den Häusern. Sie ist etwas Besonderes.“

Es hat ihn ganz offensichtlich erwischt, bemerkte der König. Er hatte immer geglaubt, Akkarin würde sein ganzes Leben Junggeselle bleiben. Merin kannte keinen anderen Mann, der so viele Heiratsanträge abgelehnt hatte wie der ehemalige Hohe Lord der Magiergilde. Hätte er nicht gewusst, dass sein Freund jede seiner Handlungen gründlich durchdachte, so wäre er über diese Beziehung entsetzt gewesen. Sonea war nicht nur seine Novizin, sie kam aus dem ärmsten Teil der Stadt. Sollte das Verhältnis der beiden bekanntwerden, so hätte Akkarin nicht nur seinen Eid gebrochen, sondern würde einen Skandal auslösen. Merin war hin und hergerissen dazwischen, Akkarin zurechtzuweisen und sich für ihn zu freuen.

Als König konnte er die Sache jedoch nicht auf sich beruhen lassen.

„Wie lange geht das jetzt schon?“, verlangte er zu wissen.

Akkarin musterte ihn eine Weile so durchdringend, dass Merin einen Eindruck davon erhielt, warum er von so vielen gefürchtet wurde. „Seit wir in Sachaka waren“, antwortete er schließlich. „Tatsächlich liebe ich Sonea ohne ihr Wissen schon sehr viel länger.“

„Ich verstehe“, sagte Merin. Also war diese Beziehung erst entstanden, als beide schon Rang und Titel verloren hatten. Das sprach für Akkarin. Der ehemalige Hohe Lord der Magiergilde war trotz allem ein Mann von Ehre, er hätte niemals eine intime Beziehung zu seiner Novizin angefangen. In jedem anderen Fall hätte Merin verlangt diese Beziehung zu beenden, jetzt wo die Gilde die beiden schwarzen Magier wieder aufgenommen hatte.

„Ihr solltet sie heiraten.“

„Nein“, sagte Akkarin entschieden. „Nicht bevor sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Es würde sie zu sehr ablenken. Ich bezweifle, sie würde vorher ja sagen.“

„Aber sie würde ja sagen?“

„Ja“, antwortete Akkarin, ohne zu überlegen.

„Ich verstehe Eure Besorgnis. Aber ich halte sie für unberechtigt. Ihr würdet Euch eine Vielzahl von Problemen ersparen, wenn Ihr Sonea schon früher heiratet. Ihr könntet diese Heimlichtuerei beenden. Da Eure Beziehung offenkundig bereits über jeden Anstand hinaus geht, wäre es überdies unehrenhaft, noch länger zu warten.“

„Die Gilde würde es verbieten“, wandte Akkarin ein. „Sollte sie es erlauben, dann verliere ich Sonea als meine Novizin.“

Merin erkannte das Problem. Sonea war auf einen Mentor angewiesen. Weil sie eine schwarze Magierin war, gab es nur einen, der dafür in Frage kam. Akkarin. Die Gilde verbot jedoch intime Beziehungen zwischen Mentor und Novize. Es war eine ausweglose Situation.

Sein plötzliches Mitgefühl überraschte ihn. Endlich hatte sein Freund eine Frau gefunden und nun durfte er nicht mit ihr zusammen sein, weil die Regeln der Gilde es verbaten. Dabei hatten beide der Gilde nicht angehört, als sie ein Paar geworden waren.

König Merin fand, es war an der Zeit Wiedergutmachung zu leisten. Die Gilde und die Häuser würden protestieren, aber er hatte die besseren Argumente. Akkarins Loyalität ihm und der Gilde gegenüber war alles, was die beiden schwarzen Magier kontrollierbar machte. Sie zu trennen konnte sich als folgenschwerer Fehler erweisen.

Und wenn es etwas gab, was der König von Kyralia mehr als alles andere fürchtete, dann einen schwarzen Magier, der sich nicht kontrollieren ließ.

Nichtsdestotrotz war dieser Schritt weniger skandalös, als den Willen der Gilde zu übergehen und Akkarin wieder in sein früheres Amt einzusetzen.

„Wenn Ihr Sonea zur Frau nehmt, dann bekommt Ihr meine Erlaubnis, sie weiterhin zu unterrichten“, sagte er. „Ihre Noten sind ausgezeichnet und mir Beweis genug, dass Eure heimliche Beziehung ihr nicht schadet.“

„Bei allem Respekt, Euer Majestät, damit würdet Ihr einen Skandal auslösen.“

Merin lächelte. „Das mag sein. Aber ich habe bei allen Entscheidungen der Gilde das letzte Wort. Ich mache Euch dieses Angebot als Euer Freund. Doch es ist an eine Bedingung geknüpft: Ich werde derjenige sein, der Euch und Sonea den Eheschwur abnimmt.“

Akkarins Mund verzog sich zu einem kaum merklichen Halblächeln. „Ich fühle mich geehrt. Doch ich weiß nicht, ob ich Euer Angebot annehmen kann.“

Merin lächelte. „Tut mir den Gefallen und denkt zumindest darüber nach.“

„Das werde ich, Euer Majestät.“

Mit nachdenklicher Miene trank der König einen Schluck Wein. „Ich denke, es wäre angemessen, wenn ich Sonea in den Adelsstand erhebe“, überlegte er. „Das würde für weniger Proteste aus den Häusern sorgen, wenn Ihr sie heiratet.“

„Sie würde keinem Haus angehören“, wandte Akkarin ein.

„Nun, das zu ändern, läge an Euch“, erwiderte Merin augenzwinkernd.

„Ich bezweifle, dass Sonea das will.“

Merin runzelte die Stirn. „Warum nicht? Sie hat ihrem Land und ihrem König mehr Loyalität entgegengebracht, als die meisten Mitglieder der Häuser jemals aufbringen würden. Und das, obwohl sie allen Grund hatte, genau das Gegenteil zu tun und obwohl sie eine Abneigung gegen mich hegt, die ich ihr nicht verübeln kann. Wenn das kein Grund ist, dann nennt mir einen besseren.“

„Wenn Ihr Euch Soneas Sympathie erkaufen wollt, dann würde ich Euch raten, etwas Gemeinnütziges zu tun.“

Der König runzelte die Stirn. Wie so oft hatte Akkarin recht. Jemand wie Sonea würde sich nur schwerlich von Titeln und Rängen beeindrucken lassen. Erst, als er während der Schlacht mit den Dieben in einem unterirdischen Versteck gesessen hatte, war Merin bewusst geworden, wie sehr er die Bewohner der Hüttenviertel vernachlässigt hatte und wie wenig Sympathie diese für ihn hegten. Er hatte bereits einige Pläne geschmiedet, um die Situation in den nächsten Jahren zu verbessern. Dazu gehörte auch das Einstellen der alljährlichen Säuberung, zumal diese offenkundig mehr Schaden als Nutzen anrichtete und ihren eigentlichen Zweck verfehlte.

„Und an was denkt Ihr dabei?“, fragte er.

„Soneas größter Wunsch ist, dass die arme Bevölkerung von Imardin eine medizinische Versorgung bekommt, die sie sich leisten kann. Das ist der Grund, warum sie sich der Gilde einst anschloss und warum sie die Disziplin der Heilkunst erwählen möchte.“ Akkarins Miene verdüsterte sich. „Angesichts der Zeiten, die uns möglicherweise bevorstehen, wird ihr diese Möglichkeit vielleicht verwehrt sein. Ich könnte dazu gezwungen sein, ihr davon abzuraten.“

„Ich verstehe.“ Merin wusste, die Bedrohung aus Sachaka war noch lange nicht gebannt. Nicht seit seine Nachbarn wussten, wie schwach die Gilde war. Es wäre töricht gewesen, sich in Sicherheit vor ihnen zu wiegen.

Akkarin trank einen Schluck Wein. Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

„Tut mir den Gefallen und denkt über meinen Vorschlag nach, Euer Majestät.“

„Das werde ich“, erwiderte Merin, seine Erheiterung unterdrückend. „Aber wo wir dieses Thema schon angeschnitten haben, würde ich gerne Eure Meinung zu einer meiner Ideen hören.“

„Selbstverständlich. Worum geht es bei Eurer Idee?“

„Ich plane, die Hüttenviertel in die Stadt zu integrieren. Unter den Mitgliedern der Häuser wird das für einen ähnlichen Skandal sorgen, wie wenn ich offiziell veranlasse, dass Ihr Sonea heiraten dürft. Aber ich kann die Bedürfnisse der armen Bevölkerung nicht mehr länger ignorieren. Während die Reichen aus der Stadt geflohen sind, als die Ichani kamen, haben die Bewohner der Hüttenviertel mit großem Mut und Tapferkeit bei der Verteidigung Imardins geholfen.“

Er machte eine Pause und sah Akkarin offen an. Das, was er jetzt sagen würde, hatte bisher noch niemandem anvertraut. Er wusste, Akkarin war einer der wenigen, gegenüber denen er eine solche Schwäche zeigen durfte. „Ich bin zutiefst beschämt, weil es erst soweit kommen musste, damit ich mich ihrer annehme.“

„Ihr tut das einzig Richtige“, sagte sein Freund. „Es ist die Aufgabe eines guten Königs sich um das Wohlergehen einer jeden Bevölkerungsschicht zu kümmern. Doch dabei solltet Ihr die richtige Balance für alle finden. Es ist wahrscheinlich, dass Ihr dabei auf Widerstand sowohl bei den Armen, als auch bei den Angehörigen der Häuser stoßen werdet. Auf Dauer werden jedoch alle erkennen, dass sie davon profitieren.“

Merin nickte langsam. Er verspürte eine ungeahnte Erleichterung, weil sein Freund das so sah. „Wenn die Hüttenviertel ein Teil der Stadt werden, wird dort eine Stadtwache benötigt“, fuhr er fort. „Und damit meine ich nicht die gelegentlichen Patrouillen, die dort von der Stadtwache durchgeführt werden. Ich spreche von Wachhäusern und einer stärkeren Präsenz von Ordnungshütern. Die Bewohner sollen Ansprechpartner haben, die sich um ihre Anliegen kümmern.

„Die jetzige Stadtwache ist mit den Hüttenvierteln jedoch restlos überfordert und ihre vermehrte Präsenz würde von den Bewohnern kaum akzeptiert. Dennoch möchte ich den Leuten die Sicherheit gewähren, die ihnen zusteht.“

Akkarin nickte. „Ich nehme an, Euch schwebt bereits eine bestimmte Lösung vor und Ihr wünscht meine Ansichten dazu.“

Das war vielmehr eine Feststellung als eine Frage. Für einen flüchtigen Moment fragte Merin sich, ob der andere Mann das wusste, weil sie einander schon so lange kannten oder ob er in diesem Moment seine Gedanken gelesen hatte. Einen weiteren Schluck Wein trinkend, vertrieb er den Gedanken an Letzteres.

„So ist es“, bestätigte er, „wenn auch diese Lösung etwas unkonventionell ist.“

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Mir scheint, Unkonventionalität ist zurzeit in Mode.“

„Allerdings.“ Der König stellte sein Weinglas auf einem Beistelltisch ab und faltete die Hände vor seinem Bauch. „Erzählt mir von Eurer Zusammenarbeit mit den Dieben in den vergangenen zwei Jahren“, forderte er seinen Freund auf.

Akkarin stellte sein Weinglas ebenfalls zur Seite, seine dunklen Augen musterten ihn aufmerksam. „Tatsächlich habe ich nur mit einem von ihnen gearbeitet. Sein Name ist Ceryni. Er mag ein Dieb sein, aber er ist hochanständig. Ich schenke ihm großes Vertrauen.“

Merin lächelte. „So wie ich Euch.“

Akkarin lehnte sich zurück. „Wenn es Euch nicht zu viel Eurer Zeit stiehlt, werde ich Euch gerne alles berichten, was Ihr wissen wollt, sofern es nicht das Vertrauensverhältnis zwischen Ceryni und mir gefährdet.“

 

 

***

 

Der Abend schien kein Ende zu nehmen. Sonea hatte längst das Gefühl für die Zeit verloren. Trotz der vorgerückten Stunde schien keiner der Gäste müde. Sie fühlte sich indes so erschöpft, dass sie am liebsten auf der Stelle in ihr Bett gekrochen wäre. Inzwischen schwirrte ihr der Kopf von all den Namen und Gesichtern, die sie sich hatte merken müssen.

Und sie hatte zu viel getrunken.

Zwei junge Männer aus einem Haus, dessen Name ihr bereits wieder entfallen war, hatten sie und Rothen in ein Gespräch verwickelt und brüsteten sich mit ihren vermeintlichen Heldentaten während der Evakuierung von Imardin. Sonea war kurz davor, ihnen von dem wirklichen Grauen der Schlacht zu erzählen und sie vorzuführen, als Rothen sie mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.

„Au!“, entfuhr es ihr.

„Sieh mal, wer da kommt“, raunte er ihr zu und nickte zu den großen Flügeltüren.

Sonea folgte seinem Blick und entdeckte Akkarin. Die Gäste wichen mit einer Mischung aus Furcht und Respekt vor ihm zurück, während er unbeirrt auf sie und Rothen zuhielt. Zwischen den farbenfroh gekleideten Gästen in ihren prachtvollen Gewändern hätte er seltsam fehl am Platze wirken müssen. Tatsächlich bewegte er sich, als würde er regelmäßig zu solchen Festen gehen.

„Ich dachte schon, er kommt nie mehr zurück“, murmelte sie.

Wenige Augenblicke später hatte Akkarin sie erreicht.

„Darf ich den Herren meine Novizin für eine Weile entführen?“ Trotz der Höflichkeit seiner Frage war die Autorität in seiner Stimme nicht zu überhören.

