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Für Chucky

Das ist was blieb nachdem du gingst.

Paranoia

Krampfhaft presse ich meine Augenlider aufeinander, versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Mein Atem geht stoßweise, unregelmäßig und ist unruhig. Jeder Atemzug scheint zu rasseln und zu ruckeln. Die Luft kommt immer nur in kleinen, abgehackten Stößen aus meinen zitternden Nasenlöchern.
Irgendetwas lauert mir auf, wird jeden Moment zuschlagen. Ich weiß nicht was es ist, aber es macht mir Angst. Pure Angst jagt mir das Blut immer schneller durch die Adern und lässt meine Augen sich weiten.
Bloß nicht den Fuß unter der Decke rausschauen lassen, sonst…
Ja, was sonst?
Ich weiß es nicht, aber ich habe viel Phantasie und manchmal ist es die eigene Phantasie, die die eigentliche Quelle meiner Angst ist.
Langsam setze ich mich auf, ziehe die Knie an die Brust und schlinge meine Arme um den Körper.
»Alles wird gut«, höre ich mich flüstern. Oder sind es doch nur meine Gedanken, die in der Stille der Dunkelheit so laut erscheinen als stünde ich in einer Kathedrale, schreie mir die Seele aus dem Leib und jedes Wort prallt einzeln von jeder Wand ab. Immer und immer wieder.
 
