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Ein gewöhnlicher Novembertag

Meine Geschichte beginnt an einem gewöhnlichen Novembertag. An einem fast gewöhnlichen Novembertag.
Mein bester Freund und ich saßen uns gegenüber in der Cafeteria unserer Schule und versuchten das Zeug herunter zu würgen, was sie hier Essen nannten. An diesem Tag gab es Kartoffelbrei mit Würstchen und Gurkensalat. Doch in dem Kartoffelbrei waren noch Pulverstücken und der Salat sah aus, als ob er schon eine Weile in dem Bottig an der Essensausgabe lag. Ich schob nach ein paar Bissen den Teller weg und holte meinen Physikhefter heraus. Wenn ich mir eine Hölle vorstellte, dann würde man dort in einem stickigen Klassenzimmer sitzen, eine große hölzerne Uhr hängt an der Wand und würde auf Ewigkeiten lautstark ticken. Und es würde Physik unterrichtet werden.

Als ich mir gerade etwas über Schalldämpfung durch las, räusperte mein bester Freund sich, und ich blickte ihn an. ,,Was?“, fragte ich. ,,Dreh dich um.“, sagte er und nickte mit den Kopf in Richtung Essensausgabe. Dort stand Derek. Mit ihm war ich vor 2 Jahren eine Weile zusammen gewesen. ,,Und?“, fragte ich erneut nach und sah Charlie, meinen besten Freund, verdutzt an. ,,Schau doch noch mal hin.“, drängte er und in seinen Augen spiegelte sich der Schelm. Ich drehte mich also noch einmal um, während ich mir dessen Auffälligkeit sehr wohl bewusst war, und da fiel mir auf, dass ein Mädchen aus meiner Parallelklasse – Anna- da gerade ihre Hand in der Arschtasche meines Exs hatte. Komischerweise machte mir das überhaupt nichts aus. Ich zuckte also bloß mit den Schultern und drehte mich wieder zu Charlie um. ,,Dachte das interessiert dich vielleicht.“, sagte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern. ,,Nicht wirklich, aber danke für die Info.“, antwortete ich. Derek war einer dieser Menschen, die nur um anzugeben fast jeden Monat eine neue „Freundin“ hatten. Er wollte cool dadurch sein, öfters eine Neue im Bett zu haben. Und das war er auch. Aber wehe man hat als Frau dann mal ein paar mehr Liebschaften – ja, genau, man wird sofort abgestempelt. Und irgendwie tat mir Anna dann doch leid. Wie konnte man auf so jemanden herein fallen? Man könnte nicht mal sowas sagen wie:,,Ach naja wenn sie sich lieben...“, denn da gab es ein Problem: Derek verspürt so etwas wie Liebe nicht. Wir waren zwar seit zwei Jahren getrennt, doch ich hörte ihn mit seinen Kumpels reden, wie er einen Scheiß auf seine ,,Freundinnen“ gab, weil er fast jede betrügt. Und soetwas kann weder Gefühle, noch ein Herz, noch irgendetwas in der Richtung besitzen. Er war wie eine leere Hülle, die er nur mit Sex füllen konnte. Diese Welt ist sexistisch und unfair, doch zurück zur Cafeteria.
Wir unterhielten uns noch etwas über Physik und als es dann klingelte machten wir uns auf zu den Schließfächern.
,,Weißt du was? Physik sollte man umbenennen in „Folter“ oder so.“, witzelte Charlie und legte seinen Arm um meinen Hals. Ich legte meinen Arm um seine Hüfte und so schlenderten wir den Flur entlang. ,,Ja.“, murmelte ich, während ich meinen Schließfachschlüssel aus meinem Rucksack kramte. ,,Kommt ganz schön spät die Antwort.“, sagte Charlie und lachte. ,,Ja, keine Ahnung, ich musste auf die verdutzten Blicke der Leute achten, als wir gerade so den Flur entlang liefen.“, erklärte ich, holte meine Physikbuch aus meinem Fach und schloss schnell wieder zu, sodass ich die anderen an ihre Fächer lassen konnte. ,,Es ist immer noch lustig zu sehen, wie die Leute denken, dass wir zusammen wären.“, fing er an, ,,Ich meine du bist zwar sehr hübsch, aber überhaupt nicht mein Typ. Ich stehe er so auf heiße, langhaarige Blondinen.“ Sofort mussten wir beide lachen. ,,Ja klar.“, sagte ich und grinste vor mich hin. Er hatte Recht, ich war das Gegenteil von einer heißen, langhaarigen Blondine. Ich hatte kurze, kühle dunkelbraune Haare und einen ganz normalen Körper. Ich fand mich nicht hässlich, aber ich war eben eher durchschnittlich. Ich schminkte mich jeden Tag - und zwar, wie soll ich sagen, nicht immer ganz natürlich. Charlie zum Beispiel liebte es, wenn meine Augen etwas dunkler geschminkt waren. Er sagte, dass es meine Augen strahlen ließ und ich nicht wie die ganzen anderen Mädchen hier aussah. Genauso wie meine Augen waren auch meine Lippen immer etwas dunkler geschminkt, weswegen ich auch einen Lippenstiftverschleiß hatte wie ein Kettenraucher Zigarettenschachteln. Und außerdem war ich eher klein, was Charlie aber „irgendwie süß und passend“ fand. Aber nein, wir waren nicht ineinander verliebt. Wir hätten zwar wahrscheinlich ein gutes Paar abgegeben, aber leider war er nicht mein Typ, und ich nicht seiner, wie er schon erwähnte.

Charlie hatte trotzdem irgendetwas an sich. Ich weiß nicht was, aber wenn man ihn so ansah, dann würde man seinen Charakter immer falsch einschätzen. Man sieht ihn an, und denkt, dass er schüchtern wäre, in seinen Pullis und Hemden. Man sieht seine dunkelbraunen, kurzen Haare, die meist nur runtergekämmt sind. Man sieht, dass er an die 1,80 Meter groß ist, doch würde nicht auf die Idee kommen, dass bei diesen 1,80 Metern auch etwas dahinter steckt. Charlie geht nämlich jede Woche mindestens vier Mal trainieren, und wenn man ihn in Sport sieht, dann weiß man das auch. Man würde nicht auf die Idee kommen, dass er am laufenden Band Witze reißt und darauf scheißt was die anderen über ihn denken. Und, dass er verdammt intelligent ist. Und so ist er eben, mein bester Freund. Und ich liebe ihn so, wie er ist.
Als wir im Phsyikraum angekommen waren, setzten wir uns auf unsere Plätze und packten unsere Sachen aus. Herr Meinzner stand von seinem Stuhl auf und machte hinter den letzten Schülern die Tür zu. ,,Normalerweise ist das die Aufgabe der Letzten, die diesen Raum betreten.“, schimpfte er und durchbohrte Anna und Lena mit seinem bösen Blick. Doch die beiden schauten sich nur genervt an. Herr Meinzner seufzte und trat wieder hinter den Lehrertisch. ,,Ich hoffe, Sie haben sich heute alle vorbereitet. Dieses Mal habe ich den Test ja noch angekündigt.“, sagte er und kramte Blätter aus seinen Unterlagen. Das sagte er ungefähr jedes Mal bevor wir einen Test schreiben und trotzdem kündigt er ihn jedes Mal wieder an. Herr Meinzner war aber eigentlich ein echt guter Lehrer, würde ich das Fach verstehen, wäre es natürlich noch besser, aber was solls. Mir reichte meine eins in den kreativeren Fächern, wie Deutsch, Ethik, Kunst und was noch so dazu gehört. Ich bin auch jedes Mal in Deutsch empört, wenn ich eine drei bekomme und lege mich auch gern mit der Lehrerin an. Eben solange, bis sie mir Recht gibt und ich meine verdiente eins bekomme.
Und trotz meiner Piercings, meinen kurzen Haaren und meinem Stil allgemein, konnte mich der alte Herr Meinzner gut leiden. Obwohl ich in jeder Stunde verzweifelte, versuchte er alles in seiner Macht stehende, dass ich auf eine drei kam.

Als er die Tests austeilte, sagte er leise zu mir:,,Du schaffst das schon, Rachel.“ Ich lächelte und nickte ihm hoffnungsvoll zu.

Nach dem Test und zwei weiteren, schwierigen Themen waren die drei Stunden auch schon geschafft und wir hatten Schulschluss.
Charlie und ich zogen gerade unsere Jacken an, als Anna an uns vorbei lief. Sie trug ein kurzes Kleid und eine dicke, blickdichte schwarze Strumpfhose. Über dem Kleid eine ausgewaschene Jeansjacke. Ihre Haare waren blond und zu einem unordentlichen Dutt zusammen gebunden. Eigentlich sah sie wirklich gut und lieb aus, doch das war sie nicht. Ich musste mir in der Umkleidekabine schon öfters irgendwelche Beleidigungen anhören, die ich ja angeblich nicht hören sollte. Und sie waren natürlich auch nie böse gemeint. Manchmal würde ich sie am liebsten an ihren langen, geliebten Haaren schnappen und einen Büschel heraus reißen. Einfach nur so.

Sie sagten, dass ich viel zu dünne Beine hätte und ja gar keine richtige Frau bin. Das ich mich doch zu den Emos verziehen soll und dass ich bestimmt lesbisch bin. Das mit Derek war ja nur ein Alibi. Sie hielten sich beim umziehen immer bedeckt und dabei schaute ich sie nicht einmal an. Ich hatte vor einiger Zeit überlegt, einfach nicht mehr zum Sport zu gehen um dieses Gehetze nicht mehr ertragen zu müssen. Ich habe mit Charlie darüber gesprochen und er meinte, dass es doch genau das ist, was sie wollen. Dass ich aufgebe und sie somit gewonnen haben. Die nächste Sportstunde, als wieder lautstark über meine Sexualität diskutiert wurde, und sie sich fragten, welche von ihnen ich wohl am geilsten fand, machte ich das erste Mal eine Bemerkung. Ich atmete tief durch, drehte mich in ihre Richtung und sagte:,,Mädels, so geil seid ihr nun wirklich nicht, dass ich eine von euch auch nur annähernd attraktiv finden würde, wenn ich eine Lesbe wär.“ Seitdem hielten sie ihren Mund.

 

Wir liefen hinaus in den Flur und machten uns erneut auf dem Weg zu den Schließfächern. Da wir keine Hausaufgaben aufbekommen haben, konnte ich mein Physikbuch wieder zurück tun. Ich schloss wieder zu und rückte kurz meinen dunkelgrauen Wollpullover zurecht, der mir über die Schulter gerutscht war. Dann sah ich zu Charlie und beobachtete ihn dabei, wie er einen Jungen aus der elften Klasse anstarrte. Er hatte beide Hände in den Jackentaschen und starrte ihn einfach an. Aber nicht mit dem leeren Blick, mit dem man manchmal einfach in die Gegend starrt, sondern er sah ihn richtig an. Er musterte ihn und in seinen braunen Augen konnte man einen Funken Wut sehen. ,,Hey?“, machte ich mich bemerkbar und setzte meinen Rucksack auf. ,,Was ist mit dem?“, fragte ich nach. ,,Ach nichts.“, erklärte er und seufzte. ,,Oh mein Gott, ist… ist das dein Ernst?!“, stotterte ich gespielt und meine Atmung wurde schneller. ,,Du stehst auf ihn!“, fügte ich hinzu und lachte. Irgendwie brachte mich meine Erinnerung an die Szene in der Umkleide auf die Idee. Sofort kniff er seine Augen zusammen und sein Blick wurde dunkel. ,,Ja genau, und der Weihnachtsmann und der Osterhase treffen sich gerade auf einen Kaffee in der Antarktis. Als ob ich auf Typen stehe, also echt. Ich find nur sein Shirt cool.“ Ich wich etwas zurück und runzelte die Stirn. ,,Ist ja okay, war ja nur ein Spaß.“, sagte ich verletzt und lief ihm hinterher, weil er schon dabei war die Treppen runter zu stürmen. ,,Jaja.“, hörte ich ihn noch und übersprang die letzten drei Stufen, sodass ich geradeso neben ihm auf kam. ,,Ach Charlie, komm schon. Sei nicht so ein Miesepeter.“, versuchte ich die Sache noch zu retten. Vergebens. Er seufzte nur verächtlich. Ich wollte ihm am Arm fest halten, doch er entzog ihn mir. Ich stöhnte und ließ ihn laufen. Ich ging noch schnell an den Vertretungsplan und lief dann zu meinem Bus, in der Hoffnung, ich könnte mich noch bei Charlie entschuldigen, doch der war schon weg.
Doch was mich am meisten verwunderte: Dieser Typ trug kein cooles Shirt. Es war ein einfaches, graues T-Shirt. Nichts weiter.

Zu Hause angekommen setzte ich meinen Rucksack ab und schaltete das Wlan bei meinem Handy an. Keine neuen Nachrichten. Von wem auch? Charlie war der einzige Freund den ich seit einigen Jahren hatte. In der siebten Klasse gingen mir die meisten Jungs auf die Nerven und die Mädchen wurden auch komisch. Alles drehte sich nur noch um das Aussehen und wie cool man ist. Mein Gott, gibt es nichts Wichtigeres?
Ich war anscheinend das Gegenteil von alldem. All die anderen Mädchen sahen immer so gleich aus. Jede trägt die gleichen Klamotten und alle haben lange, glatte Haare und getuschte Wimpern. Und alle sprachen sie so lieb und nett. Ich lief also einfach so herum wie es mir gefällt. Eigentlich ist das ja nichts besonderes, doch ich finde „dem Trend hinterher rennen“ ist nicht so ganz etwas, was immer jedem gefällt und trotzdem tragen es fast alle. Nur um nicht uncool zu sein. Was ein Schwachsinn.
Und das mochte Charlie so an mir, und ich so an ihm. Er war immer irgendwie anders. Er war immer irgendwie mein bester Freund – der Einzige, der zu mir hält und der Einzige, zu dem ich halte - außer meiner Familie natürlich.
Ich kochte mir Nudeln und Tomatensoße, ging mit dem Essen hoch in mein Zimmer und schaltete den Fernseher an. Ich ließ mir die Situation von vorhin noch einmal durch den Kopf gehen. Ich habe schon öfter solche Witze gemacht und nie hat es ihn so gestört wie heute. Was war mit ihm los? Seine Stimmung änderte sich um 180 Grad. So kannte ich ihn gar nicht.
Plötzlich klopfte jemand an meine Tür. ,,Ja?“, sagte ich etwas lauter und drehte meinen Kopf zur Tür. Sie öffnete sich und meine Mutter steckte den Kopf durch den Türspalt. ,,Hallo, mein Schatz. Alles okay?“, begrüßte sie mich und grinste mich an. ,,Hey, wie war die Arbeit, Mama? Ich hab dir Nudeln übrig gelassen. Für Papa müsste es auch reichen.“, erzählte ich ihr und meine Mundwinkel gingen nach oben. ,,Und ja, alles okay, danke.“, log ich. Sie fuhr sich durch ihren gelockten, kurzen braunen Haare und ihre Augen leuteten kurz auf. ,,Die Arbeit war ganz ok, nur ist eine Kollegin krank und uns fehlen ein paar Hände. Und danke für die Nudeln, ich bin am Verhungern. Dein Vater müsste auch gleich nach Hause kommen.“, antwortete sie mir. ,,Okay, lass es dir schmecken.“, murmelte ich und zappte kurz weiter, als irgendeine Werbung lief. Meine Mutter grinste und sagte:,,Okay, dann lass ich meine Teenagertochter mal wieder allein.“ Ich nickte beschwichtigend und lachte ein halbes Lächeln. Sie zog die Tür hinter sich zu und ließ mich mit meinen Gedanken wieder allein.
Doch, gerade als meine Mutter sagte, dass ich ja ihre Teenagertochter bin, kam mir Charlies Reaktion ganz normal vor. Ich meine, er ist auch ein Teenager, und bei Jungs fängt das alles doch eh erst ein bisschen später an. Ich tat es also als Stimmungsschwankung ab.

Gerade als irgendeine Sitcom lief, die ich mir seit zwei Stunden ansah, klingelte mein Handy.
,,Ja, Charlie?“, nahm ich an. Mein Magen zog sich zusammen.
,,Hey... tut mir leid wegen vorhin.“, sagte er und räusperte sich.
,,Ist schon okay. Eigentlich müsste ich mich ja entschuldigen. Was hattest du denn?“, fragte ich und setzte mich in den Schneidersitz.
,,Ich kenne den Typen. Der hat mir mal gedroht.“, murmelte er und ich hörte wie er sich auch setzte.
,,Oh, okay. Warum denn?! Ich meine niemand, wirklich niemand droht meinem besten Freund!“, rief ich aufgebracht ins Telefon.
,,Keine Ahnung. Als du letzte Woche krank warst hat er mich gepackt, an die Schließfächer gedrückt und unverständlich gesagt ich solle ihn gefälligst in Ruhe lassen.“
Ich runzelte die Stirn und antwortete:,,Hast du ihn denn belästigt?“
,,Nein, ich weiß nicht, vielleicht hat er mich auch mit jemanden verwechselt.“
,,Naja normalerweise drückt man nicht einfach irgendjemanden gegen ein Schließfach und droht ihm dann Prügel an, ohne sich 100 prozentig sicher zu sein, dass es derjenige auch ist.“, stellte ich klar.
,,Ja, ich weiß. Der ist doch total irre. Aber ich hab da eine Vermutung.“
,,Welche?“
,,Mein Vater kennt seinen, oder eher gesagt ist er der Chef von seinem Vater, und ich glaube da gibt’s im Moment ziemlich Stress.“
,,Achso... Wenn das wieder passiert, dann sagst du mir das sofort, okay?“
,,Ach, was willst du denn schon machen, kleine Rachel?“, sagte er und lachte.
Ich musste grinsen. ,,Tjaaa, das wirst du dann schon sehen!“ Jetzt musste ich lachen.
,,Jaja. Naja dann bis morgen, Rachel.“, verabschiedete er sich bedrückt.
,,Ja, bis morgen. Ich wünsche dir schon mal eine zauberhafte Nacht.“
,,Ich dir auch.“
Und dann hat er einfach aufgelegt.

 

 

 

 

,,These people round here
Wear beaten down

Eyes sunk in smoke dried faces
So resigned to what their fate is
But not us, no never, no not us, no never
We are far too young and clever“
- Come on Eileen, Dexy’s Midnight Runners

 

Herz

 

Die nächsten Tage verliefen ganz normal, ohne irgendwelche Drohungen oder sonstige Zwischenfälle. Eine Woche nach dem besagten Novembertag saß ich mit Charlie wieder im Physikraum und bekam meinen Test zurück. Ich hatte eine Drei. Naja, besser als alles was ich davor hatte und Herr Meizner war glaube ich stolz auf mich. ,,Was hast du?“, fragte ich Charlie und sah ihn an. ,,Eine zwei“, antwortete er und zeigte mir seine Note. ,,Oh, cool.“, sagte ich. Ich muss zugeben, dass ich schon sehr neidisch war. ,,Na dann schlagt mal eure Hefter auf, packt den Test weg und schreibt diese Aufgabe ab.“, forderte uns Herr Meinzner auf. Den Rest der drei Stunden Physik war ich immer mal wieder kurz davor einzuschlafen, hatte Hunger, veränderte meine Sitzposition gefühlte 1000 Mal und war dann so erleichtert, als es nach der dritten Stunde endlich zum Schulschluss klingelte.

Gerade als ich den Klassenraum verlassen wollte, hielt Herr Meinzner mich auf. ,,Rachel?“, rief er mir hinterher. Ich drehte mich um und sah ihn fragend an. ,,Ja?“, erkundigte ich mich. ,,Ich habe von deiner Klassenlehrerin gehört, dass du nach der zehnten Klasse gehen willst. Stimmt das?“, fragte er und sah mich irgendwie enttäuscht und besorgt zugleich an. ,,Ja, das stimmt. Ich denke einfach nicht, dass ich das Abi schaffen werde. Schon allein wegen Mathe nicht.“, erklärte ich und wich Anna aus, die sich an mir vorbei drängeln wollte. Er schüttelte den Kopf:,,Sag sowas nicht. Du bist so intelligent, Rachel. Du könntest das schaffen. Bitte denk nochmal darüber nach.“ Er lächelte mich an und ich lächelte zurück. Ich nickte und sagte ihm, dass ich mein Bestes geben würde. Ich log. Aber es gab ihm glaube ich ein gutes Gefühl.
Als Charlie und ich an den Schließfächern angekommen waren, sahen wir den 11. Klässler wieder. Diesmal sah ich ihn mir genauer an. Er war ungefähr so groß wie Charlie, hatte dunkelblonde Haare die leicht hoch gegellt waren, ein ovales Gesicht mit (wie ich aus der Entfernung erkennen konnte) blauen Augen. Er trug einen grauen Pulli mit Kapuze, eine dunkelblaue Jeans die bei ihm etwas tiefer saß und wie man gerade noch so durch den Pulli erkennen konnte, war er anscheinend relativ gut gebaut. Wieder verriet mir ein Blick zu Charlie, dass er ihn beobachtete. Ich seufzte, warf mein Buch in mein Fach, schloss es zu, und gerade als ich zu der Garderobe gehen wollte, stieß ich mit dem Typen zusammen. Charlie war schon vorgegangen.
,,Entschuldigung.“, sagte er und lächelte mich an. Sein Lächeln war bezaubernd und ich konnte kaum meine Augen von ihm abwenden. Seine blauen Augen blitzten kurz auf und hielten mich fest. ,,Kein Problem.“, murmelte ich, riss mich von seinem Anblick los und sah ihm noch kurz nach. Er zog einen Duft von Zigarettenrauch hinter sich her, der bei ihm gar nicht so schlimm roch.
,,Er raucht.“, sagte ich, als ich mit Charlie zum Bus ging. ,,Wer?“, fragte er und legte wieder einmal seinen Arm um meinen Hals. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und sagte:,,Der Typ der dir gedroht hat. Der raucht.“ ,,Oh.“, machte er nur und den Rest des Weges blieb er still.
Im Bus hörte ich dann „Heroes“ und „Come on Eileen“ in Dauerschleife, bis ich ausstieg, sich Charlies und meine Wege an einem Kreisverkehr trennten und ich zu Hause ankam.
Dort holte ich mir den Auflauf vom Vortag aus dem Kühlschrank, wärmte ihn mir auf und nahm ihn mit auf mein Zimmer. Dort fing ich „Das Leiden des jungen Werthers“ an. Ich wollte mich mal an etwas schwierigere Literatur heran wagen, als ich es sonst tat. Am Anfang war es wirklich gewöhnungsbedürftig, doch nach einigen Seiten gewöhnte ich mich an die Sprache. Irgendwann war ich richtig in diese traurige Geschichte versunken, als mich die Vibration meines Handys aus der anderen Welt riss. Auf dem Bildschirm konnte ich seinen Namen lesen. Charlie.
Es war aber nur eine Nachricht:,,Hey, hast du Zeit? Ich weiß es ist schon dunkel, aber es wäre super, wenn du dich noch mit mir treffen könntest.“ Es war eine ganz normale Nachricht, doch die Art wie er sie geschrieben hatte, hinterließ irgendwie ein flaues Gefühl im Magen. Deshalb schrieb ich ihm sofort zurück:,,Ja klar. Wo und wann?“
Einige Sekunden später bekam ich auch schon eine Antwort:,,Im Park, an der Bank am See – du kennst sie ja. So schnell wie es geht. xoxo“
Ich schrieb noch ein kurzes okay zurück und hievte mich aus meinem Bett. Schnell zog ich mir meine Schuhe an und hätte fast vergessen meinen Eltern Bescheid zu sagen. ,,Papa? Ich treff mich noch mit Charlie, sollte nicht allzu spät werden!“, rief ich in Richtung Wohnzimmer, während ich mir meine Jacke und meinen Schal anzog. ,,Okay, Liebling, bis später!“, antwortete er mir. Ich schnappte mir den Hausschlüssel und ging hinaus.

Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und machte Musik an. Diesmal hörte ich ein paar alte Songs von Casper. Dann landeten meine Hände in der Jackentasche und ich lauschte seiner rauen Stimme.
Das Laub, der die Bäume um diese Jahreszeit kahl aussehen ließ, knisterte, als ich darüber lief und der Wind blies mir einen Schauer über den Rücken. Trotzdem genoss ich es draußen zu sein – es war einfach irgendwie befreiend.
Der See glitzerte schon unter dem aufgehenden Mond als ich im Park eintraf. Es war noch nicht spät, gerade mal sechs Uhr abends, aber es war schon stockdüster. Meine Schuhe versanken sogar schon etwas unter den Blättern und es waren auch nur noch einige mit ihren Hunden unterwegs. Ich schlenderte an dem See entlang und sah schon in einiger Entfernung Charlie auf einer Parkbank sitzen. Unserer Parkbank.

Sie ist schon seit vielen Jahren unser Treffpunkt gewesen – denn wir landeten immer dort, wenn wir einen Spaziergang im Park machten. Sie stand neben einem großen Kastanienbaum, und wir hatten einmal unsere Initialen dort hinein geritzt. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Es war ein paar Wochen nach unserem richtigen Kennenlernen. Es war schon Herbst, aber es war noch total heiß an jenem Tag. Wir waren abends noch draußen unterwegs und Charlie meinte, er hätte eine super Idee. Er führte mich zu dem See, den ich natürlich in und auswendig kannte. Als er auf einmal anfing, seine Klamotten auszuziehen, sagte ich:,,Bist du verrückt? Hier ist es verboten zu baden. Ich will gar nicht wissen, was da unten alles herumschwimmt.“ Charlie lachte nur antwortete:,,Wie sagt man so schön – das ist ein Grund, aber kein Hindernis!“ Und mit diesen Worten rannte er nur mit seiner Unterhose bekleidet in den See hinein. ,,Oh mein Gott!“, schrie er und fing an im Wasser zu zappeln. Ich hörte kurz auf zu atmen und meine Augen weiteten sich. ,,Rachel, Hilfe, ein Tiefseeungeheuer!“, lachte er und drehte sich dann zu mir um. ,,Du bist so blöd!“, rief ich und verschränkte die Arme. Er ließ sich auf dem Rücken treiben und starrte in den Himmel. ,,Naja, vielleicht treibe ich ja auch ab, ohne deine Anwesenheit hier.“, rief er theatralisch zu mir herüber und hob für eine Millisekunde den Kopf in meine Richtung. ,,Na schön, meine Güte.“, murmelte ich und sah ich noch einmal um, bevor auch ich mich auszog und in Unterwäsche ins Wasser lief. Es war ziemlich kalt, doch ich hielt nicht an, bis ich neben ihm war, nur mich ohne Vorwarnung auf ihn zu werfen, um gemeinsam mit ihm unterzugehen. Als wir beide prustend, strampelnd und lachend wieder auftauchten, weiteten sich nach ein paar Sekunden Charlies Augen. ,,Was ist?“, fragte ich ihn. Er starrte auf mein Schlüsselbein und sagte ruhig:,,Also, ähm, Rachel. Wie war das nochmal mit dem: Wer weiß, was da unten alles herumschwimmt..?“ Ich runzelte die Stirn und sah an mir herunter. Auf meinem Schlüsselbein saugte sich gerade feucht fröhlich ein Blutegel fest. Ich atmete erschrocken ein und wischte es panisch von meinem Körper herunter. ,,Okay, das wars, ich verschwinde!“, protestierte ich und schwamm Richtung Ufer. Hinter mir hörte ich ein Quietschen. Ich drehte mich um und sah Charlie wild im Wasser herum fuchteln. Danach sah er mich mit gestürzten Lippen an und lachte:,,Ja, okay. Die kleinen Blutsauger sind mir auch zuviel.“

Als wir eine halbe Stunde später, nachdem wir uns von der Sonne haben trocknen lassen, bevor sie hinter den Bäumen verschwindet, wieder anziehen, sagte ich halb ironisch:,,Wir kennen uns erst richtig seit ein paar Wochen, aber ich hoffe an diese scheiß Aktion werd ich mich in Jahren noch erinnern.“ Charlie grinste nur, hob ein kleinen, spitzen Stein auf und antwortete:,,Dann lass es uns unvergessen machen.“

Kurze Zeit später waren unsere Initialen in dem Kastanienbaum verewigt. Und deshalb wusste ich auch sofort, welche Bank er meinte.

Er sah von Weitem etwas nervös aus, denn er wippte schnell mit seinem Fuß und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch seine Haare. Seine Haut schien noch blasser als sonst, aber das war wahrscheinlich nur dem Mondschein geschuldet. Ich nahm die Kopfhörer aus den Ohren und knüllte sie in meine Jackentasche.

Ich kam ihm immer näher und als er aufblickte, zuckte sein rechter Mundwinkel etwas in die Höhe. Kein vielversprechendes Lächeln. ,,Hey!“, begrüßte er mich, stand auf und schloss mich in seine Arme. ,,Hi, lange nicht gesehen.“, antwortete ich ironisch und lächelte ihn nach der kurzen Umarmung an. ,,Was haben deine Eltern zu der zwei in Physik gesagt?“, fragte ich ihn und setzte mich mit auf die Bank. ,,Sie haben sich gefreut. Denke ich zumindest.“, sagte er und lachte kurz. Wir unterhielten uns noch kurz darüber, was wir so gemacht hatten als wir von der Schule gekommen sind und was wir uns denn zu Weihnachten wünschen. Als eine kurze Stille eintrat, fragte ich:,,Warum wolltest du, dass wir uns treffen?“ Ich sah ihn von der Seite in die Augen und hatte ehrlich gesagt Angst vor der Antwort. ,,Hat er dir wieder gedroht?“, fragte ich erneut nach. Er schüttelte den Kopf. Er atmete scharf tief ein und aus und sagte dann:,,Er hat mich auch nie bedroht. Ich hab das nur erfunden.“ Ich runzelte die Stirn, und fragte mich stattdessen was los wäre. Er öffnete kurz den Mund und es sah so aus als wollte er etwas sagen, doch er brachte es nicht über die Lippen.

Dann sah er mir in die Augen, und ich in seine. Seine wurden glasig und Tränen sammelten sich in ihnen. Ich hätte so gerne weiter gefragt, doch ich wusste, dass er das von sich aus sagen wollte. Die Spannung zwischen uns war trotzdem kaum auszuhalten. Dann endlich, öffnete er seinen Mund und diesmal kamen die Wörter heraus. ,,Ich glaube du hattest Recht. Deshalb bin ich so ausgeflippt.“ Bei diesen Worten sah er mir genau in die Augen, als wollte er mir telepathisch etwas mitteilen. Ich sah wie eine Träne es aus seinem Auge schaffte und über seine Wange floss, doch er machte keine Anstalten sie weg zu wischen. ,,Mit was?“, erkundigte ich mich. Ich dachte über die letzten Sachen nach, die ich zu ihm gesagt hatte. Und ich hatte immer noch keine Ahnung. Doch ich spürte seine Nervosität, konnte sein Herz förmlich aus der Brust springen sehen und mein Atem ging stoßweise. Er ballte seine Hände so sehr zu Fäusten, dass seine Knöchel weiß wurden. ,,Scheiße… du musst mir jetzt was versprechen, okay?“, fragte er. Ich nickte bloß. Wenn er so eine Show abzog, musste es etwas Ernstes sein. ,,Bitte dreh nicht durch.“, flossen die Worte aus seinen Mund. Bitte dreh nicht durch. Ich nickte erneut. Wieder stauten sich Tränen in seinen Augen und färbten sie im Schein der kleinen Laterne neben uns leicht rötlich. ,,Du sagtest, dass ich auf ihn stehen würde.“, sagte er so leise, dass es fast ein Flüstern war, doch in Wahrheit erstickten die Tränen seine Worte, die jetzt über seine Wangen flossen.

,,Rachel, ich bin schwul.“, hauchte er in die Kälte der Dunkelheit.

Dann fing er an zu schluchzen und rieb sich die Tränen vom Gesicht. ,,Hör auf zu weinen!“, sagte er zu sich selbst und schlug gegen die Lehne der Parkbank. Ich schwieg immer noch. ,,Verdammte Scheiße!“, schrie er und stand auf. Er trat mit voller Wucht gegen die Kastanie und weinte immer noch. Reflexartig stand ich auf und lief auf ihn zu. ,,Charlie, ganz ruhig. Es ist okay.“, sagte ich leise und ruhig und wollte ihn in meine Arme nehmen. ,,Nein.“, antwortete er mir harsch mit leerem Blick und trat wieder gegen den Baum. Ich wich ein paar Schritte zurück und auch mir kamen die Tränen hoch. ,,Charlie.“, wisperte ich und hielt mir die Hände vor den Mund. Ich hatte ihn noch nie so gesehen.

Er schrie, dass es nicht okay sei und dass seine Eltern ihn umbringen würden, und der Junge und die Schule auch. Dann sackte er in sich zusammen und schlug sich die Hände vor sein Gesicht. Mein bester Freund brach vor mir zusammen und ich bewegte mich keinen Millimeter. Es ist nicht so, dass ich von seiner Nachricht an mich schockiert war, sondern eher davon, wie er auf sich selbst reagiert. Ich rüttelte mich wach und lief auf ihn zu. Ich ging in die Hocke und legte meine Hand auf seine Schulter. Er löste die Hände von seinem Gesicht und sah mich an. ,,Charlie... es ist okay. Da ist nichts dabei, niemand wird dich verurteilen.“, flüsterte ich und strich seine Tränen von seiner Wange. Ich setzte mich neben ihm auf den Boden und zog die Beine zu mir ran. ,,Und das glaubst du auch noch? Dass niemand mich verurteilt? Ich weiß noch, als wir in der achten Klasse waren, da war ein lesbisches Mädchen in unserer Parallelklasse. Sie hatte sich nicht ganz freiwillig geoutet. Jemand hatte sie mit ihrer Freundin im Park gesehen und es jedem erzählt. Sie musste daraufhin die fucking Schule wechseln. Sie wurde mit Dreck beworfen, weißt du noch?“, erzählte er mir und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Ich erinnerte mich an sie. Sie war bildhübsch und trug immer Anime Merchandise. ,,Ja, ich weiß.“, sagte ich und nickte mit dem Kopf., ,,aber das ist zwei Jahre her.“ Charlie lachte kurz. ,,Na und? Denkst du den 16 Jährigen Teenes ist allen ein Licht aufgegangen als wir in Ethik darüber sprachen und sich vor allem die Jungs mehr als deutlich zu dieser Thematik geäußert haben?“, fragte er mich. Ich zog die Augenbrauen zusammen und schluckte. Er hatte Recht, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Wie konnte ich nur so blöd sein. ,,Es tut mir leid, ich wollte dir doch nur Mut machen. Ich liebe dich und werde immer für dich da sein. Wer sich gegen dich stellt, stellt sich auch gegen mich. Und ich hab 'nen fiesen linken Haken. Hat mir mein Dad beigebracht.“, witzelte ich und stupste ihn an die Schulter. ,,Ach Rachel, du weißt, dass sich unter meinen Pullovern tatsächlich auch Muskeln verbergen, ja?“, sagte er und lachte. ,,Oh ja, ich weiß. Siehst du Charlie, wir sind ein Dreamteam. Von uns beiden erwartet man nicht verprügelt zu werden. Und wenn nicht schlagen wir sie mit unserer Intellektualität.“, sagte ich und zog gespielt meine Scheitelkrone in die Höhe. ,,Natürlich. Wenn sie mich mit Dreck bewerfen, haust du sie mit Präpositionen aus den Socken.“, antwortete er, stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und reichte mir seine Hand.

Eine halbe Stunde später saßen wir nebeneinander auf der Parkbank und die Situation hatte sich ein bisschen beruhigt. ,,Warum hast du es mir gesagt?“, fragte ich und sah ihn an. ,,Du bist meine beste Freundin, ich hab niemanden außer dich.“, antwortete er, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie an. ,,Ja, da hast du recht… und du bist dir auch sicher?“, fragte ich und streckte meine Hand nach einer Zigarette aus. ,,Dass ich, ähm… auf ihn stehe?“, erkundigte er sich noch einmal und als ich die Zigarette zwischen meine Lippen gesteckt hatte, zündete er sie für mich an. Ich nickte. Er runzelte die Stirn und starrte aufs Wasser. Oh nein. Wieso fragte ich ihn auch so etwas? Er musste sich so überwinden es mir zu sagen, und ich frage ihn, ob er sich sicher ist. Tolle Leistung, Rachel.

,,Tut mir leid. Das war total die dumme Frage. Du weißt ja selbst, was du fühlst. Es kam nur so unerwartet.“, korrigierte ich mich. Ich pustete den Rauch aus meinen Lungen in die kalte Abendluft und Charlies Falte auf der Stirn löste sich immer noch nicht auf. Er stemmte die Hände auf die Bank und lehnte sich etwas vor. ,,Charlie, sprich bitte mit mir.“, hauchte ich und legte sanft meine Hand auf seine Schulter. Charlie seufzte und flüsterte:,,Ich war mir noch nie bei irgendetwas so sicher, Rachel. Und es macht mir echt Angst.“

,,Denkst du er steht auch auf Typen?“, fragte er mich irgendwann, nachdem wir beide fertig waren mit rauchen. Ich zuckte mit den Schultern und starrte auf den See, der wie ein großes schwarzes Loch wirkte. Nur einzelne kleine Wellen reflektierten das Licht des Mondes. Der leichte Wind hatte sich auch gelegt. Man hörte nur noch das leichte Rauschen des Wassers und leise Autos in der Ferne fahren. ,,Es tut mir leid, dass ich dir keine andere Antwort geben kann, Charlie. Aber ich wünsche es dir von ganzem Herzen.“

,,Seit wann weißt du es?“, wollte ich wissen.

 Er legte seinen Arm um mich, weil er merkte dass ich leicht zitterte, zog mich an sich ran und antwortete:,,Ich weiß nicht. Ich habe ihn vor etwa einem Monat bemerkt. Ich war am Schließfach, wollte gehen und da ist er in mich rein gelaufen, wie bei euch heute. Und da stand er vor mir, hat mich angelächelt, ich habe in eine seine Augen geschaut und irgendwie wusste ich es dann. Da war diese Anziehung. Ich musste mich richtig von seinem Blick losreißen. Naja, und dass ich schwul bin, weiß ich schon so seit der siebten Klasse. Ich hatte ein Auge auf Fabian geworfen, der, der damals immer mit mir Badminton gespielt hat. Und ich musste es jetzt endlich loswerden.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. ,,Tatsächlich, Fabian? Der ist doch jetzt so ein mega Streber und hatte damals so eine Justin Bieber Frisur.“ Charlie zuckte mit den Schultern. ,,Naja, ich fand seine Haare damals ziemlich sexy.“, lachte er und machte mit seinem Kopf diese Schüttelbewegung. Ich grinste und legte meinen Kopf auf seine Schulter.

 

,,Die in der Schule werden mich umbringen, oder?“, fragte er mich, als wir zitternd zu mir nach Hause liefen. ,,Wie ich schon sagte, davor müssen sie erst an mir vorbei.“, scherzte ich und wechselte mit ihm die Straßenseite. ,,Nein mal im ernst. Wenn die das wissen, dann bin ich doch tot.“, fuhr er fort und als ich ihn ansah, sah ich diesen ernsten Blick in seinen Augen, der in Traurigkeit überlief. Seine Augen sahen dadruch irgendwie dunkler aus. Ich blieb stehen, packte ihn an den Schultern und zwang ihn mir in die Augen zu sehen. ,,Du solltest dich nicht schämen für das was du bist. Und selbst wenn sie Stress machen, werde ich immer für dich da sein. Ich werde die dir schon vom Hals halten, wenn es sein muss!“, sagte ich leise aber eindringlich. Die Traurigkeit in seinen Augen löste sich langsam auf und er musste grinsen. ,,Du? Wenn dich einer der Jungs leicht schubst liegst du doch am Boden.“, lachte er und hakte sich bei mir ein damit wir weiter laufen konnten. ,,So lange du dadurch Zeit gewinnst.“, flüsterte ich und bildete damit eine Rauchwolke in die Nacht hinein. Ein kurzes Schweigen trat ein. ,,Ich bin so froh, dass du es so gut auf nimmst.“, sagte er nach einer Weile und ich spürte seinen Blick auf mir. Ich lächelte und antwortete:,,Warum denn auch nicht?“ Ich blieb stehen und entzog ihm sangt meinen Arm. ,,Ich kann von hier aus alleine weiter gehen.“, erwähnte ich und lächelte kurz. Wir waren an dem Kreisverkehr angekommen und es war eh nicht mehr lange bis zu mir nach Hause. ,,Okay. Bis morgen.“, sagte er und ich umarmte ihn. ,,Bis morgen.“, erwiderte ich und drückte ihn noch einmal fest, bevor ich ihn los ließ, mich umdrehte und los lief. Weit kam ich aber nicht, denn Charlie hielt mich noch kurz auf. ,,Rachel?“ ,,Ja?“ Ich drehte mich halb um, um ihn besser hören zu können. ,,Bitte sag es niemanden.“, sagte er und ich sah, wie sich etwas in seinen Augen rührte. ,,Werde ich nicht. Ich verspreche es dir.“, antwortete ich und legte meine Hand auf die Stelle, wo mein Herz ist. ,,Danke.“, antwortete er noch, drehte sich um und ging zügig weiter.
Das Licht der Laternen verwischte, als meine Augen von Tränen wie in Wasser getaucht waren. Ich lief mit verschwommener Sicht einige Schritte, bis ich doch anfing zu weinen. Und ich hörte bis ich duschen war nicht damit auf, denn ich wusste wie manche Jungs in unserer Schule und insbesondere in unserer Klasse drauf waren.

Sie verabscheuten solche Leute wie Charlie - besonders Derek.

 

 

 

 

 

 

,,Got a secret, can you keep it?
Swear this one you'll save.
Better lock it in your pocket,
taking this one to the grave.
If I show you then I know you
Won't tell what I said.
'Cause two can keep a secret,
If one of them is dead?”
- Secret, The Pierces

 

 

 

 

Schlag

Am nächsten Morgen fand ich Charlie verkrampft auf seinen Stuhl sitzen. Seine Unterarme lagen verkrampft auf dem Tisch und sein Blick war stur auf seine Hände gerichtet. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter und setzte mich neben ihn.

,,Du warst heute nicht im Bus.“, merkte ich an und legte meine Bücher auf den Tisch. ,,Ja, meine Mutter hat mich gefahren, weil ich verschlafen hab.“, sagte er und sah mich dann endlich an. In seinen Augen konnte ich Angst sehen. Pure Angst. ,,Konntest du nicht schlafen?“, fragte ich nach und sah mich kurz in der Klasse um. ,,Japp.“, antwortete er und lächelte schief. ,,Ich auch nicht.“, flüsterte ich und trank noch einen Schluck Wasser, bevor es klingelte. ,,Ich werd‘s ihm sagen.“, flüsterte er mir irgendwann in der fünften Stunde zu. Sofort hörte ich auf zu schreiben und erwiderte so leise es ging:,,Warum? Du weißt doch nicht ob er auch... schwul ist.“ Ich schrieb meinen letzten Stichpunkt zu Ende und wartete auf seine Antwort. ,,Ich weiß, aber wenn ich es nicht mache, drehe ich irgendwann durch.“, wisperte er, sodass er gerade noch so das Kratzen der Füller auf dem Papier übertönte. ,,Was, wenn er es rum erzählt?“, fragte ich und sah ihn dann von der Seite an, um seinen Gesichtsausdruck besser zu erkennen – seine Augen glänzten schon wieder gefährlich rot. ,,Dann muss ich eben dazu stehen. Irgendwann erfährt es sowieso jemand. Und wenn es einer weiß, dann weiß es am Ende eh jeder.“, flüsterte er und blinzelte ein paar Mal hintereinander, damit seine Tränen nicht die Überhand ergriffen.