Sonea unterdrückte ein Grinsen. Offensichtlich ist er in guter Stimmung, stellte sie erfreut fest.

„Natürlich, Lord Akkarin“, antworteten die beiden Jünglinge auf der Stelle und verneigten sich. „Sie gehört Euch.“

„Selbstverständlich tut sie das“, erwiderte Akkarin kühl. Er legte eine Hand zwischen Soneas Schulterblätter. „Lass uns ein Stück abseits gehen.“

Sonea warf Rothen einen entschuldigenden Blick zu. „Kommt Ihr ohne mich zurecht?“

„Los, geh schon“, sagte er. „Das hier ist dein Abend.“ Sein klägliches Lächeln strafte seine Worte jedoch Lügen.

Akkarin nickte ihm dankend zu und führte Sonea zu einem der großen Fenster.

„Was war das denn gerade?“, verlangte Sonea zu wissen.

„Nun, ich hatte den Eindruck, du müsstest vor diesen Windbeuteln gerettet werden“, antwortete Akkarin.

„Das meine ich nicht, Mylord.“

Er runzelte die Stirn. „Was dann?“

„Na das ganze ’natürlich gehört sie mir’“, antwortete Sonea, wobei sie seinen Tonfall möglichst zu imitieren versuchte. „Findet Ihr nicht, dass das ein bisschen zu dick aufgetragen war?“

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Du hast zu viel getrunken“, stellte er fest.

„Ein bisschen.“

„Hat Rothen nicht aufgepasst?“

„Doch“, beeilte sie sich zu sagen. „Das heißt, er hat es versucht. Aber die Diener waren schneller.“

Oh, hoffentlich zürnt er Rothen deswegen nicht!, dachte Sonea. Manchmal fiel es ihr noch schwer, Akkarins Reaktionen einzuschätzen. Es gelang ihm immer wieder, sie zu überraschen, insbesondere wenn es um Personen wie Rothen, Dorrien oder Regin ging. Akkarin und Rothen hatten sich gerade erst ausgesprochen und ein gewisses Niveau der gegenseitigen Akzeptanz erreicht. Sie wollte nicht, dass ihr Verhältnis unter etwas litt, wofür Rothen nichts konnte. Allerdings hatte Rothen auch dafür gesorgt, dass sie für den Rest des Abends nur noch Wasser getrunken hatte.

„Ich hätte dich nicht so lange allein lassen sollen“, sagte Akkarin zu ihrer Überraschung. „Bitte entschuldige, doch ich hatte einige gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn du möchtest, habe ich jetzt Zeit für dich.“ Er warf einen Blick zu den beiden jungen Männern, bei denen sie Rothen zurückgelassen hatte. „Es sei denn, du möchtest lieber wieder zu ihnen zurück.“

Sonea kicherte. „Darauf kann ich verzichten. Danke, dass Ihr mich gerettet habt.“

Akkarin musterte sie eine Weile schweigend. „Möchtest du tanzen?“, fragte er dann.

Sie starrte ihn an. „Mit Euch?“

„Ich frage gewiss nicht für jemand anderen“, sagte er trocken und nahm ihre rechte Hand in seine. Sonea erschauderte unter seiner Berührung.

- Davon abgesehen, dass jeder, der mich um einen Tanz mit dir bittet, ein deutliches Nein erhalten würde.

- Das trifft sich gut. Denn jeder andere, der mich fragen würde, bekäme von mir ebenfalls ein Nein, erwiderte sie.

„Ich würde sehr gern mit Euch tanzen, Lord Akkarin“, sagte sie dann laut. Sie hoffte, ihre Worte würden nicht allzu übertrieben wirken. Denn sie war sich ihrer Angetrunkenheit wohlbewusst.

Er bedachte sie mit dem Halblächeln, das sie so an ihm liebte. „Dann komm.“

Er führte sie auf die Tanzfläche. Sonea entdeckte die Frau mit der Turmfrisur, die jetzt mit Administrator Osen tanzte, und warf ihr einen abschätzigen Blick zu. Das, was ich habe, bekommst du sowieso niemals, dachte sie grimmig.

Akkarin legte seine andere Hand auf ihre Taille und sie begannen zu tanzen.

- Mit dir macht es viel mehr Spaß, sandte Sonea nach einer Weile.

- Hast du überhaupt mit einem anderen außer mir und Balkan getanzt?

- Nein. Rothen wollte nicht.

Gleich nach dem Eröffnungstanz war sie von Balkan aufgefordert worden. Mit ihm zu tanzen war, nachdem Sonea sich auf Akkarin eingestellt hatte, eine ziemliche Katastrophe gewesen. Anschließend hatte sie sich Rothen gegenüber wiedergefunden. Sie beide waren sich jedoch einig gewesen, es gar nicht erst miteinander zu versuchen.

- Dann kannst du das gar nicht wissen.

- Bei jedem anderen als dir würde etwas fehlen.

Die ganze Woche über hatte er jeden Abend mit ihr geübt. Sie hatte sich an seinen Tanzstil gewöhnt, was angesichts ihres Größenunterschiedes nicht einfach gewesen war. Aber das war nicht der wahre Grund. Es lag daran, was sie für ihn empfand und der Art und Weise, wie sie sich ihm nahe fühlte, wenn sie tanzten.

Eine Weile bewegten sie sich schweigend über die Tanzfläche. Um Akkarin nicht die ganze Zeit anzusehen, ließ Sonea ihren Blick durch den Raum schweifen. Nach ihrem Gespräch mit Rothen auf dem Balkon hielt sie das für sicherer.

Erfreut stellte sie fest, dass es Rothen gelungen war, sich von seinen Gesprächspartnern loszueisen. Als sie aber seinen neuen Gesprächspartner erkannte, kamen neuerliche Schuldgefühle, weil sie ihn zurückgelassen hatte. Denn es war niemand Geringeres als Lord Garrel. Sonea musterte den Krieger verstimmt. Alles, was sie und Regin ausgeheckt hatten, um ihn abzulenken, würde wahrscheinlich an diesem Abend zunichtegemacht. Als sich ihre Blicke trafen, wandte Garrel sich rasch ab.

- Ich finde auch, dass es mit dir mehr Spaß macht, sandte Akkarin plötzlich.

- Ach und warum hast du dann so lange mit dieser Frau getanzt?, fragte Sonea und sandte ihm ein Bild von der Frau mit der Turmfrisur, das indes durch ihre Eifersucht verzerrt war.

- Weil sie bei jedem Fest darauf besteht.

Zu Soneas Erheiterung klang er gequält.

- Denk jetzt bitte nicht, ich hätte Mitleid mit dir, sandte sie ungerührt. Seit wann lässt du dich überhaupt von einer Frau herumkommandieren?

Allein die Vorstellung war absurd. Ihr selbst gab er hin und wieder nach. Aber Sonea war sicher, er tat es nur, weil er es für vernünftig hielt.

- Die gesellschaftlichen Regeln bei Hofe sind kompliziert. Ich möchte dich nicht damit langweilen. Du solltest jedoch wissen, dass sie eine sehr einflussreiche Person aus Haus Korin ist – einem Haus, zu dem Haus Velan enge politische und gesellschaftliche Beziehungen pflegt.

- Schon gut. Ich denke, ich kann es mir vorstellen.

- Zürnst du mir?

- Nein, antwortete Sonea und begegnete seinem Blick. Ich vertraue dir.

Etwas daran, wie er ihren Blick erwiderte, ließ sie wünschen, ihn jetzt einfach küssen zu können. Sie war sich jedoch zu schmerzlich bewusst, dass dies im Augenblick völlig undenkbar war.

Die Musik wurde langsamer. Akkarin zog Sonea dichter zu sich heran. Ein wenig zu dicht für ihren Geschmack angesichts der vielen Zuschauer.

- Wir werden beobachtet, sandte sie. Von Garrel.

- Ich weiß, antwortete Akkarin finster. Er ist wie ein lästiges Insekt.

- Vielleicht sollten wir lieber aufhören.

- Und ihm erst recht einen Grund liefern, seiner Neugier weiter nachzugehen? Wir tun nichts Anstößiges, Sonea. Jeder hier kann das bezeugen. Es wäre etwas anderes, würde er uns bei gewissen Dingen in einem Séparée erwischen.

Sonea kicherte.

- Schon alleine, dass du auf solche Gedanken kommst, sagt alles über deine Absichten aus!

- Ich habe nur gute Absichten, antwortete er ernsthaft und fügte dann in einem Anflug von Erheiterung hinzu: zumindest, was dich betrifft.

Was sollte denn das schon wieder heißen? Sonea schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie hatte es aufgegeben, manche seiner Äußerungen zu verstehen und sie nahm an, im Stillen amüsierte er sich über sie.

- Wo warst du vorhin eigentlich solange?, verlangte sie zu wissen.

- Ich habe mit König Merin gesprochen.

- Worum ging es?

- Das erzähle ich dir, wenn wir zuhause sind.

Sonea nahm sich vor dafür zu sorgen, dass er das auch wirklich tat.

 

 

***

 

„Ich wüsste nur zu gern, was zwischen den beiden wirklich läuft“, sagte Garrel wie beiläufig und deutete auf die Tanzfläche zu Akkarin und Sonea. „So tanzt kein Paar, das nicht auch das Bett miteinander teilt.“

Rothen zuckte zusammen. „Woran meint Ihr das zu erkennen?“, fragte er unschuldig. „Soweit ich erkennen kann, machen sie nichts Anstößiges.“ Er betrachtete die anderen Paare auf der Tanzfläche, die allesamt ebenso eng tanzten. „Dieser Ball wird ihretwegen gegeben. Da wird erwartet, dass sie auch miteinander tanzen. Bis jetzt ist Akkarin jedoch noch nicht dazu gekommen.“

„Natürlich müsst Ihr das sagen, so vernarrt, wie Ihr in Sonea seid“, brummte das Oberhaupt der Krieger verdrießlich.

Rothen seufzte. Wo war Dannyl, wenn er ihn am meisten brauchte? Jetzt hatte er Garrel am Hals und so wie es aussah, würde er ihn für den Rest des Abends auch nicht mehr los. Kaum, dass Akkarin seine Novizin zum Tanzen aufgefordert hatte, war der Krieger wie aus dem Nichts neben ihm erschienen. Rothen vermutete, um ihm ein paar intime Details über die wahre Beziehung der beiden zu entlocken.

„Sonea ist für mich wie eine Tochter. Und deswegen werde ich zu verhindern wissen, dass sie sich für einen Mann entscheidet, der nicht gut für sie ist“, erklärte er hoffend, Garrel damit zum Schweigen gebracht zu haben.

„Also wisst Ihr über die Beziehung zwischen Lord Akkarin und seiner Novizin Bescheid“, unterstellte der Krieger.

Rothen spürte, wie er auf dünnes Eis geriet. „Das geht mich nichts an“, sagte er. „Auch ich habe mir anfangs Sorgen wegen all dieser Gerüchte gemacht. Aber vor ein paar Wochen hatte ich ein äußerst aufschlussreiches Gespräch mit Lord Akkarin. Er hat mir versichert, dass er keine unehrenhaften Absichten gegenüber Sonea hegt. Ich vertraue ihm und sie tut es auch.“

„Das war aber bis vor kurzem noch anders“, bemerkte Garrel.

Dieser Mann ist so gerissen, fuhr es Rothen durch den Kopf. Wie soll ich bloß aus dieser Sache wieder herauskommen? Gespräche dieser Art hatte er bereits unzählige Male in seinem Kopf durchgespielt. Nur irgendwie waren ihm alle schlagfertigen Antworten abhandengekommen.

„An Eurer Stelle würde ich lieber nichts unternehmen, was die beiden dazu veranlassen könnte, sich gegen die Gilde zu wenden“, sagte er, einen warnenden Unterton in seine Stimme legen. „Denn was dann passiert, wollt Ihr Euch nicht einmal in Euren schlimmsten Albträumen ausmalen.“

Garrel bedachte ihn mit einem finsteren Blick und schwieg. Rothen unterdrückte seine Erheiterung. Dannyl wäre jetzt stolz auf mich, dachte er.

„Was mich angeht, so würde ich lieber auf Eure Meinung zu dieser Sache verzichten, Lord Garrel“, dröhnte eine tiefe Stimme neben ihnen.

Rothen wandte sich um. „Hoher Lord“, sagte er.

Balkan nickte ihm und Garrel zu und sah dann zur Tanzfläche. „Wenn Akkarin und Sonea, was auch immer sie tun, für sich behalten, will ich nichts darüber wissen. Ich möchte mich nur ungern mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen, die eine intime Beziehung der beiden mit sich ziehen würde. Besonders auf Grund des Status, den sie in der Gilde haben. Solange sie ihm gehorcht ist es mir gleich. Denn dann haben wir es im schlimmsten Fall mit nur einem Gegner zu tun.“

 

 

***

 

„Du siehst müde aus“, stellte Akkarin fest. Die Musik war nicht wieder schneller geworden und Soneas anfänglicher Enthusiasmus war erloschen.

Sie sah zu ihm auf. „Das bin ich auch.“

Sie würde es begrüßen, würden sie auf der Stelle zur Gilde zurückfahren. Alles, was sie wollte, war schlafen.

„Es ist spät“, sagte er sanft. „Die höheren Magier wollen sicher nicht mehr lange bleiben.“

Hoffentlich, dachte Sonea und seufzte innerlich. Sie fand es nicht richtig, dass der Ball ihretwegen gegeben wurde, sie aber auf die Führung der Gilde warten mussten. Irgendwie war das ziemlich verdreht.

