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Warum Blind Dates so heissen wie sie sind...

by Vanessa Salten

Eigentlich bin ich nicht der Typ für Verkuppelungsaktionen und Erbarmungsrituale von Freunden. Ich bin eine Frau in den besten Jahren – denn so fühle ich mich mit meinen knusprigen 38 – und gehöre mit meiner eigenen kleinen Firma zur Sorte der selbständigen Unternehmerinnen. Ich bin also eine durchaus selbstbewusste Frau, mit den üblichen gelegentlichen Zweifeln. Doch darin sehe ich eher Positives, denn so gehe ich mit mir und meinem Tun immer mal wieder auf den Prüfstand.
Und trotz dieser Eigenständigkeit habe ich mich zu einer eben solchen Kuppelei hinreissen lassen, denn ich gehöre seit einem Jahr zur Spezies der Singlefrauen. Diese Sorte ist in meinem Freundeskreis nicht gerade weit verbreitet, denn die meisten meiner Freunde stammen aus der Zeit, als ich noch der weibliche Teil eines glücklichen Paares war. Und Paare umgeben sich ja in der Regel mit anderen Paaren, insbesondere in meiner Alterskategorie. Deshalb bin ich es mittlerweile gewohnt, als Single immer wieder aus dem Rahmen zu fallen. Das ist wohl auch der Grund, warum sich Freunde meiner erbarmen und sich über mein Singleleben – oder wie sie an diesem krankheitsbild-ähnlichem Zustand etwas ändern können – Gedanken machen.
Die Geschichte begann an einem ganz normalen Montagabend: Ich sass mit Sabine, einer guten Bekannten, tief in die riesigen Kissen gekuschelt auf der Terrasse meiner Lieblingslounge und genoss die letzten Strahlen der Abendsonne. Und als wir so daher plauderten und an unseren kühlen Drinks nippten, meinte Sabine plötzlich mit einem leicht schelmischen Ausdruck in den Augen, dass sie den i d e a l e n Typen für mich kennen würde. Und dass dieser – oh Wunder – genau eine Frau wie mich suchen würde.
Eine Frau wie mich? Was soll das denn heissen! Sucht dieser Typ etwa eine Frau mit genau meiner Haarfarbe? Mit meiner Grösse und Statur? Nicht dass hier der Gedanke aufkäme, diese könnten sich nicht sehen lassen. Daran liegt es nicht. Ich fragte mich nur, was es bedeutet, eine Frau wie mich zu suchen. Kann es sein, dass dieser Typ vielleicht eine Frau mit meinen inneren Werten sucht? Ich zweifle zwar daran, dass Männer überhaupt wissen, was innere Werte sind und wozu man sie nutzt.
Ich musste dieser Frage nachgehen und des Rätsels Lösung aufspüren. Die Frauenwelt würde mir auf ewig dafür dankbar sein. Also habe ich mich gefragt, was ich denn schon zu verlieren hätte. Ausser ein paar Stunden vielleicht. Es konnte ja nichts weiter Schlimmes passieren. Da es sich um einen Bekannten von Sabine handelt, konnte ich doch wohl davon ausgehen, dass ich keinem Verbrecher gegenüber sitzen werde und dass meine Abendgesellschaft zumindest gute
Manieren haben würde. Ansonsten wäre Sabine sicher nicht in ihr Verkuppelungselement gekommen. Also habe ich mich schliesslich weich klopfen lassen und mich mit einer gehörigen Portion Neugierde auf dieses neue grosse Abenteuer eingelassen.

Ein paar Tage später, ich war gerade auf dem Weg zu einem netten Dinner mit einer Freundin, war es dann soweit: Die erste Kontaktaufnahme. Per SMS! Es handelte sich bei meinem Blind Date also um ein modernes Exemplar. Mit vor Neugierde pochendem Herzen und leicht zittrigen Händen las ich die geschriebenen Zeilen.
Carmelo, mein Blind Date, schien ein richtiges Arbeitstier zu sein. Er war so spät abends noch immer bei der Arbeit und fragte höflich nach, ob er sich später noch bei mir melden dürfte. Aha, eine Vorankündigung also. Da ich mein erstes Gespräch mit Carmelo aber nicht umgeben von schmatzenden, schnatternden Fremden und Chillout Musik abhalten wollte, simste ich eine Entschuldigung zurück. Also verabredeten wir uns – per weiterer SMS – für den kommenden frühen Morgen zum Telefonat. Da sei er unterwegs zu einem Termin und könne gut reden, meinte Carmelo.
Wir hatten es also bereits zu einer Verabredung zum Telefon Date geschafft. Uff, der erste Schritt schien getan. Was für mich auch hiess, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, sondern nur noch die Flucht nach Vorne. Der nächste Morgen kam und ich wartete ungeduldig auf den angekündigten Anruf. Ein bisschen gespannt war ich schon, wenn ich ehrlich war. Wie er wohl klingen mochte? Was mir seine Stimme verraten würde? Doch der Anruf liess auf sich warten. Eine Eigenschaft, die mir nicht besonders liegt. Denn als Frau bin ich ja von Natur aus ein neugieriger Mensch. Wozu ist eigentlich die Warterei gut? Hiess es nicht auch, 'was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen'?
Der Zeiger stand schon kurz vor 9 Uhr und allmählich wurde ich ungeduldig. Ob ich IHN anrufen sollte? Die Nummer hatte ich ja im Absender der gestrigen SMS. Ich bin doch schliesslich eine selbständige und selbstbewusste Frau – eine, wie er sie ja suchte – und werde dann wohl auch die Initiative ergreifen dürfen. Dann wusste Carmelo auch gleich, mit welcher Sorte Frau er es zu tun hatte. Flirtaktionen wie diese war ich seit Jahren nicht mehr gewohnt. Ich war erst seit einem Jahr Single und kam schliesslich aus einer langjährigen Beziehung. Da rücken Flirtereien in den Hintergrund. Man könnte also durchaus behaupten, dass ich leicht aus der Übung war. Aber egal, ich wollte dieses Gespräch jetzt hinter mich bringen. Also griff ich mit leicht schwitzigen Händen zum Telefon und wählte seine Nummer.
Gerade hätte er sich meine Nummer heraus gesucht, meinte Carmelo nach dem Abheben.
Ach wirklich? War das jetzt Zufall, einfach nur leeres Gerede oder vielleicht doch ein erstes Zeichen? Zumindest teilten wir bereits die Gedanken miteinander, wie es schien. Seine Stimme war mir gleich sympathisch, irgendwie interessant, männlich – was auch sonst? – und doch weich. Wir plauderten ein klein wenig und sprachen schliesslich das unvermeidliche an: Unser Blind Date.
Wie es schien, konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Er schlug gleich den Abend, Freitagabend, für unser Date vor. War das jetzt gut oder schlecht zu werten? Konnte er es kaum erwarten oder wollte er es schnellstmöglich hinter sich bringen?
Seine nächste Frage riss mich aus meinen Gedanken: Die Frage nach dem Ort des Geschehens! Tja, wo sollte das Ganze denn stattfinden? Sein Vorschlag für ein Treffen am selben Abend überraschte und überfuhr mich gleichermassen. Charmant fügte er hinzu: „Such' Du Dir doch das Lokal aus. Eines, in dem Du Dich wohlfühlst!“
Wow, gab es diese Sorte Männer wirklich noch, die um das Wohl einer Frau besorgt waren? Bei genauerem Betrachten könnte man es natürlich auch einfach als Bequemlichkeit seinerseits abtun, aber ich wollte die romantische Seite darin sehen. Für einmal wollte ich eine rosa Brille tragen.
So auf die Schnelle kam mir eigentlich nur ein Lokal in den Sinn. Mein Lieblingslokal im Herzen der City, das Restaurant meiner Freundin Elisabeth. Und Carmelo schien von meiner Wahl begeistert. Da gab es nur eine winzig kleine Herausforderung. Es war Freitag und das Lokal meiner Freundin galt als In-Place der Stadt. Spontaneität in allen Ehren, aber es durfte schwierig werden, so kurzfristig noch einen Tisch zu bekommen. Es sein denn, man hat Kontakte. Gute Kontakte. Und die hatte ich ja wohl.

Die ersten Pluspunkte auf meinem Konto sammelten sich. Carmelo war echt beeindruckt, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, einen Tisch zu ergattern. Der Abend konnte kommen. Leider. Denn so fühlte ich mich, je näher der Abend rückte. Ich war mit den Nerven völlig am Ende. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen! Welcher Teufel hatte ich mich geritten! Sollte oder KONNTE ich Absagen? Was würde Sabine davon halten? Die würde mir wohl nie wieder einen Gefallen tun. Nein, aus dieser Nummer kam ich nicht mehr heraus. Da musste ich jetzt durch.
Die Frage war nur, wie? Und zwar Outfit-technisch. Beim ersten Date eine besonders wichtige und heikle Frage, wie ich fand. Denn ich sollte mich ja wohl fühlen und wollte natürlich gleichzeitig meinem Gegenüber gefallen. Nur ist das ziemlich schwierig, wenn man sein Date und dessen Stil nicht kennt.
Also verliess ich mich auf den Rat meiner ältesten und besten Freundin Felicitas: „Sei einfach Du selber. Gib Dich ganz, wie Du bist.“ Klingt doch spitze! Vor allem wenn man wie ich gerade mal wieder in einem Selbstfindungsprozess steckt...

Den Rat meiner besten Freundin nahm ich immer schon besonders ernst. Denn niemand kennt mich so gut wie Felicitas. Schliesslich kennen wir uns unser halbes Leben lang und sind in 18 Jahren Freundschaft durch Dick und Dünn gegangen. Sie stand bei meiner ersten – vielleicht etwas verfrühten – Heirat genauso an meiner Seite, wie bei der Scheidung drei Jahre später. Sie hat mir in fröhlichen Tagen immer mein Glück gegönnt und mich in harten Zeiten unterstützt und motiviert. Sie war einfach immer für mich da, egal in welcher Lebenslage ich mich befand. Deshalb gab es für mich auch keinen Grund, ihr zu misstrauen oder ihren Rat in Frage zu stellen.
Ich gab also nicht mein Allerbestes, brezelte mich nicht bis zur Unkenntlichkeit auf, sondern suchte ein sommerliches Outfit aus. Erstaunlicherweise war mir nach einer weissen Hose zu Mute, obschon ich meine untere Körperhälfte praktisch nie in Weiss hülle.
Wie kam ich eigentlich auf diese Idee? Schliesslich fühle ich mich trotz Konfektionsgrösse 36 in Weiss immer wie in einem Walross-ähnlichen Zustand. Keine Ahnung warum mir ausgerechnet jetzt danach war. Jedenfalls sollte sich im Laufe des Abends noch herausstellen, dass die weisse Hose fürs erste Date nicht gerade erste Sahne war. Aber dazu später.
Meine Haare band ich zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen und legte ein dezentes Make-up auf, das meine dunklen Augen und die wohlgeformten, vollen Lippen betonte. Ich betrachtete mein Ebenbild im Spiegel und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ich fühlte mich gut! Ich spürte eine Art Leben in mir, wie ich es schon lange nicht mehr vernommen hatte.
Und so machte ich mich also auf den Weg in die City und versuchte meine Nervosität in Schach zu halten. Was gar nicht so einfach war, schliesslich musste ich ja ganz nebenbei auch noch auf den Strassenverkehr achten. Wie immer war ich zu früh dran. Also stellte ich mein Auto etwas weiter weg und gönnte mir noch einen beruhigenden Abendspaziergang in der wohltuenden Sonne. Pünktlich auf die Minute nahm ich unseren Platz im hinteren Garten des Restaurants ein; und sass da also alleine an unserem Tisch. Dumm. Echt oberdumm.