 

Am Donnerstag kam Charlie nicht zur Schule. Ich wusste nicht warum, ich dachte er wäre krank und war deshalb relativ unbesorgt.
In der dritten Stunde erfuhr ich dann aber warum er nicht da war. Wir hatten gerade Geschichte, als ich von Leonie angetippt wurde und einen Zettel in die Hand gedrückt bekam. Ich schaute kurz hoch zu unserer Lehrerin und faltete ihn dann unauffällig auseinander. Die Schrift war mit Tinte geschrieben und sah aus wie von einem Jungen. ,,Es ist echt schade, dass deine anhängliche Schwuchtel heute nicht da ist. Hätte ihm gerne mal gezeigt was ich von ihm halte.“ Ich hielt den Atem an und starrte auf den Tisch, weil ich mich nicht getraut habe mich umzusehen. Einige Sekunden später rüttelte ich mich aber wach, packte den Zettel in meine Federmappe und brauchte mich im Endeffekt nicht mehr umzusehen, weil ich eh schon wusste wer es war. Seine Handschrift und Wortwahl waren unverkennbar. In mir kochte ich nur so vor Wut und meine ganzen Muskeln spannten sich an. Ich verkrampfte meine Hände und bohrte damit meine Fingernägel in meine Haut. Dem werde ich sowas von seinen Arsch aufreißen! Wen von beiden musste ich mir noch überlegen. Den Rest der Stunde bekam ich überhaupt nicht mehr mit, weil mein Gehirn von Angst und Wut zerfressen war. Angst um Charlie.
Als es dann endlich klingelte, packte ich so schnell wie es nur ging mein Zeug in meinen Ranzen, setzte ihn halb auf, weil ich ihn eh gleich wieder abwerfen würde, und ging aus dem Klassenraum. Und da lief er – vor mir, neben ihm seine besten Kumpels, lachend. Mein Herz begann zu rasen und mir brannten jegliche Beleidigungen auf der Zunge, manche sogar vor Wut und Hass erfunden. Doch ich wollte nicht reden. Um Gottes Willen, das war das letzte was ich wollte. Adrenalin stieg in mir hoch – von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz elektritisiert. ,,Hey!“, rief ich, warf meinen Ranzen ab und gleichzeitig packte ich ihm an seinen Kragen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Ich stand ihm gegenüber und griff an den Ausschnitt seines Pullovers um mich daran festzukrallen und ihm genau in seine Augen zu sehen. ,,Woooh, hey!“, riefen seine Kumpels und wollten mich von ihm weg zerren. ,,Verpisst euch!“, schrie ich, ließ Derek ein bisschen locker um ihn dann noch einmal gegen die Wand zu stoßen. ,,Du hast doch auch nur Scheiße in deinem Kopf, oder?“, fragte ich in bedrohlich und verstärkte meinen Griff. Er lachte nur. ,,Hör auf zu lachen, Arschloch! Bevor du dich auch nur irgendwie an Charlie vergreifst, musst du erst an mir vorbei und ich schwöre dir, wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, mache ich dir dein Leben zur Hölle, Derek!“ Ich sah, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste. ,,Hast du mich verstanden?!“, brüllte ich und war kurz davor ihm eine zu verpassen. ,,Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht was dein Problem ist, Rachel.“, flüsterte er so zuckersüß, dass mir der Kragen platzte. Ich ließ sein T-Shirt los, ging einen Schritt zurück, holte aus und haute ihm mit so einer Wucht in sein Gesicht, dass er dabei war umzufallen, ihn seine Kumpels aber auffingen. ,,Du hast sie doch nicht mehr alle!“, schrie er und war dabei auf mich los zu gehen, doch sie hielten ihn fest. Ich schüttelte meine Hand vor Schmerzen und ich spürte die Tränen in mir hoch steigen, doch konnte sie noch zurück halten. Plötzlich tauchte Anna neben mir auf. ,,Bist du noch ganz dicht?!“, fragte sie mich. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Hände zu Fäusten geballt. Ich schaute mich panisch um und bemerkte, dass sich eine Schar von Schülern um uns gebildet hatte. Meine Augen füllten sich mit Wasser und der Kloß in meinem Hals machte mir das Atmen schwer. Auf einmal veränderten sich Annas Augen. Sie bemerkte, wie glasig meine Augen wurden und sah mich besorgt an. So kannte ich sie nicht. ,,Komm, lass uns gehen.“, sagte sie und legte ihre Hand sanft auf meinen Arm. Ich schluckte den Kloß herunter, hob meinen Ranzen auf und wurde von Anna in Richtung Toilette gedrückt. Weit kamen wir nicht. ,,Was ist hier los?“, hörte ich die Stimme von Herrn Meinzner, der auch im nächsten Moment schon neben mir stand. ,,Dieser homophobe Kerl hat sich von einem Mädchen eine verpassen lassen.“, antwortete ich kalt, lächelte Derek gehässig an, nur um danach auf dem Mädchenklo zu verschwinden, mich gegen die Klotür zu lehnen, zu Boden zu sinken und anzufangen zu weinen. Ich hatte mich richtig dumm aufgeführt. Jetzt war Charlie erstrecht dran und das war allein meine Schuld.
,,Rachel?“, hörte ich Annas gedämpfte Stimme von Außen. Ich brachte nur ein krächzendes Ja heraus. Ich richtete mich auf und sah ihre beigen Stiefel unter der Klotür. ,,Es tut mir leid, dass ich gerade kurz überreagiert habe. Ich weiß ja im Grunde, was Derek erzählt hat.“, sagte sie leise und vorsichtig. ,,Ach ja, und was?“, brachte ich heraus. ,,Dass Charlie auf Jungs steht. Und dass das ja total schlimm ist.“, erzählte sie und ich hörte, wie etwas die Toilettentür berührte. War es ihre Hand, die sie dagegen presste? Ich antwortete nicht, wartete auf ihre weitere Reaktion. Doch ein schleifendes Geräusch verriet mir, dass sie ihre Hand wieder runter nahm und ihre Schuhe verschwanden vor der Toilettentür. Die leisen Trittgeräusche stoppten und ich hielt den Atem an. Sie fügte noch hinzu:,,Weißt du, ich find das gar nicht schlimm.“

Ich verpasste die ganze vierte und fünfte Stunde, weil ich mich nicht in den Klassenraum traute. Die vierte verbrachte ich auf der Toilette, aber zu viele Mädchen wunderten sich warum die Klotür die ganze Zeit zu war. Anna kam auch nicht wieder. In der fünften strich ich also durch die Flure und überlegte einfach abzuhauen, aber ich konnte es meiner Mutter nicht erklären, wenn sie es heraus findet. Was sollte ich denn sagen? ,Ich habe meinem Ex eine verpasst, weil mein bester Freund schwul ist.‘? Nein. Es sollte auch eigentlich keiner wissen außer ich, aber Charlie hatte es höchstwahrscheinlich dem 11. Klässler gesagt – und der ist anscheinend nicht schwul.

Als ich gerade eine Treppe hochlief und nach rechts sah, sah ich Herrn Meinzner aus einem Computerraum spazieren. Ich blieb erschrocken stehen, hatte aber keine Möglichkeit mehr mich zu verstecken. Also entschloss ich mich einfach nach links weg zu laufen. ,,Rachel, warte!“, rief Herr Meinzer mir hinterher, also blieb ich stehen. Ich kniff die Augen zusammen und drehte mich wieder zu ihm um. ,,Was hat Derek dir denn getan? Ich weiß, dass er kein unfassbar netter Junge ist, doch was war so schlimm, dass du dich mit ihm prügeln musstest?“, fragte er mich und sah mich besorgt an. ,,Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.“, antwortete ich und dachte dabei an Charlie, der das sicherlich so gewollt hätte, dass ich nichts sage. Nicht mal Herrn Meinzner. Ich wandt meinen Blick von ihm ab und wollte weiter gehen. ,,Geht es denn um dich, Rachel? Weil du sagtest, dass er homophob ist.“, fragte er weiter und hielt mich auf. Ich schluckte und drehte kurz meinen Kopf zu ihm um während ich ihm sagte:,,Nein, es ist schon okay Herr Meinzner, ich krieg das hin.“ Dann lief ich einfach weiter auf die nächste Treppe zu, die mich weg von ihm führte. Es tat mir irgendwie leid, dass ich ihn so abweisen musste. Er wollte mir doch nur helfen.


Dann, vor der sechsten und letzten Stunde verließ ich mein Versteck zwischen den Kleiderständern und versuchte halbwegs selbstbewusst Richtung Klassenraum zu laufen. Von einigen die vorher die Sache mit Derek gesehen hatten, erhaschte ich starrende Blicke und Tuscheleien, aber das machte mir nichts aus. Ich musste mich vor ihn stellen, ihm zeigen, dass ich stark bin. Ich öffnete also die Tür zum Klassenzimmer, trat herein und wurde sofort angestarrt - einige unterbrachen sogar ihre Gespräche. Ich atmete einmal tief durch, sah Derek genau in seine grünen Augen und bemerkte, dass sein rechter Wangenknochen geschwollen war, und bestimmt genauso weh tat wie meine Hand. Frau Bucher sah mich schief an und sagte:,,Schön, dass Sie sich auch wieder her getraut haben, Frau Storm. Ich hoffe doch ich muss Ihre Eltern nicht über Ihre Abwesenheit informieren.“ Ich ignorierte sie. Derek wollte gerade seinen Mund öffnen und etwas sagen, doch ich unterbrach ihn. ,,Ich hoffe du hast mich vorhin verstanden, Derek.“, sagte ich eindringlich und funkelte ihn böse an. Ich merkte wie die ganze Klasse den Atem anhielt und setzte mich auf meinen Platz. ,,Freu dich nicht zu früh, Storm.“, erwiderte er und lachte. Ich tat auf cool, lächelte schief, doch ich schwöre, im Inneren war jeder meiner Muskeln angespannt. In meinem Kopf drehte sich alles nur noch um Charlie und dass es meine Schuld sein wird, wenn er Prügel bekommt. Meine Schuld.

 

Als ich am Freitag an der Bushaltestelle stand, und ‚Fighter‘ zur Ermutigung rauf und runter hörte, sah ich wie ein paar Meter entfernt Charlie angelaufen kam. Sofort schaltete ich meine Musik aus und lief zügig auf ihn zu. Als ich bei ihm angekommen war, lächelte er mich bloß an und ich umarmte ihn. Ich drückte ihn fest an mich und sog seinen Geruch auf. ,,Es tut mir so leid.“, flüsterte ich nach ein paar Sekunden und stellte mich vor ihn. Sein Lächeln verschwand und seine Stirn legte sich in Falten. ,,Was?“, erkundigte er sich und lief mit mir wieder auf die Bushalte zu. Dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende, und achtete dabei immer wieder auf seine Augen. Ich hätte damit gerechnet, dass er mich anschreien würde und mich hassen würde, doch nichts dergleichen passierte. ,,Er hatte es doch eh schon auf mich abgesehen.“, sagte er und versuchte zu lächeln, was aber nur halb klappte.
An der Schule angekommen, liefen wir mit den anderen zum Haupteingang, doch Charlie blieb stehen. Ich stoppte ebenfalls und sah ihn fragend an. ,,Ich habe Angst.“, flüsterte er gerade so laut, dass ich es noch unter den Gesprächen anderer verstehen konnte. Ich nahm seine Hand, hielt sie fest und antwortete:,,Ich auch.“ Dann atmeten wir tief durch und gingen in die Schule hinein.
Bis wir auf unseren Plätzen saßen hielten wir uns an den Händen und sahen uns immer wieder ängstlich um, obwohl uns eigentlich bewusst war, dass Derek und seine Freunde immer etwas später kamen. Kurz vor den Klingeln sah ich noch zur Tür, und genau in diesem Moment marschierte Derek und seine Gefolgschaft in den Klassenraum. Seine welligen, etwas längeren Haare sahen heute irgendwie besonders kraus aus und sein Blick war gleich von Anfang an auf Charlie gerichtet. Er grinste und wollte gerade zu uns gehen, als es klingelte und die Lehrerin hinein kam. Ich drehte mich zu Charlie um und sah wie er mich mit aufgerissenen Augen anschaute. ,,Beruhige dich.“, sagte ich ihm und wusste zur gleichen Zeit, dass es nicht klappen würde.
Es klingelte zur Frühstückspause. Angst breitete sich in meinem Körper aus und ich bewegte mich nicht vom Fleck. Wie am Tag davor, als ich den Zettel erhalten hatte. Jeder meiner Muskeln war angespannt, Charlies ebenfalls. Ich hörte einige Meter von uns entfernt meinen Exfreund mit seinen Freunden quatschen und lachen, und wusste, dass es um uns ging. Ich versuchte mich irgendwie wach zu rütteln, als ich mitbekam wie er sich uns näherte. Charlie hatte neben mir schon eingepackt und wollte abhauen, doch als er ihn sah, blieb er wie angewurzelt stehen. ,,Da ist ja unser neuer bester Freund.“, sprach Derek und stützte sich mit einem Arm auf unserem Tisch ab. Auf meiner Seite. Ich war immer noch dabei mich wach zu rütteln. ,,Dass er schwul ist, ist leider bedauerlich.“, verhöhnte er Charlie und lachte leicht. Endlich wach gerüttelt. Ich holte tief Luft und stand mit einem Ruck auf. ,,Du hast mir gestern anscheinend doch nicht zugehört.“, zischte ich und stand wenige Zentimeter entfernt von seinem Gesicht. ,,Was hast du denn, ich hab ihn nicht angerührt.“, antwortete er, hob gespielt seine Hände und lächelte mich an. ,,Und außerdem, Charlie, kannst du dich nicht selbst verteidigen?“, fragte er nach und ging einen winzigen Schritt auf ihn zu. Ich sah wie sich Charlies Muskeln anspannten und stellte mich sofort vor ihn. ,,Nicht.“, wisperte ich und hoffte, dass nur er es gehört hatte. ,,Süß. Irgendwann sehen wir uns schon ohne deine Kampflesbe und dann können wir uns mal unterhalten.“, drohte er, drehte sich um und ging. ,,Und dann bin ich nicht alleine!“, rief er noch, bevor er zur Tür heraus ging.

Alleine hätte er keine Chance gegen meinen besten Freund. Er ging nämlich vier Mal in der Woche trainieren und könnte ihn alleine zu Boden bringen. Deshalb brauchte er seine Kumpels um ihn fertig machen zu können. Denn er alleine war ein kleines Weichei, der ohne Hilfe nur ein kleiner Junge war, dem man mit Leichtigkeit seinen Lutscher klauen konnte. Charlies Nüstern bebten und seine Augen waren noch auf den Ort konzentriert, wo vor wenigen Sekunden noch Derek stand. ,,Komm schon.“, sagte ich als ich mein Zeug eingepackt hatte, nahm ihn wieder an die Hand und ging mit ihm hinaus. ,,Danke.“, sagte er noch und drückte mir einen Kuss auf die Wange. ,,Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Für dich würde ich meine Hand ins Feuer legen.“, wisperte ich noch und ich weiß bis heute nicht, ob er das gehört hatte. ,,Mein nächster Schritt tut mir leid.“, sagte er leise, ließ meine Hand los und lief zügig Derek und seinen Freunden hinterher. ,,Nicht!“, rief ich und wollte ihm hinterher rennen. Doch eh ich los rennen konnte, war er schon bei der Jungsgruppe angekommen. Charlie packte Derek an der Schulter und brachte ihn so zum stehen. Derek gab ein „Iiih“ von sich, als ob ihn sonst was angefasst hätte. Charlie lachte verächtlich und schubste ihn mit voller Wucht gegen die Wand, wie ich es schon getan hatte. Bloß um einiges härter. Derek riss seine Augen auf und gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Er hatte Angst. ,,Verarsch mich nicht.“, war das Einzige, was Charlie von sich gab. Eindringlich und böse. Tim und Jason waren ihm ausgewichen und standen etwas Abseits. Derek erwiderte nichts mehr. Man sah ihm an, dass er damit nicht gerechnet hätte. Ich huschte schnell zu Charlie vor und zerrte ihn so sanft es ging in Richtung Pausenhof.


 

,,'Cause it
Makes me that much stronger
Makes me work a little bit harder
Makes me that much wiser
So thanks for making me a fighter

Made me learn a little bit faster
Made my skin a little bit thicker
Makes me that much smarter
So thanks for making me a fighter“
- Fighter, Christina Aguilera



Stille

Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross sagt: es gibt 5 Phasen der Trauer die man durchlebt, wenn man stirbt, oder nach einem schweren Verlust.

Die erste Phase ist die Verweigerung. Man will nicht wahrhaben, dass eine bestimmte Person auf einmal nicht mehr da ist, oder dass man in ein paar Tagen, Wochen, Monaten, Jahren stirbt. Man will nichts davon wissen, dass man den besten Freund oder die Eltern nie wieder sehen wird.

Dann wird man wütend – auf die Überlebenden, die Ärzte, sich selbst.

Danach kommt die Verhandlung. Man würde alles geben, um sich nur noch einen weiteren Tag zu gewähren oder um diese eine Person nur noch ein einziges Mal wieder zu sehen.

Wenn das alles nicht funktioniert, kommt die Depression. Man macht sich fertig, man schließt sich ein, um dem Tod vielleicht doch noch zu entkommen, oder weil man denkt, dass es dadurch besser wird.

Irgendwann muss man aber akzeptieren, dass man alles getan hat und muss los lassen. Man akzeptiert den Tod der einen bevor steht oder den man erlebt hat. Man lebt weiter, oder nicht. Doch man muss los lassen.

 

Am Wochenende informierte ich mich erstmal etwas über den 11. Klässler. Er heißt Phil Wittich und ist 17. Ich fragte Charlie am Telefon, wie das Gespräch mit ihm eigentlich abgelaufen ist und wann er das denn gesagt hätte. Er erklärte mir, dass er das Mittwoch bei Facebook gemacht hatte, weil er ihn anders nicht erreichen konnte. Er erzählte ihm eine Geschichte von einem Jungen, der sich in jemand anderen verliebte. ,,Was, wenn ich der Junge wäre, der sich in dich verliebt hätte?“, fragte er ihn danach. Dann bekam er keine Antwort, und es war ihm sofort klar, dass er es weiter erzählen würde. Ich sagte, dass es nicht die beste Idee war es ihm so zu sagen, Doch er erwiderte, dass es keine bessere Möglichkeit gäbe jemanden so etwas zu sagen. Ich musste ihm zustimmen. Es gab eigentlich überhaupt keine gute Möglichkeit jemanden so etwas zu sagen.

Danach bin ich zu ihm gegangen und wir haben bis in die Nacht GTA gespielt. Dann sind wir irgendwann eingeschlafen und ich bin am nächsten Morgen wieder abgehauen.
Ich kam wieder zu Hause an, machte mir erstmal Frühstück und las ein Buch für die Schule. Zwischendurch schrieb ich noch mit ein paar Leuten und irgendwann um elf abends war ich dann mit dem Buch fertig. Meine Augen taten total weh und ich war hundemüde, also machte ich mich bettfertig und legte mich ins Bett, da ja am nächsten Tag wieder Schule war. Meine Augen waren auf den abgenutzten Buchrücken von „Das Leiden des jungen Werthers“ gerichtet, als sie sich langsam schlossen.
Irgendwann mitten in der Nacht klingelte mein Handy und ich schreckte aus dem Schlaf. Da es in meinem Zimmer noch stockduster war wurde ich von dem Licht meines Handys geblendet. Ich schaute kurz auf die Uhrzeit: es war halb drei nachts. Ich nahm ab und hörte Charlies zitternde Stimme.
,,Rachel...“, seine Stimme brach ab. Er weinte schrecklich und seufzte laut.
,,Charlie?! Was ist los?“, sagte ich hysterisch und setzte mich sofort aufrecht hin, wobei sich das Ladekabel von meinem Handy löste.
,,Du musst mir helfen.“, versuchte er zwischen dem Schluchzen herauszubringen.
,,Was? Was ist passiert?!“, sagte ich und meine Stimme zitterte schon vor Angst.
,,Schleserstraße, bitte... Derek.“, sagte er noch und legte auf. Sofort machte ich mein Licht an, sprang auf, versuchte mich so leise wie möglich anzuziehen um meine Eltern nicht zu wecken. Mein Herz raste und sprang mir fast aus der Brust. Ich war so aufgeregt, dass ich mich andauernd beim Anziehen verzottelte. Nach ungefähr fünf Minuten hatte ich es endlich geschafft. Ich schrieb noch einen Zettel:,,Bin Charlie helfen. Mir geht es gut, bin morgens wieder da.“ und klebte ihn von außen an meine Zimmertür. Dann stürmte ich die Treppe runter, zog meine Schuhe, meine Jacke und meinen Schal an, schnappte mir meinen Schlüssel und rannte zur Tür hinaus. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich morgens nicht wieder da sein würde.
Mein Herz raste vor Anstrengung und Angst, als ich gerade fünf Minuten gerannt bin. Ich konnte nicht anhalten, ich wurde bloß immer schneller. In meinem Kopf drehte sich alles. Was ist ihm wohl passiert? Was, wenn er schon sehr stark verletzt ist? Was, wenn ich Derek und seinen Freunden auf dem Weg begegne und sie mich auch angreifen, weil ich Charlie helfen will und ich einfach ich bin. Ich würde mich nicht verteidigen können. Ich würde schreien wie ein kleines Mädchen und um mich schlagen. Ich würde so oder so verlieren – auch wenn ich mich noch so stark gebe.

Zwei Straßen vor der Schleserstraße verlangsamte ich meinen Lauf und blieb stehen. Dann versuchte ich zu lauschen ob noch irgendjemand hier ist. Ich hörte rechts von mir einen Fernseher in einer Wohnung laufen, links von mir hörte ich eine klägliche Katze und am Himmel rauschten zwei Flugzeuge über mich hinweg. Auf einmal fragte ich mich warum Charlie keinen Krankenwagen gerufen hat. Warum war er überhaupt draußen? Wieso hat er gerade mich angerufen?
Ein paar Sekunden später, als ich mir sicher war, dass hier niemand mehr war, setzte ich erneut zu einem Sprint an, bog dann irgendwann ab und befand mich dann in der Schleserstraße. ,,Charlie?“, hallte mein Ruf durch die Straße. Meine Stimme prallte von den Häuserwänden ab und schallte wieder in die Straße. Dann sah ich jemanden ganz hinten an einer Linkskurve sitzen. Der Fußweg war dort leicht erhöht, deshalb befand sich dort ein Geländer. Er war ein schwarzer zusammengekauerter Fleck kurz vor der Kurve der seine Hände vor sein Gesicht hielt. Oder war es nur eine Hand? ,,Charlie.“, wisperte meine erstickte Stimme und in wenigen Sekunden war ich bei ihm – mit der Angst was mich erwartete. ,,Hey, ich bin's, Rachel.“, flüsterte ich und hockte mich vor ihn. Er wurde vom Schein der Laterne gelb angeleuchtet und so sah ich, dass sein Gesicht nass und seine Hände voller Blut waren. Ich versuchte vorsichtig seine Hand vom Gesicht zu lösen um mir anzuschauen was ihm passiert war. Als ich sie leicht berührte nahm er sie von selbst weg und sah mich mit rot unterlaufenen Augen an. Sein eines Auge war blau geprügelt und sein Nasenrücken sah sehr schlimm aus. Seine beiden Wangenknochen waren lila und seine Lippen aufgeplatzt. Ich strich mit meinen Fingern sanft über seinen Wange. Mir kamen die Tränen und erst dann bemerkte ich, dass er seine Hände vor seinen Bauch presste. ,,Oh mein Gott... was...?“, stotterte ich, schob seine Hände weg und sah wie aus der linken Seite seines Bauches Blut quoll. Dann musste ich richtig weinen und fragte ihn was passiert ist. Er öffnete seinen Mund und wollte gerade antworten, als er sein Gesicht schmerzverzogen zusammenzog und seinen Kopf nach hinten gegen die Mauer an die er saß schlug. ,,Hör auf!“, schrie ich hysterisch und umfasste seinen Kopf von hinten, wobei ich merkte, dass er auch dort blutete. ,,Das ist nicht von gerade.“, stöhnte Charlie, suchte meine Hand und umfasste sie. ,,Okay, wir kriegen das hin.“, schluchzte ich und wischte mir mein Gesicht trocken. Charlie schnaufte leise, als Andeutung eines kurzen Lachens. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und rief einen Krankenwagen.
,,Guten Tag, Maria-Janette Krankenhaus, was kann ich für sie tun?“
,,Hallo? Hier spricht Rachel Storm.“




Es gibt 5 Phasen der Trauerbewältigung.


Rachel:,,Verweigerung.“
Derek:,,Wut.“
Anna:,,Verhandlung.“
Phil:,,Depression.“
Charlie:,,Akzeptanz.“

 

 

 

***

 




Ich hatte meine Augen geschlossen. Ich saß auf einem Stuhl am Fenster des Zimmers und ließ die Sonne meine linke Seite wärmen. Dabei konzentrierte ich mich auf das leise Piepen des Apparates, das Charlies Herzschlag verdeutlichen sollte.
Der Krankenwagen kam ziemlich schnell, doch ich konnte es einfach nicht ertragen meinen Freund so leiden zu sehen. In meiner Verzweiflung habe ich mich irgendwann neben ihn gesetzt, meinen Arm um ihn gelegt, natürlich ohne ihm Schmerzen zu bereiten, um ihn und mich etwas zu beruhigen. Doch trotzdem hat er die ganze Zeit vor Schmerzen gestöhnt und geweint und ich konnte einfach nichts dagegen machen. Dann, als der Krankenwagen kam, musste ich seine und meine Eltern anrufen. Meine haben ihm und mir nur Glück gewünscht und seine sind sofort zum Krankenhaus gefahren. Sie wissen noch nicht warum er verprügelt wurde, oder von wem. Ich wusste das wahrscheinlich schon, fragte mich aber immer noch warum er mich angerufen hatte und nicht den Krankenwagen, und warum er so spät überhaupt noch draußen unterwegs war. Mir brannten die Fragen während wir auf den Krankenwagen gewartet haben zwar auf der Zunge, doch ich wollte ihn nicht damit belasten.