„Lehn dich an mich.“

Sonea warf einen nervösen Blick zu Lord Garrel, der sie noch immer interessiert beobachtete, während er sich mit Rothen unterhielt. Inzwischen war Balkan zu ihnen gestoßen. Das verhieß nichts Gutes.

„Nein.“

„Sonea, es ist nichts dabei. Jemand, der uns so sieht, wird denken, dass du müde bist. Und das entspricht der Wahrheit.“

Garrel wird das sicher nicht denken, dachte sie träge.

Akkarin fuhr mit einer Hand unter die Haare in ihrem Nacken und zog ihren Kopf an seine Brust.

„Tu doch einfach einmal das, was ich dir sage.“ Obwohl seine Stimme streng klang, konnte Sonea einen amüsierten Unterton heraushören.

„Ich bitte um Verzeihung, Mylord“, sagte sie mit gespielter Unterwürfigkeit.

„Über deinen Respekt gegenüber meiner Person reden wir, wenn wir zuhause sind“, bemerkte Akkarin. Erheitert stellte Sonea fest, dass es ihm selbst schwerfiel, ernst zu bleiben.

- Ich will nicht, dass wir auffliegen, sandte sie.

- Ich auch nicht, antwortete er, während seine Finger behutsam über ihren Nacken strichen. Soneas Haus begann zu kribbeln, wo er sie berührte. Aber ich weiß, wie weit ich gehen kann. Bei Hofe gelten andere Regeln als in der Gilde. Im Übrigen ist Lord Garrel geschwätzig wie ein Waschweib. Was auch immer er über diesen Abend erzählen wird, niemand wird ihn ernstnehmen.

- Du hast gesagt, alle würden sich am Ende nur noch daran erinnern, wie der Abend geendet hat, erinnerte sie ihn. Der Abend ist fast zu Ende.

Und sie tanzten enger, als sie eigentlich durften. Durch den Stoff seiner Robe konnte Sonea seinen Körper spüren. Er roch so wahnsinnig angenehm und jede seiner Berührungen ließ sie wünschen, jetzt mit ihm alleine zu sein. Und sie war sicher, keiner der Anwesenden musste Gedanken lesen können, um zu wissen, was sie in diesem Augenblick empfand.

Statt einer Antwort zog er sie dichter zu sich und hielt sie fest.

Plötzlich entstand ein Tumult an einer der Türen, die zu den Nebenräumen führten. Die Musik erstarb. Sonea und Akkarin hielten inne.

„Was ist das?“

„Offenbar ein Streit“, murmelte Akkarin.

Sonea folgte seinem Blick. Die Tür zu dem Raum, in dem sie und Rothen sich vor mehr als einer Stunde hatten unterhalten wollen, war aufgegangen. Die Frau, die Sonea darin eng umschlungen mit einem Mann gesehen hatte, wurde von einem anderen, dafür jedoch sehr zornigen Mann herausgezerrt.

„Ich hatte Argan von Yaden davon abgeraten, eine elynische Frau zu wählen“, murmelte Akkarin. „Elisade versteht es, jedes Fest zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen.“

Als er sie wieder ansah, wirkte er erheitert.

„Ich würde sagen, jetzt ist der Abend zu Ende.“

 

 

***

 

Es gab einen Ruck und die Kutsche rollte vorwärts.

„Endlich geht es nach Hause.“ Mit einem Seufzen lehnte Sonea sich zurück und schloss die Augen.

„Morgen schläfst du dich aus“, sagte Akkarin streng.

Sonea antwortete nicht.

„Ich glaube, sie ist eingeschlafen“, sagte Rothen lächelnd.

„Ja.“ Akkarin legte einen Arm um seine Novizin und zog sie zu sich. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter. „Ich hoffe nur, dass sie vernünftig ist und morgen nicht wieder in aller Frühe aufsteht, um zu lernen“, fuhr er leise fort.

„Hat sie nicht bald Prüfungen?“, fragte Rothen verwirrt.

„Das ist richtig. Aber sie lernt als wäre sie besessen, was ihr auf Dauer mehr schaden als nützen wird. Ich kann es ihr nicht ausreden, weil sie sich weigert, in diesem Punkt auf mich zu hören.“

Rothen lächelte. „Wenn Sonea sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann ihr das niemand ausreden.“ Wenn selbst Akkarin fand, sie lernte zu viel, musste etwas Wahres daran sein. Jetzt verstand er auch, warum sie das wöchentliche Mittagessen abgesagt hatte.

„Ich weiß“, sagte Akkarin finster. Dennoch streckte er zu Rothens Überraschung eine Hand aus, um über Soneas Haar zu streichen.

Das ist wahrhaftig absurd, fuhr es Rothen durch den Kopf, während sie durch den Inneren Ring fuhren. Ich sitze hier mit dem Mann, der einst mein größter Feind war und er vertraut mir seine Sorgen bezüglich Sonea an.

„Wenn ich Euch einen Rat geben darf …“, begann er zögernd.

Der schwarze Magier betrachtete ihn mit einem Blick, der Rothen erschaudern ließ.

„Sprecht.“

„Akzeptiert diese Eigenart Soneas. Ihr werdet sowieso nichts dagegen ausrichten können.“ Er beobachtete, wie der andere Mann Sonea nachdenklich betrachtete, während sie in seinen Armen schlief.

„Soneas Eigensinn ist ein Teil von ihr“, sagte Akkarin und sah Rothen in die Augen. „Ich liebe ihn so wie alles andere an ihr. Ich werde mir nicht anmaßen, etwas daran zu ändern.“

Rothen kam nicht umhin, ihm zu glauben. „Und dennoch fürchtet Ihr, Soneas Sturheit könnte ihr schaden“, stellte er fest.

„Ja.“

„Sie war schon immer sehr ehrgeizig. Gleich in ihrem ersten Jahr hat sie eine ganze Klasse übersprungen. Jetzt muss sie zwar weniger aufholen, doch die Anforderungen haben sich erhöht.“

„Den größten Anspruch stellt sie an sich selbst“, entgegnete Akkarin. „Sie fürchtet, wenn sie in den Prüfungen nicht gut abschneidet, könnte dies die über uns kursierenden Gerüchte weiter anfachen. Sie hat Angst, die Gilde würde dann versuchen, uns zu trennen. Sie will mir nicht glauben, wenn ich ihr sage, dass ihre Leistungen nach wie vor hervorragend sind und es keinen Anlass zur Sorge gibt. Ich sehe keine Möglichkeit, ihr diese Angst zu nehmen.“

Rothen nickte mitfühlend. „Ich glaube, die Gilde fürchtet sich viel zu sehr davor, Ihr und Sonea könntet Euch gegen sie wenden, wenn sie Euch beide trennt“, sagte er.

Bevor Akkarin darauf etwas erwidern konnte, kam die Kutsche mit einem Ruck vor dem Universitätsgebäude zum Stehen. Sie waren zurück.

Akkarin wandte sich zu Sonea. „Sonea, wach auf“, sagte er sanft und streichelte ihre Wange. „Wir sind zuhause.“

„Hm“, machte Sonea, ihre Augen blieben jedoch geschlossen.

„Komm, Sonea ich trage dich nach Hause.“ Akkarin nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie auf die Stirn, dann legte er ihre Arme um seinen Hals.

Rothen betrachtete die beiden versonnen. Wenn er noch Zweifel an der Aufrichtigkeit von Akkarins Gefühlen gehabt hatte, dann waren sie jetzt endgültig weggewischt. Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen die beiden konfrontiert wurden, kam er nicht umhin, die beiden schwarzen Magier zu beneiden. Seit Yilaras Tod hatte er keine Liebe mehr erfahren.

„Soll ich Euch helfen, Sonea zu Bett zu bringen?“

„Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, Lord Rothen, doch ich möchte Euch nicht den weiten Weg zu unserer Residenz zumuten“, lehnte Akkarin ab. „Gewiss seid Ihr selbst müde.“

Rothen nickte dankbar. Nach diesem Abend war er so erschöpft, dass es ihm nach seinem Bett mehr denn je verlangte. Dafür würde er sogar auf seinen allabendlichen Sumi verzichten.

Der schwarze Magier hob Sonea hoch und sie stiegen aus. Die übrigen Magier hatten sich vor der Universität versammelt. Einige, darunter Lord Garrel, runzelten die Stirn, als sie sahen, dass Akkarin seine Novizin auf den Armen trug.

„Ein paar von uns haben beschlossen, noch in den Abendsaal zu gehen“, sagte Balkan, als sie zu den anderen traten. „Möchtet Ihr Euch vielleicht anschließen?“

Rothen schüttelte ungläubig den Kopf. Hatten die anderen denn noch nicht genug gefeiert?

„Besten Dank Hoher Lord, doch ich gehe lieber schlafen“, lehnte er ab.

„Und ich muss meine Novizin zu Bett bringen“, sagte Akkarin. „Der Abend war offenkundig ein wenig zu lang für sie.“ Sein Blick begegnete dem von Lord Garrel, der sichtlich zusammenzuckte. „Ich denke nicht, dass ich danach noch einmal herkommen werde.“

Lady Vinara betrachtete Sonea mitfühlend. „Sie schläft tief und fest“, stellte sie fest. „Es ist wirklich spät geworden. Sorgt dafür, dass sie sich morgen ausruht.“

„Darauf habt Ihr mein Wort“, erwiderte Akkarin. „Gute Nacht allerseits.“

Mit Sonea auf den Armen schritt er davon.

 

 

***

Kapitel 11 - Wo sie es am wenigsten erwartet hätte

  Kapitel 11 – Wo sie es am wenigsten erwartet hätte

 

 

In der lauen Spätsommerluft hing ein Hauch von Vergänglichkeit. An den Büschen überall auf dem Universitätsgelände färbten sich allmählich die ersten Blätter gelb. Trotz der angenehmen Mittagsstunde fröstelte Sonea in einer lauen Brise.

„Tut mir leid, dass ich es gestern nicht in die Bibliothek geschafft habe“, entschuldigte sie sich bei ihren Freunden. „Lord Akkarin hat darauf bestanden, dass ich mir einen freien Tag nehme.“

Sie saßen auf einer Gartenbank. Solange das schöne Wetter anhielt, verbrachten sie ihre Mittagspausen draußen. Abgesehen davon, einfach nur die Sonne zu genießen, hatte Sonea hier mehr Ruhe vor ihren Bewunderern, als wenn sie in der Novizenbibliothek lernten.

„Wir haben eigentlich gar nicht damit gerechnet, dich vor heute wiederzusehen“, sagte Regin, während Trassias Augen sich bei ihren Worten vor Entsetzen geweitet hatten.

„Er hat dir verboten zu lernen?“

Sonea zuckte die Achseln. „Er findet, ich lerne zu viel.“

Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Um sich den Spott ihrer Freunde zu ersparen, verschwieg Sonea, dass sie am Tag nach dem Bankett erst gegen Mittag mit dröhnenden Kopfschmerzen und einem rebellierenden Magen aufgewacht war. Nachdem ihre Lebensgeister wieder einigermaßen zurückgekehrt waren, hatte sie trotz Akkarins Verbot ein wenig unter den Pachibäumen in ihrem verwilderten Garten gelernt. Dabei hatte sie sich jedoch darauf beschränkt, ihre Notizen von Heilkunst durchzulesen. Zugegebenermaßen hatte sich bereits das als eine ziemliche Herausforderung herausgestellt.

Irgendwann war Akkarin gekommen. Doch anstatt sie zu schelten, hatte er sich ungewohnt informell neben ihr niedergelassen und sie abgefragt. Anfangs war Sonea sich dabei albern vorgekommen, doch nach einer Weile hatte sie sich entspannt. Seine Fragen hatten ihr etwas von ihrem Druck genommen und am Ende war es ein heiterer Nachmittag geworden.

„Damit hat er auch recht“, sagte Regin. „Du bist völlig besessen vom Lernen.“

Sonea zuckte die Achseln. „Ich möchte nicht durch die Prüfungen fallen.“ In zwei Wochen würde es soweit sein. Für ihren Geschmack war die Zeit bis dahin viel zu schnell vergangen. Von ihrem Abschneiden würde mehr als die Geheimhaltung ihrer Beziehung abhängen. Wenn sie die Prüfungen nicht bestand, würde sie ein ganzes Halbjahr wiederholen müssen. Dadurch, dass sie durch ihre Verbannung mehr als einen Monat Unterricht versäumt hatte, war alles irgendwie sehr viel komplizierter geworden.

„Du kannst gar nicht durchfallen“, widersprach Regin. „Dafür bist du viel zu gut.“

„Das stimmt“, pflichtete Trassia ihm bei. „Und jetzt erzähl uns, wie es auf dem Bankett war. Regin muss gleich zur seiner Privatstunde bei Balkan.“

Sonea nickte. Sie hatte sich bereits eine Version zurechtgelegt, die sowohl Trassia als auch Regin wissen durften. Trassia glaubte, die Wahrheit über sie und Akkarin zu kennen und hielt es für ein Geheimnis zwischen ihr und Sonea. Regin dagegen kannte die Wahrheit. Aber ihm würde Sonea niemals die Details ihrer Beziehung anvertrauen. Obwohl sie inzwischen beiden vertraute, hielt Sonea es für sicherer, möglichst wenig von sich preiszugeben, um keinen ihrer Freunde tiefer als nötig in diese Sache hineinzuziehen.

Und einige Dinge waren zu privat, um sie überhaupt mit jemandem zu teilen.