Wieso war ich nur immer so penetrant pünktlich? Konnte ich nicht e i n m a l zu spät kommen? Jetzt war ich tatsächlich als Erste da und musste warten. Was nicht gerade beruhigend auf meine Nerven wirkte. Piep, piep. Eine SMS! Aha, Mann im Anflug. Er suche noch nach einer Parklücke, werde aber gleich bei mir sein, meinte Carmelo. Oje, dann war es jetzt also jeden Moment soweit. Die grosse Neugierde machte sich breit. Gefolgt von einer riesigen Portion Nervosität, die bald in Übelkeit überschlug. Und meine Gedanken fuhren Achterbahn.
Doch viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, denn schon bald kam ein eleganter, gut aussehender Mann in den Mittvierzigern auf mich zu. Sein dunkelblondes Haar und der sonnengebräunte Teint passten perfekt zum sommerlich braunen Nadelstreifenanzug. Dazu hatte er ein hellblaues Hemd kombiniert, das er leicht aufgeknöpft trug. Seine Lippen umschmeichelte ein einnehmendes Lächeln, als er auf mich zukam. Alles in Allem eine sehr charismatische Erscheinung. Mein Blind Date!
Der erste Blick sass. Und der peinliche Moment der ersten Stille blieb mir glücklicherweise erspart. Es kam gleich ein fliessendes Gespräch in Gange. Und es sollte sich herausstellen, dass mein Lieblingsrestaurant auch sein favorisiertes Lokal der Stadt war. Umso beeindruckter war Carmelo davon, dass es so kurzfristig mit einem Tisch geklappt hatte. Wie ich bereits erwähnte: Meine ersten Pluspunkte waren auf dem Konto verbucht. Treffer, versenkt!
Überhaupt hatten wir einige Gemeinsamkeiten, wie sich während des Dinners herausstellte. Obschon Dinner aus meiner Warte vielleicht etwas verfehlt war. Vor lauter Nervenkitzel bekam ich kaum einen Bissen runter. Aber zurück zu unseren Gemeinsamkeiten: Wir loteten eine gemeinsame Vorliebe fürs Reisen aus, insbesondere in asiatischen Gefilden und hatten weitere Übereinstimmungen wie das Unternehmertum, die Parallelen in der beruflichen Laufbahn und weitere gemeinsame Bekannte.
Und nach dem Dinner teilten wir bereits unsere erste gemeinsame Nachspeise. Ist das nicht romantisch? Wir hatten uns eben erst kennen gelernt und assen bereits vom gleichen Tellerchen.
Mit einem Hochgefühl in Kopf und Bauch, einem Völlegefühl im Magen und rundum zufrieden stellten wir uns schon bald der Frage nach dem weiteren Verlauf des Abends. Eines schien klar: Beenden wollten wir diesen keinesfalls schon. Dafür hatte das Date zu gut begonnen.
Also beschlossen wir, in eine nahe gelegene Bar weiter zu ziehen und orderten die Rechnung. Als emanzipierte Frau habe ich gelernt, für mich selber zu sorgen und meinen Teil zum Leben beizusteuern. Deshalb schlug ich gewohnheitsgemäss eine Teilung der Rechnung vor.
„In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Du bist eingeladen, die Rechnung für das Essen übernehme natürlich ich“, konterte Carmelo überrascht und beinahe etwas beleidigt. Aha, also war er auch noch ein Mann der alten Schule. Da schien ich ja wirklich einem absoluten Ausnahmeexemplar begegnet zu sein. Was für eine Überraschung! Ich hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, dass es solche Männer noch gibt und stiess in meinen Gedanken ein Hoch auf Sabine aus.
Es war eine herrlich warme Sommernacht. Umso mehr genoss ich den kleinen Spaziergang zu unserer nächsten Station. Und das Glück schien auf unserer Seite zu stehen, denn wir fanden gleich auf Anhieb eine freie Sitzecke auf der Dachterrasse der Lounge. So richtig bequem war es zwar nicht, dafür aber total hip im Design. Ein richtiger In-Place eben.
Egal. Ich liess mir meine gute Stimmung nicht verderben und fragte mich, wann ich das letzte Mal in einer solchen Hochstimmung war; wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt hatte. Das Wetter war perfekt, das Essen hervorragend und meine Begleitung nicht nur gut aussehend, sondern auch noch absolut charmant. Wie schön das Leben doch sein konnte! Zumindest für einen Moment. Aber das macht das Leben schliesslich aus; die Fähigkeit, den Moment wahrzunehmen und ihn zu geniessen.
Wir machten es uns so bequem wie möglich, orderten unsere Drinks und kamen schnell wieder ins Gespräch. Und bald schon ging es richtig zur Sache. Rein Gesprächs-technisch natürlich. Bereits beim ersten Date landeten wir beim gefährlichen Thema Beziehungen. Mit leicht gequälter Miene meinte Carmelo: „Ich werde nicht jünger. Und so allmählich bin ich dieser blonden, jungen Dinger überdrüssig, die es nur auf mein Geld abgesehen haben. Ich würde mir endlich mal eine intelligente und eigenständige Frau an seiner Seite wünschen.“
Hmm, das klang wirklich ein wenig so, als würde er eine Frau wie mich suchen. Da war es wieder; 'eine Frau wie mich'. Jetzt dachte ich selber schon in diesen Schubladen. Dabei lasse ich mich gar nicht gerne in eine Box zwängen. Erstens kriege ich da Platzangst, weil ich nicht reinpasse; und zweitens bin ich ein Unikat! Jedenfalls schienen unsere Sterne gut zu stehen, zumindest hörte sich alles sehr gut an. Vielleicht fast zu perfekt?
Ich schob meine Grübeleien beiseite. Denn weit weniger perfekt war meine Drinkwahl. Ich hatte mir ein kühles Mischgetränk bestellt. Und nun stand ein sicherlich schmackhafter Drink in der Farbe der Liebe – wie passend – vor mir. Die warme Nacht brachte das Glas genauso zum schwitzen wie die charmante Gesellschaft meine Hände. Ich stand also vor einer ziemlichen Herausforderung. Wie brachte ich unter all diesen widrigen Umständen das Glas an meine Lippen; ohne rote Flecken auf meiner w e i s s e n Hose zu hinterlassen? Dazu sollte es ja auch noch wenigstens halbwegs elegant aussehen. Keine leichte Aufgabe, vor die ich mich leider selber gestellt hatte. In diesem Moment verfluchte ich mich für die Idee, zum ersten Date eine weisse Hose zu tragen. Wie kann man nur so bescheuert sein?
Aber da musste ich durch. Also versuchte ich, das randvolle Glas irgendwie um meine Hose herum zu zirkeln, eine ruhige Hand zu bewahren, den rutschigen Drink nicht fallen zu lassen, den Hals etwas nach rechts zu recken, um das Glas seitlich tropfen zu lassen, wenn es denn schon sein sollte, und dabei auch noch zu lächeln und so glamourös wie möglich auszusehen. Fragen Sie mich bitte nicht, wie ich das geschafft habe.
Es war sicher urkomisch, mich bei meinen Verrenkungen zu beobachten. Vermutlich war ich die Lachnummer überhaupt für die anderen Gäste. Aber ich liess mir nichts anmerken und hoffte, dass Carmelo nicht allzu sehr Notiz davon genommen hatte. Charmant wie er war, schien er zumindest darüber hinweg zu sehen. Noch.
Eigentlich war ich ganz froh, als ein Kellner kurz vor Mitternacht die letzte Runde einläutete. Nicht etwa wegen meiner Gesellschaft. Nein. Sondern wegen der witzigen Figur, die ich abgegeben hatte. Klar rundet es das bild einer Frau ab, wenn sie auch Witz zeigt. Aber so? Ich hätte mich ja dafür nicht gleich lächerlich machen müssen. Also schien mir der Lokalwechsel ganz angebracht. Einmal mehr stellten wir uns die Frage, wo die weitere Nacht uns hinführen sollte. Nach einigem Hin und Her entschieden wir uns für eine Bar im neueren Partyteil der Stadt.
Gesagt, getan. Wir fuhren mit seinem Superschlitten – von der Sorte, die mir schon immer gefiel – zu unserem nächsten Ziel. Und es war eine gute Wahl. Die Bar war nicht allzu überfüllt. Und es war ein berauschendes Gefühl, aus dem 10. Stock auf das Lichtermeer unter und um uns zu blicken. Oder war es die Gesellschaft, die mich berauschte?
Im hinteren Teil der Bar fanden wir einmal mehr eine lauschige Ecke. Nicht nur lauschig, sondern sogar ziemlich abgeschieden, dachte ich bei mir. Und da ich kein Mensch bin, der gerne die Kontrolle verliert, sondern möglichst alle Zügel fest in Händen hält, entschied ich mich für einen weiteren alkoholfreien Drink. Um meine Sinne nicht vollends zu benebeln. Begleitung, Umgebung und der hohe Nikotingenuss trugen schon das Ihrige dazu bei.
Die Getränkewahl fiel mir schwer, deshalb überliess ich die Mischung des Drinks der Bedienung, süss-sauer sollte er allerdings sein. Ich mag die süss-saure Kombination, die mir jeweils ein liebliches Lächeln entlockt. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als die Kellnerin mit unseren Drinks zurück kam. Mein Drink erstrahlte in f e u e r r o t ! Und war natürlich einmal mehr randvoll.
„Du willst heute wohl unbedingt Deine weisse Hose noch mit roten Flecken verzieren“, hörte ich durch den Nebel der Musik mit einem leicht ironischen Tonfall die Stimme von Carmelo an mein Ohr drängen. Bäng! Er hatte meine Schwierigkeiten im letzten Lokal also doch bemerkt und zur Notiz genommen. Wie peinlich! „Naja, rot ist ja mittlerweile wieder der absolute Hit in der Modewelt. Warum also nicht weiss mit roten Punkten?“, konterte ich darauf, um die Situation ein wenig aufzulockern.
Und sozusagen locker-flockig ging dann auch unser Gespräch weiter. Wir haben Stories aus unserer Vergangenheit zum Besten gegeben und viel gelacht. Die Chemie schien zu passen. Ich mag es besonders gerne, wenn ein Geschäftsmann wie Carmelo auch mal die Professionalität – vergleichbar mit Steifheit – beiseite legen und sich bis hin zu Lachanfällen amüsieren kann. Wir haben sogar so viel gelacht, dass ich schon befürchtete, die Lachfalten brennen sich in mein Gesicht ein. Mit der Heiterkeit wurde auch der Abstand zwischen uns immer geringer. Oder lag es an der lauten Musik, die uns dazu veranlasste, näher zusammen zu rücken?
Jedenfalls, je später die Nacht, desto lustiger wurden die Geschichten – und heisser. Wir tratschten über die erste Liebe und natürlich über das absolute Lieblingsthema der Männer. Und das war bestimmt nicht Politik! Auch mit Fussball liegen Sie falsch. Wir sprachen über das erste Mal und waren mittlerweile also beim Thema S e x angelangt. Etwas irritiert von der Richtung, die unser Gespräch annahm, fragte ich mich, ob dieses Thema für ein erstes Date geeignet ist. Als verklemmt würde ich mich sicherlich nicht bezeichnen, aber dennoch hat das Thema Sex bei mir einen eher persönlichen Stellenwert. Zumindest neige ich nicht dazu, mit jeder X-beliebigen Person intime Details auszutauschen. Und Carmelo hatte ich ja eben erst kennen gelernt und zählte somit noch zu den quasi X-beliebigen. Doch was sollte ich tun? Wir steckten bereits mitten drin – im Thema.