Seine Eltern sind heute Mittag nach Hause gefahren, um ein paar Sachen für ihn zu holen und um sich für einige Stunden auszuruhen. Es war für sie sehr stressig und schlimm ihren Sohn so zu sehen, vor allem, weil sie dachten, dass bei ihm alles in Ordnung ist. Und diese Ungewissheit macht sie verrückt. Mich haben sie zwar gefragt, doch ich habe gesagt, dass ich nichts wüsste. Und ich habe nicht für mich, sondern für Charlie gelogen. Er hätte nicht gewollt, dass sie es so erfahren. Oder von mir. Er hätte sich da selber durchkämpfen wollen – zum richtigen Zeitpunkt. Also hielt ich meinen Mund. Ich musste ihnen aber versprechen hier zu bleiben, dass er jemanden da hat, wenn er aufwacht. Wenn er aufwacht. Die Ärzte sagen, dass sein Zustand wegen der inneren Verletzungen und seiner Kopfverletzung relativ instabil sei... Wenn er nicht wieder aufwacht weiß ich nicht wie ich weiter leben soll.
Dann, als es ungefähr um vier war, klopfte jemand an der Tür. Zaghaft sagte ich:,,Ja?“, und jemand öffnete die Tür. ,,Hier.“, sagte eine Frau, die wahrscheinlich eine Schwester war. ,,Danke.“, sagte ein Typ und trat in den Raum hinein. Ich hörte es nur an der Stimme, dass es ein Junge war, weil ich meine Augen immer noch geschlossen hatte. Die Tür ging wieder zu, ich lehnte mich nach vorne und öffnete meine Augen. Und als ich sah wer da auf mich zu kam, fuhr ich zusammen und riss meine Augen auf. ,,Hey, ähm...“, begann Phil zu reden und reichte mir seine Hand. ,,Rachel.“, sagte ich, stand auf und ignorierte sie. ,,Okay, hey Rachel.“, wiederholte er und ließ seine Hand wieder sinken. ,,Hör zu, ich war nicht dabei.“, fing er gleich an. Ich schnaubte verächtlich. ,,Bei was? Bei der Prügelei, bei der mein bester Freund schwer verletzt wurde? Bei dieser asozialen Aktion, an der nur intolerante Schweine wie du dran beteiligt sein können? Das meinst du doch, oder?“, sagte ich gedämpft um nicht zu laut zu werden. ,,Ja.“, sagte er und seufzte. ,,Moment, woher weißt du dann davon?“, fragte ich und runzelte die Stirn. Er nahm sein Handy hervor und zeigte mir eine Nachricht von Derek:,,Wir haben der Schwuchtel schön die Fresse poliert, hoffe er verreckt daran.“ Ich sog scharf Luft ein und wurde auf einmal total wütend. ,,So ein Dreckspack. Der bekommt noch alles zurück. Jeden einzelnen Schlag.“ Ich würde dann zwar nicht besser sein als er, doch in diesem Moment dachte ich nicht daran. Er steckte sein Handy wieder weg und sagte einfach nichts. Was sollte er denn auch sagen. ,,Warum hast du es weiter erzählt?“, fragte ich ihn und setzte mich wieder. Er setzte sich auf einen Stuhl links von mir und sah mich an. ,,Ich war einfach geschockt. Ich dachte es wäre eine Neuigkeit die man nun mal so herum erzählt.“, sagte er und zuckte mit den Schultern. Sofort musste ich anfangen zu lachen. Seine Ernsthaftigkeit bei diesem Satz war lächerlich. Und zwar richtig. ,,Wie bitte, was?! Das war die dümmste Ausrede die ich je gehört habe.“, versuchte ich unter meinen Lachen hervor zu bringen. ,,Warum dumm? Es ist so.“, beteuerte er. ,,Verarschen kann ich mich auch alleine.“, sagte ich und grinste. Er lehnte sich zurück und schloss für kurze Zeit seine Augen. ,,Ich verarsch dich aber nicht.“, sagte er und wirkte schon weniger entschlossen als vorher. ,,Ich glaube ja, dass du selbst schwul bist, und aus lauter Wut und um es zu vertuschen hast du ihn verraten. Und jetzt fühlst du dich schuldig und kommst hier her. Was willst du denn hier? Sagen, dass es dir leid tut? Ihm deine Liebe gestehen?“, meine vierte Frage konnte ich nicht mehr stellen. ,,Sag mal geht’s noch?! Das hast du dir ja schön ausgedacht. Du kannst deiner Schwuchtel alleine beim Sterben zusehen.“, schrie er fast, stand auf und stürmte zur Tür, doch ich rannte ihm hinter her und hielt ihm am Arm fest. Er drehte sich um und sah mich böse an. ,,Was?“, zischte er. ,,Sag das noch mal.“, knurrte ich und packte ihn am Kragen. ,,Schwuchtel.“, wiederholte er und sah mich provozierend an. Wie ich es hasse. Ich ließ ihn los, ließ das Adrenalin meinen Körper ausfüllen, holte aus und klatschte ihm eine, sodass er einige Schritte nach links stolperte. ,,Los, jetzt kannst du mich auch verprügeln. Komm schon.“, äußerte ich und atmete tief ein. Er richtete sich wieder auf und sein Blick raste. Er schaute kurz zu Charlie und dann wieder zu mir. Dann passierte etwas wirklich Merkwürdiges. Sein rasender Blick verwandelte sich in Trauer und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er fasste sich an seine Wange, die einen schönen Abdruck von meiner Hand hatte. Dann fing er an zu weinen. Ich hatte noch nie einen anderen Jungen außer Charlie weinen sehen. Dann kam er auf mich zugelaufen, wischte sich seine Tränen weg, und ich hielt aus Schutz meine Arme gekreuzt vor mein Gesicht. Doch er war zu stark und riss meine Arme auseinander. Er hielt meine Handgelenke fest und drückte meine Arme so links und rechts neben meinen Kopf. Ich kniff meine Augen zusammen, weil ich gleich einen Schlag erwartete, doch es kam nichts. ,,Ich habe doch gesagt, dass ich nicht dabei war.“, flüsterte er. Als ich sie wieder öffnete stand er schwer atmend vor mir, seine Tränen liefen sein Gesicht entlang und er starrte mich einfach an. Ich kann diesen Moment gar nicht so intensiv beschreiben wie er tatsächlich war. Sein Blick war eindringlich, traurig und wütend zugleich. Wir standen einige Sekunden so da und ich hatte Angst was er machen würde. Kurzzeitig hatte ich sogar den Gedanken, dass er mich küssen würde, als Beweis dass er nicht schwul ist, doch den verwarf ich gleich wieder. Obwohl er mich irgendwie so ansah.
Dann ließ er auf einmal ruckartig von mir ab, drehte sich herum und lief auf die Tür zu. Doch als er die Türklinke in der Hand hatte drehte er sich leicht zur Seite damit ich ihn besser verstehen konnte und sagte:,,Sag ihm, dass ich da war. Es tut mir leid.“ Dann öffnete er die Tür und verschwand. Und ich stand da, den Tränen nahe, und starrte auf die Tür aus der Phil gerade ging.
Irgendwann abends, es muss kurz nach dem Abendbrot gewesen sein, kamen Charlies Eltern wieder. Sie hatten eine große Reisetasche in der Hand und lächelten als sie mich sahen. Die Schwester musste ihnen schon erzählt haben, dass Charlie nicht wieder aufgewacht ist, denn sie fragten mich nicht danach. Sie stellten die Reisetasche neben seinem Bett ab und setzten sich auf die zwei anderen Stühle hier im Zimmer. ,,Hast du was gegessen, Rachel?“, fragte mich Charlies Mutter, Isabell, und lehnte sich etwas vor. Sie wollte wahrscheinlich nur diese unerträgliche Stille unterbrechen, die ich schon die ganze Zeit ertragen musste. Diese unerträgliche Stille, die mir den Atem raubte. Die Stille, die einfach alles schmerzlich machte. Jede Bewegung, jeden Atemzug, jedes Wort das man aussprach. Sie füllte den Raum und nahm jeden in Beschlag der ihn betrat. Selbst die Musik aus meinen Kopfhörern konnte sie nicht übertönen. Nicht einmal das Piepen des EKGs. Diese unerträgliche Stille, die einen den Tod hören lässt. Er schleicht sich langsam an und kommt immer näher, je schwerer und erdrückender die Stille wird. Und wenn sie so unerträglich ist, dass man fast nicht mehr atmen kann, dann ist er da. Der böse, unverzeihliche Tod. Die böse, unverzeihliche Stille.
Doch ich kann noch atmen. Alles ist gut.
,,Ja, ich habe mir vorhin etwas beim Chinesen nebenan geholt.“, antwortete ich und versuchte zu lächeln. ,,Dann ist ja gut. Wir haben auch schon was gegessen.“, sagte sie und seufzte leise. Ein absurdes Thema für diese Situation. Nach einigen weiteren Minuten begann Isabell ein neues Thema:,,Wir müssen in ein paar Stunden leider wieder nach Hause, weil wir morgen wieder Arbeiten müssen. Ich weiß, es ist schwer, aber könntest du vielleicht diese Nacht hierbleiben? Du musst nicht, aber es wäre wirklich nett von dir.“ Wie kann man zu diesen traurigen Augen nein sagen? Normale Eltern würden wahrscheinlich so lange hier bleiben bis ihr Sohn wieder aufwacht, doch seine Eltern waren Anwälte und hatten morgen früh eine wichtige Gerichtsverhandlung. Jedenfalls konnten sie ja nicht einfach nicht hingehen und deshalb verstand ich sie. Und ich verstand sie wirklich. Ich glaube nämlich es ist leichter einen Anruf zu bekommen um zu erfahren ob jemand aufgewacht ist oder nicht, anstatt die ganze Zeit dieser Stille ausgesetzt zu sein. Aber ich ertrage sie gerne, weil sie mir vertrauen und ich für Charlie über Feuer gehen würde. Was von beiden mehr weh tut, Stille oder Feuer, weiß ich nicht.
Jedenfalls unterhielten wir uns noch etwas und irgendwann, so um 12 Uhr nachts, überließen sie mich dann dem schlafenden Charlie. ,,Und du rufst sofort an, wenn etwas ist, okay?“, sagte Charlies Vater, Owen, und ging noch mal zu seinem Sohn ans Bett. Er beugte sich zu ihm runter und gab ihm ein Kuss auf seine Stirn. Isabell tat das gleiche und streichelte Charlie noch an seinem Arm. Es brach mir das Herz. ,,Ja.“, antwortete ich, etwas zu spät, und lächelte. ,,Okay. Wir wissen ja, dass wir uns auf dich verlassen können. Sag ihm, wenn er aufwacht, dass wir leider einen Gerichtstermin haben. Wäre ein anderer hier als du, dann würden wir natürlich nicht gehen. Nur, dass du es weißt.“, erklärte mir Isabell und umarmte mich. Ich legte auch meine Arme um sie und schloss meine Augen. Ich habe es schon die ganze Zeit ertragen, da werde ich es jetzt wohl auch können. Und als Owen sich auch von mir verabschiedet hatte gingen sie. Sie gingen einfach und ließen mich wieder alleine. Und es war so verdammt still.

Ich steckte wieder die Kopfhörer in meine Ohren und drehte die Musik auf. In diesem Moment lief „To All of You“ von Syd Matters. Danach „Obstacles“ vom selben Künstler. Ich brauchte solche ruhige Musik zu diesem Zeitpunkt einfach – mein Blick lag die ganze Zeit ruhig auf Charlie. Er hatte einen Verband um seinen Kopf und sein eines Auge war nun schon lila. Um seine Nase hatte er auch einen Verband. Ich glaube sie war angebrochen. Seine beiden Wangenknochen waren immer noch angeschwollen und lila, an seiner Lippe begann sich die Wunde zu schließen. Seinen Bauch sah ich nicht. Sein Gesicht sah jedenfalls schon schlimm genug aus.
Nach einigen Stunden stand ich auf und lief hinaus in den Flur um eine Nachtschwester zu suchen. ,,Hallo?“, fragte ich und ging einige Schritte. Nach ein paar Sekunden kam eine Schwester hinaus in den Flur gelaufen und sah mich fragend an. ,,Mein bester Freund Charlie liegt hier drinnen... könnte ich mich zu ihm legen?“, fragte ich sie. ,,Welches Zimmer?“, wollte sie wissen und kam auf mich zu. Ich ging einige Schritte zurück und zeigte auf die Tür. ,,Dieses hier, Zimmer 304.“, sagte ich, die Schwester betrat das Zimmer, las sich seine Krankenakte durch und verneinte meine Frage. Ich bedankte mich trotzdem freundlich und fragte stattdessen nach ein paar Kissen. Diese bekam ich und legte sie neben sein Bett, damit ich wenigstens in seiner Nähe war. Da ich schon ziemlich lange wach war konnte ich meine Augen kaum noch offen halten und schlief irgendwann ein.

Draußen herrschte ein rasender Sturm. Die Regentropfen schlugen durch das offene Fenster auf den Holzboden. Die Gardinen rissen fast von der Stange, weil der Wind sie so stark antrieb. Draußen grollte der Donner so laut, dass der Boden bebte und die Blitze machten den Himmel für eine Sekunde taghell. Ich hockte unter dem geöffneten Fenster an der Wand und hatte die Beine an meinen Körper heran gezogen. Ich umklammerte sie mit meinen Armen und wog mich hin und her. Es war kalt und angsteinflößend. Auf einmal merkte ich, wie meine Handgelenke warm wurden. Ich nahm sie von meinen Beinen weg, und sah das Blut. Es quoll aus zwei großen Schnitten, die vertikal waren. Suizidschnitte. Ich verblutete.

Die morgendliche Visite riss mich aus meinem Schlaf. Eine Arzt und zwei Assistenzärzte betraten das Zimmer. ,,Hallo, Sie müssen Rachel sein.“, sagte der Arzt und reichte mir seine Hand. Ich stand auf und reichte ihm meine. Ich war noch total benebelt von dem Traum und musste mich erst einmal wieder wach kriegen.

Ich warf einen kurzen Blick auf sein Namensschild und begrüßte ihn auch:,,Hallo, Doktor Weber.“ Er lächelte mich an und seine zwei Assistenzärzte standen schüchtern hinter ihm. ,,Hallo.“, sagte ich erneut und gab den beiden meine Hand. Der eine hieß Doktor Omelly und die andere hieß Doktor Jackson. Sie lächelten mich beide an und Dr. Omelly nahm sich die Krankenakte. ,,Das hier ist Charlie Hustem. Er wurde letzte Nacht von einer Gruppe von ungefähr drei Personen verprügelt, hatte eine Kopfverletzung, eine Stichwunde an der linken Seite seines Bauches, Verletzungen im Gesicht und einige Innere Verletzungen. Er wurde gestern Morgen operiert und liegt jetzt im Koma. Wir wissen nicht wann er wieder aufwacht. Falls er in den nächsten zwei Tagen nicht wieder aufwacht, müssen seine Eltern entscheiden was mit ihm passiert.“, fasste er alles zusammen und blätterte die Akte weiter durch. Ich habe die komplizierten medizinischen Begriffe weg gelassen, weil ich mir sie nicht merken konnte und ich sie eh nicht verstanden habe. Danach fragte Dr. Weber nach den Möglichkeiten die seine Eltern hatten und was sie bei der Operation genau gemacht haben. Danach erneuerte Dr. Jackson Charlies Werte und sie verließen beide den Raum. Ich wusste die Möglichkeiten die Isabell und Owen hatten schon, das hatten sie mir gestern Morgen nach der Operation erklärt. Und die waren nicht die besten. Es gibt ja schließlich kein Wundermittel, das ihn wieder aufwachen lässt. Leider.

Dr. Weber blieb noch im Raum und setzte sich neben mich auf einen Stuhl. Er hatte eine dunkle Hautfarbe, graue, kurze Haare, einen Vollbart und eine Brille mit dünnem, silbernen Rand. Er sah wirklich nett aus. So, als hätte er schon viel Erfahrung in seinem Beruf und seinem Leben. Er sah mich an und sagte:,,Rachel, ich kann mir vorstellen, dass es wirklich schwer ist, wenn man den besten Freund so sieht.“ Ich nickte. Ich wusste nicht warum er jetzt mit mir darüber reden wollte, es kam mir irgendwie komisch vor. ,,Weißt du, mein bester Freund wurde vor zwei Jahren auf offener Straße erschossen und ich war nur kurz im Laden um mir Zigaretten zu kaufen. Als ich wieder heraus kam sah ich, wie er von einer Kugel durchlöchert wurde – sie traf in seinen Bauch und ich wusste sofort, dass er das nicht überleben würde. Ich glaube dir geht es heute ähnlich wie mir damals.“, erzählte er und ich musste erstmal schlucken. Das war wirklich krass. ,,Wie haben Sie das ausgehalten?“, fragte ich ihn. ,,Gar nicht. Zeit... Zeit heilt glaube ich sehr viel. Oder rückt es zumindest in den Hintergrund. Aber sobald du Angst oder Trauer in den Vordergrund lässt, ist es unerträglich. Das bringt dich irgendwann um den Verstand. Naja und nach zwei Jahren ist zum Glück alles sicher im Hintergrund verstaut.“, erläuterte er mir und lächelte, obwohl er einen traurigen Blick hatte. Ich atmete laut aus und legte meinen Kopf in den Nacken. ,,Rauchen Sie noch?“, fragte ich ihn und er musste schnaufen. Er schüttelte den Kopf und sagte:,,Nein, seit diesen Vorfall nie wieder.“ ,,Kann ich mir vorstellen.“, sagte ich und setzte mich wieder normal hin. ,,Naja, ich muss dann mal wieder an die Arbeit. Ich wünsche mir wirklich, dass Charlie bald wieder aufwacht. Bis dann.“, sagte er, stand auf und verließ das Zimmer.
Nach ein paar Minuten merkte ich, wieviel Hunger ich eigentlich hatte. Ich zögerte erst, doch dann warf ich einen kurzen Blick auf Charlie. Ich nahm noch einmal kurz die Stille war, die mir verriet, dass es wohl noch etwas dauern würde bis er aufwacht, nahm meine Jacke und verließ so schnell es ging das Krankenhaus. Ich weiß, dass man sich auf ein Gefühl der Stille nicht verlassen kann, doch ich habe es irgendwie gespürt, und deshalb war es wohl okay, wenn ich mir im Bäcker nebenan ein belegtes Brötchen kaufte. Ich bezahlte schnell und rannte dann fast wieder zum Krankenhaus zurück, um ja nichts zu verpassen. Seine Eltern würden es mir nie verzeihen, wenn niemand da ist, wenn der aufwacht. Schnell lief ich dann die Treppen hoch, da der Fahrstuhl voll war und es mir einfach zu lange gedauert hat und betrat Charlies Zimmer. Sofort, als ich den Raum betrat, erfasste mich wieder diese unerträgliche Stille. Es tat so unfassbar weh. Ich rückte mir den Stuhl neben das Krankenbett, umfasste mit der einen Hand seine und aß mit der anderen mein Brötchen.

Als ich fertig war, saß ich einfach einige Stunden da, starrte nach vorne, hielt Charlies Hand und konzentrierte mich darauf nicht anzufangen zu weinen. Denn dann könnte ich wahrscheinlich nicht wieder aufhören. Doch ich hatte so verdammte Angst. Was würde ich denn ohne ihn machen? Was würde wohl passieren, wenn ich in die Schule gehe und Dereks Gesicht sehe? Was würde er wohl tun, wenn Charlie tot ist? Ich könnte sein Gesicht nicht ertragen. Ich könnte diese grünen Augen nicht ertragen, die in lauter Hass auf Charlie geblickt haben, während er auf ihn eingeprügelt hat. Und seine Kumpels werde ich auch nicht ertragen können. Ich werde die ganze Schule nicht ertragen können, weil sie es wissen. So eine Nachricht weiß doch nach eins, zwei Tagen schon jeder. Und sie würden ja so Mitleid haben und um ihn Trauern. Und sie werden zu mir kommen und sagen wie leid es ihnen doch tut. Da scheiß ich drauf. Sie kannten ihn doch gar nicht und waren vor dieser Aktion doch auch nur homophob. Das kotzt mich echt an, dass erst so etwas einem die Augen öffnet. Es kotzt mich an. Und während ich mir diese ganzen Gesichter vorstellte, vor allem von Derek und seinen Freunden, kamen mir die Tränen. Ich fragte mich, was Charlie um die Zeit überhaupt draußen wollte und fing an zu weinen. Ich drückte Charlies Hand etwas fester, weil ich meinen Griff vor lauter Gedanken gelockert hatte und wischte mir die Tränen mir der anderen Hand weg. Das war das erste Mal, dass ich seit dem „Unfall“ geweint habe. Und es fühlte sich so gut an.

Ich weinte noch eine halbe Stunde bis meine Tränen irgendwann versiegt waren. Ich hatte die Hoffnung noch nicht verloren, dass er aufwacht. Es musste um eins gewesen sein, als ich völlig entkräftet vom Weinen meinen Stuhl so drehte, dass ich genau auf Charlie schauen konnte. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Stuhl und nahm wieder seine Hand. Ich steckte mir wieder meine Kopfhörer in die Ohren und machte leise meine Musik an. Ich machte mir ein paar 80'er an, einfach weil sie meiner Meinung nach „damals“ mit ihren Songs noch viel mehr Emotionen rübergebracht haben. Während ich also leise meine Musik hörte fixierte ich meinen Blick auf Charlies Gesicht. Ich wollte endlich wieder in seine wunderschönen Augen schauen. Ich liebte es wie sie funkeln, wenn er lachte.