„Eigentlich war es ziemlich langweilig“, berichtete sie. „Es gab viel zu viel zu essen und das war wirklich unglaublich gut und es gab sehr viel Wein. Die meiste Zeit habe ich mit Rothen verbracht, der das Fest genauso fürchterlich fand wie ich. Und, oh, König Merin hat eine Rede gehalten, in der er uns öffentlich verziehen hat. Das war ziemlich … unangenehm.“

Sie schauderte, als sie daran zurückdachte, wie sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte, während ihre Wangen vor Scham gebrannt hatten, als die Oberhäupter der Häuser auf sie und Akkarin angestoßen hatten.

„Hast du denn nicht getanzt?“, fragte Trassia.

Sonea verdrehte die Augen. „Doch. Lord Akkarin und ich mussten den Eröffnungstanz machen. Es war entsetzlich, alle haben uns angestarrt.“ Erst sehr viel später, als sie länger getanzt hatten, war es ein schöner Abend geworden. Aber sie wusste nicht, ob sie ihren Freunden davon erzählen sollte.

„Mein Onkel behauptet, ihr zwei hättet fast den ganzen Abend zusammen getanzt“, sagte Regin. „Und ihr hättet ziemlich viel Liebesgeflüster ausgetauscht und euch schmachtende Blicke zugeworfen.“

„Was?“, entfuhr es Sonea. „Das ist nicht wahr!“

„Ich habe nur gesagt, was er gesehen hat.“

Sonea war außer sich. Wie konnte Garrel es wagen, solche Lügen zu verbreiten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand dem Glauben schenken würde. Das alles war so unglaublich lächerlich!

„Alle höheren Magier waren dabei. Lord Akkarin ist mein Mentor! Er hat nur so viel Zeit mit mir verbracht, wie nötig war, um nicht unhöflich zu sein.“

Regin warf ihr einen wissenden Blick zu und betrachtete dann das Gras zu seinen Füßen.

„Wie ist es denn wirklich gewesen?“, fragte Trassia vorsichtig.

Sonea erzählte von dem Bankettessen, wobei sie ihren peinlichen Ausrutscher ausließ, und von dem anschließend stattfindenden Ball. Sie erzählte, wie sie nach einem Tanz mit Akkarin von Balkan aufgefordert worden war und wie sie sich anschließend fast den kompletten Abend mit Rothen unterhalten hatte. Sie ließ nicht aus, dass sie am Ende wieder mit Akkarin getanzt hatte. Doch sie versuchte, es so harmlos wie möglich darzustellen.

„Als er wieder Zeit für mich hatte, war es schon sehr spät und ich war schon ziemlich müde und wollte nur noch nach Hause“, schloss sie. „Aber die höheren Magier wollten erst gehen, als das Fest zu Ende war und ohne sie durften wir den Palast nicht verlassen. Deswegen hat er erlaubt, dass ich mich an ihn lehne. Rothen hätte dasselbe getan. Dein Onkel hat das sicher falsch interpretiert, Regin. Sag ihm, wie es wirklich war.“

Ihr Freund nickte langsam. „Vielleicht sollte ich das.“

Sonea hoffte, er würde das tun. Und sie hoffte noch mehr, dass es half. Sie hatte nicht vergessen, wie Garrel sie angestarrt hatte, als sie und Akkarin getanzt hatten. „Auf dem Weg zurück in die Gilde bin ich eingeschlafen und erst gestern Mittag in meinem Bett aufgewacht“, schloss sie ihren Bericht. „Lord Akkarin musste mich nach Hause tragen, weil er mich nicht wecken konnte.“

„Das ist wirklich nett von ihm“, sagte Trassia ein schwärmerisches Leuchten in ihren dunklen Augen.

„Ja, manchmal ist er nett“, stimmte Sonea zu. „Ich meine, wir haben einiges zusammen durchgemacht. Dadurch hat sich unser Verhältnis sehr gebessert. Für einen guten Mentor sollte es selbstverständlich sein, sich um die eigene Novizin zu kümmern.“

„Eigentlich schon“, stimmte ihre Freundin zu.

Regin erhob sich. „Ich muss jetzt zu Kriegskunst. Sonea, können wir uns nach deinem Unterricht kurz treffen? Ich habe da noch etwas, was ich dir zurückgeben wollte.“

Sonea runzelte die Stirn. „Zurückgeben? Was denn?“

„Das Buch, was du mir letzte Woche geliehen hast.“

Er zwinkerte ihr zu.

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Was sollte das schon wieder werden?

„Regin, ich habe dir kein Buch geliehen.“

Er stellte seinen Fuß auf die Bank und beugte sich vor, um den Staub von seiner Stiefelspitze zu wischen. Dabei streifte er ihren Arm.

- Es geht um unseren Plan. Wir müssen uns etwas Neues überlegen.

Natürlich, dachte Sonea. Seit dem Ball würde Garrel nicht mehr glauben, dass sie Akkarin nur bewunderte. Nicht, wenn er bereits begann, die Tatsachen zu verdrehen. Aber konnten sie überhaupt etwas dagegen unternehmen?

„Richtig!“, rief sie laut. „Jetzt erinnere ich mich wieder!“

„Was ist deine letzte Stunde?“

„Heilkunst. Bei Lady Vinara.“

„Dann treffen wir uns vor dem Heilerquartier. Bis später.“

„Bis später“, wiederholte Sonea.

„Viel Spaß bei Kriegskunst“, wünschte Trassia. Sie sah ihm nachdenklich hinterher. Dann wandte sie sich zu Sonea. „Was läuft da eigentlich zwischen dir und Regin?“

Sonea setzte ein unschuldiges Gesicht auf. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

Ihre Freundin bedachte sie mit einem vielsagenden Blick. „Na, euer ständiges Getuschel, die Blicke, die ihr euch zuwerft und eure Geheimsprache. Früher konntet ihr euch nicht ausstehen und jetzt seid ihr auf einmal beste Freunde. Da stimmt doch etwas nicht.“

Sonea blinzelte verwirrt. „Geheimsprache?“

„So wie jetzt das mit dem Buch“, erklärte Trassia. „Ihr zwei wollt euch heimlich treffen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du wärst in ihn verliebt.“

Sonea lachte. „Trassia, denkst du wirklich, ich und Regin wären ineinander verliebt?“

Trassia errötete. „Natürlich nicht.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. „Schließlich weiß ich, wem dein Herz gehört. Aber irgendetwas haltet ihr vor mir geheim.“

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Trassia etwas von ihrer und Regins Heimlichtuerei mitbekam, erkannte Sonea. Sie musste einen Weg finden, ihre Freundin zu beruhigen, ohne dass diese die Wahrheit erfuhr.

Sonea holte tief Luft. „Trassia, du bist meine Freundin“, begann sie. „Du weißt, ich würde dir alles erzählen. Aber das mit Regin darf ich dir nicht sagen. Es zu wissen könnte dich in Gefahr bringen. Ich kann dir nur so viel sagen: Es ist nichts Verbotenes. Regin leistet auf diese Weise nur Wiedergutmachung für das, was er mir früher angetan hat. Aber eines Tages werde ich dir alles erzählen, das verspreche ich dir.“

Trassia nickte zögernd. „Ich vertraue dir.“ Sie drehte sich zu Sonea, ein Bein unter ihr Gesäß geschoben. Ihre Augen begannen zu leuchten. „Und jetzt, wo er weg ist, erzähl mir, wie Akkarin war. Wie war, es mit ihm zu tanzen?“

Sonea lächelte. Das war etwas, was sie ihrer Freundin anvertrauen konnte. Sie zog ihre Beine an die Brust und umschlang sie mit ihren Armen.

„Es war sehr schön. Er war ganz anders als sonst. Viel charmanter, weißt du? Aber das gehörte auch einfach dazu, glaube ich. Und ich habe mich ihm dabei so unglaublich nahe gefühlt.“

Es war sehr schön, aber auch irgendwie seltsam gewesen. Sonea mochte Akkarin lieber, wie er sonst war – kühl, distanziert, streng, aber auch liebevoll. Dennoch war es auch nicht so übel, hin und wieder einen weniger distanzierten Akkarin zu erleben.

„Was denkst du? Mag er dich?“

Sonea schnaubte. „Sonst wäre ich wohl kaum seine Novizin.“

„Das meine ich nicht“, sagte Trassia. „Ich meine, ob er dich persönlich mag.“

Er mag mich nicht nur, er liebt mich sogar, dachte Sonea und sah verträumt zum Wald. Ob sie das mit dem Tanzen irgendwann wiederholen konnten? Sie musste zugeben, so sehr sie sich zu Beginn dagegen gesträubt hatte, hatte es ihr am Ende gefallen.

„Kann schon sein. Aber das kann ich ihn unmöglich fragen.“

Trassia lachte. „Nein, besser nicht!“

 

 

***

 

Rothen betrat das Büro des Administrators und registrierte die Anwesenden. Neben den höheren Magiern erblickte er Lord Davin und Akkarin. Osen saß hinter seinem Schreibtisch. Die übrigen hatten bis auf Lord Garrel in bequemen Sesseln Platz genommen. Das Oberhaupt der Krieger lehnte mit äußerst griesgrämiger Miene am Fenster.

„Lord Rothen, bitte setzt Euch.“ Osen wies auf einen letzten Stuhl, der noch frei war. „Wir warten nur noch auf den Hohen Lord, dann können wir beginnen.“

Rothen grüßte seine Kollegen und setzte sich. Er begriff nicht, warum dieses Treffen überhaupt stattfinden musste. Lord Davins Projekt war bereits im Frühjahr von Akkarin genehmigt worden. Warum mussten die höheren Magier jetzt erneut darüber diskutieren, anstatt den Wiederaufbau einfach zu genehmigen, sobald das nötige Geld wieder vorhanden war?

Die Tür ging erneut auf und Balkan trat ein. Als Osen ihn erblickte, sprang er förmlich von seinem Stuhl auf.

„Hoher Lord, bitte nehmt meinen Stuhl“, sagte er unterwürfig.

Balkan winkte ab. „Ich kann stehen“, brummte er. „Lasst uns anfangen.“

Rothen bemerkte, dass der Saum seiner Roben von Schmutz bedeckt war. Er wusste, Balkan gab Garrels Neffen in jeder Mittagspause Privatunterricht in der Arena. Sein Verständnis scheiterte jedoch daran, wieso die höheren Magier sich ausgerechnet für Weiß entschieden hatten.

„Die Entscheidung, ob der Bau von Lord Davins Wetterausguck wieder aufgenommen werden soll, wurde bei der letzten Gildenversammlung vertagt“, rief der Administrator den höheren Magiern ins Gedächtnis. „Die nötigen Baumaßnahmen wurden im Frühjahr von Balkans Vorgänger, Lord Akkarin, genehmigt. Lord Akkarin, würdet Ihr bitte Eure Gründe für diesen Schritt für diejenigen unter uns, die damals noch keine höheren Magier waren, erläutern?“

„Es gab zwei Gründe, warum ich den Bau des Wetterausgucks genehmigt habe“, begann Akkarin. „Der erste ist rein wissenschaftlicher Natur. Lord Davins Vorhersagen haben mit der Zeit an Präzision gewonnen, was für die kyralische Bevölkerung von Nutzen sein wird, sollte er die Gelegenheit haben, die Phänomene des Wetters weiter zu erforschen.“

„Was für einen Nutzen sollten die Kyralier davon haben?“, fragte Lord Peakin irritiert.

Akkarin legte seine Fingerspitzen aneinander. „Schiffe würden nicht auslaufen, wenn ein schwerer Sturm auf See bevorsteht. Bauern könnten für eine ausreichende Bewässerung ihrer Felder sorgen, sollte sich eine Dürre ankündigen. Es gibt noch weitere Vorteile, doch ich möchte die Anwesenden nicht mit den Details langweilen.“

„Und was war der zweite Grund?“

„Ein militärischer, was das Projekt für den König attraktiv macht. Damit Lord Davin seine Studien ernsthaft betreiben kann, müsste zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand den Ausguck besetzen. Feinde wären zu sehen, lange bevor sie Imardin erreichen. Sollte uns ein erneuter Angriff drohen, würde uns dieser Ausguck erlauben, die Schritte des Feindes genau zu beobachten.“

Die höheren Magier verfielen in Schweigen. Balkan stützte das Kinn auf eine Hand.

Das Oberhaupt der Krieger schnaubte verächtlich. „Bei dem letzten Angriff wussten wir auch ohne diesen Ausguck, wo unsere Feinde sind“, sagte er.

„Die Spur der Verwüstung, die sie hinterlassen hatten, war auch kaum zu übersehen“, entgegnete der Hohe Lord. „Sie haben sich keine Mühe gemacht, ihr Eindringen in unser Land zu verbergen. Wären sie über den Südpass gekommen und hätten sie nicht unterwegs alles abgeschlachtet, was sich ihnen in den Weg gestellt hat, hätten wir sie erst bemerkt, als sie bereits vor unseren Stadttoren standen.“

„Dem stimme ich zu“, sagte Akkarin, woraufhin das Oberhaupt der Krieger ihm einen finsteren Blick zu warf.

Rothen unterdrückte ein Seufzen. Diese Krieger schafften es doch wahrhaftig, die Diskussion über ein wissenschaftliches Projekt zu einer Streitfrage der Verteidigung zu machen.

„Vielleicht sollten wir uns zunächst auf den eigentlichen Zweck von Lord Davins Vorhaben beschränken“, schlug er vor.

„Als Euer Vorgänger kann ich nur sagen, dieses Projekt ist reine Zeit- und Geldverschwendung“, erklärte Lord Peakin. „Wir täten besser daran, diese Sitzung zu beenden und uns unserer eigentlichen Arbeit zu widmen.“

Lord Davin machte ein gekränktes Gesicht. „Ihr seid doch nur zu stolz, um zuzugeben, dass meine Forschung sinnvoll ist“, warf er dem Oberhaupt der Alchemisten vor.