Also liess ich mich auf das Gespräch ein; zumindest halbwegs. Geschickt kaschierte ich mein Unwohlsein mit jeder Menge Fragen, die ich Carmelo über seine Erlebnisse stellte. So überliess ich das Reden mehrheitlich ihm und gab meinerseits zu diesem Thema kaum etwas von mir preis. Die Stunde war so fortgeschritten, dass es meiner Begleitung noch nicht einmal aufgefallen war. Das war ein echt geschickter Schachzug von mir, Carmelo im Redeschwall zu halten und meinerseits die gut Unterhaltene zu zeigen. Und Männer fühlen sich doch immer geschmeichelt, wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, sie höchst interessant zu finden, sie zu bewundern. Klappt immer, dieser kleine Trick. Das ist eine Lektion, die ich im Berufsleben gelernt habe. Als Beraterin für Marketing Communications in der Männerdomäne der Informationstechnologie habe ich genug Übung darin gesammelt. Geben Sie Männern das Gefühl, die Grössten und Besten zu sein und sie fressen Ihnen aus der Hand. Auch wenn sich im Allgemeinen die Gedankengänge der Männer nur mit Mühe nachvollziehen lassen, in dieser Hinsicht ist das männliche Geschlecht absolut simpel gestrickt. Männer sind Jäger und brüsten sich gerne mit ihren Trophäen. Aber was nützen Trophäen, wenn sie darüber nicht berichten können und niemand zuhört? Die Geschichte mit dem 'meine Kinder, mein Haus, mein Boot' klappt auch mit den Themen 'meine Eroberung, mein Standvermögen, meine Sexualwirkung'; oder so ähnlich. Jedenfalls bemerkte ich irgendwann, dass sich das Lokal allmählich leerte und ich warf einen erstaunten Blick auf die Uhr. Ich hatte wirklich nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging und zeigte mich umso überraschter, dass die Uhr kurz vor vier anzeigte. Sperrstunde. Also beschlossen wir, dem Abend ein Ende zu setzen, natürlich unter dem Motto 'Fortsetzung folgt'. Ein Bisschen Schönheitsschlaf braucht die Frau schliesslich. Gerade wenn man wie ich scharf auf die Vierzig zusteuert. Da wird einem die Schönheit nicht mehr einfach geschenkt mit auf den Weg gegeben.
Zuvorkommend wie mein Begleiter war, fuhr er mich mit seinem superschicken, silberfarbenen Schlitten noch zu meinem Auto zurück, das ja noch in der Nähe des Restaurants stand. Und dann kam der kritische Moment: Der Abschied. Was sollte ich tun? Wie sollte ich mich verhalten? Folgt auf ein so tolles Date der erste Kuss? Sollte ich mit einem Kuss dem Abend noch eins drauf setzen? Oder lieber die Unnahbare spielen und die Spannung aufrecht erhalten? Ich entschied mich für letzteres. Schliesslich will ich erobert werden und spüren, dass ich meinem Eroberer auch etwas Anstrengung wert bin. Weil ich es mir wert bin. Jawohl.
Und so trennten wir uns also mit dem typischen Drei-Bussi-Wangen-Kuss und versprachen uns, das Ganze in Kürze zu wiederholen und uns bald wiederzusehen. „Fahr vorsichtig nach Hause mit Deinem kleinen Flitzer“, gab mir Carmelo noch mit auf den Weg. Damit meinte er meinen kleinen, süssen, aber nicht minder spritzigen Mini Cooper S, der wie ein Go-Kart in den Kurven liegt. Ich liebe es, mit meinem wendigen Gefährt durch die Strassen zu flitzen, insbesondere wenn sie so leer sind wie mitten in der Nacht. Und so genoss ich das aufkommende Freiheitsgefühl auf der Heimfahrt das zusätzlich zum tollen Abend weitere Glückshormone freisetzte. Ich schwebte beinahe über die Strassen.
Gerade als ich meine Wohnungstür öffnete, hörte ich mein Handy piepen. Eine SMS von Carmelo. „Gute Nacht und süsse Träume“, schrieb er. „Danke, Dir auch. Und herzlichen Dank nochmals für das Dinner und den tollen Abend“, simste ich zurück.
„My pleasure“, war seine kurze, aber wirkungsvolle Antwort. Beschwingt und glücklich fiel ich in die Kissen und in einen herrlich tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte ich mit dem Gefühl auf, auf Wolke sieben zu schweben. Hatte ich wirklich das grosse Los gezogen? Hatte ich wahrhaftig den Mann der Männer gefunden? Quasi die Nadel im Heuhaufen entdeckt? Ich wollte es glauben. Ich wollte den Glauben an die Liebe – und das Leben – zurück gewinnen. Vielleicht hatte ich ja, entgegen meiner bisherigen Meinung, meine grosse Liebe doch nicht in meinem Ex gefunden – und wieder verloren. Möglicherweise wartete die grosse Liebe tatsächlich noch irgendwo da draussen in der weiten Welt auf mich. Und vielleicht würde ich diese einzig wahre Liebe ja in Carmelo finden, ich wusste es nur noch nicht! Ich benebelte mich beinahe selber mit all diesen wunderbaren Gedanken. Es war frustrierend genug, zu glauben, die grosse Liebe verloren zu haben, als mein Ex und ich uns vor gut einem Jahr trennten. Entsprechend schwer fiel es mir, überhaupt noch an die Liebe zu glauben. Für mich erschien damals jeder andere Mann als zweite Wahl. Deshalb tat ich mich schwer darin, loszulassen. Ich glaubte wirklich daran, die grosse Liebe bereits gefunden zu haben. Deshalb beschäftigte ich mich natürlich mit der Frage, was danach kommt. Und tröstete mich manchmal damit, dass ich mit einem neuen Mann vielleicht eine ganz andere Art der Beziehung erleben dürfte und ein Vergleich deshalb unnütz war. Diese Begegnung bestärkte mich darin, den Glauben an die Liebe und letztlich das Leben in Zweisamkeit doch noch nicht aufzugeben. Es schien noch Hoffnung zu geben...
Auch wenn ich noch nicht wirklich wach war, beschloss ich dennoch, dieses glückliche Gefühl in mir voll auszukosten und keine weitere Sekunde dieses herrlichen Tages zu verschwenden. Ein leckerer Milchkaffee verpasste mir den notwendigen Kick in den Tag. Dann ging ich erst einmal zur Tagesordnung über. Schliesslich war es Samstag und es gab jede Menge zu erledigen.
Zuerst hatte meine Wohnung einen Waschgang nötig. Also legte ich fetzige Powermusik ein, begann singend mit meiner Putztour und liess den letzten Abend Revue passieren. Wenn ich ehrlich bin, hing ich in meinen Gedanken vielleicht auch ein klein wenig meiner neuen Bekanntschaft Carmelo nach..9
Und so putze ich vor mich hin, bis ich abrupt in meinem Fluss gestört wurde: Ring, ring, ring. Telefon! Ich legte den Putzlappen beiseite, drehte die Musik leiser und hastete zum Telefon. Als ich die Nummer auf dem Display erkannte, machte mein Herz einen Sprung und begann zu rasen. Hoffentlich bekam ich keinen Herzinfarkt, bevor ich den Anruf entgegennehmen konnte. Es war Carmelos Nummer! Aufgeregt hob ich ab.
„Guten Morgen, gut geschlafen?“, begrüsste er mich. „Danke, ich war in den Tiefen der Traumwelt. Allerdings nur, bis mich die Vogelschar vor meinem Schlafzimmerfenster aus dem Schlaf gerissen hat. Und selber?“ „Soweit gut, wenn auch etwas zu wenig. Aber was ich Dir eigentlich sagen wollte... ich bin ganz in Deiner Nähe. Ich war in der Autowaschanlage bei Dir um die Ecke und bin quasi einen Steinwurf von Dir entfernt...“ Stille. Ich kam in Zugzwang. Da war jetzt wohl eine Reaktion von mir gefragt. Eine schnelle Reaktion. Eine g u t e Reaktion. Hmpf. Ich hätte ihn ja zum Kaffee einladen können, gleichzeitig wurde mir aber bewusst, in welcher Montur ich mich befand: Putzklamotten, Haare mit einer Klammer aufgesteckt, ungeschminkt und verschwitzt! So konnte ich keinen Besuch empfangen – und Carmelo schon mal gar nicht. Nur, wie reagiere ich jetzt? Ehrlich sein? Oder eine Ausrede finden? Ich beschloss bei der Wahrheit zu bleiben. Also antwortete ich so salopp wie möglich: „Dachte ich’s mir doch, dass ich Deine Nähe gespürt habe. Du, ich würde Dich ja gerne auf einen Kaffee zu mir einladen, aber ich bin gerade mitten in meiner Putztour. Die Wohnung ist also in ein absolutes Chaos verwandelt. Und meinen derzeitigen Anblick würde ich Dir, ehrlich gesagt und gut gemeint, auch gerne ersparen. Etwas Stil darf ja schon sein, oder?“ „Okay, verstehe. Und hast Du schon Pläne für heute Abend?“ Oje, ein weiterer kritischer Punkt. Wollte er sich etwa gleich wieder mit mir verabreden? Wäre es geschickt, so kurzfristig an einem Samstagabend Zeit zu haben? Glücklicherweise stellte sich die Frage nicht, da ich mich für den Abend bereits mit Felicitas verabredet hatte. „Ja, aber nichts Verrücktes. Ich treffe mich mit meiner Freundin in einer Bar. Cooles Ambiente und gute Leute. Wir machen uns einfach einen gemütlichen Abend. Und wenn wir dann noch Lust haben, ziehen wir noch in einen Club weiter“, weihte ich ihn in meine Pläne ein. Wir plauderten noch ein klein wenig, dann wünschte er mir einen schönen Tag und legte auf. Hmm, ob ihn meine Abfuhr brüskiert hat? Aber was blieb mir übrig? Ich wollte Carmelo so nicht gegenüber treten. Und zudem spürte ich tief in mir Drinnen, dass es mir ein klein wenig zu schnell ging mit dem Besuch bei mir zu Hause. Oder mass ich da mal wieder einer Sache zu viel Gewicht bei? Jedenfalls war es mir so wesentlich wohler – und das war ja schliesslich die Hauptsache. Viel zu sehr habe ich in der Vergangenheit immer auf die Gefühle und Gedanken meiner Mitmenschen Rücksicht genommen. Ich habe quasi für mein Umfeld gedacht. Und mich dabei komplett in den Hintergrund gedrängt. Immer war es mir wichtig, es Jedermann recht zu machen. Das hatte für mich – neben dem beinahe schon pedantischen Perfektionismusdenken im Job – absolute Priorität. Und dabei habe ich meine eigenen Bedürfnisse komplett unterdrückt und missachtet. In jeder Hinsicht. Beruflich und beziehungstechnisch. Nicht dass ich jetzt behaupten würde, ich hätte keine gute Beziehung geführt, nein. Schliesslich war ich zehn Jahre mit diesem Mann zusammen. Aber gegen Ende der Beziehung habe ich es einfach verpasst, meine eigenen Bedürfnisse zu vertreten und habe mich nur noch auf die Wünsche meines Partners konzentriert. Dabei habe ich mich gefragt, ob seine Sichtweise der Dinge vielleicht nicht doch die korrektere, die sinnvollere sei und meine überholt werden müsste. Also habe ich mich untergeordnet, meine Gefühle und Bedürfnisse für falsch erklärt.