Und dann auf einmal bewegte sich kurz etwas in seinem Gesicht. Ich riss mir die Kopfhörer aus den Ohren und legte mein Handy weg. Hatte ich mich vielleicht nur getäuscht? ,,Charlie?“, flüsterte ich leise. Ich setzte mich wieder richtig hin und lehnte mich nach vorne. Ich hielt immer noch seine Hand. Dann sah ich, wie seine Augen sich unter seinen Lidern leicht bewegten und ich sprang von meinem Stuhl auf. ,,Charlie?“, fragte ich erneut, jetzt etwas lauter. Und dann, ganz vorsichtig, öffneten sich seine Augen, er blinzelte ein paar Mal und sah mich dann an. ,,Oh mein Gott, Charlie!“, sagte ich und meine Tränen kamen mir schon wieder hoch. Mein Herz fing an zu rasen und meine Stimmung änderte sich schlagartig. Er lächelte leicht und drückte meine Hand, als er sah, dass ich anfing zu weinen. ,,Rachel, find's gut, dass du hier bist.“, flüsterte er seine ersten kratzigen Worte. ,,Ich dachte ich hab dich verloren.“, wisperte ich, legte mich leicht von der Seite auf ihn und nahm ihn in den Arm. ,,So schnell wirst du mich nicht los.“, flüsterte er und ließ meine Hand nicht los, als ich sie ihm entziehen wollte. Bei diesen Worten musste ich grinsen. Dann suchte er mit seinem Blick im Zimmer herum und blieb beim Wasser stehen. Ich verstand, gab ihm den Becher und half ihm sich aufzurichten. Als er gierig das Wasser trank, sagte ich:,,Ich hole mal schnell einen Arzt.“ Und das tat ich dann auch. Nach einigen Minuten kam ich dann mit Dr. Weber wieder zurück ins Zimmer, der zum Glück gerade keine OP hatte, und war erleichtert als Charlie immer noch munter mit seinem Becher in der Hand in seinem Bett saß.

 

 

 

 

 

,,You think you got the best of me
Think you had the last laugh
Bet you think that everything good is gone
Think you left me broken down
Think that I'd come running back
Baby you don't know me, 'cause you're dead wrong

What doesn't kill you makes you stronger
Stand a little taller
Doesn't mean I'm lonely when I'm alone
What doesn't kill you makes a fighter
Footsteps even lighter
Doesn't mean I'm over cause you're gone“

Kelly Clarkson, What doesn’t kill you (Stronger)

 

Zigarettengeschmack

 

Ich steckte mir die Zigarette zwischen die Lippen, entzündete das Feuerzeug, hielt es an die Kippe und zündete sie an. Sofort zog ich an ihr und nahm sie dann von meinem Mund weg. Der Himmel war für diesen Novembertag ziemlich blau. Das machte mich glücklich. Wenn man von den anderen Dingen die passiert sind absieht, machte mich das wirklich etwas glücklich. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah nach oben. Ich beobachtete die weißen, faden Wolken, wie sie langsam über den Himmel krochen und atmete tief ein.

Nachdem Dr. Weber bei Charlie war, sollte ich den Raum verlassen, weil sie ihn untersuchen wollten. Diese Chance nutzte ich gleich um Charlies Eltern anzurufen. Sie haben sich gefreut und wollen nach der Verhandlung, irgendwann am Nachmittag, zum Krankenhaus fahren. Sie fragten auch wie es ihm geht, und ich sagte es ginge ihm gut. Ich wusste natürlich nicht ob es ihm wirklich gut ging, aber es hat sie glaube ich beruhigt. Und dann stand ich da und rauchte. Ja, auch nach der Geschichte von Dr. Weber rauchte ich. Es erinnerte mich an Charlie. An seiner Zigarette habe ich mit Ende 15 das erste Mal gezogen und dann immer mit geraucht – ich weiß eigentlich gar nicht warum, ich glaube, es ist einfach diese Stimmung die es machte. Es machte diese wunderbare Stimmung von langen Nächten, bei denen man mit Freunden am See sitzt, Alkohol trinkt und über Gott und die Welt redet. Über Melancholie, das Leben, den Tod und die Zukunft. Die Kippen kaufte Charlie bei der Tankstelle die in seiner Nähe war. Sie fragten nie nach seinem Ausweis, deshalb konnte er sie dort holen und brachte mir auch immer welche mit.

Ich rauchte noch zu Ende und ließ die warmen Strahlen der Sonne auf mich herunter scheinen. Ich genoss es noch einmal, bevor der wirkliche Winter eintrat.

 

Ich betrat sein Zimmer und mir fiel als erstes auf, dass die Stille weg war. Alles war viel freier und klarer, ohne diesen Druck. Sie hatten Charlies Kopfende etwas höher gestellt, sodass er fast aufrecht sitzen konnte. ,,Hey.“, sagte ich und lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Ich ging auf ihn zu und setzte mich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett. ,,Du hast geraucht.“, stellte er fest und ich nickte bloß. ,,Ich würde grad auch gern eine rauchen.“, sagte er und schnaubte belustigt. Ich musste grinsen und sagte:,,Glaub ich dir.“

,,Hat dir Dr. Weber schon gesagt wie lange du „geschlafen“ hast?“, fragte ich ihn nach einer Weile und wusste kein anderes Wort um seinen Zustand zu beschreiben. Er nickte. ,,Okay.“, murmelte ich und sah ihm in seine Augen. ,,Hast du Schmerzen?“, fragte ich. Er sagte, dass er zwar Schmerzen hatte, aber da sie ihm Schmerzmittel gegeben haben, würde es nicht mehr so schlimm sein. ,,Das ist gut. Aber warum warst du überhaupt so spät noch draußen?“, erkundigte ich mich ich runzelte die Stirn. Ich wollte diese Frage endlich beantwortet haben, denn das fragte ich mich schon seit seinem Anruf. Charlie räusperte sich und fing dann an zu erzählen:,,Naja... also ich konnte wie öfters in letzter Zeit nicht einschlafen und bin dann halt ein bisschen raus gegangen um frische Luft zu schnappen.“ Ich hob meine Augenbraue und fragte:,,Und wie sind dann Derek und die anderen auf dich gestoßen?“ ,,Ich wollte halt einfach mal etwas alleine machen.“, sagte er und sah mich an. ,,Das heißt?“, fragte ich nach. Er seufzte und fuhr fort:,,Die ganze Zeit bist du da und musst mich sozusagen beschützen. Und ich kam mir halt nicht mehr wie ein Kerl vor, sondern wirklich wie eine Schwuchtel.“ Ich unterbrach ihn:,,Und deswegen hast du ihn aufgefordert sich mit dir zu prügeln?“ Ich war entsetzt. Ich sah den Schmerz in seinen Augen. Sie waren rot und verquollen. Ich merkte wie er die Situation vor seinem Inneren Auge widerspiegelte. ,,Nein, hab ich nicht. Er hat mich angeschrieben und meinte, dass er alleine draußen wäre und wir alles klären sollten. Ich wusste natürlich auf was er hinaus wollte. Und ich wusste auch, dass er dort nicht alleine sein wird. Ich hab mich einfach überschätzt. Zudem hatten sie noch eine Stichwaffe.“, erklärte er und ich konnte ihn nur fassungslos anschauen. ,,Ich weiß was du jetzt denken musst, aber ich konnte nicht anders.“, fuhr er fort. In gewisser Weise konnte ich ihn verstehen. Ich war wirklich immer da und nahm ihn an die Hand oder sonst was. Aber ich habe nie daran gedacht, dass er sich wirklich wie eine „Schwuchtel“ fühlen würde. ,,Es tut mir leid.“, flüsterte ich und mir kamen die Tränen. ,,Hey, es ist nicht deine Schuld. Ich hab das selbst zu verantworten.“, versuchte er mich zu trösten und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich nickte leicht und schluckte die Tränen runter. Ich nahm seine Hand, hielt sie fest und fragte ihn:,,Kannst du dich noch daran erinnern, wie alles abgelaufen ist?“ Er nickte. ,,Ja, eigentlich schon. Aber Rachel, ich brauche eine Pause. Ich bin so müde.“ Ich sagte ihm, dass ich das verstehe und später wiederkommen würde. Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn und schon war er wieder eingeschlafen.
Ich war so froh, dass er noch am Leben war.

 

 

***

 

 

Am Mittwoch saß ich wieder im Bus und fuhr zur Schule. Ich hatte Charlie das mit Phil noch erzählt, und er sagte einfach nichts. Er hatte mich einfach nur angestarrt und konnte wahrscheinlich nicht glauben was ihm gerade alles passiert, und dass sich Phil die Mühe gemacht hatte zum Krankenhaus zu fahren. Es war ein komisches Gefühl und zu gleich hatte ich solch eine Wut. Was würde ich tun, wenn ich die vier sehe? Sind sie überhaupt noch hier, oder sind sie schon von der Schule geschmissen wurden, weil Charlie vielleicht doch schon gegen sie ausgesagt hat?
Ich stieg aus dem Bus und lief mit einem Tunnelblick auf die Schule zu. Ich wollte nicht angesprochen werden, ich wollte nicht sehen, wie jemand über Geschehenes redet und mich ansieht. Mein Blick war also auf den Boden gerichtet und meine Kopfhörer waren noch in meinen Ohren. Dann, als ich vor dem Haupteingang der Schule stand, liefen meine Füße einfach nicht mehr weiter. Ich blieb ruckartig stehen und warf mich mit den Rücken an die Wand neben dem Eingang. Ich wusste, dass Derek schon drinnen sein würde, also lief ich keine Gefahr ihm hier zu begegnen. Ich schloss meine Augen, damit ich die Blicke der anderen nicht sehen musste, und hörte Philipp Poisels „Wie soll ein Mensch das ertragen“. Und das fragte ich mich wirklich. Wie soll ein Mensch das ertragen? Ich blieb also noch ungefähr drei Minuten dort stehen, bis das Lied seinen Höhepunkt erreicht hatte, nahm meine Kopfhörer aus den Ohren, steckte mein Handy weg und lief in die Schule herein. Und genau in diesem Moment klingelte die Schulglocke.

Mein Biologiebuch umklammernd lief ich auf den Klassenraum zu. Ich hatte mir extra Zeit gelassen, sodass Derek und seine Kumpels schon im Raum waren. Ich wusste nicht ob das unbedingt besser war, aber dann würde es bald klingeln und sie oder ich konnten nicht mehr so viel machen. Ich atmete noch einmal tief durch und überwand die unsichtbare Mauer, die mich zurückhielt auch nur einen Schritt vorwärts zu machen. Es war alles nur Kopfsache. Mein Kopf sagte nein, er wollte nicht, dass ich dort hinein gehe. Er fand es unvernünftig. Dumm. Doch ich befahl meinen Beinen einfach loszugehen, egal was passieren würde. Das müsste ich nun einmal aushalten, ich kam nicht drum herum. Als ich also diese Mauer überwand und in den Raum eintrat, fühlte ich ungefähr 20 Blicke an mir kleben. So schnell war ich noch nie an meinem Platz und hatte meine Sachen ausgepackt.

Ab diesem Moment zählte ich die Sekunden bis der Unterricht anfing. Ich saß wie angewurzelt auf meinem Stuhl und fühlte die Kälte von dem leeren Platz neben mir. Komm schon, Rachel. Dann drehte ich meinen Kopf langsam nach rechts hinten, wo Derek, Tim und Jason saßen. Ich erkannte in den Gesichtern noch blasse Blutergüsse aber funkelnde Augen. Moment. Wenn Tim und Jason auch Blutergüsse hatten, waren sie etwa auch beteiligt? Als ob sie stolz darauf waren, was sie getan haben. Auf einmal drehte sich Jason leicht und sah mir direkt in die Augen. Ich war kurz davor wegzuschauen, doch ich riss mich zusammen und hielt seinem Blick stand. Er zog seine eine Augenbraue hoch und sah mich provozierend und zugleich auch fragend an. Aus dem Augenwinkel sah ich wie er Derek anstieß um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Ich musste die Luft anhalten. Er sah mich nun auch an und als ich in seine klaren, grünen Augen schaute durchlief mich ein Schauer. Aus der Ferne hörte ich ein:,,Das lohnt sich jetzt nicht mehr.“, aus seinem Mund. Und er hatte Recht, denn wenige Sekunden später klingelte es zum Unterricht, ich konnte mich wieder umdrehen und meine Muskeln für die nächsten 45 Minuten wieder entspannen.

Bis zur vierten Stunde ist alles ruhig geblieben, doch in Geschichte saß Derek direkt hinter mir und das konnte ich keine 15 Minuten lang ertragen, also fragte ich, ob ich auf Toilette darf. ,,Ja, natürlich“, antwortete mir meine Lehrerin und somit verließ ich den Klassenraum. Ich schloss die Tür hinter mir und lauschte erst einmal, ob sich in den Gängen sonst noch jemand befand, und schlich dann los. Ich lief an den anderen Klassenräumen vorbei, in denen ich laute Gespräche und Gelächter hörte, trat dann aus dem Gang hinaus, sah mich noch einmal um und ging dann langsam zur Toilette.
Als ich am Spiegel stand zog ich meinen Lippenstift nach und wuschelte einmal kurz durch meine Haare. Ich sah mir direkt in die Augen und wusste nicht was ich in ihnen erkennen sollte. Man sagt doch immer, dass Augen die Tore zum Herzen seien oder so, aber ich erkannte nichts. Mein Herz schlug in meiner Brust und pumpte das Blut durch meine Adern, welches mich leben lässt. In meinen Augen erkannte ich nur Angst und Wut. Vielleicht war ja das genau das, was mein Herz mir sagen wollte. Aber das wäre doch unlogisch. Ich spürte meine Gefühle doch sowieso, warum soll ich sie dann in meinen Augen sehen? Oder war das nur ein Sprichwort für soziale Interaktionen? Ich wurde aus diesen ganzen tollen Sprichwörtern einfach nicht schlau.

Als ich aus der Mädchentoilette hinaus treten wollte, hörte ich links neben mir Schritte, die nur von den Jungs drüben kommen konnten. Und als ich dann an eben dieser Toilette vorbei laufen wollte, sah ich auch wem die Schritte gehörten. Derek stellte sich vor mich und packte mein Handgelenk. ,,Geh weg!“, rief ich, entriss ihm mein Handgelenk und lief einige Schritte rückwärts. Ins Mädchenklo zu flüchten war keine Option, er würde mir so oder so nachkommen. ,,Bitte, warte.“, forderte er mich ruhig auf und ging langsam auf mich zu. ,,Geh einfach weg.“, sagte ich und mein Herz raste in meiner Brust. Meine Stimme war monoton und ich versuchte sie stark klingen zu lassen, doch sie versagte beim letzten Wort. ,,Halte dich einfach von Charlie fern, dann passiert dir auch nichts.“, erklärte er mir. Ich schnaubte, doch sah kein merkwürdiges Grinsen in seinem Gesicht. Er meinte es tatsächlich ernst. ,,Ich werde mich nicht von ihm fernhalten, er ist mein bester Freund.“, antwortete ich ihm. ,,Dann wird dir definitiv was passieren.“, sagte er ruhig und kam weiter auf mich zu – ich wich wieder zurück. ,,Das halte ich aus.“, erwiderte ich leise und vor Angst floss mir eine Träne die Wange runter. ,,Du tust immer so stark, dabei sehe ich doch wie zerbrechlich du bist.“, sagte er und drängte mich bis zu einer Wand nach hinten. Ich wischte mir meine Träne weg und presste mich mit dem Rücken an die Wand. Natürlich hätte ich auch nach links oder rechts ausweichen können, doch ich war wie gelähmt. Er hatte mich voll im Griff. Er spielte mit meiner Angst. ,,Bitte lass uns einfach in Ruhe“, flüsterte ich und schon wieder rollten Tränen über meine Wangen, die eigentlich nicht da sein durften. ,,Das kann ich nicht.“, sagte er, stellte sich vor mich und stemmte seine Arme gegen die Wand, sodass unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. Seine grünen Augen funkelten mich an, so wie sie es schon einmal getan hatten. Meine Beine wurden weich, doch das durfte nicht passieren. Er hatte Charlie ins Krankenhaus befördert. Das durfte nicht passieren. ,,Was soll das?“, wisperte ich und wischte mir erneut meine Tränen weg. ,,Ich weiß es nicht, aber entspann dich, ich werde dir nichts tun.“, flüsterte er und legte eine Hand sanft an meinen Hals. Diese Hand hatte auf Charlie eingeprügelt. Doch er hatte mich so im Griff, dass ich nichts machen konnte. Er neigte seinen Kopf etwas zur Seite, ich schloss meine Augen und ich spürte schon seinen Atem an meinen Lippen. Seine Lippen berührten fast meine, es schienen nur ein paar Millimeter dazwischen zu liegen. Es stand eine unfassbare Spannung zwischen uns, die man richtig spüren konnte. Ich wartete also auf einen Kuss, doch er kam nicht. Stattdessen legte er beide Hände um meine Hüfte, zog mich an sich ran und umarmte mich. Ich verstand gar nichts mehr. Ich legte einfach meine Arme um seinen Oberkörper und drückte ihn an mich. Ich spürte seine Muskeln an meinen Oberarmen und ich hätte dahin schmelzen können. Doch es war so falsch. Das alles hier war so falsch, doch ich machte es einfach. Er sagte, dass mir nichts passieren würde, und ich vertraute ihm. Aus irgendeinem perfiden Grund vertraute ich ihm in diesem Moment. Ich glaubte sogar ein kaum hörbares „Es tut mir so leid“ zu hören. Hatte ich mir das nur eingebildet?
Und ich war so dumm. So naiv. So leichtgläubig. So dumm.
Irgendetwas in mir schaltete die richtige Rachel wieder an. Ich löste mich aus der Umarmung und stieß ihn leicht von mir weg. ,,Verschwinde.“, forderte ich und funkelte ihn böse an. ,,Ich weiß nicht was das hier soll, aber du solltest jetzt lieber gehen.“, erklärte ich noch einmal deutlicher, weil er mich verdutzt ansah. Dieser verdutzte Gesichtsausdruck verwandelte sich aber schnell in ein schelmisches Grinsen. ,,Dachtest du, mir hat das etwas bedeutet, gerade eben?“, fragte er mich und grinste weiter. ,,Nein.“, sagte ich mit starker Stimme und machte einen Schritt nach rechts. ,,Dachtest du etwa, das mir das gerade etwas bedeutet hat?“, fragte ich zurück und grinste ihn auch an, während ich weiter an ihm vorbei lief. ,,Ja.“, antwortete er und ging einen Schritt auf mich zu. ,,Warum sollte es? Du denkst auch du kannst jede haben, oder? Und vor allem die, deren beste Freunde du krankenhausreif prügelst, stimmt‘s?“, sagte ich nun etwas lauter. Er zuckte bloß mit den Schultern und sagte:,,Ich habe doch gespürt wie deine Atmung schneller wurde und dein Brustkorb gebebt hat – du hättest dich küssen lassen.“ Ich schnaubte und sagte:,,Ich hätte mir eher meinen Arm abhacken lassen. Und ich sag es jetzt zum letzten Mal: verschwinde.“ Er lachte und fragte mich, was denn passieren würde, wenn er nicht verschwinden würde. Dann ging ich auf ihn los. Ich stieß ihn gegen die Wand und presste mein Bein gegen seinen unteren Bauch. Mein einer Arm drückte gegen seinen Hals und mit dem anderen stützte ich mich an der Wand ab. ,,Ich denke mal Charlie hat dir das von dem Messer erzählt, oder?“, fragte er und grinste mich an, doch ich sah wie er nach Luft rang. ,,Du hättest es nie hierher mit genommen. Du hast es verschwinden lassen.“, sagte ich und versuchte so sicher in meiner Annahme zu klingen wie möglich. ,,Du bist gut.“, krächzte er leise. ,,Ich weiß. Und jetzt verschwinde.“, sagte ich leise und eindringlich. Aber ich konnte gar nicht so schnell gucken da hatte er den Spieß auch schon umgedreht. Er löste mit Leichtigkeit meinen Griff und drückte mich gegen die Wand. Ich versuchte mir meine Angst nicht ansehen zu lassen. Wie bei Hunden. Doch sein Gesicht zog sich zusammen und er ließ von mir ab. Er drehte sich um und lief wieder in Richtung des Klassenraums. In diesem Moment fiel mir ein Stein vom Herzen.
Als ich hörte wie die Tür zufiel atmete ich noch einmal tief ein und aus und ging dann auch wieder in den Klassenraum.

 

 

 

 

,,Meine Haut aus Glas bricht,

wenn deine Blicke Steine werfen.“

Casper, Lippenlesen

 

 

 

Flashbacks

Ich starrte in den Spiegel und betrachtete mein Gesicht. Ich erkannte mich gar nicht mehr wieder. Ich legte eine Hand an meine Wange und beobachtete mich dabei im Spiegel. Ich kannte die Person die ich da anstarrte nicht mehr. Sie war mir vollkommen fremd. Und ich erschrak vor mir selbst als ich das erkannte. Ich hielt meine Hand vor meinen Mund während sich mein Gesicht zusammenzog und die ersten Tränen kamen. Ich starrte diese geröteten Augen an und konnte nicht fassen, dass ich mich verloren hatte. Ich versuchte mich irgendwie zurückzuholen, doch ich schaffte es nicht. Ich versuchte dieses Gefühl der „alten Rachel“ zurückzuholen. Dieses selbstbewusste, tolle Gefühl, wenn ich zum Beispiel mit Charlie durch die Gänge lief und wir zusammen lachten. Oder wir uns über Derek und seine Kumpels lustig machten. Doch ich war hier bei ihm zu Hause im Bad, sah mir in die Augen und wusste nicht mehr wer mich da anstarrte. Das musste wieder geändert werden.
Nach fast zwei Wochen im Krankenhaus war Charlie endlich wieder froh zu Hause zu sein. Dort war er jetzt auch schon sechs Tage und in einer Woche konnte er wieder in die Schule. Anna hatte mir einige Nachrichten geschrieben, in denen sie sich für Dereks Verhalten entschuldigte. Sie hatte sich von ihm getrennt. Ich hätte nie gedacht, dass sie so nett sein kann. Ich war wirklich überrascht.
Ich hatte fast jede Nacht Albträume und konnte die letzten drei Wochen auch nicht regelmäßig in die Schule gehen. Meine Eltern sprachen zum Glück mit meinem Klassenlehrer und er konnte meine Situation verstehen. Ich versuchte alles so gut wie möglich nach zu holen, obwohl ich zu Hause eh die meiste Zeit vor meinem Fenster saß und raus starrte. Ich schaute einfach nur raus, weil mein Kopf für alles andere zu voll war. Deshalb war ich heute bei Charlie. Ich wollte endlich meinen Kopf frei bekommen, ich wollte endlich wieder andere Gedanken in meinen Kopf lassen, außer das Bild von Charlie, wie er im Koma vor mir lag. Ich atmete einmal tief ein und aus, verließ das Badezimmer und ging wieder zu Charlie ins Zimmer.
Normalerweise sagten wir uns immer, dass wir uns für niemanden kaputt machen sollen. Wir sagten uns immer, dass wir immer Energie für uns aufbewahren sollen. Doch in diesem Moment tat ich das nicht. Ich steckte meine ganze Energie in die Sache mit Charlie und war ausgelaugt. Und das alles nur, weil er schwul ist. Mein Gott, ist das denn so schlimm, wenn man sich für das gleiche Geschlecht interessiert? Liebe ist doch Liebe, oder? Ob ich nun ein Mädchen oder einen Jungen liebe ist doch total egal. Und jeder kann es doch nachvollziehen, wenn man jemanden liebt. Aber warum gibt es dann noch so viel Hass auf Homosexuelle? Nur weil es vielleicht nicht „normal“ ist, nur weil es die Mehrheit nicht macht? Dabei geht es doch beim Teenagersein um das „Ausbrechen“ aus dem System, sodass man eben nicht wie alle anderen ist. Aber wenn man dann wirklich mal „anders“ ist, dann ist es wieder falsch. Ich verstehe diese Gesellschaft nicht. Oder vielleicht ist es nicht mal die Gesellschaft an sich, sondern einfach nur Derek und seine Kumpels. Ich finde auch noch heraus was seinen Hass auf Homosexuelle so sehr schürt, dass er jemanden krankenhausreif prügelt, ehe er von ihm ablässt.