„Lord Peakin, Eure persönlichen Ansichten in dieser Angelegenheit sind uns allen wohlbekannt“, sagte Osen beschwichtigend. „Ich denke nicht, dass es nötig ist, sie uns erneut darzulegen. Wir wollen hier die wissenschaftliche Begründung und die finanzielle Durchführbarkeit von Lord Davins Projekt prüfen. Dabei geht es nicht um persönliche Meinung oder Kriegsstrategien, wobei wir Letztere vielleicht im Hinterkopf behalten sollten. Lord Davin, seid bitte so gut und erläutert uns noch einmal, worum genau es in Eurer Wetterstudie geht und wie Eure Vorgehensweise ist.“

Davin lächelte erfreut. „Sehr gern, Administrator.“ Der Alchemist richtete sich ein wenig in seinem Sitz auf. „Ich erforsche das Wetter, indem ich den Himmel beobachtete und die auftretenden Phänomene wie Regen, Wind, Sonne, Wolkenformen, Temperaturen und dergleichen aufzeichne. Diese vergleiche ich mich den Aufzeichnungen, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Um Daten aus der Zeit davor zu erhalten, erhebe ich Umfragen und suche in Archiven.

„Ich habe herausgefunden, dass es Phänomene gibt, die periodisch jedes Jahr wiederkehren, wobei dies auch Schwankungen unterworfen ist. Mit den mir bisher zur Verfügung stehenden Mitteln konnte ich diese jedoch nicht ausreichend untersuchen. Für einige Wochen im Sommer ist es beispielsweise sehr heiß und trocken. In dieser Zeit weht der Wind meistens schwach von Osten. Vor einem heftigen Sommergewitter steigt die Luftfeuchtigkeit über mehrere Tage an, weil sie in der Flussmündung des Tarali nur schwer abziehen kann. Im Frühjahr und im Herbst, wo es vermehrt regnet, kommt der Wind meistens vom Meer.

„Zurzeit verfolge ich eine Theorie, dass der Regen entsteht, wenn Meerwasser verdunstet, was von hier jedoch nur schwierig zu beobachten ist. Kurzfristige Wetterveränderungen lassen sich recht gut vorhersagen. Doch um das Wetter für die nächsten Tage oder Wochen vorherzusagen, müsste ich mir einen besseren Überblick des Himmels verschaffen. Dazu brauche ich diesen Ausguck.“

„Dass es im Frühjahr regnet und im Sommer heiß und trocken ist, weiß jedes Kind“, brummte Lord Peakin verdrießlich.

Davin warf dem Oberhaupt der Alchemisten einen vernichtenden Blick zu. „Das ist richtig. Doch wie ich bereits sagte, ist dies Schwankungen unterworfen, die nicht so leicht vorauszusagen sind. In diesem Jahr war das Frühjahr ungewöhnlich warm und trocken, der Sommer dagegen verregnet, während wir vor fünf Jahren eine Dürre hatten. So etwas kommt alle paar Jahre vor, doch es entbehrt jeder Regelmäßigkeit, deren Verständnis detaillierte Studien erfordert.“

Er öffnete eine lederne Mappe und verteilte einige Bögen Pergament an die Anwesenden.

„Diese Seiten enthalten weitere Details meiner Forschung“, erklärte er. „Unter anderem auch darüber, wie ich diese Schwankungen zu erforschen beabsichtige.“

Rothen nahm die für ihn bestimmten Bögen entgegen. „Ihr wollt also mit Hilfe des Ausgucks diese Schwankungen besser vorhersagen?“, fragte er. Er hatte mit Davin bereits ausgiebig über seine Forschung diskutiert, um Davins Theorien zu verstehen, und war mit der Materie vertraut. Er stellte diese Frage nur, damit auch seine Kollegen ein besseres Verständnis von dem Projekt des Alchemisten erhielten.

Lord Davin nickte. „Das ist richtig, Lord Rothen.“

Administrator Osen beugte sich über seinen Schreibtisch. „Lord Davin, ist es richtig, dass Ihr Eure Forschung bisher aus Eurem eigenen Geldbeutel finanziert habt?“

„Ja“, bestätigte Davin. „Doch der Wetterausguck würde meine finanziellen Mittel sprengen, sollte er genehmigt werden.“

Rothen räusperte sich. „Ich habe mich bereits bei der letzten Gildenversammlung für dieses Projekt ausgesprochen. Im Gegensatz zu manch anderen Projekten, die mir seit meinem Amtsantritt vorgelegt wurden, besitzt es Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und ist von Nutzen für die Allgemeinheit.“

„Da die Bauarbeiten wegen der Invasion der Ichani nicht beendet werden konnten, ist der Turm eingestürzt“, wandte Administrator Osen ein. „Ihn wieder aufzubauen, würde eine erneute Genehmigung des Königs erfordern. Dazu kommen die ganzen Kosten.“

„Aber über die Kosten war sich die Gilde doch bereits im Frühjahr einig“, protestierte Davin.

„Die Folgen der Schlacht haben eine Menge Geld verschlungen.“ Das Bedauern in der Stimme des Administrators war echt. „Euer Projekt erneut zu genehmigen, wäre gewiss einfacher, wenn das nötige Geld verfügbar wäre.“

Enttäuscht ließ Davin die Schultern hängen. Dennoch schien er sich an jeden Strohhalm zu klammern, der sich ihm darbot. „Was ist mit Lord Akkarins anderem Argument?“, fragte er. „Ich wäre noch immer einverstanden, würde der Ausguck auch für strategische Zwecke genutzt werden.“

„Ich bezweifle, dass uns dies wirklich von Nutzen wäre“, antwortete Garrel.

„Das sehe ich anders.“

Lord Davin und die höheren Magier zuckten zusammen. Anscheinend hatte Akkarin in dieser Angelegenheit noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.

„Das Fort am Nordpass dient ebenfalls dem Zweck, das Umland zu überwachen. Seid Ihr nun auch der Meinung, dieses Fort entbehre jeglichem militärischen Nutzen, weil die Ichani es überrannt haben, Lord Garrel?“

Das Oberhaupt der Krieger blickte nervös zu Boden. „Selbstverständlich nicht, Lord Akkarin“, sagte er hastig.

„Selbst wenn wir beide Pässe bewachen, besteht die Möglichkeit, dass die Sachakaner unbemerkt nach Kyralia eindringen“, fuhr der schwarze Magier unbeirrt fort. „Sie könnten einen anderen Weg finden und wir würden sie erst bemerken, wenn sie Imardin bereits erreicht haben.“

„Insofern würde Davins Wetterausguck tatsächlich Sinn machen“, überlegte Balkan. „Auch wenn ich eine gute Sicherung sämtlicher Pässe nach Sachaka und Patrouillen im dazwischenliegenden Gebiet für sinnvoller halten würde. Dazu fehlt uns jedoch erst recht das Geld.“

„So ist es“, stimmte Akkarin zu. „Der wirtschaftliche Nutzen des Wetterausgucks würde langfristig jedoch für höhere Steuereinnahmen sorgen. Das würde uns eine wirksame Sicherung der Grenze ermöglichen.“

Rothen nickte. „Ich bin derselben Meinung.“

Garrel und Peakin machten finstere Gesichter.

„Das Ganze ist reine Geldverschwendung“, murmelte Peakin und das Oberhaupt der Krieger nickte bestätigend.

Der Administrator seufzte. „Nachdem alle Meinungen gehört sind, halte ich es für das Beste, wenn wir dieses Thema vertagen“, verkündete er. „Diejenigen, die an der Realisierung von Lord Davins Projekt interessiert sind, mögen bis zur nächsten Gildenversammlung einen genauen Kostenplan aufstellen, wobei ich dazu raten würde, die Kosten möglichst gering zu halten.“ Sein Blick wanderte zu Davin. „Das heißt, keine unzweckmäßigen architektonischen Designs – egal wie berühmt ihr Erfinder sein mag.“

Roben raschelten, als sich die höheren Magier von ihren Plätzen erhoben.

Rothen trat zu Lord Davin. „Tut mir leid, dass ich nicht mehr für Euch tun konnte.“

Der Alchemist lächelte schwach. „Ihr unterstützt mein Projekt und das ist mir viel wert.“

„Keine Ursache“, winkte Rothen ab.

„Dasselbe gilt natürlich auch für Euch“, sagte Davin zu Akkarin gewandt.

„Ich sehe keinen Grund, warum ich meine Meinung seit dem Frühjahr geändert haben sollte“, antwortete dieser.

Der Hohe Lord trat zu ihnen. „So wie es aussieht, werden wir von nun an zusammenarbeiten“, sagte er.

Wundervoll, dachte Rothen. Zwei Alchemisten und zwei Krieger, die sich zusammentun, um ein Wetterprojekt durchzusetzen.

Lieber hätte er mit Davin allein eine Finanzierung aufgestellt. Er hatte nichts gegen Akkarin oder Balkan. Jedoch befürchtete er, dass ihre Zusammenarbeit dem Projekt eher im Weg stehen würde. Er wusste, Balkan misstraute Akkarin noch immer. Dass sie heute überhaupt einer Meinung gewesen waren, war bemerkenswert.

 

 

***

 

Sonea verließ das Heilerquartier. Ein Teil von ihr bedauerte, dass der Unterricht schon wieder zu Ende war, während der andere sich auf Zuhause freute. Und auf Akkarin. Lady Vinara war eine strenge Lehrerin, aber sie war auch geduldig und forderte Soneas Wissen und ihre Intelligenz. Sonea schwante, dass sie mehr lernte, als der Lehrplan eigentlich vorsah. An diesem Tag hatte sie erstmals bei einer Operation assistieren dürfen. Für gewöhnlich war dies nur Novizen im fünften Jahr erlaubt, die Heilkunst als Disziplin gewählt hatten. Es gefiel ihr, dass Lady Vinara ihr so viel Vertrauen schenkte. Und was noch besser war: Sie hatte sie in keiner Weise auf das Bankett angesprochen.

Allerdings fragte sie sich auch, ob Lady Vinara das tat, um sie als Heilerin zu gewinnen oder um sich mit Akkarin gut zu stellen. Sie entschied indes, die wahren Beweggründe ihrer Lehrerin brauchten sie nicht kümmern, solange sie davon profitierte.

Regin lehnte an einem Baumstamm ein wenig abseits vom Weg.

Sonea eilte auf ihn zu. „Ich hoffe, es dauert nicht lange“, sagte sie. „Akkarin erwartet mich zum Abendessen.“

Akkarin schätzte Pünktlichkeit. Er sah es ihr nach, wenn sie sich verspätete, aber er erwartete von ihr, dass sie ihn rechtzeitig darüber informierte.

„Das kommt darauf an“, antwortete Regin. „Durch das Bankett ist unser Plan gescheitert. Wir müssen uns etwas Neues ausdenken.“

„Wir mussten zusammen dorthin. Und das mit dem Eröffnungstanz hat der König so gewollt.“

„Sonea, du hast mit ihm geflirtet“, erinnerte Regin. „Und ihr habt ziemlich eng getanzt.“

„Alle haben so getanzt“, protestierte sie. „Und was das Flirten angeht: Ich habe nur gesagt, dass ich mir keinen besseren Lehrer für Kriegskunst vorstellen kann. Eigentlich war vorgesehen, dass dein Onkel mich in Kriegskunst unterrichtet. Wenn er jetzt deswegen beleidigt ist oder wieder fürchtet, Akkarin wolle ihm seinen Posten wegnehmen, dann ist das nicht mein Problem!“

„Sonea, jetzt reg dich nicht so auf.“

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich rege mich so viel auf, wie ich will!“, fuhr sie ihn an. „In weniger als zwei Wochen finden meine Prüfungen statt. Ich habe im Augenblick wirklich Besseres zu tun, als mich um Intrigen und Gildenpolitik zu kümmern. Das geht mich absolut nichts an!“

„Sonea, wenn das deine Beziehung gefährdet, dann muss es dich etwas angehen“, sagte Regin vorsichtig. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch für dich lügen kann. Mein Onkel macht mir ziemlichen Druck.“

„Regin“, zischte sie. „Wenn ich diese Prüfungen bestehe – und das mit Bestnoten – dann wird es niemanden mehr interessieren, ob zwischen mir und Akkarin etwas läuft.“

„Und was wird aus unserem Plan?“, fragte er. „Was soll ich meinem Onkel erzählen?“

Entnervt fuhr Sonea sich mit einer Hand über die Stirn.

„Keine Ahnung. Vielleicht zur Abwechslung die Wahrheit? Erzähl ihm, dass ich mich gelangweilt habe. Sag ihm, wie entsetzlich ich den Abend fand, weil der Hof nicht meine Welt ist. Erzähl ihm meinetwegen auch, wie unangenehm mir Merins Ansprache und der Eröffnungstanz waren. Und vergiss nicht zu erwähnen, dass an dem Abend Rothen und Akkarin die Einzigen waren, die mir vertraut waren. Sag ihm, dass ich auch mit Rothen getanzt hätte, er jedoch nicht wollte. Das kann er ihn sogar selbst fragen.“

Regin grinste. „Dann ist auch klar, warum du am Ende so viel mit Akkarin getanzt hast. Jedes Mädchen will sich auf einem Ball amüsieren.“

Sonea schüttelte den Kopf. „Aber nicht das Hüttenmädchen.“

„Ach, komm schon Sonea“, drängte er. „Ein bisschen muss es dir doch gefallen haben.“

„Ein bisschen“, gab sie widerwillig zu. „Aber wirklich nur ein bisschen. Und jetzt muss ich wirklich gehen.“

Sie verabschiedeten sich. Regin wandte sich zum Novizenquartier, Sonea überquerte das Universitätsgelände und schlug den Weg zu den Residenzen ein. Im Wald war es empfindlich kalt. Um diese Jahreszeit hatten die Sonnenstrahlen nicht mehr die Kraft, die Luft unter den Bäumen aufzuwärmen. Die Arme um den Leib geschlungen, schlug sie einen schnellen Schritt an. Es war spät geworden und sie wollte Akkarin nicht warten lassen.