So ging das eigentlich, seit ich denken kann; also bereits mein halbes Leben lang. Bis ich vor etwas mehr als einem Jahr einen kräftigen Schuss vor den Bug bekam. Nein, eigentlich war es schon viel mehr ein ordentlicher Treffer. Mein Körper streikte, wollte nicht mehr. Mein Hirn setzte aus. Nichts ging mehr. Blackout. Knockout. Oder viel mehr: Burnout. So lautete die niederschmetternde Diagnose. Doch als Kämpfernatur liess ich mich davon nicht unterkriegen; sondern sah darin eine Chance und nahm den Genesungsprozess fest in die Hand. Wie es nun mal typisch und bezeichnend für mich ist. Selbst in dieser Situation wollte ich nichts dem Zufall überlassen und war fest entschlossen, aus dieser Lebenskrise gestärkt heraus zu kommen. Also scharte ich Spezialisten um mich herum, die gemeinsam mit mir die Sache angingen. Und ich war bestimmt kein leichter Fall, denn für mich war es ein Projekt mit einem klaren Sinn und definierten Ziel: Ich wollte Resultate sehen, wollte raus aus dem Burnout, mein Leben wieder in den Griff bekommen und ihm einen Sinn geben. Ich wollte wieder leben, das Leben spüren. Dazu musste ich einen tiefen Blick in mein Innerstes und auf mein Leben wagen. Das war nicht immer einfach und erforderte eine gehörige Portion Mut. Wer hält sich schon gerne selber den Spiegel vor die Nase? Aber noch viel wichtiger war: Ich musste dazu bereit sein, mich auf Veränderung einzulassen. Denn was nutzt es, den Veränderungsbedarf zwar zu erkennen, aber alles beim Alten zu belassen? Dann hätte ich mir das ganze Projekt sparen und mich auf die faule Haut legen können. Denn ein Projekt hat ja nur einen Sinn, wenn auch ein Resultat dabei heraus springt. Das Konzept alleine ist erst die halbe Miete. Ich glaube, meine betreuenden Ärzte und Therapeuten waren heilfroh, als ich die Klinik nach 3 Monaten endlich wieder verliess. Aber die wochenlange Knochenarbeit hat sich gelohnt: Ich habe gelernt, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und danach zu handeln. Mein eigenes Denken als wichtig und richtig zu erachten und nicht permanent zu hinterfragen. Ich habe gelernt, mich selber ernst zu nehmen. Natürlich, manchmal spielen mir meine in frühen Jahren angeeigneten Muster einen kleinen Streich und lassen mich stolpern. Deshalb ist eine Situation wie diese so bezeichnend für mich, in der ich hinterfrage, ob ich Carmelo mit meiner Abfuhr vielleicht vor den Kopf gestossen habe. Andererseits, was hat mich das zu kümmern? Ich habe nach meinem Bedürfnis gehandelt und das war richtig so. Punkt. Und darauf kann ich stolz sein, denn ich habe mich weder von Carmelo noch von mir selber übertölpeln lassen.
Ich drehte meine Putzrunde zu Ende und machte mich dann auf den Weg zum Einkaufen. Beflügelt vom gestrigen Abend und mit Stolz erfüllt über den Verlauf des Telefongespräches, bin ich beinahe zwischen den Lebensmittelregalen hindurchgeschwebt. Ich hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, als wäre es eingebrannt. Ich fühlte mich wie im Rausch und schob meinen Einkaufswagen mit Leichtigkeit vor mir her. Die gestressten Einkaufenden sahen mich an, als wäre ich leicht irre. Die fragten sich wohl, was ich genommen hatte und wo man dieses Teufelszeug bekommen konnte. Tja, so was vermag nur das wahre Leben zu erzielen. Und da war ich gerade mitten drin. Endlich wieder. Ich konnte fühlen, also war ich! Was ich fühlte, konnte ich zwar noch nicht so konkret einordnen, aber das war mir erst einmal egal. Denn es fühlte sich super an. Was auch immer das sein mochte, was mir das Leben gerade bescherte.
Genauso beflügelt ging ich in den Abend mit meiner Freundin. Ich konnte es kaum erwarten, Felicitas von meinem Date und Carmelo in allen Einzelheiten zu berichten. Schliesslich hatte sie bestimmt den ganzen gestrigen Abend an mich Gedacht und mir die Daumen gedrückt. Und wie ich sie kenne, hat Felicitas das mit Leib und Seele getan und sich wunde Knochen und blaue Nagelbeete vom Daumendrücken geholt. Sie ist eben meine allerbeste Freundin. Da ist kein Schmerz gross.
Wir sassen bei einem leckeren Drink in der warmen, rot-gold schimmernden Abendsonne und Felicitas lauschte neugierig meinen Erzählungen. Sie forderte natürlich eine getreue Berichterstattung, bis ins kleinste Detail. Und die sollte sie bekommen. Schliesslich waren wir als beste Freundinnen auch so was wie gegenseitige Beschützerinnen. Erkennt eine von uns, dass die andere sich auf dem Holzweg befindet oder geradewegs in eine Katastrophe rennt, dann wird sie von der anderen gewarnt. Da sind wir absolut ehrlich und nehmen kein Blatt vor den Mund. Wir kennen uns viel zu lange, um uns gegenseitig etwas vorzumachen. Und das ist wohl das Schöne an unserer Freundschaft. Wir dürfen absolut ehrlich sein, ja erwarten es sogar. Auch wenn es weh tun sollte.
Deshalb war für mich klar, dass Felicitas die ganze Angelegenheit nicht durch die gleiche rosa Brille betrachten würde, die ich gerade auf hatte. Sie freute sich für mich, ganz ehrlich sogar. Dennoch äusserte sie Skepsis.
„Hey, das wäre echt spitze, wenn dies der Mann aller Männer wäre und Du Dein neues Glück mit ihm finden würdest. Aber das klingt alles schon fast kitschig. Irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Ich weiss nicht so recht... Ein Mann ohne Haken? Gibt es so was überhaupt? Irgendwo wird ein Makel sein, denn den perfekten Mann gibt es einfach nicht. Und je früher Du diesen Makel findest, umso besser. Wenn Du dann damit Leben kannst, auch gut. Aber wenn nicht, dann ist es doch besser, Du erkennst das früh genug. Bevor Dein ganzes Herz drin hängt“, bat mich Felicitas um Hellsichtigkeit. „Hmm. Mag sein. Aber bislang erscheint mir alles wie im Märchen. Ich fühle mich plötzlich so leicht und unbeschwert. So habe ich mich lange nicht gefühlt. Endlich spüre ich wieder das Leben in mir. Und ich möchte es auskosten. Wohin das führt, weiss ich ja selber noch nicht. Ich kann ja noch nicht einmal meine Gefühle richtig einordnen. Dafür ist es noch zu früh. Aber es fühlt sich gut an, so frei...“
„Dann geniesse es in vollen Zügen und bleibe wachsam in Deinem Verstand.“ „Ja, da magst Du wohl recht haben. Ich geniesse es momentan einfach. Und ich werde es langsam und vorsichtig angehen, nichts übereilen. Ich habe ja alle Zeit der Welt. Eine weitere Enttäuschung in Sachen Männer könnte ich momentan wirklich nicht gebrauchen. Wenn ich es also vorsichtig angehe und nicht gleich mein ganzes Herz reinstecke, was habe ich zu verlieren?“ Dann drückte der Beschützerinstinkt bei Felicitas durch: „Vielleicht sollten wir Carmelo einem Test unterziehen? Hast Du ihm eigentlich schon von mir erzählt? Weiss er, dass er erst an mir vorbei muss, wenn er Dich erobern möchte? Vielleicht sollte ich mit einem Fragebogen vor seiner Tür auftauchen, ihm ein paar kritische Fragen stellen und prüfen, ob er Dich auch wirklich verdient hat...“ Felicitas war in ihrem Element. Eine wahre Freundin eben. Wir malten uns die wildesten Fragen und abstrusesten Makel aus, bis wir uns vor Lachen kaum mehr auf den Sitzen halten konnten. Wir haben Tränen gelacht; und beinahe unser Make-up ruiniert. Wie aufs Stichwort meldete sich mein Handy zu Wort: Piep, piep. Nachricht von Carmelo: „Greetings from Caliente. Du hat’s gut. Hier herrscht das absolute Chaos. Kuss.“ Selber schuld, dachte ich mir. Carmelo war mit Freunden an einem brasilianischen Strassenfest in der City unterwegs, wie er mir früher am Abend bereits per SMS mitteilte. Nicht mein Ding. Deshalb beneidete ich ihn keine Sekunde. Ich ertrage Menschenaufläufe dieser Art nicht. Da fehlt mir der Überblick und ich fühle mich verloren. Und eingeengt. Ein Zustand, der mir absolut nicht liegt. Man wird von links und rechts geschubst und in eine Richtung gedrängt, in die man gar nicht will. Ich weiss gar nicht, was all diese Menschen so toll daran finden, mit Wildfremden – inklusive den kuriosesten Figuren – auf Tuchfühlung zu gehen. Und als wäre das nicht schon Chaos genug, werden auch noch die Ohren überbelastet, weil von jeder Ecke eine andere Musik ans Ohr drängt und sich zu einem absolut fürchterlichen Getöne vermischt. Dazu will der rechte Sound, die linke Musik übertönen. Was wiederum dazu führt, dass ich mein Gegenüber anschreien muss. Und die Musik im Stimmengewirr nochmals lauter gestellt wird, um die Menschenmenge zu übertönen. Und so weiter. Eigentlich ein ewiger Machtkampf. Vermutlich ist diese Art der Veranstaltung wirklich nur zu ertragen, wenn man sich bis oben hin voll laufen lässt. Deshalb auch der hohe Alkoholkonsum und die hohe Anzahl Schnapsleichen an solchen Veranstaltungen. Und da ich selten Alkohol trinke, ist die logische Konsequenz davon, solche Festivitäten zu meiden. Schlau von mir, oder? Ich gehöre eben zum intelligenten Geschlecht der Frauen.
„Tja, da gelobe ich mir meine gemütliche Lounge. Genehmige Dir doch einen Drink auf mich, dann wird es vielleicht erträglicher... “, simste ich zurück. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: „Ja, Du hast es wirklich gut. Sehen wir uns morgen?“
Uuaah. Date Nummer zwei bahnte sich an! Carmelo musste also vom gestrigen Abend auch nach einigem Nachdenken genauso begeistert gewesen sein, dass er um ein neues Date bat. Ich war ganz aus dem Häuschen. Aber jetzt mal langsam, nur nicht ausflippen und nichts übereilen. Zwar würde ich mich durchaus als spontanen Menschen bezeichnen, aber in solchen Situationen gilt es, Ruhe zu bewahren, zu überlegen und dann erst zu reagieren. Schliesslich waren wir mittlerweile auf Stufe zwei angelangt, den Spielen von 'such mich, fang mich, erobere mich'. Und wie man das heutzutage spielt, war mir gänzlich unbekannt. Woher sollte ich das auch wissen? Ich war ja quasi neu im Geschäft des Single- Daseins. Was für ein Glück also, dass Felicitas neben mir sass und ich mich mit ihr beraten konnte. Schliesslich sagte ich zu; allerdings – aus rein strategischen Überlegungen versteht sich – nicht zu überschwänglich: „Warum nicht. Ruf mich doch morgen an, wenn Du wach bist, dann sehen wir weiter. Kiss.“
Felicitas und ich hatten nun also auch für den restlichen Abend noch genügend Gesprächstoff. Schliesslich galt es, mein zweites Date in aller Ruhe zu bequatschen. Auf den Clubbesuch verzichteten wir dann. Dafür waren wir viel zu sehr in unsere Gespräche und das Rätselraten um Carmelo vertieft. Oder besser, warum ein solches Paradeexemplar wie Carmelo noch auf dem freien Markt war.
