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Unerwünschter Besuch

Alle Fenster standen weit offen, um dem Frühlingswetter einen Besuch in meiner Souterrain-Wohnung zu gestatten. Ich lag auf meinem Sofa und beobachtete die Bäume vor dem Fenster dabei, wie sie mit ihren Ästen wedelten, als wollten sie sich gegenseitig im Tratschen überbieten. Der Wind ließ die Blätter rauschen und trug den Duft des Frühlings zu mir hin. Ich döste zufrieden, schlief ein und erwachte fröstelnd wieder. Nachdem ich die Fenster geschlossen hatte, setzte ich einen Kaffee auf, wartete auf das Ende des Blubberns der Kaffeemaschine und trug schließlich eine gefüllte Tasse zurück ins Wohnzimmer. Eine Grille zirpte laut und monoton. Sie musste durch ein offenes Fenster in meine Wohnung gekommen sein. Noch nie zuvor hatte ich eine Grille in solch einer Lautstärke zirpen hören, vermutlich war ich keiner Grille je so nahe gewesen wie dieser.

 

Nachdem der Kaffee getrunken war, stand mein Entschluss fest. Die Grille musste aus meiner Wohnung verschwinden. Ich versuchte, ihre Position zu orten und fand sie tatsächlich unter größten Verrenkungen hinter einer Vitrine, in der ich meine Flaschensammlung untergebracht hatte. Es waren zwar keine antiken oder wertvollen Flaschen, sondern einfache Flaschen, deren Formen mir gefielen, aber zerbrechen wollte ich sie auf keinen Fall. Es war ein umständliches Ausräumen des Schränkchens nötig gewesen, um mich der Grille so weit zu nähern, dass ich sie mit Hilfe eines Glases und einer Zeitung ins Freie hätte transportieren können. Das vorlaute Insekt aber hatte sich ein neues Versteck gesucht. Ich reagierte darauf, indem ich alle Möbel einen halben Meter von den Wänden wegrückte und mich auf die Lauer legte. Doch die Grille ließ sich nicht mehr blicken.

 

In der Nacht fand ich durch ihr lautes Stridulieren keinen Schlaf. Ich verließ früh am Morgen mein Bett, um erneut nach dem Ruhestörer zu suchen. Die Grille hatte sich in ein Bohrloch in einer Wand verkrochen, das ich bei der letzten Renovierung wohl vergessen hatte, mit Spachtelmasse zu verschließen. Das Stridulieren wurde von der Röhrenform ihres Versteckes noch verstärkt. Im Licht einer Taschenlampe erkannte ich, dass die Grille mir ihr Hinterteil zugewandt hatte. Doch ich war sicher, dass sie mich bemerkt hatte und bei der nächsten Gelegenheit ein neues Versteck suchen würde. Die Position in dem Bohrloch machte es unmöglich, sie mit einem Glas und einer Zeitung zu fangen.

 

Mittlerweile hatte mein Kopf zu schmerzen begonnen. Ich wollte das schrille Tierchen nun endlich loswerden. Ohne einen Plan zu haben suchte ich in der Wohnung nach Inspiration. Unter dem Waschbecken im Badezimmer stand seit der Renovierung noch immer das Werkzeug herum. Mit einem Gefühl des Triumphes nahm ich einen Holz-Dübel aus der Werkzeugkiste und steckte ihn in das Loch, in dem die Grille saß. Er passte perfekt und dämpfte das Geräusch erheblich. Während ich die Möbel wieder an ihre Plätze rückte, dachte ich darüber nach, was mit der Grille geschehen würde und ob ich ein schlechtes Gewissen haben sollte.

 

Ich fand keinen Grund dazu, malte mir aber aus, was wäre, wenn dieses Erlebnis eine Geschichte in einem Horrorfilm oder in einem Science-Fiction-Buch gewesen wäre. Dann würden nun dramatische Dinge geschehen. Eine Grille von gigantischer Größe würde nach ihrer Artgenossin suchen oder mein Körper würde sich zu einem Heuschreckenartigen verwandeln. Bevor ich mich schlafen legte, schaute ich in den Spiegel und aus den Fenstern. Alles war so, wie es sein sollte.

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Tag der Veröffentlichung: 03.03.2017

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