Plötzlich ertönte vor ihr Gekicher.

Alarmiert machte Sonea sich bereit, einen Schild zu errichten.

Vor ihr traten Veila und zwei ihrer Freundinnen unter den Bäumen hervor. Die eine hatte dunkle Locken, die andere trug ihre Haare zu einem streng geflochtenen Zopf.

„Sieh einmal an, wen haben wir denn da?“

Veilas Stimme war honigsüß, doch ihre Augen waren kalt und entbehrten jeder Menschlichkeit.

„Hallo, Veila“, sagte Sonea. „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Sie warf den beiden anderen Novizinnen einen abschätzigen Blick zu. „Bist du zu feige, mir allein gegenüberzutreten und hast dir Verstärkung geholt? Glaubst du wirklich, ihr könntet mich zu dritt bezwingen?“

„Veila, ich habe dir gesagt, dass das keine gute Idee ist“, wandte das Mädchen mit den Locken unsicher ein.

„Ich weiß, was ich tue, Trisha“, fuhr Veila ihre Freundin an. Sie machte einen Schritt auf Sonea zu. „Ich will dich nicht angreifen“, sagte sie. „Wobei die Vorstellung durchaus reizvoll wäre, weil du dich nicht wehren darfst. Denn so bald du das tust glauben alle, du wärst ausgerastet. Und dann hast du wirklich Ärger.“

Bleib ruhig, befahl Sonea sich. Sie ist es nicht wert.

Sie straffte ihre Schultern und schob ihr Kinn vor. „Das habe ich auch gar nicht nötig, Veila“, erwiderte sie kalt. „Mein Schild würde immer noch halten, wenn du und deine Mitstreiterinnen euch schon lange erschöpft habt. Aber wenn du deine Kraft verschwenden willst, nur zu.“

Veila schenkte ihr eins ihrer raubtierhaftes Lächeln. „Ein anderes Mal vielleicht.“

„Und was willst du dann von mir?“

Die andere Novizin fasste ihr Kinn, so dass Sonea gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen. „Du hast es zu weit getrieben. Ich will, dass du nach Hause gehst und diese kleine Affäre beendest. Wenn du das nicht tust, dann gehe ich zu den höheren Magiern und verrate ihnen dein schmutziges Geheimnis.“

Sonea wurde kalt. Allein die Vorstellung war entsetzlich. Aber Veila konnte unmöglich davon wissen. Alles, was sie wusste, konnte sie nur aus Gerüchten erfahren haben. Nein, die andere Novizin bluffte nur, weil sie hoffte, Sonea würde einen Fehler machen und sich verraten, wenn sie sich von ihr provoziert fühlte.

„Wenn du wirklich zu den höheren Magiern gehst, werden sie merken, dass du das alles nur erfunden hast“, zischte Sonea. „Denn dann müssen sie die Wahrheitslesung bei dir durchführen und das würde kein gutes Licht auf dich werfen.“

Veila ließ von ihr ab. In ihre Augen glomm ein Ausdruck beängstigender Befriedigung. „Irgendwann wirst du dich verraten und dann werde ich zur Stelle sein. Dass du es nicht leugnest, ist mir Beweis genug.“

Sie nickte ihren Freundinnen zu. „Trisha, Yannia, lasst uns gehen.“

Die beiden Novizinnen folgten ihr augenblicklich.

Als sie verschwunden waren, stieß Sonea den Atem aus, den sie angehalten hatte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie sollte sie sich wieder beruhigen, bis sie zuhause war? Sie wollte nicht, dass Akkarin von Veila erfuhr. Ihre bisherigen Begegnungen mit Veila hatte sie ebenso wie ihren und Regins Plan nur dadurch vor ihm verborgen, dass sie alle Gedanken daran in seiner Nähe so gut wie möglich verdrängt hatte. Doch wie sollte sie das vor ihm verbergen, wenn sie ihm in wenigen Minuten beim Abendessen gegenübersitzen würde?

Sonea seufzte, als ihr bewusst wurde, wie spät es bereits war. Wenn sie sich nicht beeilte, würde Akkarin sich möglicherweise Sorgen machen. Und dann würde er Fragen stellen.

Sie warf sich ihre Tasche quer über die Schulter und begann zu rennen.

 

 

***

 

Die Straße, durch die Cery schritt, war um einige neugebaute Hütten reicher. Erleichtert stellte er fest, dass ein Großteil seines Territoriums wiederhergestellt war. Der Gewinn, der ihm und Faren der Raka, um den sie Ravi hintergangen hatten, eingebracht hatte, hatte für den Kauf weiterer Baumaterialien gereicht. Cery war überrascht gewesen, wie viel die etwas wohlhabenderen Leute im Nordviertel bereit waren, für ein wenig hochqualitativen Raka auszugeben.

Faren hat den Preis ganz schön in die Höhe getrieben, dachte er. Diese Vorstellung erheiterte ihn selbst jetzt noch so sehr, dass er Mühe hatte, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Der Dieb aus Lonmar hatte seinen Käufern gegenüber behauptet, auf Grund der Ereignisse im Sommer würde der sachakanische Raka bald knapp werden, weil viele kyralische Händler jetzt nicht mehr bereit waren, mit den Sachakanern Handel zu betreiben. Die meisten seiner Kunden hatte ihm das abgekauft und nicht wissend, dass sachakanischer Raka in Imardin nahezu unbekannt war, bereitwillig den verlangten Preis gezahlt. Er selbst hatte erst durch Savara von diesem Luxusgut erfahren.

„Das ist doch’n Grund zu feiern, was meinst du Gol?“, fragte er seinen Leibwächter und wies auf die bezugsfertigen Hütten zu ihrer beiden Seiten. Bald würden seine Geschäfte wieder wie gewohnt laufen, wenn auch er weiterhin auf sein bestes Geschäft verzichten musste.

„Seh’ ich auch so“, brummte Gol erfreut. „Gab schon lange nix mehr zu feiern.“

Cery grinste. „Lass uns zum Markt gehen und einkaufen. Da gibt’s die beste und größte Auswahl.“

Gol nickte und sie wandten sich Richtung Hafen. Cery schenkte seiner Umgebung keine Beachtung, bis sein Leibwächter plötzlich stehenblieb.

„Willst du nicht mit deiner kleinen Gefälligkeit feiern?“, fragte er auf das Haus auf der anderen Straßenseite deutend. „Wenn du schon feierst, dann auch richtig.“

Für einen Augenblick war Cery verwirrt. Als er jedoch das Schild über dem Bolhaus las, begriff er, was der andere Mann meinte. Er zögerte.

„Ich weiß nicht.“ Er hatte die Gefälligkeit von Corbin, dem Besitzer der Lüsternen Jungfrau, erst ein einziges Mal für sich beansprucht. Jeder seiner Leute, selbst Gol, glaubte, er hätte mit Nenia geschlafen. In Wirklichkeit hatte Cery sie in jener Nacht kein einziges Mal angerührt und ihr stattdessen eines seiner Gästezimmer gegeben.

„Wenn du sie nicht willst, dann nehm’ ich sie“, sagte Gol in einem Anflug von Verwegenheit. „Manchmal sehne ich mich auch nach ’ner Frau.“

Der Gedanke missfiel Cery.

„Nenia’s meine Gefälligkeit“, sagte er scharf. „Corbin hat sie mir gegeben und ich entscheide, was ich mit ihr mache.“ Gol war seine rechte Hand und Cery zögerte nicht, ihn angemessen für seine gute Arbeit zu entlohnen. Aber der Gedanke, ein junges Mädchen, an seine Leute weiterzureichen, war abstoßend. Egal, ob sie eine Hure war oder nicht. „Wenn du ’ne Frau willst, such dir ’ne eigene.“

Sein Leibwächter gluckste. „Du hast’n Auge auf sie geworfen.“

„Sie scheint ganz in Ordnung zu sein“, gab Cery zu. In Wirklichkeit wusste er jedoch nicht, was er mit einer anderen Frau als Savara anfangen sollte.

„Dann hol’ sie dir“, forderte Gol auf. „Wir können sie mit zum Markt nehmen.“

„Ich glaub’ nicht, dass sie genug Geld hat, um sich dort was zu kaufen“, wandte Cery ein. „Corbin’s ’n ziemlicher Halsabschneider.“

„Ihr was Schönes zu kaufen’s ja auch deine Aufgabe“, sagte Gol augenzwinkernd.

Cery seufzte. Aus dieser Sache würde er nicht mehr so leicht herauskommen. Vielleicht sollte er Nenia wirklich mitnehmen. Dann würde sie wenigstens ein ordentliches Abendessen bekommen. Im Gegensatz zu Corbin hatte er einen hervorragenden Koch.

Wenig später betraten sie zu dritt die Märkte. Die Menschen drängten sich in den Gassen zwischen den Ständen und es roch nach frischen Lebensmitteln, Abfall und Schweiß. Über alldem schallte das Geschrei der Marktschreier.

Cery griff nach Nenias Hand, damit sie ihm nicht verlorenging, während Gol vorausschritt, um ihnen einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Er und Cery achteten gleichsam darauf, nicht von kleinen Taschendieben ausgeraubt zu werden. Besonders auf dem Markt gab es trotz der überall präsenten Stadtwache und den Leuten von Limek und Sevli mehr als genug von ihnen. Cery wusste das nur zu gut, denn er war einst einer von ihnen gewesen.

Sie erstanden fünf gerupfte Rassook und zehn Harrelkeulen, genug um Cery und seine Leute satt zu bekommen, sowie ein Fass Anurischen Dunkelwein. Obwohl Cery in der Stimmung war, Geld auszugeben, feilschte er hart um die Preise. Jeder sollte merken, dass er sich nicht übers Ohr hauen ließ. Er beschloss, das Brot für ihr Festmahl auf dem Rückweg bei Bullin zu holen. Der Bäcker war bald wieder mit seiner monatlichen Zahlung an der Reihe und immer noch knapp bei Kasse.

Je länger ihr Besuch der Märkte dauerte, desto mehr wurde er zu einem Vergnügungsausflug. Hier und da blieben sie stehen, wenn ein Stand Nenias Aufmerksamkeit erregte. Wie alle Frauen interessierte sie sich für Schmuck, Kleider und Schuhe. Obwohl sie sich nichts davon leisten konnte, schien sie sich prächtig zu amüsieren und war es zufrieden, die feilgebotene Ware einfach nur zu bestaunen. Cery begann ihre Gesellschaft zu mögen.

Anscheinend lässt Corbin sie nicht oft raus, erkannte er in einem Anflug von Mitleid, der ihn selbst überraschte. An diesem Nachmittag war Nenia so unbeschwert und glücklich, wie sie es hätte sein können, hätte sie ein besseres Leben gehabt.

An einem Stand mit in Sirup getauchten Früchten blieb sie stehen.

„Können wir’n paar davon mitnehmen?“, fragte sie scheu. Es war das erste Mal, dass sie um etwas bat. „Ein gutes Festmahl sollte doch auch ’nen Nachtisch haben, ne?“

„Ich bin auch für Nachtisch“, erklärte Gol freudig.

Cery betrachtete die Gläser näher. Sie waren mit verschiedenen Beerenfrüchten gefüllt, die entweder in dicken Sirup oder Honig eingelegt waren. Das alles sah nach einer sehr süßen und klebrige Angelegenheit aus, doch mit einem verfressenen Leibwächter und einem jungen Mädchen, das vermutlich nie etwas Gutes zu Essen bekam, fühlte Cery sich überstimmt.

„Also gut“, gab er nach. „Zur Feier des Tages.“ Er wählte ein Glas mit Dornbeeren und eins mit Vare in Honig aus und nach harten Verhandlungen mit dem Verkäufer hatte er den Preis auf die Hälfte heruntergehandelt und noch eine karamellisierte Pachi gratis dazu bekommen.

„Hier“, sagte er und reichte Nenia die Pachi.

„Danke.“ Sie nahm die Pachi strahlend entgegen und begann genüsslich daran zu nagen, während sie sich auf den Weg zum Ausgang machten.

Cery musterte sie nachdenklich. Ihr Kleid sah aus, als wäre es schon ein paar Jahre alt, an einigen Stellen war es bereits geflickt worden.

In einem ordentlichen Kleid würde sie viel hübscher aussehen, fuhr es ihm durch den Kopf. Da er noch immer in Spendierlaune war, entschied er, das zu ändern. Aber wenn er ihr schon etwas Schönes zum Anziehen besorgte, dann würde er ihr keines von den Kleidern kaufen, die hier auf dem Markt feilgeboten wurden. Nein, er würde ihr einen schönen Stoff kaufen und sie dann zu seinem Schneider bringen.

„Kommt mit“, sagte er und steuerte auf die Gasse mit den Textilständen zu.

„Wo willst du hin?“, fragte Gol.

„Zu den Stoffhändlern. Hab was vergessen.“

Sein Leibwächter nickte und schritt dann mit den Einkäufen unter den Armen in Richtung der Stoffhändler voran. Sie bahnten sich ihren Weg durch einen Gegenstrom von Menschen und hielten wenig später vor einem Stand, der Stoffe in allen erdenklichen Farben und Qualitäten verkaufte.