Felicitas ist mittlerweile ein eingefleischter Single und hat in all den Jahren immer wieder nur die Nieten gezogen. Sprich die ausgemusterte Sorte, die niemand haben wollte. Und weil ich all diese Geschichten aus nächster Nähe mitverfolgt habe, hatte ich entsprechend grossen Respekt davor, mich auf dieses Single-Terrain zu begeben. Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb ich so lange versucht habe, die Beziehung zu meinem Ex zu retten. Wie Sie ja bereits wissen, blieben meine Versuche auf Dauer allerdings erfolglos. Sprich ich habe irgendwann eingesehen, dass meine Bemühungen nicht mehr fruchteten und meine Liebe nicht für zwei reichte. Also habe ich den Sprung gewagt. Denn letztlich bin ich der Überzeugung, dass es einfacher ist, alleine einsam zu sein, als die Einsamkeit zu zweit erdulden zu müssen. Die Lücke in der rechten Betthälfte hat dann ein kuscheliger Teddy ausgefüllt. Der übrigens viele Vorteile gegenüber dem Phänomen Mann hat: Er hört bedingungslos zu und gibt keine unliebsamen Antworten. Deshalb fühle ich mich von ihm auch nie unverstanden. Ihm ist immer nach Kuscheln und er beansprucht weder Platz im Kleiderschrank noch im Badezimmer!
Als ich so gegen halb drei nach Hause kam und todmüde ins Bett fiel, simste ich Carmelo noch eine gute Nacht. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: „Fühle Dich geküsst...“ Ich sog diese lieben Worte auf und schlief mit einem zarten Lächeln um die Lippen ein.

Für einen Sonntag erwachte ich ziemlich früh. Vermutlich weil ich mein neues Date kaum erwarten konnte und die Spannung mein Adrenalin bereits zur frühen Morgenstunde in die Höhe schiessen liess. Dennoch bemühte ich mich, den Tag gemütlich anzugehen. Also gönnte ich mir erst einmal – wie jeden Sonntag – eine Tasse köstlich duftenden Kaffee, schnappte mir ein Buch und machte es mir auf dem Sofa bequem. 'Start in den Tag' nenne ich dieses kleine Wochenendritual. Zu meiner zweiten Tasse des braunen Gebräus gönnte ich mir ein ausgiebiges Frühstück; um mich für den Tag und mein Date zu stärken.
Als ich nach dem Frühstück noch immer nichts von Carmelo gehört hatte, beschloss ich, mich schon mal meiner Morgentoilette zu unterziehen und mich für das Date bereit zu machen. Eigentlich kam mir das sogar sehr entgegen, dass ich hier keinen Zeitdruck hatte. Ich bin der Typ Mensch, der sich immer ausreichend Zeit für seine Körperpflege nimmt. Das ist mein allmorgendliches Ritual und ist mir wichtig. Deshalb lasse ich mich hier auch nicht gerne drängen. Warum also nicht schon mal vorarbeiten, damit ich dann das Date ganz entspannt angehen lassen konnte.
Eine Stunde später – mittlerweile hatte ich geduscht, mich von oben bis unten eingecremt, ein leichtes Tages-Make-up aufgelegt und meine Haare glatt geföhnt und frisiert – hatte ich noch immer nichts von Carmelo gehört. Hmm. Also beschloss ich, mir schon mal ein passendes Outfit auszusuchen. Nur, wie macht man das, wenn man das Ziel noch nicht kennt? Wohin würde unser zweites Date wohl führen? Eine Variante fiel rein wettertechnisch schon mal flach: Die Motorradtour, die Carmelo als begeisterter Motorradfahrer unbedingt mit mir machen wollte. Und da war ich gar nicht so unglücklich, denn ich bin nicht wirklich die Bikeliebhaberin. Eine Tour mit einem tollen Cabrio, warum nicht. Aber Motorrad? Die dicke Lederkluft und der Helm liegen mir nicht. Ist mir eh' schleierhaft, dass es bei schönem Wetter von diesen Motorradfahrern nur so wimmelt. Da scheint endlich die Sonne und diese Typen haben nichts Besseres vor, als sich in eine Kluft zu stürzen, die nicht den kleinsten Sonnenstrahl durchlässt. Wo also liegt der Clou der ganzen Sache? Aber da sich dieser Sonntag eher grau in grau zeigte und zeitweise sogar Regen einsetzte, stellte sich diese Frage nicht. Glück gehabt! Zumindest in dieser Hinsicht.
Damit hatte sich mein Problem aber noch nicht gelöst. Wofür sollte ich mich bereit machen? Kino vielleicht? Immer eine gute Idee bei schlechtem Wetter. Zumindest konnte ich ja mal einen Vorstoss in diese Richtung machen. Also entschied ich mich für ein lockeres Outfit in schwarz-weiss mit Jeans kombiniert. Das passt immer. Fertig gestylt und voller Elan machte ich es mir wieder auf dem Sofa bequem und nahm erneut mein Buch zur Hand, um die Zeit bis zum ersehnten Anruf zu überbrücken. Ich wartete. Und wartete. Und wartete. Mittlerweile war es bereits nach zwei Uhr und noch immer herrschte Funkstille. Grrrrr. Wie ich diese Warterei doch hasse.
So allmählich verlor ich die Geduld. Und ich kam mir oberdämlich vor. Jetzt sass ich da so völlig aufgestylt ganz alleine in meinem Wohnzimmer und starrte vor mich hin. Wozu eigentlich? Aber welche Frage mir noch viel dringender erschien: Wie lange gedachte dieser Mann eigentlich zu schlafen? Also überlegte ich mir, schon mal das Kinoprogramm zu studieren, um vorbereitet zu sein, wenn denn dann der Anruf endlich kam. Gesagt, getan. Doch auch nach dieser Beschäftigungstherapie war noch immer keine Spur von Carmelo. Mein Handy blieb stumm. Ob es vielleicht defekt war? Hmm, nein, Handy funktionierte. Alles paletti. Also wartete ich weiter; wie bestellt und nicht abgeholt. Mein Lächeln war mittlerweile genauso eingefroren wie meine Nerven.
Nach drei Uhr kam dann endlich eine SMS: „Bin gerade aufgestanden. War schon mal wach, habe gefrühstückt und bin dann aber wieder zu Bett gegangen. Wie sieht es bei Dir aus?“ Doofe Frage, dachte ich mir. Schliesslich hatte ich den halben Sonntag mit Warten zugebracht. Aber egal, jetzt schien es ja voran zu gehen. Also rief ich ihn an, um nicht noch weitere wertvolle Zeit zu vergeuden und schnell zu einer konkreten Verabredung zu kommen. Wir entschlossen uns für Kino, wollten in die Frühabendvorstellung gehen und zuvor noch irgendwo einen Kaffee trinken.
Eine Stunde später stand Carmelo vor meiner Tür, um mich abzuholen. Ich freute mich, ihn zu sehen und bemerkte, wie sich mein Pulsschlag wieder leicht steigerte. Aber irgendwie wirkte Carmelo leicht gestresst, trotz des halbverschlafenen Sonntags. Ich sah darüber hinweg und wir gingen los. Zuerst organisierten wir unsere Tickets für die Kinovorstellung und liessen uns dann in einer nahe gelegenen Bar nieder.
Da sassen wir also. Und jetzt? Mein Gegenüber schien an diesem Tag zur leichten Gereiztheit zu neigen und zeigte sich ziemlich wortkarg. Es kam einfach kein fliessendes Gespräch in Gange. Ich stellte Fragen über Fragen. Und bekam eine knappe Antwort nach der anderen. Aber von Gesprächsfluss keine Spur. So allmählich fühlte ich mich leicht gestresst und war ziemlich froh, als es Zeit war, aufzubrechen und unseren Kinoabend zu beginnen. Vielleicht brachte ja der Szenenwechsel Schwung in den Nachmittag.
Auf dem Weg zum Auto fing es sachte an zu nieseln. Ich bemerkte die Feuchtigkeit in der Luft, was mir gar nicht gefiel. Ganz im Gegenteil sogar. Echt super! Vielleicht muss ich dazu erklären, dass ich leider nicht mit vollem, kräftigem, fliessendem Haar gesegnet wurde, sondern eher mit dünnem, feinem und leicht lockigem Haar ausgestattet bin. Nur leider mag ich diese halben Locken nicht. Richtige Locken wären etwas anderes gewesen, aber so ein Zwischending? Was bedeutet, dass ich mein Haar Tag für Tag in einer mühseligen Tortour glatt strecke. Feuchtigkeit ist deshalb absolutes Gift für meine Frisur. Dann beginnen die gestreckten Haare sich in ihre Ursprungsform zurück zu verwandeln und leicht zu locken. Igitt. Aber ich versuchte cool zu bleiben, nicht daran zu denken und hoffte, dass die Frisur hält. Auch ohne Drei-Wetter-Taft. Denn der hält auch nur was er verspricht, wenn das Haar eine entsprechende Struktur aufweist. Und die hatte ich ja nicht.
Bis wir im Kino ankamen, schüttete es wie aus Eimern. Und die Luftfeuchtigkeit stieg bedenklich an. Leider auch in der Tiefgarage des Multiplexkinos. Immer schön relaxed bleiben, ermahnte ich mich selber. Da ich eben erst zur Toilette gegangen war, bevor wir die Bar verlassen hatten, konnte ich mich jetzt schlecht schon wieder von dannen machen, nur um meinen Haarsitz zu prüfen. Also setzte ich ein Lächeln auf – und hoffte.
Wir hatten Kino Deluxe gebucht und deshalb vor dem Film noch bei einem Glas Sekt Zeit für eine kleine Unterhaltung. Wir sassen in dem kleinen, aber gemütlichen Vorraum und wieder suchte ich nach einem Thema, um ein fliessendes Gespräch in Gang zu bringen. Carmelo schien e t w a s aufgewacht und beteiligte sich schliesslich sogar mit einer Frage an der Unterhaltung: „Was würdest Du eigentlich sagen, welches Deine Schwächen sind?“
Häää??? Ich glaubte erst, mich verhört zu haben und war total perplex. Da nahm er endlich aktiv am Gespräch teil und dann so was? Ist das die richtige Frage für ein zweites Date? Wollte ich jetzt wirklich Seelenstriptease begehen und meine Schwächen vor ihm ausbreiten? Bevor er überhaupt meine Stärken kannte? Nein, das wollte ich definitiv nicht.