,,Alles okay?“, fragte mich Charlie als er mir in die Augen schaute. Ich setzte mich neben ihn auf sein Bett und antwortete:,,Naja, passt schon.“ Er nahm meine Hand und streichelte sie leicht mit seinem Daumen. ,,Es ist wegen mir, oder?“, wollte er wissen und sah mich fragend an. Ich schüttelte meinen Kopf und sagte:,,Nein, es ist wegen Derek. Und wegen Phil.“ Er wusste eigentlich warum es mir nicht gut ging, aber er hatte so Angst dass es wegen ihm sein könnte, dass er immer wieder nachfragte. Und ich verstand es. Und jedes Mal entschuldigte er sich, und jedes Mal sagte ich ihm, dass er sich nicht dafür entschuldigen muss. Er kann doch schließlich nichts dafür. Und auch wenn es mich von Innen zerreißt - wenn ich gehen würde, hätte er niemanden mehr, und das kann und will ich ihm nicht antun. Er war schließlich auch immer für mich da als es mir schlecht ging. Er war für mich da, als ich mir einen Sidecut und einen Underut verpassen ließ und mich alle für einen Kerl oder eine Lesbe hielten. Heute wäre mir das relativ egal, aber damals in der achten Klasse hatte mich das noch verletzt. Erst hatte ich mir die Haare kurz geschnitten, und dann folgte er Stilwechsel. Ich verabschiedete mich von engen Oberteilen und den Blicken der Jungs, weil es einfach nicht zu mir passte. Ich wollte rebellisch sein, ich wollte ausbrechen, so wie es Teenager nun einmal tun. Und Charlie hatte mir dabei geholfen. Er war mit mir einkaufen und hat jeden dumm angemacht der mich aufgrund von meinen Klamotten oder meinen Haaren runtergemacht hat. Und jetzt werde ich für ihn dasselbe tun. Ich weiß nicht ob ich dafür stark genug bin, ob meine Schale dafür hart genug ist, ob mein Herz das alles erträgt oder ob ich irgendwann unter der Last zerbreche, aber ich würde es gerne versuchen. ,,Würdest du etwas Ruhe finden, wenn ich dir erzähle wie alles abgelaufen ist an dem Abend?“, fragte er mich und lächelte mich aufmunternd an. War das passend in dieser Situation? Ich wollte nicht, dass ihm es dadurch schlechter geht, wenn er alles wieder hoch holen musste. Doch ich wartete seit dieser Nacht auf eine Erklärung und die wollte ich nun bekommen. Ich wollte wissen, ob nur Jason und Tim daran beteiligt waren – oder ob sie überhaupt beteiligt waren. ,,Ja, wenn es dir nichts ausmacht.“, flüsterte ich. Er schluckte und begann zu erzählen:,,Also wie gesagt, er hatte mir geschrieben und ich habe ja gesagt und einen Ort vorgeschlagen. Dann bin ich gleich los und als ich in der Schleserstraße ankam und alle drei gesehen habe – es waren übrigens Derek, Tim und Jason – dachte ich noch, dass ich es schaffen könnte. Ich hatte aber unfassbare Angst. Ich lief dann also auf die drei zu und sah schon Dereks Grinsen im Gesicht. Er sagte, dass er sich freuen würde mich zu sehen. Als Antwort bin ich das kurze Stück noch auf ihn zu gerannt und habe ihn geschlagen. Ich kann mich leider nicht mehr genau daran erinnern was sie alle gesagt haben, aber an das was passiert ist kann ich mich noch gut erinnern. Jedenfalls ist er erstmal einige Schritte zurück gegangen und schon haben mich Tim und Jason von der Seite geschnappt und ein Stück zurück gestoßen. Dann sind die beiden auf mich zu und Tim hat auf mein Gesicht eingeschlagen, wobei ich aber einige Schläge noch abwehren konnte.“ ,,Moment, Tim ist wohl so stark, dass er sich das rausnehmen kann alleine auf dich einzuschlagen?“, wunderte ich mich. ,,Das Ding ist, dass er leider zuerst angefangen hat zu schlagen. Der andere ist dann immer im Nachteil. Ich erzähl mal weiter... ich hab ihn dann getreten und konnte einige Male zurück schlagen. Jason stand ja aber auch noch neben mir. Der hat mich dann von hinten fest umklammert, sodass Tim weiter zuschlagen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon am Weinen. Da tauchte auch Derek wieder auf und sagte, dass sie doch bitte von der „Schwuchtel“ ablassen sollen. Das taten sie auch und verpissten sich dann. Mein Gesicht tat weh wie sonst was und ich stand heulend vor diesem Arschloch. Du kannst dir die Situation bestimmt vorstellen. Er hat gelacht und wollte mir in den Bauch treten, doch ich hab seinen Fuß geschnappt und ihn nach hinten geschuppst. Das war dann wohl der Zweikampf, den ich mir gewünscht hatte. Dachte ich. Er sagte, dass es jetzt reichen würde, steckte seine Hand in seine Hosentasche und ging auf mich zu. Er laberte mich noch mit irgendetwas zu, aber ich konzentrierte mich auf meinen nächsten Schritt, zudem ich nicht gekommen bin. Er zog blitzschnell sein Messer aus seiner Tasche – ich glaube es war ein Butterflymesser- hielt es mir an die Kehle und schleuderte mich so hart gegen die Mauer, dass ich mir den Kopf aufschlug. Ich versuchte ihn noch aus lauter Panik heraus zu treten, doch er hatte schon mit seinem Messer in meinen Bauch gestochen. Ich muss geschrien haben und sackte zu Boden. Wahrscheinlich hab ich aber nicht geschrien, weil es dann jemand hätte mitkriegen müssen. Dann ist der Pisser verschwunden und ich habe dich angerufen.“ Während er mir das alles erzählt hatte, wäre ich am liebsten zu Derek, Tim und Jason gefahren und hätte ihnen alles heimgezahlt – egal wie. Ich wurde so wütend und zur gleichen Zeit war ich schon wieder den Tränen nahe. ,,Oh Gott.“, war alles was ich heraus brachte und musste erstmal schlucken. ,,Ja.“, murmelte Charlie und seufzte. Es muss unheimlich schwer für ihn gewesen sein mir das alles zu erzählen, doch ich musste es wissen. Es ging nicht anders.
Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte fragte ich ihn, warum er gerade mich und nicht gleich den Krankenwagen angerufen hatte. ,,Ich hatte wahnsinnige Angst. Ich kann es irgendwie auch nicht erklären, es war meine erste Intuition.“, sagte er und räusperte sich. Mein Lächeln verkrampfte etwas als ich meine Trauer zurückhielt. ,,Mach so etwas nie wieder.“, flüsterte ich und nahm seine Hand. ,,Versprochen.“, sagte er. ,,Gut.“

Den restlichen Tag verbrachten wir mit zocken, Popcorn essen und reden. Wir redeten unheimlich viel in letzter Zeit. Aber nicht etwa über die Probleme die wir im Moment hatten, stattdessen schmiedeten wir Pläne für die Zukunft. Wir würden beide eine Ausbildung beginnen und informierten uns die meiste Zeit über die unmöglichsten Berufe, einfach weil es Spaß machte. Dann würden wir zusammen in eine kleine Einzimmerwohnung ziehen, weit weg von dieser Stadt, weil wir uns mehr nicht leisten könnten und würden nachts die Stadt unsicher machen. Und wir würden beide mit Jungs ausgehen, und wir würden den Richtigen finden. Doch wir taten das nur um uns abzulenken. Und das wussten wir beide, wir beide wussten, dass wenn wir jetzt darüber nachdenken oder darüber reden, wir daran zerbrechen würden.

Irgendwann abends wollte ich mich dann auf dem Weg nach Hause machen, weil ich am nächsten Tag versuchen wollte wieder in die Schule zu gehen. Ich stand vor der Tür und umarmte Charlie. ,,Du schaffst das, du bist doch meine Rachel. Und wie heißt es doch in einem 80er Song so schön? – große Mädchen weinen nicht.“, sagte er, als wir uns voneinander gelöst hatten. „Haha, ich bin aber klein.“, antwortete ich und steckte ihm die Zunge raus. ,,Es geht ja nicht um die körperliche, sondern um die geistige Größe.“, erklärte mir und ich verdrehte gespielt genervt meine Augen. ,,Ich weiß doch. Bis dann, ich hab dich lieb.“, sagte ich und öffnete die Tür. ,,Ich dich auch.“, erwiderte er und gab mir beim Rausgehen noch einen Kuss auf die Wange. Als ich vor seine Tür trat, trat ich auf etwas. Ich hüpfte schnell darüber und sah nach was es war. Da lag tatsächlich eine Rose vor der Tür. Charlie, der noch in der Tür stand, hatte sie auch gesehen und sein Blick erstarrte. Ich hob sie auf und las was auf dem Zettel stand:,,Es tut mir leid.“. Charlie nahm sie mir aus der Hand und las es selbst. ,,Was meinst du von wem die ist?“, fragte ich ihn. ,,Phil hat sich doch entschuldigt. Aber er würde das nicht mit einer Rose tun, weil er nicht schwul ist. Das kann nur ein Scherz sein.“, sagte er mit einer wahnsinnigen Blässe im Gesicht. ,,Von Derek? Der würde sich nicht hier her trauen. Er hätte viel zu viel Angst erwischt zu werden.“, beruhigte ich ihn und streichelte seinen Oberarm. ,,Er könnte auch jemand anderen schicken. Und außerdem wissen meine Eltern nicht wie er aussieht. Sie wissen ja nicht mal wer es war.“, sagte er und drehte sich so von mir weg, dass ich meine Hand von ihm wegnehmen musste. Ich runzelte die Stirn. ,,Mmh, du hast es ihnen ja nicht gesagt, stimmt. Aber ich verstehe nicht warum. Es wäre so einfach.“, sagte ich leise und trat hinunter auf den Weg vor den zwei Stufen. ,,Wäre es nicht. Derek hatte das doch genau geplant. Und das weißt du auch.“, erklärte er und machte eine kleine Kunstpause. ,,Ich weiß, dass du nur helfen möchtest und so schnell wie möglich alles wieder ins Reine bringen willst, aber so leicht ist es nicht. Meine Eltern würden es nicht verkraften es alles auf einmal zu erfahren, ich muss mir etwas einfallen lassen. Ich brauche Zeit.“ Ich nickte leicht und antwortete:,,Du hast Recht. Aber die Lage wird sich immer mehr zuspitzen und deshalb darfst du dir nicht zu viel Zeit lassen. Fast hättest du keine mehr gehabt.“ Charlie seufzte, ich lief langsam den Weg vor bis zum Tor, öffnete es und drehte mich noch einmal um. ,,Du weißt, dass du mich hast, wenn du dich jemanden brauchst an dem du dich festhalten kannst. Ich werde immer für dich da sein. Immer.“, versicherte ich ihm und lächelte. ,,Das weiß ich doch, und ich kann mir keine bessere Freundin vorstellen. Irgendwann danke ich dir mal dafür.“, sagte er und schenkte mir sein schönstes, aufrichtigstes Lächeln was ich kenne, und was ich lange nicht mehr gesehen hatte. Ich lächelte zurück, warf ihm einen Luftkuss zu, drehte mich um und machte mich auf den Nachhauseweg.

 

Als ich dann abends um elf in meinem Bett lag versuchte ich mich an die schönen Zeiten zu erinnern. Letztes Jahr waren Charlie und ich zusammen im Urlaub. Wir hatten das eine Woche vorher beschlossen, unsere Sachen gepackt, sind in den Zug gestiegen und sechs Stunden später in Stralsund angekommen. Unsere Eltern wussten natürlich nichts von unserem Abenteuer. Wir sind nämlich in aller Frühe mit unseren Koffern zum Bahnhof gelaufen, haben unseren Eltern einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen und sind in den Zug gestiegen. Sie haben dann ein paar Stunden später bei uns angerufen und uns gefragt ob wir noch ganz bei Sinnen sind. Das waren wir tatsächlich nicht, doch wir kamen heil wieder zu Hause an, wo ein Haufen Ärger auf uns wartete, der uns aber egal war. Jedenfalls sind wir mit 200 Euro Erspartem durch die Stadt gelaufen und haben uns irgendein kleines Hotel gesucht, das wir gerade so fünf Tage mit unserem Geld bezahlen konnten. Charlie hat mich immer in aller Früh eine halbe Stunde mit zum Joggen gezerrt, von der ich gerade mal 15 Minuten durchgehalten habe. Aber das war nicht schlimm, weil ich dann gleich zum Hotel umgekehrt bin und Charlie und mir das Beste vom Büffet gerettet habe. Es gab fast jeden Morgen Croissants mit Marmelade und Eier. Danach sind wir in unser Zimmer duschen gegangen, haben uns fertig gemacht und sind dann meistens um neun morgens aus dem Hotel raus und haben die Stadt unsicher gemacht. Wir haben uns im Laufe des Tages von Burgern, Sandwiches und geklauten Brötchen aus dem Frühstücksbüffet ernährt. Nicht die beste Ernährung, aber besser als gar nichts. Aber das Schönste an dem ganzen Urlaub waren immer noch die Abende und Nächte am Strand. Wir haben uns zusammen in eine Decke gekuschelt und uns in den Sand gesetzt. Wir haben in die Sterne geschaut, dem Meer gelauscht und einfach unser Leben genossen.

Ich weiß nicht ob Charlie damals schon so eine Ahnung hatte ob er schwul ist oder nicht, aber das war in diesen Momenten total egal. Da hat das „wir“ gezählt, da hat unsere Freundschaft gezählt. Da hat es uns nicht gestört, wenn Leute uns komisch ansahen, nur weil wir in Jogginghose und weiten Pullis durch Stralsund gelaufen sind und Faxen gemacht haben. Ja klar hätten wir uns ordentlich anziehen können, doch es war uns einfach total egal. Ich liebe ihn, egal ob im Anzug, in normalen Klamotten, in Jogginghose oder mit blauem Auge und angebrochener Nase. Und er liebt mich so wie ich bin. Ich bin immer neben ihm aufgewacht und sah eigentlich richtig schlimm aus, doch er hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben und mir jeden Morgen gesagt, dass ich das hübscheste Mädchen bin, dass er kennt. Ich sagte ihm, dass er anscheinend nicht viele Mädchen kennt, doch am dritten Tag bin ich dann einfach ohne Make-Up rausgegangen, was vorher für mich unvorstellbar war. Dunkle Augen und Lippen waren für mich ein Muss. Ich habe mich ohne Make-Up unsichtbar gefühlt, hässlich. Doch er hat mir das Gefühl gegeben, dass man auch ohne Schminke strahlen kann. Und das ist eines der Dinge wofür ich ihm unendlich dankbar bin. Als Teene ist es eh immer schwer sich selbst so zu akzeptieren wie man ist, weil man sich nie gut genug vorkommt. Man ist nie gut genug für den Typen auf den man gerade steht, für die Tests die man schreibt, für die Likes auf Instagram oder sonst wo. Doch mir hat es dann gereicht für Charlie „gut genug“ zu sein, weil er mir der liebste Mensch auf der Welt ist. Und er ist für mich der wunderschönste Junge den ich kenne. Und ja, vielleicht ist er im Moment verknallt und vielleicht finden wir irgendwann einen Partner, doch wir werden uns niemals verlieren.

Und das alles ist mir in Stralsund klar geworden, es war die beste Entscheidung die wir damals hätten treffen können. Am letzten Abend haben wir uns laute Musik angemacht. Wir hörten „Georgia“ von Vance Joy und genießten die Atmosphäre. Wir tanzten über den Sand und lachten und Charlie schubste mich halb ins Meer. Irgendwann um drei Uhr nachts sind wir dann in Unterwäsche ins eiskalte Meer gerannt und haben „Baby, du siehst gut aus“ gesungen und haben versucht zu tanzen, während wir bis zur Hüfte im Meer standen. Nach guten fünf Minuten sind wir aber fast erfroren und sind wieder aus dem Meer geflüchtet. Aber es war wunderschön. Danach haben wir uns zusammen ins Bett gekuschelt, Charlie hat mich in den Arm genommen und so sind wir eingeschlafen. Am nächsten Morgen hätten wir fast den Check-Out verpasst, haben also unsere ganzen Sachen in unsere Koffer gestopft und sind ohne uns die Zähne zu putzen aus dem Zimmer geeilt, um auszuchecken. Unsere Zähne haben wir uns dann in der engen Zugtoilette geputzt und sind dann wieder sechs Stunden nach Hause gefahren. Und es waren die besten fünf Tage meines Lebens.
Und mit diesem Gedanken schlief ich sogar mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ein. Und dieses Mal hatte ich keinen Albtraum.

 

Am nächsten Tag morgens im Bus schloss ich die Augen um den Blicken auszuweichen, die auf mich gerichtet waren. Ich erinnerte mich an diesen einen Tag in der siebten Klasse, in der Charlie und ich uns befreundet hatten. Und es war ein richtig klischeemäßiges Kennenlernen. Unser Ethiklehrer teilte uns in Gruppen ein, wir sollten zusammen irgendwas über das Eisbergmodell herausfinden. Es aren zweier Gruppen, und es wurde ausgelost. Charlie war an der Reihe. Er zog einen Zettel aus dem Hut unseres Lehrers, faltete ihn auseinander und sein Blick traf auf mich. ,,Rachel.“, sagte er laut und deutlich und schaute noch kurz zu unserem Lehrer, bevor er seinen Blick wieder auf mich richtete. Ich seufzte leicht, schnappte mir meinen Block und meine Federmappe und setzte mich auf den freien Platz neben ihm und lächelte ihn an so gut ich konnte. Nachdem auch die anderen Gruppen eingeteilt waren, sagte Charlie:,,Na dann, lass uns mal was über dieses Eisbergmodell herausfinden. Ich wette in diesen fünf Arbeitsblättern… stecken in höchstens zweien brauchbare Infos, also überflieg die Teile einfach nur.“ Ich lachte leicht und stimmte ihm zu. Während die anderen leise redeten gingen wir abwechselnd die Arbeitsblätter durch und ich markierte das, was mir wichtig erschien. Charlie tat das gleiche und nach ungefähr zehn Minuten waren wir damit fertig. ,,Okay, es geht also um Kommunikation. Das was ich dir erzähle, ist nur ein kleiner Teil des Ganzen.“, erklärte Charlie und rieb sich mit dem Ende seines Stiftes an der Stirn. Wow, ich kannte vorher niemanden, der sich bei einer Gruppenarbeit wirklich über das Thema unterhält. Ich runzelte die Stirn. ,,Ja. Wenn ich dir sage, wie glücklich ich in den letzten Wochen war und wie wohl ich mich mit meinen Freundinnen fühle, dann ist das eine Sache. Wenn ich aber dabei die Arme verschränke, gekrümmt da sitze und mir die Tränen in den Augen stehen, ist das dann wieder eine ganz andere.“, vertiefte ich. Ich schaute mich kurz um und beobachtete meine „Freundinnen“, wie sie zusammen saßen – natürlich haben sie nicht auf den Lehrer gehört und sich einfach so zusammen gesetzt. Ich sah sie an und hatte einfach keine Lust mich dazu zugesellen. Ich hasste es, wie sie davon erzählten, wie sehr sie sich wieder betrunken hatten und welchen Typen sie so süß finden. Es war nur noch cool Klamotten von H&M zu tragen, und die BH’s mussten auch mit Spitze sein. In der siebten Klasse. Charlie folgte meinem Blick. ,,Okay, ich verstehe, auf was du hinaus willst.“, flüsterte er. Ich seufzte bloß. ,,Keine Ahnung. Ich fühl mich, als ob ich einfach nie richtig dazu gehöre. Ich bin sowieso immer das fünfte Rad am Wagen.“ Ich hatte keine Ahnung, warum ich ihm das erzählte. Wahrscheinlich, weil er es sowieso nicht verraten würde. ,,Warum denn?“, fragte er und legte seine Stirn in Falten. Ich zuckte mit den Schultern. ,,Wahrscheinlich, weil ich anders bin, als die anderen. Wir haben nicht wirklich die gleichen Interessen und ich bin nicht so... laut wie sie.“, versuchte ich ihm zu erklären. Charlie nickte langsam. ,,Ich verstehe, was du meinst. Aber was sind denn so deine Interessen, Rachel Storm?“ Ich verzog das Gesicht und grinste ihn an. Er nennt mich also bei meinem vollen Namen?

,,Ziemlich langweilig. Lesen, zocken, Musik hören.“ Ich verschränkte meine Arme und versuchte mich klein zu machen. Irgendwie waren mir meine Hobbys ziemlich unangenehm. Warum auch immer. Ich wagte einen Blick in Charlies Augen. Doch sie sahen gar nicht so enttäuscht oder belustigt aus, wie ich dachte. Sie strahlten und er zog seine Augenbrauen nach oben. ,,Das klingt gar nicht langweilig. Das ist tatsächlich das, was ich auch gern tue. Okay, ein bisschen Sport kommt noch dazu, aber das ist nicht so der Rede wert.“ Und ab diesen Moment wusste ich, dass ich mich bei Charlie nie unwohl fühlen brauch. Er spülte durch seine Art einfach alle unangenehmen Gefühle weg. Ich lächelte wieder:,,Cool. Aber was noch ganz wichtig ist – was hörst du so für Musik?“ Ich hoffte inständig, dass es kein Techno ist. Er lehnte sich zurück und pustete hörbar Luft aus seinen Lungen, so als ob er seine Anspannung weg pusten wollen würde. ,,Rap, 80er, Rock und einige Songs aus den Charts, aber nur, wenn ich mit ihnen etwas verbinden kann.“ Ich riss meine Augen auf. ,,Charlie – heirate mich.“ Er lachte und lehnte sich wieder nach vorn und entspannte sich, so als ob auch seine unangenehmen Gefühle weggespült wurden. Er grinste und sagte:,,Na gut. Wenn wir mit 40 niemand anderen haben, heiraten wir.“ ,,Deal.“

Mir gefiel es neben Charlie. Der lustige, schüchterne Junge der nie groß aufgefallen war. Er stand in den Pausen meist alleine und gehörte somit zu keiner Gruppe.