„Such dir was aus“, sagte er zu Nenia gewandt. „Egal, was es kostet. Ich zahle.“

Ihre Augen weiteten sich. „Aber warum?“

„Weil ich dich in ’nem hübschen Kleid sehen will.“

Sie errötete. Hinter ihm gluckste Gol vernehmlich. Cery verdrehte die Augen. Mit einem finsteren Blick wandte er sich zu seinem Leibwächter um.

„Mach deine Arbeit“, raunte er ihm zu.

„Ja, Chef“, murmelte Gol und fuhr fort, die Umgebung zu überwachen.

Nenia hatte sich bereits den Stoffen zugewandt. Ihre nach der karamellisierten Pachi nicht mehr ganz sauberen Finger fuhren ehrfürchtig über die Stoffmuster.

„Die sind alle sehr schön“, hauchte sie.

Cery lachte. „Du kannst auch zwei auswählen“, bot er an. „Mein Schneider wird dir daraus schon was Ordentliches machen.“

„Was wenn Corbin dagegen ist?“

„Dann steckt er in ziemlichen Reibereien.“

Nenia zögerte. Sie sah aus, als müsse sie überlegen, ob sie so viel Großzügigkeit zulassen durfte. Dann wählte sie einen grünen Stoff, der hervorragend zu ihrer blassen Haut passte und eine rosafarbene Seide. Nach weiterem erbitterten Feilschen klemmte Cery sich das Päckchen mit den beiden Stoffen unter den Arm und wandte sich dieses Mal wirklich zum Ausgang.

„Danke, Ceryni“, flüsterte Nenia neben ihm.

Er lächelte. „Schon in Ordnung.“ Nenias Leben war hart genug. Wenn er etwas tun konnte, um ihren Alltag zu verschönern, reichte ihm das als Dank.

Auf dem Rückweg zu Cerys Versteck holten sie bei Bullin noch zwei große Laibe Brot. Mittlerweile ächzte Gol unter der Last ihrer Einkäufe und Nenia begann über ihre Füße zu klagen. Als entschied Cery kurzerhand, eine Abkürzung durch eine schmale Gasse zu gehen, in der sich die Hütten dicht aneinander drängten. Der für die Hüttenviertel typische Geruch von Schweiß, Abfall und Fäkalien war selbst für jemanden, der hier aufgewachsen war, unerträglich. Die Tür zu einem schmierigen Bolhaus stand offen. Cery warf einen Blick hinein. Bis auf einen Gast an der Theke und einen Wirt mit fettigen Haaren war die ranzige Schankstube verlassen.

Plötzlich stieß etwas Cery hart zur Seite.

„Was …?“, entfuhr es ihm.

Er fiel auf etwas Weiches. Unter ihm erklang ein Schrei. Nenia. Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Tut mir leid“, murmelte er.

Er beeilte sich, auf die Beine zu kommen, um die Situation zu erfassen. Ihre Einkäufe lagen verstreut auf dem Boden. Die Gläser mit den eingelegten Beeren waren zerbrochen, ihr zäher, klebriger Inhalt breitete sich langsam in der Gasse aus. Gol hatte sein Messer gezückt und kämpfte gegen einen stämmigen Mann. Aus einem Hauseingang vor ihnen kamen drei weitere Männer auf ihn zu. Entschlossen ließ Cery die beiden in seinen Ärmeln versteckten Messer herausgleiten.

„Lauf weg und versteck dich“, zischte er dem Mädchen an seiner Seite zu.

Sie gehorchte und lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Dann wandte Cery sich zu seinen Gegnern. Es gelang ihm, zwei der Kerle mit seinen Messern auf Abstand zu halten, wenn auch er ihre Bewegungen nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Der Dritte sah seine Chance gekommen und wollte Cery von vorne angreifen, doch Cery trat ihm die Klinge aus der Hand. Als der Mann sich danach bücken wollte, traf ihn Cerys Fuß unterm Kinn. Er taumelte und blieb bewusstlos liegen. Eine Fahne von Bol wehte Cery entgegen. Er verzog das Gesicht. Um den würde er sich noch kümmern, wenn er die anderen beiden erledigt hatte.

Mittlerweile hatte Gol seinen Gegner erledigt und kam Cery zur Hilfe. Der Ärmel seines Hemdes war aufgeschlitzt und blutgetränkt.

„Alles in Ordnung, Gol?“, rief Cery.

„Hab’ schon Schlimmeres erlebt“, grunzte sein Leibwächter. Er attackierte den Mann rechts von Cery, der nun von Cery abließ und sich seinem neuen Gegner zuwandte.

Irgendwoher kenne ich diesen Mann, fuhr es Cery durch den Kopf. Doch er konnte sich nicht mehr entsinnen, von wo. Der Mann war wie Cery ein schneller und geschickter Kämpfer. Doch Cery hatte den Vorteil von zwei Messern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Gegner bezwang.

Als der andere Mann seine Klinge vorschnellen ließ, blockte Cery seinen Angriff, indem er seinen Arm von beiden Seiten traf. Der Mann brüllte vor Schmerz auf. Cery schlug ihm das Messer aus der Hand und rammte ihm beide Klingen an Stellen in den Leib, die sicherstellten, dass der Mann nicht überlebte. Noch während er röchelnd zusammenbrach, verstärkte Cery den Griff um seine Messer und kam Gol zur Hilfe.

„Kümmer dich lieber um deine Kleine“, sagte Gol und machte eine vage Bewegung zum Ausgang der Gasse. „Ich hab’ den hier gleich erledigt.“

Cery wandte den Kopf und erstarrte. Ein fünfter Mann hielt Nenia umklammert, eine blitzende Klinge an ihrem weißen Hals. Ihr Gesicht war von Panik verzerrt, doch sie schrie nicht.

Die Arme mit seinen Messern von sich gestreckt, ging Cery langsam auf die beiden zu.

„Lass sie los!“, befahl er.

Der andere Mann lachte boshaft.

„Wenn ich sie töte, ’s das nur ’ne kleine Wiedergutmachung für den Schaden, den du meinem Auftraggeber zugefügt hast“, sagte er. „Aber’s wird dich mehr treffen, als Geld aufwiegen kann.“

„Ihr Tod wird mich nicht treffen“, gab Cery kalt zurück. „Sie’s nur ’ne Hure. Sie bedeutet mir nix.“

Der Mann drückte seine Klinge fester an Nenias Kehle. Sie wimmerte.

„Ist das so?“

Cery versuchte, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. „Wer’s dein Auftraggeber?“, verlangte er zu wissen.

„Ich glaube, du weißt wer, Ceryni“, antwortete er mit einem überheblichen Grinsen. „Schließlich hast du ihm um ’ne Menge Geld gesquimpt.“

Ravi, dachte Cery. Er hat herausgefunden, dass der Raka in den Fässern nicht aus Sachaka ist. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, woher er den Mann kannte, gegen den er zuvor gekämpft hatte. Er hatte ihn bei einem seiner Besuche bei Ravi gesehen. Für einen Augenblick drohte ihn das Entsetzen zu überwältigen, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte er. „Ich bin’n ehrlicher Dieb.“

Der andere Mann begann zu lachen, doch plötzlich ging sein Lachen in ein Röcheln über. Seine Arme erschlafften und er brach zusammen. Nenia stieß einen Schrei aus und stürzte auf Cery zu. Er schloss sie in seine Arme.

„Alles gut“, flüsterte er und strich tröstend über ihren Rücken.

„Ich wusste gar nicht, dass du so gefährlich lebst, Ceryni“, sagte sie.

„Ich auch nicht“, erwiderte er seltsam erheitert.

Hinter dem nun reglos auf dem Boden liegenden Mann stand Gol und zog sein Messer aus dessen Rücken.

Cery grinste. „Danke Gol.“

„Was war’n das für Kerle?“, fragte sein Leibwächter.

„Ein kleiner Gruß von Ravi, glaube ich.“ Cery sah sich um. Die Straße war wieder so verlassen wie zuvor. Er war indes sicher, dass die Bewohner den Kampf furchterfüllt aus ihren Hütten verfolgt hatten.

Sie legten die Leichen im Schatten eines Hauses ab. Cery würde später ein paar seiner Leute herschicken, um sie verschwinden zu lassen. Dann hoben sie ihre über die Straße verstreuten Einkäufe auf und eilten zum nächsten Zugang zur Straße der Diebe.

 

 

***

 

Der Nachmittag war grau und trübe. Aus tiefhängenden Wolken fiel ein feiner Nieselregen und verhüllte die Sicht auf die Berge. Unter Dorriens Schild war die Luft dagegen warm und behaglich, was die Hausbesuche bei den Bergbewohnern auch bei schlechtem Wetter zu einem angenehmen Ausflug machte. An diesem Tag gehörte nur ein Haus zu seiner Visite. Das Haus von Kullen, dem Reberhirten.

Vor einer Woche hatte Dorrien dessen Frau erstmals wegen Lungenfieber behandelt. Yuna war eine besonders schwierige Patientin. In den Nächten nach seiner ersten Behandlung war ihr Fieber wieder gestiegen. Während die übrigen seiner an Lungenfieber erkrankten Patienten bereits wieder auf dem Weg der Besserung gewesen waren, hatte Dorrien bei jeder Visite Yunas Lunge erneut von den Schleim erzeugenden Organismen befreien müssen. Jetzt, wo es seinen übrigen Patienten besserging, konnte er sich Kullens Frau indes sehr viel intensiver widmen.

Als die Kate in Sicht kam, ließ Dorrien sein Pferd in einen langsamen Trab fallen. Vor dem Reberstall saß er ab und band seine Stute an einen Pfahl. Dann ging er zur Tür und klopfte.

Eine Weile geschah nichts.

Dorrien klopfte erneut. „Hallo, ist jemand zuhause?“, rief er.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Durch die schmale Öffnung konnte Dorrien nur die Wand dahinter sehen. Alles andere war in Dunkelheit gehüllt.

„Kommst du wegen meiner Ma?“, erklang eine hohe Mädchenstimme.

Dorrien sah nach unten.

Lina stand in der Tür. In dem schmalen Spalt war nicht viel mehr von ihr zu sehen, als ihre großen braunen Augen, die denen ihrer Schwester so sehr ähnelten.

Dorrien lächelte. „Ja“, antwortete er. „Lina, lässt du mich bitte rein?“

„Da ist bei den Rebern“, teilte sie ihm mit. „Aber meine Schwester ist da.“

Die Kleine öffnete die Tür nun ganz und Dorrien trat in die Wohnstube. Viana saß an einem Spinnrad am Fenster und spann Reberwolle zu einem dicken Garn. Als sie Dorrien erblickte, wollte sie sich erheben, doch Dorrien winkte ab. Es war ihm unangenehm, wenn die Menschen, für deren Wohl er sorgte, ihn so respektvoll behandelten. Auch nach den sechs Jahren, die er nun hier lebte, hätte er es lieber gesehen, würden sie ihn wie einen der ihren behandeln. Immerhin gehörten Kullen und seine Familie zu denjenigen, die ihm gegenüber ein wenig unbefangener waren, als der Rest der Dorfbewohner.

„Bleib sitzen, Viana. Du brauchst deine Arbeit nicht wegen mir zu unterbrechen.“

„Danke, Mylord“, antwortete sie und schenkte ihm ein scheues Lächeln.

„Wie geht es deiner Mutter?“

„Schon besser. Das Fieber ist etwas gesunken und sie hustet weniger.“

Dorrien war erfreut. Wenn die Genesung von Kullens Frau solche Fortschritte gemacht hatte, dann konnte er ihre Krankheit vielleicht vollständig zum Verschwinden bringen und würde hinterher noch genügend Kraft übrig haben, falls er zu einem Notfall gerufen wurde.

„Ich gehe sie untersuchen“, teilte er Viana mit.

Die junge Frau nickte. „Tut das, Mylord.“

Ihre kleine Schwester machte Anstalten, Dorrien in das Schlafzimmer zu folgen.

„Lina, du bleibst hier“, befahl Viana scharf.

„Aber ich will zu meiner Ma!“

„Du musst warten, bis sie gesund ist“, erwiderte Viana.

„Wann ist das?“

Dorrien lächelte unwillkürlich. Bei jedem seiner Besuche in der vergangenen Woche hatte es eine ähnliche Diskussion zwischen Lina und ihrer Schwester oder ihrem Vater gegeben. Er ging vor Lina in die Hocke und strich über ihren tennblonden Schopf.

„Deine Ma wird bald wieder gesund sein, kleine Lina“, versprach er. „Hab nur noch ein wenig Geduld.“

Lina betrachtete ihn mit einem Gesichtsausdruck als wäre sie unsicher, ob sie seinen Worten Glauben schenken sollte.

„Na gut“, sagte sie zögernd.

„Ich werde jetzt noch einmal nach ihr sehen und dann kann ich dir sagen, wann du wieder zu ihr kannst“, versprach Dorrien lächelnd.

Lina nickte stumm und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an.

Er stand auf und trat in das elterliche Schlafzimmer. Yuna schlief, genau wie in den vergangenen Tagen, doch sie sah besser aus als gestern. Dorrien legte eine Hand auf ihre Stirn und streckte seine Sinne aus. Erfreut stellte er fest, dass die Infektion weiter zurückgegangen war. Es würde nur wenig Magie benötigen, um die Infektion völlig zum Verschwinden zu bringen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Dieses Mal war sie rasch erledigt.

Nachdem er seine Behandlung beendet hatte, öffnete Yuna die Augen und sah ihn an.

„Lord Dorrien“, murmelte sie.

Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihre Augen lagen jedoch noch immer in dunklen Höhlen.