„Wird das jetzt ein Interview oder was? Aber ich verstehe schon, da drücken wohl der Geschäftsmann und Dein Beruf etwas bei Dir durch“, gab ich deshalb konsterniert zur Antwort. „Das hat nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich führe ja selber keine Interviews. Ich bin Geschäftsführer einer Consulting Firma, die Interviews führen meine Mitarbeiter.“
Na toll. Und was jetzt? „Klar, sorry. Aber um ehrlich zu sein, weiss ich nicht so genau, wie oder was ich auf Deine Frage antworten soll. Meine Schwächen... Da gibt es sicher einige, wie ich auch Stärken habe. Aber ob ich jetzt so spezifisch darauf eingehen will?“, entgegnete ich ihm und versuchte mit meinen weiteren Ausführungen, die Frage einigermassen zu umschiffen. „Ich würde es mal so ausdrücken: Das Leben hat mich einiges geleert und mittlerweile weiss ich ziemlich genau, was ich will und was nicht. Deshalb habe ich sicher meine Ecken und Kanten, wie Du vermutlich auch. Es fällt mir aber schwer, mich selber zu beschreiben. Um eine genauere Antwort zu erhalten, müsstest Du vermutlich meine beste Freundin fragen, die mich in- und auswendig kennt. Ihr würde die Beschreibung meiner Person sicher besser gelingen als mir selber.“ „Dann erzähl' doch einfach, wie Dich Deine Freundin beschreiben würde“, forderte Carmelo die weitere Diskussion heraus. Er liess nicht locker und wollte also im Schnellverfahren möglichst viel über mich herausfinden. Das konnte ja heiter werden. Also versuchte ich, mich aus Felicitas’ Blickwinkel zu betrachten: „Gut, also, sie würde mich sicher als eine selbständige Frau beschreiben, die auf eigenen Beinen steht. Dann würde sie meine Kreativität hervorheben und meine perfektionistische Veranlagung erwähnen, was aber natürlich Vor- und Nachteile hat. Ich bin ein Mensch, der den Überblick bewahren muss und habe einfach gerne alles fest im Griff. Weiter würde sie mich sicher als gute Freundin beschreiben, die sie immer unterstützt und für sie da ist. Neben meinen Eigenschaften als Geschäftsfrau würde sie darum sicher auch meinen emotionalen, sensiblen Seiten hervor heben. Sie würde mich also als eigenständige Frau beschreiben, die privat auch ihre weichen Seiten auslebt. Vermutlich würde sie sogar sagen, dass ich zur Sorte der Romantikerinnen gehöre...“
„Romantikerin also, aha. Heisst das, Du wirst gerne umschwärmt?“ „Naja, welche Frau nicht?“ „Für Dich ist Romantik also wichtig?“ „Vielleicht bin ich in dieser Sache eine kleine Träumerin, aber Romantik gehört für mich ganz klar zur Liebe und zur Beziehung dazu.“
„Tja, da liegt wahrscheinlich einer der grössten Unterschiede zwischen Mann und Frau. Für Männer ist das alles nicht so wichtig. Wir sehen die Beziehung einfach anders und haben andere Prioritäten. Der Hauptunterschied ist aber sicher der, dass für Frauen die Voraussetzung zu Sex die Liebe ist und sich Männer mit dem Sex überhaupt erst verlieben.“
Baff. Ich sass da, wie vom Blitz getroffen. Was war das jetzt gerade eben? Reduzierte er gerade eine Beziehung zwischen Mann und Frau auf Sex? Mir war ja durchaus schon aufgefallen, dass sich Männer und Frauen so in einigen Dingen und Sichtweisen unterscheiden; auch in Bezug auf eine Beziehung. Ich bin zwar blond, aber das Blondierungsmittel hat meine Hirnzellen bisher nicht angegriffen. Aber was ich da jetzt gerade hörte... Ich konnte und wollte es nicht glauben – und wusste auch nichts darauf zu antworten. Ich war völlig aus dem Konzept geraten. Ich musste dieses Statement wohl erst einmal verarbeiten und verdauen. Deshalb war ich auch heilfroh, als uns die nette Kinoangestellte aufforderte, unsere Plätze im Kinosaal einzunehmen. Showtime!
Wir kuschelten uns – jeder für sich – in unsere Deluxe Sessel, richteten die Blicke geradeaus und konzentrierten uns auf die Leinwand. Von romantischer Kinoatmosphäre oder 'Munkeln im Dunkeln' also keine Spur. Mir sass vermutlich der Schock noch zu tief in den Knochen und Carmelo war wohl mein ziemlich fassungsloser Blick aufgefallen – und traute sich nicht, die Unterhaltung fortzusetzen. Die berühmte 'Gunst der Stunde' blieb also ungenutzt. Der Film war leider auch nicht das, was man sich unter guter Unterhaltung vorstellt. Er war weder spannend noch besonders witzig. Einfach nur plump. Toll. Dieses Treffen entwickelte sich ja echt zum absoluten Knüller-Date. Ich glaube irgendwann während des Films war Carmelo sogar eingeschlafen. Zumindest setzte er einmal mit einem Lacher aus. Da es dafür in diesem Streifen nicht allzu viele Möglichkeiten gab, fiel ein Lacher weniger schon ins Gewicht; und auf. Musste ich mir Gedanken machen?
Nach der Vorstellung verliessen wir ziemlich stumm den Kinosaal. Carmelo’s Augen waren leicht gerötet. Und glauben Sie mir, das lag nicht daran, dass der Film besonders traurig gewesen wäre! So richtig Gesprächsstoff schien uns der Streifen dann auch nicht zu liefern, also ging Carmelo gleich zur weiteren Abendplanung über. „Sollen wir noch zum Essen gehen?“ „Naja, so richtig hungrig bin ich nicht wirklich.“
„Aber eine Pizza oder so wäre schon nicht schlecht, oder?“ „Okay, warum nicht... Aber ich muss noch schnell mal austreten, bevor wir gehen“, sagte ich und machte mich auf zur Toilette. Vielleicht hätte ich das lieber bleiben lassen sollen, denn der Anblick, der sich mir dort erbot, jagte mir einen Schrecken durch Mark und Bein. Ich stand vor einer riesigen Spiegelwand, die mir ein unbarmherziges Bild davon ablieferte, was die Feuchtigkeit mit meinen Haaren angestellt hatte. Ein halb gelocktes Etwas mit Haarspray-verklebten Strähnen hing mir vom Kopf runter; weder als mein Gesicht umschmeichelnd noch als wild- natürlicher Look zu beschreiben. Als Frisur konnte das zumindest nicht mehr bezeichnet werden! Oh Schreck. Wie peinlich. Ich konnte von Glück reden, dass es im Kinosaal so dunkel war. Schnell versuchte ich zu retten, was noch zu retten war. Obschon das Resultat auch nicht wirklich überzeugte. Hätte ich doch mal besser meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Aber da half jetzt alles Jammern nicht und schlimmer konnte dieses Date schliesslich nicht mehr werden. Oder doch? Ich ging zu Carmelo zurück, der mich gleich mit einer kleinen Planänderung empfing: „Ich glaube, wir lassen das Essen sausen und ich fahre doch gleich nach Hause. Ich bin total müde und muss einfach nur noch schlafen.“ Na super. Was war das denn jetzt? Das ist mir echt noch nie passiert. „Hmm, wirkt meine Gesellschaft so ermüdend auf Dich?“, versuchte ich die Situation mit einem kleinen Augenzwinkern aufzulockern. Oder wollte ich mich nur beruhigen? Die Antwort kam prompt, das Augenzwinkern schien er nicht bemerkt zu haben: „Was willst Du jetzt hören?“ Mmpf. Ääh. Hää??? Jetzt war ich auch soweit: Ich wollte einfach nur noch nach Hause. Wo war dieser charmante Mann vom Freitag abgeblieben? Was war passiert? Das war doch gerade mal z w e i Tage her. Ich wollte dieses unbeschreiblich erfrischende Exemplar von einem Mann zurück, das mich am Freitag noch hofierte! Um acht Uhr abends lieferte mich Carmelo also wieder vor meiner Haustüre ab. Es regnete in Strömen und ich dachte bei mir, wie Innen so Aussen. Ob jetzt wohl der Moment des Abschieds die Situation noch rettete? Leider nein. Ziemlich unbeholfen sassen wir beide da, bis ich mich zum Gehen aufraffte und dem Dilemma ein Ende setzte. Wieder entschloss ich mich für die klassische Dreier- Bussi-Verabschiedung. Carmelo meinte noch, dass wir unser Treffen doch bald mal wiederholen sollten. Und ich hoffte inständig, dass er dies nicht allzu wörtlich meinte. Denn so ganz nach meinem Geschmack war der Nachmittag nun wirklich nicht verlaufen. Aber vielleicht sollten wir uns einfach eine dritte Chance geben. Also stimmte ich zu und begab mich schliesslich in den Schutz meiner vier Wände. Mit drei grossen Fragezeichen auf die Stirn geschrieben stand ich nun also in meinem Wohnzimmer und fragte mich, was da gerade passiert war. Ich liess den Nachmittag Revue passieren und überlegte, was genau schief gelaufen war. Aber so richtig zuordnen konnte ich das Ganze nicht. Ich hatte nun zwei Dates mit ein- und demselben Mann, und es kam mir vor, als hätte ich zwei komplett unterschiedliche Männer kennen gelernt. Hätte ich es nicht selber erlebt, hätte ich nicht geglaubt, dass so was überhaupt möglich ist. Aber es liess sich nicht abstreiten. Es sei denn, Carmelo hatte heute einen Zwillingsbruder zum Date geschickt. Doch diese Lösung wäre wohl zu einfach gewesen.
Es ist ja schon unter normalen Umständen schwierig oder beinahe unmöglich, einen Mann wirklich zu kennen – und ihn zu verstehen. Da sind Männer und Frauen einfach zu unterschiedlich gewickelt. Ich habe mal gehört, dass bei Frauen die Gehirnwindungen rechtsherum drehen und bei Männern linksherum. Oder war es umgekehrt? Auch egal. Fest steht aber, die Natur hat nicht gewollt, dass wir die gleiche Sprache sprechen. Und wenn dann Frau jetzt gleich noch mit einem Exemplar wie Carmelo konfrontiert wird... Da half wohl auch der beste Ratgeber nicht weiter. Ich fühlte mich leicht überfordert mit der Situation. Die ganze Sache verunsicherte mich – und das gefiel mir nicht! Ich wollte mich gut fühlen und nicht verwirrt.
Leider konnte auch Felicitas kein Licht ins Dunkel bringen. Sie war ebenso darüber verwirrt und empfing mich mit den Worten: „Was um alles in der Welt machst Du denn schon zu Hause?“, als ich kurz nach acht Uhr bei ihr anrief. „Was ist passiert?“, fragte sie leicht besorgt nach.
„Keine Ahnung. Irgendwie ist alles schief gelaufen. Das war wohl heute nicht wirklich mein Tag – und schon gar nicht mein Date...“ Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte und schilderte meinen Nachmittag. Ich konnte sie beinahe durch den Hörer ungläubig den Kopf schütteln sehen, als ich ihr die Story erzählte. Sie konnte meine Fragen ebenso wenig beantworten. Über Eines aber waren wir uns einig: Ich durfte mich davon nicht aus dem Konzept bringen lassen und keinesfalls den Fehler bei mir suchen!