»Dir kann nichts passieren«, wispere ich. »Ich bin doch da.«
Hektisch schlinge ich meine Arme noch enger um mich selbst.
Ich umarme mich, spreche mir Mut zu, beschütze mich.
Eigentlich will ich mich in meine Decke einwickeln. Mir ist kalt. Doch die Angst lähmt mich.
Sie sind überall!, schreit eine panische und zugleich ruhige Stimme in meinem Kopf.
Es ist meine eigene.
Okay, dann muss es jetzt eben ohne Decke gehen.
Soll ich jemandem etwas sagen? Jemanden um Hilfe bitten?, frage ich mich selbst.
Dafür müsste ich mich bewegen. Erst ein Fuß über die Bettkante, dann der zweite. Schließlich meinen ganzen, verängstigten Körper hochwuchten. Den ersten Schritt auf die Tür zu machen, den zweiten, den dritten. Die Dunkelheit umhüllt mich.
Sie ist der Nährboden für meine Angst.
Etwas lauert unter dem Bett, etwas sitzt mir im Nacken und lässt mich Gänsehaut bekommen. Etwas anderes sitzt im Baum vor dem Fenster und starrt mich an. Ein viertes etwas krallt sich an der Decke des Zimmers fest, bereit sich auf mich zu stürzen.
Nein, ich gehe lieber nicht, denke ich und verwerfe die Idee. Außerdem was will ich sagen? Entschuldigung, dass ich euch mitten in der Nacht wecke, aber ich fühle mich verfolgt und lauf gleich Amok vor Angst?
Lachhaft. Nicht ernst zu nehmen.
Also gut ich werde damit irgendwie allein fertig. Ich schaffe das schon.
Irgendwie.
So, was kann ich tun?
Versuchen zu schlafen? Die Augen schließen und der Gefahr den Rücken zuwenden. Damit sie über mich herfallen können und ich ihnen schutz- und hilflos ausgeliefert bin?
Kommt nicht infrage. Auf keinen Fall. Niemals.
Langsam schlafen meine Arme ein. Das unangenehme Kribbeln klettert von den verkrampften Händen aus die Muskeln in meinen Unterarmen entlang. Ich lockere meinen Griff um meine Knie ein wenig.
Nein, lass mich nicht los! Lass mich nicht allein!, dröhnt meine eigene Stimme mit einem gequälten Unterton in dem Versuch so kontrolliert wie möglich zu bleiben. Wieder weiß ich nicht ob meine Stimme nur in meinem Kopf zu hören ist oder ob ich wirklich etwas gesagt habe. Sofort verstärke ich meinen Griff wieder, noch fester als zuvor.
Was bleibt mir noch an Möglichkeiten?
Die Angst auslachen, schlecht reden, ignorieren, wegsperren.
Okay, einen Versuch ist es wert.
Ich schließe meine Augen, vergrabe mein Gesicht in den Knien. »Was ich nicht sehe ist nicht da! Was ich nicht sehe ist nicht da! «, wiederhole ich immer wieder mit stummen Lippenbewegungen. Es ist ein Mantra, das mich langsam ein wenig ruhiger werden lässt.
Meine Atmung wird wieder ein bisschen normaler, mein Puls geht ein wenig runter. Doch ich kann nicht ewig die Augen verschließen. Mir ist klar, dass es immer noch da ist und ich mit geschlossenen Augen noch angreifbarer bin als zuvor.
Eine Welle panischen Adrenalins durchflutet mich als ich erst blinzelnd und dann ruckartig meine Augen öffne, sie weit aufreiße um in die undurchdringliche Dunkelheit zu starren. Da kommt es wieder. Und zwar alles.
Sie sind überall!, dröhnt es wieder in meinem Kopf. Augenblicklich zucken meine Augenlider, wollen sich wieder schließen. Wie Tore, die das Böse von mir abhalten.
Ich verliere immer mehr an Kraft, die Angst gewinnt immer mehr daran und türmt sich wie ein Berg über mir auf, überschattet mein Bewusstsein. Als säße ich im Tal und um mich herum; nichts als Berge. Ein Gebirge der Angst.
Meine Hände schwitzen, mein Puls hämmert in meinen Venen. Angst die ich nie zuvor verspürte, sie breitet sich in mir aus. Immer mehr. Immer schneller.
Ich will die Arme um den Kopf legen. Mich schützen und gleichzeitig verhindern, dass ich es kommen sehe. Ich will schreien. Immer noch. Ich will die Angst mit meinen Schreien aus meinem Körper jagen. Solange, bis der Schrei auch mein Gehirn erreicht und vielleicht auch dort die Angst vertreibt. 
Ich bin kein Schwächling, ich habe keine Angst.
Hier ist kein Platz für die Angst und mich. Entweder oder. Es kann nur einen geben. Die Angst oder mich. Mich oder die Angst.
Meine letzte Möglichkeit? Flucht? Ich könnte einfach davon laufen, so wie ich es immer tue.
Nur ein Weichei, jemand der Angst verspürt, flüchtet. Ich bin stark. Ich habe keine Angst. Schließlich kann es nur einen geben und wenn ich hier bin kann die Angst nicht existieren, oder?
Das Gefühl einfach die Augen zu schließen, mich in eine andere Welt zu flüchten, ist plötzlich so verlockend wie noch nie. Wieso tue ich mir das an? Warum gehe ich nicht einfach? Ich weiß es nicht.
Außerdem will ich ja endlich mal wieder in diese andere Welt, die nur ich betreten kann und die ich mein zuhause nenne. Es ist schon so lange her, dass ich Alex und Leo das letzte Mal gesehen habe.
Also los. Augen zu und nichts wie weg von hier.
»Hey, Leo! Ich bin wieder zuhause! «
»Alex! Ich dachte schon du wärst tot oder entführt! «
Leo fällt mir um den Hals. Ich streiche mit der Hand durch diesen grünen Irokesen, den ich so sehr vermisst habe.
»Wie geht’s dir, Kleines? «
»Joa, ganz okay. «
»Wo warst du die ganze Zeit? «
»Das weißt du doch. «
»Ach ja, richtig… Ich hätte dich so viel lieber für immer hier. Alex vermisst dich auch total und Zero auch. «
Ich nicke ein wenig abwesend.
Der Gedanke daran, zurück zu gehen lässt mich erschrecken und ich reiße kurz die Augen auf. Dunkle Angst umfängt mich. Schnell die Augen wieder schließen.
»Apropos, wo sind die zwei eigentlich? «
Ich sehe mich in unserer kleinen, ein bisschen schäbigen Wohnung um. Die kleine, fleckige Coach mit dem vollgestellten, kleinen Tisch und dem Fernseher mit den vielen DVDs, die durcheinander in der kleinen Kommode liegen. Der winzige Flur der zu Leos und Alex Zimmern führt. Die Tür zu meinem Zimmer, genau gegenüber. Verschlossen, wie fast immer seit ich so lange nicht mehr nach hause kommen konnte.
»Alex arbeitet noch und Zero… keine Ahnung was die so treibt. «
Leo folgt meinem Blick und sieht mich ein bisschen wehleidig an. Er kann sehen, dass ich die Zeit vermisse in der ich jeden Abend zur Tür herein spaziert bin und für den Rest des Tages mit den anderen auf der Coach gesessen oder mit ihnen die Küche verunstaltet habe, in dem Versuch etwas Essbares zu kochen.
Die Wohnungstür öffnet sich und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Alex! Wie lange hab ich dich nicht mehr gesehen? Einen Monat? «
Mein Namenszwilling und Blutsbruder nimmt mich in dem Arm.
»Fast. «
Ich vermisse meine Familie. Aber jetzt bin ich ja daheim. Ich schlinge meine Arme um Alex und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust.
»Schön dich wieder zu sehen. «
Ich nicke in der Umarmung. Zu mehr bin ich im Moment nicht imstande.
Wir lösen uns voneinander.
»Zero treibt noch ihr Geld ein. Sie kommt wahrscheinlich erst später. «
Es macht mich ein wenig traurig, dass ich sie erst in ein paar Stunden sehen werde.
Plötzlich flackert meine Sicht. Erst nach ein paar Herzschlägen wird mir klar, dass ich blinzele.
Nein, ich will nicht zurück. Ich will zuhause bleiben. Bei meiner Familie. Wo ich mich wohlfühle und wirklich lebe und nicht nur vor mich hin sieche.
Ich presse meine Lider aufeinander. Nichts. Es klappt nicht mehr.
Einmal sehe ich noch Alex‘ frohes Gesicht aufflackern, doch dann ist auch das weg. Verzweifelt versuche ich es noch mal und nochmal. Nichts.
Langsam weiß ich, dass es an der Zeit ist aufzugeben. Ich umschlinge meinen Körper noch fester, so dass ich kaum noch atmen kann, und starre mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit, die meine Angst verbirgt und sie trägt. Sie sind überall. Ich habe keine Chance, ist das letzte was ich denke, bevor ich meine Augen endgültig schließe.
Als ich sie wieder öffne ist es heller Morgen, ich höre die Vögel draußen vor dem Fenster. Sie sitzen im Baum. Ich erinnere mich an das, was in der Nacht passiert ist.
Es war alles nur ein Alptraum. Nur ein Traum.
Oder?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Chucky Das ist das, was blieb nachdem du gingst.

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