„Wie geht es dir, Yuna?“

„Besser“, antwortete sie. „Aber ich fühle mich noch schwach.“

„Es wird ein paar Tage dauern, bis du wieder vollständig bei Kräften bist“, sagte Dorrien. „Ich konnte dein Lungenfieber heilen, aber du wirst noch eine Weile schwarzen Schleim husten. Doch das Fieber sollte nicht mehr ansteigen und falls doch, schick deinen Mann oder Viana zu mir.“

Die Frau des Reberhirten schien tief bewegt. „Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll, Mylord.“

„Es ist mir Dank genug, wenn du gesund wirst“, erwiderte Dorrien.

Es kam ihm falsch vor, eine Gegenleistung für seine Dienste als Heiler zu verlangen. Dorrien wollte den Bergbewohner nicht das wenige nehmen, das sie zu Leben hatten. Das Gehalt, das die Gilde ihm zahlte, war mehr als er ausgegeben konnte. Es reichte sogar für die Medikamente, die er brauchte, um die meisten Krankheiten zu behandeln. Aber Dorrien konnte den Menschen nicht verbieten, ihm mit kleinen Gaben zu danken. Oft erhielt er daher selbstgebrautes Bol, Pachiwein, frischgebackenes Brot oder Decken aus Reberwolle.

Im vergangenen Jahr hatte ein Bauer ihm sogar ein Enka geschenkt, weil Dorrien verhindert hatte, dass seine Frau bei der Geburt ihres dritten Kindes verblutet war. Das Gehöft lag ein wenig abgelegen und so hatte Dorrien die Nacht dort verbracht, um zur Stelle zu sein, sollte sich der Zustand der Bäuerin verschlechtern. Darüber war der Bauer so dankbar gewesen, dass er ihm einen seiner im Frühjahr geborenen Tiere geschenkt hatte. Dorrien hatte es jedoch nicht übers Herz gebracht, den Enka zu schlachten. Seitdem hauste Bordas, wie er das Tier liebevoll getauft hatte, in seinem Garten und Dorrien hatte die Beete, in denen er Heilkräuter züchtete, mit einem magischen Schutz umgeben müssen, damit der Enka mit seinen Hörnern nicht alles verwüstete.

„Ich versuche es“, murmelte Yuna.

Dorrien nickte. „Morgen werde ich noch einmal nach dir sehen“, sagte er. „Bis dahin solltest du dich weiterhin ausruhen.“

Er erhob sich und kehrte zurück zur Wohnstube.

Lina saß zu den Füßen ihrer Schwester im Bodenstroh und spielte mit der rohen Reberwolle. Als Dorrien in die eintrat, wandten sich die beiden Schwestern zu ihm um.

„Eure Mutter wird wieder gesund“, teilte Dorrien ihnen mit. „Du kannst jetzt zu ihr, Lina. Sie ist nicht mehr ansteckend.“

Lina stieß einen Schrei der Begeisterung aus und rannte ins Schlafzimmer ihrer Eltern.

Ihre Schwester unterbrach ihre Arbeit und sah zu Dorrien auf. „Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Ma wieder gesund wird, Mylord.“

Dorrien lächelte. „Es war mir eine Ehre, kleine Viana.“

Vianas Wangen färbten sich rosa und sie senkte den Blick.

Dorrien unterdrückte ein Seufzen. Er hatte sie nicht in Verlegenheit bringen wollen. Er entschied, es war besser zu gehen, bevor die Situation noch seltsamer wurde.

 

 

***

 

Sonea eilte durch die Universität zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde. Die Mittagspause war fast zu Ende und sie hatte in der Bibliothek die Zeit vergessen. Um zu ihrem Unterrichtsraum zu gelangen, musste sie ans ander Ende der Universität. In der Hoffnung, es noch rechtzeitig zu schaffen, wählte sie einen Weg durch die Inneren Passagen, die um die Mittagszeit völlig verwaist waren.

Anders als an den vorangegangenen Tagen war sie alleine unterwegs. Regin hatte Kriegskunst bei Balkan und Trassia war zum Novizenquartier gegangen, um ihre vergessenen Alchemiebücher zu holen. Ein leises Unbehagen verspürend hoffte Sonea, dass Veila ihr nicht irgendwo auflauerte. Für ihren Geschmack war das in der letzten Zeit zu oft geschehen. Denn auch wenn Veila und ihre Freundinnen sie noch zu sehr zu fürchten schienen, um sie anzugreifen, ahnte sie, das würde nicht so bleiben.

An einer Ecke stieß sie mit einer großen Gestalt zusammen.

„Verzeihung“, murmelte sie und wollte weiter hasten.

Als sie jedoch die schwarzen Roben erkannte, erstarrte sie.

„Akkarin!“ Dann fiel ihr wieder ein, wo sie gerade waren. Hastig verneigte sie sich. „Verzeihung, ich meine natürlich, Lord Akkarin“, korrigierte sie sich und schlug die Augen nieder.

„Sonea!“ Akkarin fasste sie an den Schultern. „Hast du dir weh getan?“

Sie sah auf. „Nein, Mylord, ich glaube nicht.“ Der Schrecken, ihm so unerwartet begegnet zu sein, saß ihr noch immer in den Gliedern. Auch wenn sie von allen Menschen wahrscheinlich am wenigsten Grund hatte, ihn zu fürchten, so war die vertraute Furcht mit einem Mal stärker denn je.

„Was macht Ihr hier?“, fragte sie, nachdem sie sich wieder gesammelt hatte.

„Ich habe mit Rektor Jerrik über den Inhalt deiner Prüfung in Kriegskunst gesprochen.“

„Oh“, machte Sonea. Es erklärte zwar nicht, wieso er durch die inneren Passagen schlich, doch seine Worte verhießen nichts Gutes für die nächste Woche. Diese Prüfung würde mit Sicherheit die schlimmste von allen.

„Geht es wieder?“, fragte er.

Sonea nickte. „Ich habe mich nur erschrocken.“

Erheitert hob Akkarin die Augenbrauen. „Findest du mich so furchterregend?“

„Manchmal“, gab sie zu, „wenn Ihr so kühl und unnahbar und ehrfurchtgebietend seid.“ Sie runzelte die Stirn. Früher hätte sie es nie gewagt, so mit ihm zu sprechen. Das war gewiss einer der Vorteile ihrer Beziehung. „Eigentlich sogar ziemlich oft“, fügte sie daher hinzu.

Akkarin bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht so recht zu deuten wusste. Er schien amüsiert, doch da war noch etwas anderes.

Ein durchtriebenes Funkeln.

Er blickte sich rasch um, wie um sich vergewissern, dass sie unbeobachtet waren, dann zog er sie in einen Seitengang, wo er sich an einem Gemälde zu schaffen machte. Sonea erinnerte sich, dass hinter diesem Gemälde ein Zugang zu den Geheimgängen lag.

Ein Holzpaneel glitt zur Seite. Akkarin schob sie in den dunklen Gang dahinter. Er ließ sich nicht viel Zeit damit, ihr zu folgen und den Zugang wieder zu verschließen.

Ahnend, was er vorhatte, erstarrte Sonea. Sie hatte sich in diesen Gängen vor Regin und seiner Bande versteckt, bis Akkarin sie dabei erwischt und ihren Feinden ausgeliefert hatte. Aber das hier hätte sie sich von ihm niemals träumen lassen. Sie kämpfte ihre Furcht nieder, jemand könnte sie gesehen haben. Veila würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um sie beide zu verraten. An Garrels triumphierendes Gesicht wollte sie lieber gar nicht erst denken.

„Lord Akkarin, ich muss zum Unterricht!“, protestierte sie.

Statt einer Antwort fuhr Akkarins Hand in ihren Nacken, dann küsste er sie verlangend.

Soneas Puls beschleunigte sich, als er ihre Handgelenke packte und sie grob gegen die kühle Wand schob. Sie hatte rasch herausgefunden, dass er im Bett ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit und Autorität zeigte. Beides wurde offenkundig übermächtig, wenn er längere Zeit keine Gelegenheit hatte, sein Verlangen nach ihr zu befriedigen. Und Sonea hatte seit Wochen kaum etwas anderes getan, als für ihre Prüfungen zu lernen. Sie musste sich indes eingestehen, dass es ihr gefiel, wenn er ihr seinen Willen aufzwang und sie nicht wusste, was er als Nächstes mit ihr tun würde.

„Wo musst du hin?“, fragte er zwischen zwei Küssen.

„Lord Elben, dritter Stock“, antwortete sie atemlos.

Akkarin erlöste ihrer Handgelenke aus ihrer festen Umklammerung. „Du wirst rechtzeitig da sein“, versprach er. Sein Hand fuhr unter ihre Robe. „Findest du mich immer noch kühl?“

Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen.

„Nein, Mylord“, flüsterte sie.

„Unnahbar?“

„Nein.“

„Ehrfurchtgebietend?“

„Ja“, hauchte sie. „Sehr sogar.“

Die Erkenntnis jagte einen Schauer ihren Rücken herab, der durch das Gefühl, das seine Hand auf ihrer auslöste, noch verstärkt wurde. Sonea erkannte, dass sie ihn vorhin auf dem Flur unbeabsichtigt provoziert hatte.

„Gut“, murmelte er.

Seine Hand wanderte zwischen ihre Schenkel. Sonea unterdrückte ein Stöhnen. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich.

„Mir scheint, dir gefällt das“, stellte er fest.

„Das wisst Ihr doch“, sagte sie kaum hörbar. Binnen weniger Augenblicke hatte er sie an den Punkt gebracht, an dem er alles mit ihr tun konnte. Sie war nicht sicher, ob sie es begrüßen oder bedauern sollte, dass ihnen dafür keine Zeit blieb.

Akkarin lachte leise und presste sie fester gegen die Wand, während seine Hand in ihrem Schoß verweilte.

Sonea stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine Halsbeuge zu küssen. „Was, wenn uns jemand hört, Lord Akkarin?“, flüsterte sie.

„Uns wird niemand hören“, raunte er. „Denn du wirst leise sein. Und hör jetzt auf damit. Du forderst meine Beherrschung heraus, wenn du so bist.“

„Wenn ich wie bin?“, fragte sie unschuldig.

„Das weißt du genau“, sagte er heiser und drehte sie mit dem Gesicht zur Wand. Bevor er in sie hineinstieß, legte er eine Hand auf ihren Mund, während die andere zwischen ihren Beinen blieb und sie unerbittlich zum Höhepunkt brachte und alle Gedanken an Veila und Garrel auslöschte.

- Zeig mir, was du fühlst, befahl er.

Sonea gehorchte und sandte ihm, was sie empfand, während sie sich liebten. Sie zeigte ihm, wie sehr es sie erregte, dass er diese Macht über sie hatte. Wären sie zuhause gewesen, so hätte er das nicht erlaubt. Offenkundig fiel es ihm schwer, sich zu beherrschen, wenn sie ihn derart mit ihrer Lust bombardierte. Dennoch tat sie es hin und wieder, um sein Verlangen zu steigern oder um eine bestimmte Reaktion zu provozieren. Aber heute fehlte ihnen für derartige Spiele die Zeit. Sie mussten es schnell zu Ende bringen.

Und dann spürte sie, wie eine Flut von Gefühlen auf sie einstürmte, die nicht die ihren waren. Er war in ihr. Seine Antwort auf das, was sie ihm sandte, brachte sie beinahe um den Verstand. Sie wollte schreien, doch sie zwang sich leise zu sein, so wie er es ihr befohlen hatte. Aber es war einfach zuviel.

Das halte ich nicht aus, dachte sie und biss in seine Hand.

„Lass das“, knurrte er.

- Tut mir leid, ich kann nicht anders, sandte sie.

- Dann kann ich jetzt auch nicht mehr anders.

Da war kein Bedauern, wie Sonea ohne Entsetzen erkannte. Das, was Akkarin mit ihr tat, war intensiver als sie glaubte, ertragen zu können. Er ließ ihr keine andere Wahl, als sich ihm hinzugeben und ihre Stirn gegen den kühlen Stein zu lehnen, der gegen die Hitze in ihrem Körper nicht viel ausrichten konnte.

Fünf Minuten später standen sie vor einem Ausgang in der Nähe von Lord Elbens Klassenzimmer. Während Sonea noch damit beschäftigt war, ihre Robe zu glätten und ihre Haare zu ordnen, spähte Akkarin durch ein Guckloch.

„Es ist niemand zu sehen“, verkündete er schließlich. „Du kannst gehen.“

„Was ist mit deiner Hand?“

Akkarin winkte ab. „Das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich hätte nicht so grob sein sollen.“

Grob ist wohl kaum der richtige Ausdruck, dachte Sonea. Sie erschauderte unwillkürlich. In ihrem Körper hallte noch immer das Echo der noch soeben verspürten Lust wider.

„Mir hat es gefallen“, sagte sie und sah in seine dunklen Augen.

Akkarin musterte sie mit einem Blick, den sie nicht zu deuten wusste und der ein Echo der soeben verspürten Lust auslöste. „Das ist mir nicht entgangen.“

Beim nächsten Mal aber bitte nicht in der Universität, fügte sie in Gedanken hinzu.

Akkarin beugte sich vor und steckte einen der silbernen Kämme fest, mit denen sie ihre Haare daran hinderte, ihr nicht andauernd ins Gesicht zu fallen.

„Geh jetzt“, sagte er leise.

Sonea holte tief Luft. Sie hoffte, sie würde sich auf den Nachmittagsunterricht konzentrieren können. Sie waren sehr leichtsinnig gewesen. Sie durften das, was sie gerade getan hatten, nicht wiederholen, sonst würden sie irgendwann auffliegen. Dennoch fühlte sie sich irgendwie beschwingt. Ihre unerwartete Begegnung war auch für sie überfällig gewesen.

„Dann bis heute Abend“, erwiderte sie und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. Dann stieg sie durch das Portal und betrat den Flur, der zu den Alchemieräumen führte.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2016

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