Während wir die markierten Satzteile aufschrieben machte ich mir über ihn Gedanken. Er war irgendwie anders als gedacht. Er versteht mich, mit ihm fühle ich mich unbeschwert und er ist eigentlich echt cool drauf. ,,Charlie, hättest du denn etwas dagegen, wenn wir beide ein bisschen zusammen abhängen? Also ähm, praktisch ist das eine Freundschaftsanfrage“, fragte ich ihn und musste etwas über meine Frage lachen. Er drehte seinen Kopf zu mir und lächelte mich an. ,,Rachel Storm, das ist eine fabelhafte Idee. Wenn’s dir nichts ausmacht, können wir ja in der Mittagspause anfangen.“, sagte er und formte seine Hand zu einer Faust. Ich schlug ein und lachte. ,,Und ich nehme deine Freundschaftsanfrage an. Aber was ist mit deinen tollen Freundinnen?“, erkundigte er sich und zog eine Augenbraue hoch. ,,Die können alleine weiter über ihre BH’s diskutieren.“, sagte ich und räusperte mich.
Nach 20 Minuten klingelte es zur Mittagspause. Ich nahm mein Zeug, packte es in meinen Ranzen und lief zu Charlie, der an der Tür auf mich wartete. Meine ,,Freundinnen“ waren schon weiter vorne im Gang, drehten sich zu mir um und fragten:,,Rachel, kommst du?“ Ich schüttelte aus der Ferne den Kopf und rief ihnen zu:,,Nein, ich verbringe ab jetzt meine Zeit mit Charlie.“ Ich hatte sie anscheinend sprachlos gemacht, denn sie schauten mich nur verdutzt an und liefen dann einfach weiter. 13 Jährige Mädchen eben. ,,Wie kann ich es nur wagen mit dir abzuhängen. Das geht ja gar nicht.“, sagte ich ironisch und lachte. ,,Du bist eine ganz Schlimme, Rachel.“, antwortete er und sah mich von der Seite grinsend an. ,,Warum sagst du so oft meinen Namen?“, fragte ich ihn während wir die Treppen runter liefen. ,,Weil ich ihn schön finde. Nicht viele heißen so.“, erklärte er. ,,Okay. Ich mag deinen Namen auch, Charlie.“, sagte ich ihm. Er bedankte sich und hielt mir die Tür zur Cafeteria auf. Wir schnappten uns Tabletts und stellten uns an. An diesem Tag gab es, das weiß ich zu hundert Prozent, Kartoffelpuffer mit Apfelmus, weil das das einzig leckere in dem Angebot war.
Wir saßen schon am Tisch und hatten angefangen zu essen, als Charlie das Schweigen unterbrach. ,,Bevor wir uns anfreunden sollten wir die Fronten klären.“ Ich runzelte die Stirn. ,,Wie? Ich dachte wir sind schon beste Freunde!“, sagte ich und tat überrascht. Er lachte und ich ergänzte:,,Nein Spaß. Dann lass uns mal die Fronten klären. Du bist schon mal nicht mein Typ. Ich stehe eher so auf solche Typen.“ Dabei schaute ich hinüber zu dem Tisch an dem Derek saß. ,,Nicht dass du nicht hübsch wärst, aber wie gesagt: einfach nicht mein Typ.“, fügte ich noch hinzu. Er sah mich daraufhin so an, als ob das mit Derek mein Ernst wäre. Ich zuckte bloß mit den Schultern. ,,Gut... Und danke. Du bist zwar auch sehr hübsch und süß, aber auch nicht mein Typ.“, sagte er und zwinkerte mir zu. ,,Dankeschön.“, antwortete ich und lachte. Charlie nahm seinen letzten Bissen und fragte:,,Wollen wir uns nachher auf eine Runde GTA bei mir treffen? Oder lieber bei dir. Was dir lieber ist.“ Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und lehnte sich in meine Richtung. ,,Gern. Wir können zu mir, ich hab gute Snacks da.“ Er lächelte und, stand auf und nahm unsere beiden Teller. ,,Das hört sich absolut wunderbar an.“

 

An diesem Tag ging Charlie das erste Mal seit dem ,,Unfall" wieder zur Schule. Ich wartete einige Meter entfernt an der Bushaltestelle auf ihn. Und dann sah ich ihn, wie er um die Ecke bog, mit einer Kippe in der Hand, seinem Rucksack auf beiden Schultern tragend und einem Blick der kälter war als Eis. Ich hatte mir in der letzten Woche Ohrlöcher stechen lassen, trug schwarze, kleine, runde Ohrringe und hatte meine Nägel schwarz lackiert. Diese Farbe war die einzige die meine Seele im Moment widerspiegeln konnte. Auch wenn es mir noch besser ging als Charlie, denn er war der, der verprügelt worden war. Er war der, der so gehasst wurde, wegen etwas, wofür er nichts konnte. Aber ich bin seine zweite Hälfte, ein Teil von ihm. Und ihn so leiden zu sehen macht mich genauso fertig. ,,Cooler Pullover.", sagte Charlie als er bei mir ankam, nahm meine Hand und lief mit mir zur Bushaltestelle. ,,Ich weiß.", antwortete ich und grinste. Ich trug meinen schwarzen Casper-Pullover, unter dem ich noch ein längeres Top trug, weil es sonst zu kalt gewesen wäre. Es war schließlich schon Anfang Dezember. Dazu trug ich noch eine dunkelgraue, enganliegende Jeans, schwarze Stulpen und ebenso schwarze Stiefelletten. Ich liebte diese Kombination. 

Charlie und ich hatten uns seit dem Vorfall mit der Rose nicht mehr gesehen. Wir schrieben zwar jeden Tag miteinander und rätselten, von wem die Rose sein könnte, doch bist jetzt kommen nur Tim und Jason in Frage. Leonie haben wir auch schon in Betracht gezogen, weil sie mit uns noch die einzig Normale in der Klasse war, und so vielleicht ihr Mitgefühl ausdrücken wollte, aber das haben wir dann schnell wieder verworfen, weil wir sie so nicht einschätzten. Vor allem würde sie so etwas nicht mit einer roten Rose machen. 
Charlie zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir zwischen die Lippen. Ich zog mein Feuerzeug aus der Tasche des Pullis und zündete sie an. Wir hatten eh noch einige Zeit bis der Bus kam, weil wir die Ersten an der Bushaltestelle waren. Charlie hatte keine Lust auf glotzende Gesichter zu schauen, wenn er nach 5 Wochen wieder in die Schule geht. ,,Bist ja ziemlich dunkel unterwegs heute, Rachel.", fiel ihm auf und zog an seiner Zigarette. ,,Ohrringe?", fragte er und deutete mit seinem Finger zu meinen Ohren. ,,Ja, ich wollte einfach mal was Neues. Und Schwarz gefällt mir eben.", sagte ich, lächelte ihn an und zuckte mit den Schultern. ,,Mir auch.", antwortete er mir und gab mir einen Kuss auf die Wange. Nach ein paar Minuten, wo wir einfach stumm neben einander standen und unsere Kippen rauchten, löste ich die Stille. ,,Ich bin so froh, dass du dich nicht verändert hast, Charlie. Es gibt so viele Menschen die daran kaputt gehen, zu einem anderen Menschen werden. Aber du bist so stark, dass du einfach du selbst bleibst. Das beeindruckt mich.", erklärte ich ihm und sah ihm in die Augen. ,,Danke", sagte er, ,,Du beeindruckst mich auch. Es gibt glaube ich sehr wenige Menschen die bei mir geblieben wären, nachdem was passiert ist. Ich will es heute Abend meinen Eltern sagen... würdest du mir dabei helfen?" Ich holte tief Luft und nickte. ,,Ja natürlich helfe ich dir, du musst mir nur die Uhrzeit sagen, wann ich vorbei kommen soll." Eigentlich wunderte ich mich, dass er meine Hilfe wollte, weil ich eigentlich dachte, dass er das alleine machen will. Vielleicht brauchte er einfach nur jemanden, der ihm den Rücken stärkt. Mir ginge es da nicht anders. ,,Nach dem Abendbrot. Wenn ich‘s davor machen würde, müsste ich ja dann noch eine halbe Stunde in peinlicher Stille mit ihnen am Abendbrotstisch sitzen. Also um sieben.", erklärte er mir. ,,Alles klar.", sagte ich und warf meine Zigarette auf den Boden. Vom Weiten hörten wir schon die ersten Kinderstimmen. Ich merkte wie sich Charlies Muskeln neben mir anspannten, weil ich an ihm lehnte. Ich erinnerte mich an seine Worte, dass er sich durch mich noch schwuler vorkam, und trat einen Schritt von ihm weg. Er sah mich verdutzt an, wusste aber, was ich damit erreichen wollte. Er sollte alleine sicher wirken, ohne seine ,,Kampflesbe", wie es Derek so schön ausdrückte. ,,Scheiß doch drauf. Wir machen das schon seit 3 Jahren so.“, flüsterte er, legte seinen Arm um mich und zog mich wieder zu sich heran. Ich runzelte die Stirn doch musste gleichzeitig lächeln, weil ich das andere ziemlich kalt fand. Die letzten paar Sekunden bevor die anderen kamen holte ich mein Handy und meine Kopfhörer raus. Den einen steckte ich mir ins Ohr, den anderen in Charlies. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und spielte ,,Baby, Du siehst gut aus“ von Bakkushan ab. Wir schauten uns an und ich sah in seinen Augen, dass er wusste worauf ich hinaus wollte. Er sollte sich an die Nacht erinnern, in der wir in Unterwäsche im Meer tanzten und sollte vor allem das Gemurmel von den anderen ausblenden können, die gerade an der Bushaltestelle ankamen und uns natürlich komisch ansahen. Charlie drehte seinen Kopf zu mir und gab mir von oben einen Kuss auf meine Haare. Ich legte meinen Arm um ihn, um ihm zu zeigen, dass ich an seiner Seite bin, egal was passiert. Zwischenzeitlich zogen wir immer mal wieder an unseren Kippen, bis sie aufgeraucht waren. Ich liebte das Rauchen, obwohl es einen umbringen konnte.
Der Bus kam an, wir stiegen ein und ignorierten dabei gekonnt die anderen. Wir setzten uns ungefähr in die Mitte des Busses. Ich merkte wie angespannt Charlie neben mir war und versuchte ihn zu beruhigen, indem ich seine Hand nahm. Es war komisch wieder mit ihm zusammen im Bus zu sitzen. Es war sowieso alles komisch. Ich versuchte an meine Haare zu denken, weil es mich ablenkte. Ich sagte Charlie, dass ich vor hatte mir meine Haare zu einem Pixiecut wachsen und schneiden zu lassen. Der Sidecut wurde mir zu langweilig. Mit so etwas versuchte ich einfach nur irgendwie abzulenken. Ich habe keine Ahnung ob es geklappt hat. Charlie sagte einfach nur, dass es mir stehen würde und ich es machen soll. Ich würde dann süß aussehen. Naja.


Dereks Blick als wir beide zusammen den Klassenraum betraten war irgendwie schockiert. Gehässig, aber dennoch schwebte eine gewisse Angst in seinem Blick. Charlie könnte es so leicht einfach sagen. Er könnte einfach sagen wer ihn verprügelt hat. Dann wäre das ganze einfach vorbei. Ich wusste, dass er Zeit brauchte... doch lange würde ich ihm nicht mehr geben. Seine Eltern mussten es einfach wissen. Charlie meisterte das alles anfangs super. Es sah kurz zu Derek hinüber. Nicht angsterfüllt oder gehässig, sondern gleichgültig. Ich wusste, dass es ihm nicht gleichgültig war, doch er war ein guter Schauspieler. Wir setzten uns auf unsere Plätze, packten unsere Sachen aus, doch das taten wir keine halbe Minute, da drehte sich Charlie auch schon um, sagte:,,Entschuldige mich kurz.“ Und marschierte auf Derek los. Ein paar Minuten bis zum Klingeln hatte er noch. Ich dachte bloß, dass er jetzt keinen Scheiß bauen soll. Ich schlich ihm unauffällig ein paar Schritte hinterher, um das Gespräch zu verstehen. Charlie stellte sich vor ihn, lehnte seine Arme auf den Tisch und kam ganz nah an Dereks Gesicht heran. Dann sagte er ganz leise:,,Wenn du Rachel auch nur ein Haar krümmst... ich verspreche dir, dann treffen sich du... und ich... und die Polizei. Hast du das verstanden?“

Derek verzog das Gesicht und antwortete:,,Entferne doch bitte dein schwules Gesicht von meinem. Da ist uns beiden geholfen. Sonst muss ich dir deine Nase noch einmal brechen.“ Ich huschte schnell hinter ihn, packte ihn an seinen Haaren, zog sie nach hinten, sodass er kurz aufschrie, und flüsterte ihn bittersüß in sein Ohr:,,Oder ich breche dir etwas anderes vorher. Das Spielchen hier wird bald vorbei sein. Wir werden sehen wer zuletzt lacht.“ ,,Oh die Kampflesbe traut sich auch mal was. Wie süß. Schade dass er eine elende Schwuchtel ist, oder, Rachel?“ Ich zog fester, sodass er noch einmal kurz aufschrie und riss ihm vor Wut aus Versehen ein paar Haare heraus. ,,Wer zuletzt lacht.“, wisperte ich und ließ seine Haare los. Genau in dem Moment kam die Lehrerin und wir gingen zurück an unsere Plätze. ,,Du musst es der Polizei sagen, Charlie.“, flüsterte ich ihm nach einer Weile zu. ,,Mh, ich weiß. Wenn es meine Eltern heute Abend verkraften...“, antwortete er leise. ,,Werden sie. Keine Sorge.“

Den Rest des Tages gingen wir Derek aus dem Weg. Ich glaube er hatte wirklich zu viel Angst, dass wir es der Polizei melden würden. Ich hatte ihn zwar nicht so eingeschätzt, aber anscheinend steckte da doch noch etwas Mensch in ihm. Wir setzten uns in der Cafeteria in die letzte Ecke und versuchten das herunter zu würgen was es an diesem Tag gab. Klops mit Bohnen und irgendeiner zermatschten Kartoffel. Nach der Hälfte der Portion schnappte ich mir Charlies Hand und marschierte mit ihm aus dem Saal hinaus, weil ich diese Blicke und das Getuschel nicht mehr ertragen konnte. Und das war auch nicht unhöflich, weil Charlie eh nichts gegessen hat und die ganze Zeit angespannt da saß. Wir gingen hinaus auf den Pausenhof um eine zu rauchen. Eigentlich würden uns die Lehrer die Kippen wegnehmen, doch sie sahen uns an, und wir sahen sie an. Und sie hatten diesen Blick. Da war etwas in ihren Augen... irgendwie Verständnis, irgendwie Mitleid. Natürlich hinter der Fassade des strengen Lehrers. Und sie machten einfach nichts. Sie hatten diesen Blick und gingen weiter. Sie waren älter und haben diese unerträgliche Stille in einem Krankenhauszimmer vielleicht schon einmal erfahren müssen. Ich sage nicht, dass einige der Schüler das nicht schon ertragen mussten, doch bei den meisten kam es einfach nur unnötig neugierig hinüber. Als wenn es sie etwas anginge.

Wir standen einfach da und rauchten, und guckten uns mit traurigen Blicken an, bis es zur nächsten Stunde klingelte.

 

 

 

 

 

 

God, tell us the reason
Youth is wasted on the young
It's hunting season and the lambs are on the run
Searching for meaning
But are we all lost stars, trying to light up the dark?

Who are we?
Just a spec of dust within the galaxy
Who is me
If we're not careful turns into reality“

- Adam Levine, Lost Stars

Wahrheit

Kennt ihr das, wenn man an Silvester in den Himmel schaut, den Kopf nach hinten gestreckt, man in das Feuerwerk schaut und es aussieht als ob es Sterne regnet? Dass hunderte Sterne aus dem Universum auf einen hinab rieseln und einfach alles andere ausgeblendet wird? Ihr nehmt nur noch euren Atem und euren Herzschlag war, nur noch diese wunderbare Schönheit die sich über euch abspielt. Den Geruch der Nacht der euch kalt umspielt. Diese Freiheit. Das habe ich schon lange nicht mehr gespürt.

Wir saßen oben auf einem Hügel, neben uns ein uralter, dunkelroter Schornstein aus dem schon lange kein Rauch mehr kam. Wir saßen in dem frostigen Gras, die Knie an die Brust gezogen und sahen uns den Sonnenaufgang an. Seitdem wir dort saßen, bestimmt schon eine Stunde, haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Wir haben gewartet bis wir den ersten Streifen Sonne sehen, der über den Horizont lugt und uns etwas Wärme schenkte. ,,Es ist doch ganz gut gelaufen, oder?“, fragte ich ihn nachdem ich mich geräuspert hatte und sah ihn von der Seite aus an. Er nickte bloß und starrte weiter gerade aus.
,,Ich wünschte, er würde auch in mich verliebt sein.“, sagte er nach ein paar Minuten. ,,Ich weiß.“, flüsterte ich mit kratziger Stimme und nahm seine eiskalte Hand.


***

 

Er öffnete die Haustür und wir traten in den warmen Flur hinein. ,,Hey, Rachel ist heute zum Abendessen da.“, rief Charlie in die Küche und zog währenddessen seine Schuhe aus. Ich tat das gleiche und hing dann gleich meine Jacke an den Haken. Charlie warf mir meine Hausschuhe vor die Füße, ich schlüpfte hinein und hörte auf die Antwort seiner Eltern. ,,Alles klar, Schätzchen. Kommt ruhig rein, es ist fast fertig.“ Er schaute mich nervös an und griff nach meiner Hand. ,,Es wird alles gut.“, flüsterte ich und schubste ihn leicht in Richtung Küche. Es roch schon herrlich nach Hackbraten und Bohnen. ,,Hey.“, sagte ich und umarmte Owen und Isabell. Während ich sie umarmte lugte ich in den Kochtopf – es gab also Kartoffeln dazu. ,,Das Essen riecht echt gut. Ist ja echt ein sehr, sehr schöner Zufall, dass es heute Hackbraten gibt.“, erwähnte ich und setzte mich an den Tisch. ,,Oh, das isst du also gerne?“, fragte mich Owen und holte aus dem Hängeschrank einen Teller für mich heraus. Dann noch ein Glas und Besteck und legte es vor mich. ,,Danke, ja, esse ich gerne.“, antwortete ich und schenkte mir selbst ein bisschen Cola light ein. Charlie setzte sich neben mich auf den Stuhl und seine Mum fing an uns nach und nach das Essen auf den Teller zu geben. Ich bedankte mich erneut und versuchte irgendwie meine innere Ruhe auf Charlie zu übertragen. Und das tat ich, obwohl ich wusste, dass es nicht funktionieren würde.

Nachdem wir schon fast alle aufgegessen hatten, und ich schon die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er es ansprechen würde, obwohl er gesagt hatte, dass er es später machen würde, fing er an zu reden. ,,Ich möchte gerne was los werden.“, sagte er mit einer unsicheren, leisen Stimme. Ich hörte wie er neben mir tief ein und aus atmete um nicht aus der Fassung zu geraten. ,,Ich weiß warum ich verprügelt worden bin.“, sprach er weiter und sah auf die Tischkante vor sich. ,,Warum denn mein Schatz?“, fragte Isabell und rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Es folgten einige Sekunden ohrenbetäubende Stille. ,,Ich ähm... mag...“, sagte er leise und mit zitternder Stimme. Er sah schnell zu mir hinüber und ich kannte ihn so gut, um zu wissen, was zu tun ist. Das tat er immer im Unterricht, wenn er eine Antwort nicht wusste. Ich musste sie ihm dann zuflüstern, damit er nicht total dumm vor dem Lehrer da stand. Oder im Test. Doch an diesem Tag wäre es wohl unangebracht gewesen, zu flüstern. Ich merkte zwar wie er es sagen wollte, aber es einfach nicht konnte. Die Worte steckten ihm im Hals und fingen an zu brennen. ,,Jungs.“, fing ich an und griff unter dem Tisch nach seiner Hand. ,,Charlie mag Jungs. Nicht freundschaftlich... sondern im romantischen Sinne.“, redete ich weiter und versuchte im Blick seiner Eltern abzuschätzen, was sie wohl gerade dachten. Ob sie ihn dafür verachten würden oder es ihnen egal ist. Wieder ohrenbetäubende Stille. Es fühlte sich an wie eine zehnminütige Sprechpause, obwohl es vielleicht nur 20 Sekunden waren. Doch diese 20 Sekunden waren quälend für uns beide. Man merkte wie seine Eltern es erst einmal realisieren mussten. Isabell ließ ihre Gabel sinken und Owen starrte auf seinen Teller. Ich nahm ein leises Schluchzen von Charlie neben mir wahr. ,,Gott sei dank...“, flüsterte Owen erleichtert und fing an zu lachen. Isabell ebenso. Charlie sah endlich hoch und schaute sie verdutzt an. ,,Wir dachten schon du hättest irgendwas verbrochen, mein Junge.“, setzte Owen seinen Satz fort. ,,Er hat dich also so sehr verletzt, nur weil du eben auf Jungs stehst, statt auf Mädchen?“, fragte ihn Isabell und sah auf einmal traurig aus. Charlie nickte bloß. Sie seufzte und lachte erneut. ,,Also ich weiß ja, dass es nicht lustig ist. Aber was ist dass denn bitte für ein Idiot. Hat er denn keine anderen Probleme? Mein Gott, dann bist du eben schwul. Ich meine... du hattest noch nie eine Freundin, oder einen Freund, du bist schon so lange und gut mit Rachel befreundet, ohne, dass da meines Erachtens was passiert ist... Ich glaube dein Vater und ich sind nicht gerade sehr schockiert darüber, welches Geschlecht du magst, sondern eher über die Tatsache, dass man deswegen heute noch verprügelt und gehasst wird.“, sagte sie und tätschelte ihm über den Tisch hinweg die Schulter. ,,Ihr hasst mich also nicht?“, fragte Charlie und sah sie mit Tränen unterlaufenen Augen an. ,,Nein, um Gottes Willen. Das ändert doch nichts. Es tut mir nur so unfassbar leid, dass du deswegen so etwas grausames erfahren musstest... Aber wer war es denn nun? Wer hat dir das angetan?“, fragte ihn Owen. ,,Derek.“, antwortete Charlie mit gebrochener Stimme und sah mich an. ,,Ja, der Derek aus unserer Klasse. Kennen Sie ihn?“, fragte ich. ,,Crest? Derek Crest?“, wollte er wissen und lehnte sich ein Stück nach vorne. ,,Ja.“, bestätigte ihm Charlie. ,,Sein Vater, Mark Crest arbeitet mit mir. Er ist selbst schwul.“, teilte er uns mit und sah immer wütender aus. ,,Wie jetzt? Dereks Vater ist schwul? Hat er dann zwei Väter und ist sauer, weil er nie eine Mutter gehabt hat oder wie ist das?“, fragte Charlie nach und fing an zu lachen. Es war eine komische Situation, doch ich fühlte mich nicht wirklich unbehaglich. ,,Ich glaube er und sein Vater hatten noch nie ein gutes Verhältnis. Ich weiß nicht viel, ich bekomme nur ein paar Sachen mit.“, erklärte Owen und räusperte sich. ,,Habt ihr... ich meine, was machen wir denn jetzt mit ihm? Zeigen wir ihn an?“, fragte Isabell. Das wunderte mich irgendwie, weil sie ja Anwältin war und trotzdem nachfragte. Charlie konnte anscheinend meine Gedanken lesen. ,,Du bist die Anwältin, Mum.“ Sie seufzte. ,,Ich weiß. Und ich sage, dass wir ihn anzeigen müssen.“

 

***


,,Ich kann da nicht wieder zurück...“, sagte Charlie nach einer Weile. ,,In die Schule oder zu deinen Eltern?“, fragte ich nach und sah ihn an. ,,In die Schule.“, antwortete er mir. Er stand auf und lief nervös vor mir hin und her. ,,Wenn wir Derek anzeigen... dann sind seine Kumpels auch mit dran. Dann ist da ein mega Aufstand und jeder – wirklich jeder – weiß, dass ich auf Jungs stehe. Wir können ihn nicht anzeigen. Das geht nicht, das halt ich nicht aus.“, erklärte er mir und ich sah ihn verständnislos an. ,,Aber...“, er ließ mich nicht ausreden. ,,Ich weiß, ich müsste dazu stehen. Aber ich hab die Schule in einem halben Jahr eh geschafft und möchte trotzdem nicht, dass jeder Vollidiot das weiß und ich dann selbst danach von diesen 600 Leuten – wenn ich mal jemanden von ihnen begegne – blöd angeschaut werde. Soweit bin ich noch nicht. Wir müssen das anders klären. Meine Eltern sind Anwälte, sie sehen das nicht aus meiner Sicht. Sie sehen das von der rechtlichen Seite aus und naja...“, sprach er weiter und mein Gesichtsausdruck wurde langsam weicher. Auf einmal riss er seine Augen auf und er starrte gen Horizont. ,,Rachel?“, fragte er und drehte seinen Kopf langsam in meine Richtung. ,,Ja.?“ ,,Wir können sie nicht anzeigen. Weißt du noch? Ich habe zuerst geschlagen.“ Sofort weiteten sich meine Augen und mein Herz setzte einen Schlag aus. Derek war zu dumm um das zu begreifen, doch Charlie hatte Recht. Er hatte zuerst zugeschlagen. Er hatte angefangen. Man könnte Dereks Handlung also als Notwehr abtun.