Das klang zwar super toll, war aber in Anbetracht der Tatsachen gar nicht so leicht umzusetzen. Wie es schien, hing ich schon tiefer in dieser Geschichte drin, als mir lieb und wirklich bewusst war. Das, mit dem gemütlichen Abend, war dann auch gelaufen, denn mein Hirn ratterte auf Hochtouren. Und dass das Telefon den weiteren Verlauf des Abends stumm blieb und ich ohne auch nur den geringsten Gutenachtgruss von Carmelo zu Bett musste, half mir auch nicht gerade weiter. Was war nur zwischen Samstagnacht und Sonntagnachmittag passiert? Das konnte doch einfach alles nicht wahr sein. Es musste eine Erklärung dafür geben. Des Rätsels Lösung liess mir keine Ruhe. Ob sich vielleicht ein Meteor in die Erdumlaufbahn geschlichen, negative Strahlen zur Erde gesandt und alle Männer und unmögliche Machos verwandelt hatte? Ich spürte den tiefen Drang in mir und m u s s t e einfach die Lösung finden. Und wenn es nur war, um den Weltfrieden zu retten. Auf der Suche nach Antworten schlief ich in dieser Nacht ein.

Als ich am Montag erwachte, waren meine Fragen natürlich noch nicht beantwortet. Ich wartete vergeblich auf eine kleine, schlaue Fee, die mich in die Untergründe des männlichen Hirns einführte und Licht ins Dunkel brachte. Also hielt ich mich an ein anderes Motto: 'Neuer Tag, neues Glück', und schickte Carmelo nach meinen morgendlichen Ritualen eine SMS mit der Botschaft: „Hoffe, Du hast gut geschlafen und wünsche Dir einen wunderschönen und erfolgreichen Tag. Kuss.“
Dann wandte ich mich meiner Arbeit zu und versuchte, die gestrigen Gedanken zu vertreiben und die Energie stattdessen in meine Kreativität zu lenken. Irgendwann im Laufe des Vormittags kam die Antwort: „Wünsche Dir auch eine schöne Woche, LG.“
Ich las die paar Worte ein paar Mal; immer und immer wieder. Wie war das denn jetzt zu verstehen; a u c h eine schöne W o c h e ? Mannomann. Hiess das denn jetzt, dass er sich die ganze Woche nicht melden würde und auch keinen Kontakt wünschte? Vielleicht machte ich mir da auch schon wieder viel zu viele Gedanken. Aber so ist das nun mal, wenn man in der Kommunikationsbranche tätig ist. Ich gestehe, dass ich dazu neige, jedes Wort in die Waagschale zu legen und zu analysieren. Schliesslich achte ich ja bei mir selber auch aufs peinlichste genau auf meine Wortwahl; meistens zumindest.
Nach einer kurzen Beratung mit Felicitas beschloss ich, mich also vorerst zurück zu ziehen und auf seine nächste Kontaktaufnahme zu warten. Nicht hinter her rennen, sondern sich rar und somit interessant machen, hiess die Devise. Schon wieder warten! Immer nur warten. So allmählich machte mich dieser Mann ganz schön knirre. Bislang dachte ich, dass ich aus dem Alter für diese Spielchen längst raus wäre. So kann man sich täuschen.
Als ich bis Mittwochabend nichts weiter von Carmelo gehört hatte, wurde mir das allmählich zu blöd und ich entschied mich, die Regeln zu brechen, meinem Impuls nachzugeben und ihm eine neue SMS zu senden: „Ich hoffe, Du hattest einen erfolgreichen Tag und wünsche Dir einen schönen, erholsamen Abend. Kiss.“
So. Das war nichts Verfängliches, nichts Aufdringliches, sondern einfach nur ein kleiner, freundlicher Gruss. Auch wenn der gute Mann viel beschäftigt zu sein schien, musste es doch möglich sein, dass er sich dann und wann meldete. Schliesslich wollte er ja den Kontakt aufrecht erhalten und unser letztes Date 'bald wiederholen'. Das waren zumindest seine Worte. Und ein paar Minuten pro Tag sollte doch jeder Zeit finden. So wichtig kann niemand sein, dass er keine freie Minute hat. Tatsächlich bekam ich sogar eine Reaktion: „Bin auf dem Heimweg und lege mich gleich ins Bett. Kuss.“
Ähm, vielleicht sollte ich dazu erwähnen, dass mich diese Nachricht kurz nach acht Uhr abends erreichte... Wie kann es sein, dass ein einzelner Mensch so viel schläft? Aber das sollte ja nicht mein Problem sein, deshalb wünschte ich ihm eine gute Nacht und liess es gut sein.
Die nächste Nachricht von Carmelo erreichte mich am Donnerstagabend, wieder eine SMS: „Habe riesige Kopfschmerzen, fahre jetzt nach Hause und lege mich gleich hin.“ Okay, wenigstens ein Lebenszeichen, dachte ich bei mir. Und sogar ein Lebenszeichen mit Inhalt zu seinem Wohlbefinden. Ob das eine Aufforderung zur Kommunikation war? Ich suchte nach einer spritzigen Antwort: „Oje, eine Massage würde da jetzt sicher Abhilfe schaffen...“ „Sag' so was nicht ein zweites Mal... ich habe nicht weit zu Dir...“
Oops, das war wohl ein Treffer ins Schwarze. Da hatte ich jemanden aus dem Busch gelockt. Nur, was mache ich jetzt? W o l l t e ich denn, dass wir uns treffen? So spontan? Bei mir zu Hause? Ich hatte mich selber auf Glatteis geführt. Super gemacht. Und das Eis war brüchig. Denn beim Gedanken daran, wie sehr man bei einer Massage auf Tuchfühlung geht, wurde mir ganz übel. Das ging mir dann doch ein klein wenig zu schnell. Ich wollte ja nur flirten. Aber nach unserem letzten Gespräch durfte ich davon ausgehen, dass Carmelo eine etwas andere Vorstellung und Erwartungshaltung hatte. Wie kam ich denn jetzt nur aus dieser Nummer wieder raus? Nach reiflicher Überlegung schrieb ich darum zurück: „Hmm, irgendwann wirst Du sicher in den Genuss einer meiner Massagen kommen... Trotzdem gute Besserung. Kisses.“
„OK, gute Nacht und Kuss“, war seine Antwort. Uff. Kurve gerade nochmals gekriegt. Da hatte ich ja mal wieder echtes Schwein gehabt. Warum musste ich mich auch immer selber in solche komplizierten Lagen bringen? Irgendwie hatte ich ein Händchen dafür, zumindest in Zusammenhang mit Carmelo. Dabei bin ich ansonsten ein sehr bedachter Mensch. Ich analysiere gut und denke an die Konsequenzen, bevor ich einen Schritt unternehme. Ich überlege gut, bevor ich auf knifflige Fragen antworte. Plötzlich schien das alles wie weggepustet. Vielleicht lag es an meiner Gesamtverfassung, die ich als leicht zerstreut bezeichnen würde, seit ich Carmelo kannte. Er bewegte mich. Er beschäftigte mich. Er liess mir keine Ruhe. Und seine diversen Aussagen und zwei Gesichter verwirrten mich, ja brachten mich ins Grübeln. Über Männer im Allgemeinen und Carmelo ganz im Besonderen. Vielleicht warf es mich deshalb so aus der Bahn, weil ich keine Antworten auf all meine Fragen wusste. Und weil ich noch nicht einmal meine eigenen Gefühle richtig zuordnen konnte. Liebe war es nicht, da war ich mir ganz sicher. Nach so kurzer Zeit konnte ja von Liebe noch nicht die Rede sein. Aber in meinen Gedanken war er pendent, und seine Gegenwart machte mich nervös. Carmelo schien mich in seinen Bann gezogen zu haben.
Das Telefon blieb bis zum Wochenende stumm. Und dass wir uns am Wochenende sehen würden, war weniger wahrscheinlich. Carmelo teilte mir ja an unserem zweiten Date mit, dass er dieses Wochenende mit seiner kleinen Tochter verbringen würde. Mein Erstaunen war nicht geringer als meine Freude darüber, dass er immer wieder Zeit fand, mir eine Botschaft zu senden. Plötzlich schien er meine Nummer wieder gefunden zu haben und sich an mich zu erinnern. Am Sonntag war er dann sogar besonders kommunikativ; vorerst zumindest per SMS: „Bin im Tessin und es regnet. Was machst Du? Wie ist das Wetter bei Euch? Kisses.“
„Bin bei meinen Eltern. Und bei uns scheint die Sonne. Kuss.“ „Oje, dann war das mit dem Tessin wohl keine gute Idee.“ „Tja, wärst Du mal lieber in meiner Nähe geblieben...“ „Ich rufe Dich später an, wenn ich auf der Rückfahrt bin.“ Da war ich doch jetzt echt platt. Er wollte sogar anrufen. Das hatte ja zu bedeuten, dass wir eine noch intensivere Kommunikation führen würden. Wie intensiv, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Es schien alles wieder wie bei unserem ersten Date zuvor. Er war kommunikativ, und ergriff sogar die Initiative. Das gab mir zwar weitere Rätsel auf, aber ich freute mich darüber. Und tatsächlich liess auch sein Anruf nicht lange auf sich warten. Wir unterhielten uns sicherlich 10 Minuten lang und berichteten gegenseitig von unserem Wochenende. Dann meinte er sogar, dass er sich später n o c h m a l s melden würde. Das tat Carmelo dann auch, kurz vor neun Uhr. „Gibt es bei Dir noch einen Schlummertrunk? Ich könnte so in 5 Minuten bei Dir sein“, fragte er ziemlich direkt. Oje, schon wieder. Er schien wirklich ein äusserst spontaner Mensch zu sein. Fast zu spontan für meinen Geschmack. Das konnte doch nicht sein, dass ich immer auf ein Fingerschnippen Gewehr-bei-Fuss stehen sollte. Ein Bisschen mehr Planung wäre ja auch nicht übel. Oder wollte er mich testen? Eigentlich war mir nicht nach einem so spontanen Besuch. Denn ich hatte es mir bereits gemütlich gemacht, um das Wochenende in Ruhe ausklingen zu lassen. Aber mir brannten einige Fragen auf der Zunge. Ich wollte unbedingt die Chance Nutzen und ein paar Dinge mit Carmelo klären. Ein persönliches Gespräch war die beste Voraussetzung dazu. Deshalb liess ich mich darauf ein. Ein paar Minuten später klingelte meine Hausglocke und ein atemloser Carmelo stand vor der Tür, als ich öffnete. Die zwei Stockwerke schienen ihm ganz schön zugelegt zu haben. Aber ich freute mich, ihn zu sehen. Sehr sogar. Ich bot ihm etwas Kühles zu trinken an und wir machten es uns auf meiner Couch gemütlich. Nach ein paar bedeutungslosen Floskeln liess ich die Katze aus dem Sack und steuerte direkt auf mein Ziel zu: „Sag' mal, kann es sein, dass Du launisch bist?“ „Launisch? Ich? Warum?“ „Naja, mir ist aufgefallen, dass wir letztes Wochenende sehr viel kommuniziert haben und dann warst Du plötzlich ganz wortkarg und hast Dich kaum gemeldet“, antwortete ich ganz direkt. „Nein, launisch bin ich nicht. Aber ich bin nicht Multitasking-fähig wie die Frauen. Und ich hatte immer das Gefühl, ich müsste sofort auf Deine Nachrichten reagieren. Das hat mich ganz schön unter Druck gesetzt. Ich kann mich nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren. Wenn ich bei der Arbeit bin, dann arbeite ich.“ Aha, das war es also. Er fühlte sich einfach überfordert. Das Vergnügen findet nur am Wochenende statt. Toll. Ob ich mir das so vorgestellt hatte? Eher nicht. Da steht also mal wieder ein Typ Mann, der von sich behauptet, eine eigenständige und emanzipierte Frau zu suchen, die Bedienungsanleitung dazu aber noch nicht gelesen hat. Ich lasse mich doch nicht die Woche über in eine Ecke stellen und melde mich erst am Wochenende wieder, wenn es dann mein Herr und Gebieter mir erlaubt! In welchem Jahrhundert leben wir denn? Eine eigenständige Frau an seiner Seite zu haben, bedeutet eben auch, dass diese Frau eine eigene Meinung hat und Ansprüche stellt. Also führte ich die Diskussion hier gleich weiter: „Hmm, wir wissen ja zwar beide noch nicht, wohin unsere Bekanntschaft führen wird, aber ich weiss ansonsten ziemlich genau, was ich will und was nicht.“
„Und das wäre?“ „Naja, wenn ich mich wieder auf eine Beziehung einlasse, möchte ich schon spüren, dass ich meinem Partner wichtig bin. In der Prioritätenliste auf Position xy zu stehen, ist nicht mein Ding. Ich möchte einen Rang ganz weit oben besetzen. Und das sollte mir mein zukünftiger Partner auch so vermitteln können.“ „Da forderst Du ja ganz schön viel. Bist Du denn auch bereit, so viel zurück zu geben?“ „Aber natürlich, für mich ist eine gute, ausgeglichene Partnerschaft wichtig. Und ich gebe gerne.“ „Bleiben wir doch gleich bei diesem Thema. Was ist Dir sonst noch wichtig an einer Partnerschaft?“ „Gegenseitiger Respekt ist mir sehr wichtig. Und Vertrauen. Ich möchte mich auf meinen Partner verlassen können, werde aber im Gegenzug auch sein Fels in der Brandung sein. Ich bin zwar als Geschäftsfrau eine sehr selbständige Person, aber manchmal wünsche ich mir doch die Starke Schulter zum Anlehnen. Und Treue ist mir wichtig.“ „Und wie steht es mit Sex? Für mich ist das der absolut wichtigste Punkt in einer Beziehung“, warf Carmelo plötzlich ein. Ich war ziemlich perplex über die Wucht dieses Geständnisses und kam ganz schön ins Rotieren. Nervös wechselte ich meine Sitzposition und schuf damit etwas mehr Distanz zwischen uns. Es war, als müsste ich einen Schritt zurück gehen, um diese Aussage mit etwas Abstand zu betrachten. Kann gut sein, dass sich auch meine Gesichtsfarbe leicht veränderte. Weil ich nicht gleich antwortete, fragte Carmelo: „Kann es sein, dass Du etwas verklemmt bist? Du wirkst gerade ein wenig so...“ „Ähm, nein, keineswegs. Ich sehe das nur etwas anders. Für mich gehört Sex dazu, aber es ist nicht der wichtigste Bestandteil einer Beziehung. Ich bin der Meinung, wenn die Liebe, der Respekt und das Vertrauen stimmen, dann wird es auch im Bett stimmig“, antwortete ich immer noch leicht konsterniert. „Und was machst Du, wenn es mal nicht mehr so stimmig und der erste Reiz verflogen ist? Ich bin da sehr direkt und spreche so was offen an.“ „Du stellst Fragen! Das ist jetzt schwierig, einfach so eine Antwort aus dem Handgelenk zu schütteln. Es kommt ja auch auf die Situation und den Partner an. Aber ich würde sagen, dass mir da noch immer etwas eingefallen ist, um wieder Leben und Schwung in die Beziehung und damit letztlich auch ins Sexleben zu bringen.“ Ich glaube, so richtig zufrieden war Carmelo mit meiner Antwort nicht. Und mir gefiel das Thema unseres Gespräches nicht wirklich. Der Junge machte mir echt Spass. Eben erklärte er mir noch, er fühle sich von meinen Nachrichten unter Druck gesetzt. Von einer SMS! Aber selber teilte er ganz schön aus und hatte ziemlich hohe Erwartungen. Wie soll da eine Frau locker und entspannt sein, wenn sie genau weiss, dass der erste Sex mit der Feuerprobe gleichzusetzen ist? Das kann ja nur schiefgehen. Mit Spass hat das jedenfalls nichts mehr zu tun. Diese Unterhaltung war so anstrengend, dass es mir schon beinahe die Sprache verschlug. Ich wusste nicht, wie ich noch eine angenehme Wendung in diese ziemlich verkorkste Unterhaltung bringen konnte. Da war guter Rat wirklich teuer. Doch ich sass alleine da, mit Carmelo an meiner Seite, und konnte jetzt ja schlecht sagen, dass ich mal eben bei meiner Freundin anrufen muss, um sie um Rat zu fragen, wie ich eine Kehrtwendung in den Abend bringen könnte. Also vergingen einige stumme Momente. Carmelo löste die Spannung und fragte nach, ob er sich auf meinem Balkon eine Rauchpause genehmigen dürfte. In meiner Wohnung herrscht nämlich absolutes Rauchverbot, obschon ich selber Raucherin bin. Aber ich finde es einfach unangenehm, wenn die ganze Wohnung eingeräuchert wird. Deshalb gilt bei mir, wer rauchen will, muss raus, bei Wind und Wetter. Ich war heilfroh über diese Pause und dass ich selber nach einer Zigarette greifen konnte. Die hatte ich nach dieser Unterhaltung bitter nötig.
Ein Gespräch kam nicht mehr in Gang. Und so endete der Abend; eines natürlichen Todes quasi. Wie in Trance sass ich dann alleine wieder auf meiner Couch und musste mich erst einmal von diesem Spontanbesuch und dessen Verlauf erholen. Dieser Mann trieb mich echt in den Wahnsinn. Er verwirrte mich. Einerseits machte mich seine Gegenwart nervös und kribbelig, auf der anderen Seite wusste ich tief in meinem Innern, dass dies nicht der Mann meiner Träume war. Dass er es nicht sein k o n n t e . Dafür unterschieden wir uns in unserer Denkweise zu stark, auch wenn alles so gut begonnen hatte und wir viele gemeinsame Interessen entdeckt hatten. Ich wurde einfach nicht schlau aus diesem Typen. Wollte er jetzt eine ernsthafte Beziehung mit einer intelligenten Frau oder einfach einen Zeitvertreib für die Stunden, in denen er sich nicht seiner Arbeit zuwandte? Das schien die Fragen aller Fragen zu sein, über deren Antwort sich wohl Carmelo selber noch nicht bewusst war. Anders konnte ich mir sein Verhalten nicht vorstellen. Denn das entsprach keineswegs seinen ausgesprochenen Wünschen. Wie war das nochmals mit dem 'ich bin dieser blonden Dinger überdrüssig, die es nur auf mein Geld abgesehen haben'? Aus meiner Sicht schien das genau seine Kragenweite zu sein. Aber was machte ich mir Gedanken, die sich Carmelo machen sollte? Ich musste mich erst einmal erholen und entschied, zu Bett zu gehen und das Thema ruhen zu lassen.

In der folgenden Woche wiederholte sich das Spiel. Carmelo liess wenig bis gar nichts von sich hören und schien sich wieder vollends auf seine Arbeit zu konzentrieren. Oder war es unser Gespräch, das ihn verstummen liess? Jedenfalls nutzte ich die Zeit, um mir selber Gedanken zu machen, wohin diese Bekanntschaft führen sollte. Einmal mehr stand ich also vor der Frage, was ich vom Leben – und einer Beziehung – erwartete und wohin ich wollte. Eine Frage, die gar nicht so
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einfach zu beantworten war. Und ich war mir meiner Gefühle noch immer nicht ganz sicher. Aber eines spürte ich deutlich: Dieser Mann kostete mich viel zu viel Energie. Energie, die ich eigentlich anderswo einsetzen wollte; und musste. Schliesslich war ich Geschäftsfrau und musste selber für mein Einkommen sorgen. Meine Kreativität litt bereits, da ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Viel zu sehr absorbierten mich die Verwirrung und das Rätselraten um Carmelo. Ich musste also dringend eine Lösung finden und mich von diesen wirren Gedanken befreien.
Ich diskutierte das Geschehene ausgiebig mit Felicitas. Und mit meiner Therapeutin. Ich drehte alles von Hinten nach Vorne; versuchte, Carmelo und sein Verhalten zu charakterisieren und so mehr über seinen Typ heraus zu finden. Das war gar nicht so einfach, schliesslich kannten wir uns ja gerade mal knapp 3 Wochen. Aber eines schien mir bald klar: Carmelo war nicht der Typ Mann, der sich binden liess. Er musste alles so unverbindlich wie möglich halten. Das zeigten mir sowohl seine Spontanbesuche als auch seine Vorstellungen einer Beziehung. Unsere Treffen waren nie von langer Hand geplant, sondern entstanden immer sehr spontan. Etwas zu spontan für meinen Geschmack. Ich fragte mich, wie sich dieses Verhalten auf eine Beziehung auswirken würde und kam zu dem Schluss, dass Carmelo der Typ Mann war, der beim kleinsten Problem weit wegrennt und wieder auf der Bildfläche erscheint, wenn das Problem gelöst ist. Zumindest war ich mir sicher, dass er nie da sein würde, wenn ich Unterstützung brauchte, wenn ich diese starke Schulter zum anlehnen brauchte. Und genau das wollte ich doch. Eine Beziehung, die Stabilität ins Leben bringt. Genügend Stabilität, um auch flexibel und spontan zu sein. Aber so? Ich kam zu dem Schluss, dass Carmelo zu anstrengend für mich war. Auch wenn er ganz schön Schwung in mein Leben brachte, so würde ich das in dieser Intensität auf Dauer nicht durchhalten können. Ich wollte mich aus dieser Sache wieder rausnehmen, bevor mein Herz zu tief drin hing. Ich musste mich um meinetwillen schützen. Diese Geschichte konnte nicht gut gehen. Deshalb beschloss ich, den Kontakt zu ihm abflauen zu lassen und mich wieder auf andere Dinge zu konzentrieren. Wie ich das anstellen wollte? Ganz einfach: Ich entschied, mich nicht mehr bei ihm zu melden.
Er hat es nicht wirklich bemerkt...

Sicherlich fragen Sie sich jetzt, ob ich die Sache je bereut habe und ob ich mich wieder auf ein Blind Date einlassen würde. Nun, ich bin noch immer Single. Und diese Geschichte hat ganz bestimmt Schwung in mein Leben gebracht. Sicherlich werde ich mich darum irgendwann mal wieder auf eine verrückte Idee wie diese einlassen. Denn ich wünsche mir einen Partner, mit dem ich schöne Momente teilen, Erfahrungen austauschen und Hürden überwinden kann. Und diesen Mann finde ich schliesslich nicht in meinem Wohnzimmer. Und dennoch war dieses Blind Date eine Erfahrung der besonderen Art und ganz schön anstrengend für jemanden wie mich, der gerne alles fest im Griff hat und sich nicht gerne auf etwas einlässt, das er nicht genaustens abschätzen kann. Aber vielleicht ist genau das der Sinn des Lebens; neue Erfahrungen zu machen und sich auf das Leben einzulassen. Ein kluger Mann sagte einmal: „Life is like a box of chocolate; you never know what you get.“ Und wie eine Praline aus dunkler Schokolade schien auch mein Blind Date verlaufen zu sein; auf den ersten Blick verlockend und verführerisch, beim ersten Biss cremig-süss und stimulierend und im Nachgeschmack leicht bitter.
Wie gut für meinen gesunden Teint und meine Haarfarbe, dass ich nicht – wie manch' andere Frau – süchtig nach Schokolade bin...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.03.2010

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