Nach ein paar Sekunden schockiertes Schweigen fragte ich ihn:,,Und was wirst du jetzt tun?“ Er konnte mich nicht ansehen. Er schaute auf den Sonnenaufgang und ich sah wie seine Augen anfingen rot zu glänzen. ,,Es tut mir so leid, Rachel... so unendlich leid.“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. Ich hatte so ein Bauchgefühl, was gleich kommen würde. Nun drehte er seinen Kopf zu mir und sah mich an, aber auch irgendwie durch mich hindurch. ,,Erstmal dürfen wir nicht mehr befreundet sein.“ Ich runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. ,,Was?“, flüsterte ich und wusste nicht ob ich vielleicht doch lachen sollte, weil es eventuell nicht ernst gemeint war. Doch ich sah in sein Gesicht und erkannte, dass es sein Ernst war. Ich stand auch auf und stellte mich ihm gegenüber. ,,Ich sehe doch wie kaputt es dich macht. Dass du viel mehr rauchst, dass deine Augen das Leuchten verloren haben. Du machst das alles nur mir zuliebe. Aber das brauchst du nicht mehr. Du brauchst dich nicht mehr für mich zerstören. Du musst für mich keine Risiken mehr eingehen, keine Leute mehr bedrohen, dich in keine Gerichtsverfahren mit reinziehen lassen. Ich will das alleine auf die Reihe kriegen. Ohne meine Eltern... ohne dich. Ich hasse mich schon seitdem ich im Krankenhaus aufgewacht bin dafür, dich da mit reinzuziehen. Du bist meine beste Freundin Rachel, und das wird sich auch nie ändern. Doch du musst dein Leben so nicht weiterführen. Ich will nicht so ein egoistisches Arschloch sein. Also... dürfen wir nicht mehr befreundet sein.“, erklärte er mir während eine einzelne Träne über seine Wange floss. Ich ballte meine Fäuste und sah ihn wütend an. ,,Ist das dein Ernst? Und was ist mit dir? Wie soll es dir ohne mich gehen? Willst du dich dann irgendwann von einer Brücke werfen und ich mache mich dann insgeheim dafür verantwortlich, weil ich gegangen bin? Nein, das kannst du vergessen. Ich bleibe.“, sagte ich mit einer deutlich lauteren Stimme und sah in sein erschrockenes Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und antwortete mir:,,Ich werde alleine zurecht kommen. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich werde mich nicht von einer Brücke stürzen. Ich werde mich angemessen an ihm rächen. Aber da ich seine Reaktion nicht einschätzen kann, darfst du nicht an meiner Seite bleiben. Ich werde vielleicht weg ziehen.“ Ich pustete ruckartig die Luft aus meinen Lungen und fragte:,,Wie, weg ziehen? Und wie willst du dich an ihm rächen? Lass deine Eltern ihn anzeigen, dann bekommt er seine angemessene 'Rache'.“ Er packte mich sanft an beiden Schultern und sah mir direkt in die Augen. ,,Ich hab dich sehr lieb, Rachel. Du musst mir vertrauen. Ich habe einen Plan. Aber bei diesem Plan kannst du mir nicht helfen. Und wenn er scheitert, dann gehen wir beide den Bach runter.“, erläuterte er mir sanft und sein Blick wurde weicher. Doch ich verstand ihn nicht. Ich verstand alles nicht. Ich trat zwei Schritte zurück, sodass er seine Hände von meinen Schultern nehmen musste und sagte wütend:,,Merkst du es nicht? An dieser Unterhaltung kann man schon ganz gut feststellen, dass wir verdammt nochmal schon LÄNGST den Bach runter gegangen sind. Und zwar im Sturzflug. Innerhalb von einer Nacht. Aber das siehst du nicht. Du siehst nicht, dass nur wir beide uns auffangen können. Dass wir alleine in den gottverdammten Tod stürzen. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Ich hab dich wirklich gern, Charlie, aber das hier ist die falsche Entscheidung.“
Wir blieben noch einige Sekunden wortlos voreinander stehen und sahen uns mit traurigen Augen an. Dann drehte ich mich um und ging. Ich lief den Hügel hinunter, hinein in die Stadt und auf dem Weg nach Hause. Morgen würde kein Charlie mehr mit mir durch die Schule gehen. Dann würde ich alleine sein. Ich zündete mir unterwegs eine Kippe an und presste die Augen zusammen, sodass ja keine Tränen hinaus kamen. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und betrat das Haus meiner Eltern. So eine Stille. So eine Todesstille war in meinem Kopf. Alles war leer, alles war bedeutungslos. Die Schule, die in einer Stunde anfing, war mir egal. Ich wusste nur, dass Charlie nur noch eine Person helfen kann. Und das war Phil.

 

 

 

 

,,In dem flackernden Neonlicht in der Scheibe seh ich dich,

ich wär' gern da wo mein Mädchen ist.

Mein eiskalter Engel.“

Laura, Prinz Pi

 

Geschichten

Eine Stunde später saß ich auf meinem Stuhl in der Schule. Charlie hatte sich in die andere Ecke des Klassenzimmers gesetzt. ,,Charlie, sitzen Sie da nicht falsch?“, fragte unsere Lehrerin und sah skeptisch zwischen ihm und mir hin und her. ,,Nein, ich sitze hier schon richtig.“, sagte er kühl und ließ seinen Blick starr nach vorne gerichtet. Ich seufzte und schaute wieder nach vorn. Er zerriss mir in diesem Moment mein Herz in kleine Fetzen. Doch ich ertrug es, denn ich erinnerte mich an Derek's Worte, die ich auch Charlie erzählt hatte. ,,Halte dich einfach von Charlie fern, dann passiert dir auch nichts.“, erklärte er mir. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Deshalb hat Charlie mir die Freundschaft gekündigt. Wie dumm er doch war. Nur um mich zu beschützen. Auf der einen Seite fand ich es süß, auf der anderen hasste ich ihn dafür.
Gleichzeitig erinnerte ich mich auch wieder an den gesamten Vorfall. Dass Derek mich fast geküsst hätte, dass er mich umarmt hatte. Und ich hatte es zugelassen, obwohl ich ihn eigentlich so sehr hasste.

Die nächsten drei Wochen verliefen relativ ruhig. Ich sah an Charlie keine neuen Wunden, die einer Prügelei herrührten. Ich bekam nicht mit, dass sie sich anschrien. Derek kam jeden Tag zur Schule. Charlie ebenfalls. Ich war jeden Tag allein unterwegs. Aß allein, lief allein durch die Gänge und saß allein im Bus. Und immer hatte ich doch diese Illusion von Charlie neben mir, wie er mit mir lachte und wie wir Händchen hielten. Und mir wurde jedes Mal wieder schmerzlich bewusst, dass das nie wieder so sein wird. Auch Weihnachten und Silvester verbrachte ich alleine, da es ja mittlerweile Anfang Januar war. Also nicht ganz alleine, da ich natürlich mit meiner Familie gefeiert habe, doch es war anders. Normalerweise haben Charlie und ich uns besucht und Silvester zusammen Alkohol getrunken und in den Himmel geschrien. Dieses Jahr saß ich einsam neben meinen Eltern und habe versucht so glücklich wie es mir nur möglich war zu sein.
Eines Tages jedoch, in der vierten Woche, geschah etwas Merkwürdiges. Ich suchte an diesem Montag eine andere Ecke des Schulhofes auf, in der es etwas ruhiger war. Es war rechts vom Schulgebäude. Hinter einer Reihe von Büschen befanden sich 2 Bänke die sich gegenüber standen. Dort hinter war noch ein großer Busch, wo sich noch eine Bank befand. Warum auch immer war dort nie jemand, und da ich meine Ruhe brauchte, begab ich mich dorthin. Ich setzte mich auf eine von den zwei ersten Bänken und biss in mein Pausenbrot. Hinter dem anderen großen Busch hörte ich Geflüster. Doch es war nicht irgendein Geflüster. Das war Charlie.
,,Also, was willst du, Phil?“, fragte Charlie ihn genervt aber leise. ,,Ich würde gerne mit dir reden.“, antwortete er. Ich saß ganz still auf meiner Bank und hoffte, dass sie mich nicht bemerken würden. ,,Es tut mir leid, dass ich dir auf deine.. Sache... nicht geantwortet habe.“, sagte Phil gedämpft. ,,Weißt du eigentlich wie lange das schon her ist?“, fragte Charlie gereizt. Ich fand eine Stelle im Gebüsch durch die ich sie etwas sehen konnte. Charlie war rot angelaufen und schaute sehr wütend, zugleich auch beschämt. Doch er traute sich ihm in die Augen zu sehen. ,,Ich weiß. Ich habe mich aber eher nicht getraut.“, antwortete Phil und blickte verlegen auf den Boden. Moment -verlegen? Und dann passierte etwas unglaubliches. Phil trat einen Schritt vor und umarmte Charlie. Einfach so. ,,Und es tut mir leid, was Derek dir angetan hat. Das ist alles meine Schuld.“, flüsterte er fast und drückte ihn fester an sich. ,,Das sollte es auch.“, antwortete Charlie eiskalt. Doch anstatt ihn von sich wegzudrücken genoss er lieber den Moment und nahm ihn auch in die Arme. Ich fragte mich immer noch, was ihn dazu gebracht hat es Derek zu sagen. Was für einen Grund hatte er? Hatte er vielleicht Angst, es sich selbst einzugestehen? ,,Also... hast du nun eine Antwort für mich?“, erkundigte sich Charlie und ließ ihn immer noch nicht los. ,,Reicht diese normalerweise viel zu lange Umarmung dir nicht als Antwort?“, fragte Phil. Bei dieser Antwort fiel mir fast mein Brot aus der Hand. Ich konnte es nicht fassen. Wenn ich das richtig verstanden habe, war das soeben ein Outing von Phil. Nach alldem hat Charlie also doch Glück. Und in diesem Moment fühlte ich mich irgendwie fehl am Platz. Ich bereute es die beiden belauscht zu haben. ,,Willst du damit sagen...?“, stotterte Charlie. Er riss seine Augen auf und ließ ihn los. ,,Ich schätze wir sind beide... vom selben Ufer.“, lachte Phil und versuchte damit die Stimmung aufzulockern. Charlie musste grinsen und all die Trauer, die Angst und die Wut verschwanden aus seinen Augen. ,,Was ist machen wir jetzt mit Derek und seiner Gang?“, hakte Charlie trotz allen nach. Phil blies hörbar seine Luft aus und zuckte mit den Schultern. In diesem Moment hatte ich Angst, dass sie gleich vor kommen würden und mich sehen würden. Also stand ich leise auf und schlich wieder aus dem „Versteck“ heraus.
Wenige Minuten später klingelte es auch schon wieder zur Stunde und ich setzte mich auf meinen kalten Stuhl. Ich fühlte mich zurück gelassen, alleine, verloren. Aber war doch froh, dass Charlie endlich seine Antwort hatte. Die Antwort, die das ganze Leid verblassen ließ.
Jetzt musste ich nur noch das mit Derek klären.
Ich schrieb ihm einen Zettel im Unterricht. „Hey Derek. Lass uns nach der Schule bitte bei den Bänken reden. Rachel.“ Meine Klassenkameraden reichten ihn zu ihm durch und die, die eine Bank weiter saß überbrachte mir ein „Okay“ von ihm. Ich war erstaunt darüber, wie vernünftig er war.

Und dann war es soweit. Ich war etwas eher bei den Bänken bei denen ich in der Pause schon saß und wartete dort auf ihn. Zwei Minuten später hörte ich es rascheln und schon setzte Derek sich auf die Bank gegenüber von mir. Wir begrüßten uns mit einem kurzen „Hi“. Dann fragte er auch schon was ich von ihm will. ,,Charlie hat mir die Freundschaft gekündigt. Wegen dir. Er hatte Angst, dass wenn ich weiter mit ihm befreundet bin, dass du mich dann auch irgendwann zusammen schlägst. Ich hab also allen Grund den wahren Grund zu erfahren, weshalb ihr das Charlie angetan habt.“, erklärte ich ihm. Er seufzte. Auf einmal, wie er mir da so gegenüber saß, wirkte er gar nicht mehr so bedrohlich. Er wirkte nur wie ein Junge, dem irgendwas auf dem Herzen liegt. ,,Ich hätte dir niemals etwas angetan.“, sagte er und schaute in meine Augen. Er hatte die Hände in den Jackentaschen und saß etwas krumm da. Er sah wirklich verletzlich aus. ,,Das beantwortet nicht meine Frage.“, antwortete ich kalt und sah ihn wütend an. Und tief im Inneren war ich das auch. ,,Willst du wirklich alles wissen? Vom Anfang bis zum Ende?“, fragte er mich. Ich nickte und meinte, dass ich Zeit hätte.
Also fing er an zu erzählen:,,Also... mein Dad ist schwul. Also meine Dads. Seitdem das so ist, werde ich so oft dumm angemacht deswegen. Verprügelt, beleidigt... alle machten sie sich über meine Dads lustig. Doch ich glaube sie sind die besten Väter die man sich vorstellen kann. Sie haben alles für mich gemacht. Und ich weiß, dass ich sozusagen das gleiche mit Charlie gemacht habe, was ich eigentlich so verabscheue. Doch diese eine Nacht war anders. Meine Jungs und ich hatten... naja wir hatten was eingeworfen. Was es war ist ja egal, auf jeden Fall waren wir nicht mehr wir selbst. Und das ganze Zeug danach und davor...“, er machte eine kurze Sprechpause und sah mir dann direkt in die Augen. Ein Schauer überlief mich. ,,war ich einfach nur eifersüchtig auf Charlie. Dass er seine Zeit mit dir verbringen konnte. Und selbst den einen Tag, als wir uns gegenüber standen und uns fast geküsst hätten, konnte ich es nicht tun. Obwohl ich es wirklich sehr wollte. Deswegen habe ich dir auch gesagt du sollst dich von ihm fernhalten. Ich meine, dir wäre sowieso nichts passiert. Aber um den Schein zu bewahren war ich so ein Arschloch. Und es tut mir...“, sprach er weiter, doch ich musste ihn gleich unterbrechen. ,,Leid? Das waren die Gründe für den ganzen scheiß? Charlie und ich waren doch nicht zusammen und dass er schwul ist, ist doch für dich eigentlich ein gutes Zeichen. Es kam ja gerade so rüber, als ob du immer noch etwas für mich empfindest. Warum hast du dann erst angefangen so ein Arschloch zu sein als er sich geoutet hat?!“, fragte ich und wurde echt wütend. ,,Weil ich dann erst einen Grund hatte. Und ja, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, ich habe dadurch nur alles schlimmer gemacht. Und ich würde alles tun, um mich bei euch beiden zu entschuldigen.“, erklärte er mir und schaute beschämt zu Boden. Er sah, immer noch, wirklich verletzlich aus. Er hatte also Gefühle für mich und hat deswegen Charlie runter gemacht, weil er vor seinem Outing keinen Grund hatte. Was ein Idiot. ,,Weißt du Derek... wenn das alles stimmt was du sagst, warum hast du damals dann mit mir Schluss gemacht? Und warum hast du überhaupt etwas eingeworfen? Ging es dir wirklich so schlecht?“, hakte ich nach. Obwohl ich eigentlich kein Mitgefühl haben sollte. Er erzählte mir, dass seine Dads sich an diesem Abend gestritten hatten und sich fast trennten. Das hatte ihn so mitgenommen, dass er sich mit seinen Kumpels etwas vom Dealer besorgten. Und damals, sagte er, war er noch nicht bereit für etwas so Ernstes und war einfach nur dumm.

,,Jedem geht’s mal scheiße.“, hörten wir eine Stimme vor dem Gebüsch reden. Durch die Äste sah ich einen schwarzen Mantel, der offen war und man damit ein schlichtes, graues Shirt sah. Doch ich brauchte ihn nicht sehen um zu wissen wer dort stand. ,,Charlie?“, sagte ich etwas lauter und stand von der Bank auf. Er kam um die Ecke und stellte sich vor uns. ,,Hey Leute.“, begrüßte er uns und grinste. ,,Was machst du hier?“, fragte ich ihn und runzelte meine Stirn. Hatte er etwa alles mitgehört? ,,Rachel denkst du im Ernst ich hab dich in der ganzen Zeit auch nur einmal aus den Augen gelassen? Als ich gesehen habe, dass Derek dir gefolgt ist musste ich doch auf dich aufpassen.“, erklärte er mir und lächelte mich an. Ich konnte nichts sagen und schloss ihn einfach in meine Arme. Endlich. Nach einem Monat hatte ich meinen Charlie wieder in meinen Armen. Er drückte mich ebenfalls an sich. Nach wenigen Sekunden fragte aber Derek im Hintergrund:,,Hast du denn wirklich alles mitgehört?“ Wir lösten unsere Umarmung auf und Charlie nickte ihm zu. ,,Du weißt, dass meine Eltern Anwälte sind?“, erkundigte er sich bei Derek. Dieser wurde blass und nickte bloß. ,,Und dass, wenn ich gewollt hätte, du schon längst in einem Gerichtsverfahren gesteckt hättest?“ Derek nickte erneut und fragte, wieso er es denn nicht getan hatte. ,,Weil ich auf diesen Moment hier gewartet habe. Oder sagen wir eher, ich habe darauf gehofft, dass du dich irgendwann entschuldigst. Und ich meine hey... du hast deine Geschichte und ich hab meine. Doch die wollte ich eben erst einmal hören.“ Charlie war wütend. Man sah, dass er seine Zähne aufeinander presst – sein Kiefer war angespannt. Wie könnte er ihm nach alldem verzeihen? Nur mit einer Entschuldigung und seiner Geschichte? Ich verstand es nicht. Ich verstand auch nicht, dass Derek auf einmal wieder Gefühle für mich hatte und es mir überhaupt nicht gezeigt hat. Er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Ich wüsste nicht, wie ich jemals mit ihm zusammen sein könnte, wenn er und Charlie sich weiter hassen... oder wie ich allgemein wieder mit ihm zusammen sein könnte. Fühlte ich etwas für ihn, dass vielleicht doch mehr Liebe als Hass war?

Damals stockte mir der Atem, als er mir so nah gegenüber stand. Ich wusste nicht was ich fühlte, und was ich fühlen durfte. Es war wie als würde ein Mixer in meinem Kopf alle Gedanken klein hacken und durch einander bringen. Ich sah wie Dereks Augen anfingen zu glitzern. ,,Sind wir cool?“, brachte er nur noch heraus. ,,Klar. Das ist Geschichte, solange ihr mich und Phil akzeptiert.“, machte Charlie ihm klar. Ich wusste das ja insgeheim schon, aber niemand anderes hatte davon eine Ahnung, dass Phil auch schwul ist. ,,Ihr...? Ihr seid zusammen oder wie ist das? Aber ja. Werden wir. Solange mir Rachel auch verzeihen kann.“ Ich schluckte schwer und antwortete gleich als Erste:,,Du musst mich erst einmal überzeugen, dass du es ernst meinst. Mit Charlie und mit mir. Denn wenn du mich willst, musst du auch mit Charlie zurecht kommen. Und jetzt sicherlich auch mit Phil.“ Charlie klopfte mir leicht auf die Schulter, als Zeichen dass ich Recht habe. Plötzlich meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf, die mich fragte, ob ich noch ganz dicht bin. 'Wenn du mich willst...' Aber gut geht’s dir schon? Ich schüttelte kurz verwirrt den Kopf und holte die Stimme in den Vordergrund. ,,Warte kurz, nein. So einfach mache ich es dir ganz bestimmt nicht. Du darfst mich nicht wollen und wirst mich auch nicht haben. Du hast uns die letzten paar Wochen das Leben schwer gemacht und denkst, dass du durch deine traurige Geschichte alles wieder gut machst? Charlie verzeiht dir vielleicht – ich mache es dir nicht so einfach.“, sagte ich ruppig und konnte beobachten, wie Dereks Gesichtausdruck mit jedem meiner Worte dunkler wurde. Er bohrte seine Fingernägel in das modrige Holz der Bank. ,,Was soll ich tun?“, war das Einzige, was er fragte. Ich war erstaunt, dass er mich nicht gleich beleidigte oder abgehauen ist, weil ich ihn so angefahren habe. Bevor ich zu Wort kam, erklärte Charlie ihm die Angelegenheit, als ob wir uns abgesprochen hätten:,,Wie gesagt, beweise es. Sprich mit deinen Freunden. Kläre alles auf. Und vor allem: Mach sowas nie wieder. Mit niemanden.“ Derek nickte bloß und bedankte sich für diese Chance.
Inzwischen hatte ich erfahren, dass Phil bisexuell ist. Wir saßen noch eine Weile bei den Bänken und schwiegen uns an. Derek war schon gegangen, weil er erst einmal alles verarbeiten musste. Keine Ahnung ob das gut oder schlecht ist. ,,Wie kannst du ihm durch eine einfache Entschuldigung verzeihen? Ich fand’s ja schon krass, dass du Phil so einfach verziehen hast. Er war ja auch irgendwie für alles mit verantwortlich.“, fragte ich Charlie, der neben mir saß. Phil räusperte sich kurz hörbar. Es war vielleicht nicht ganz taktvoll von mir, diese Frage zu stellen, aber ich fand sie trotzdem berechtigt. Charlie zuckte mit den Schultern. ,,Mit Phil das war…naja ich steh halt auf ihn. Sagen wir es so. Und entweder ich habe heute einen guten Tag, oder bin einfach komplett geisteskrank, dass ich Derek so schnell verzeihe. Ich denke, es ist einfacher jemanden zu verzeihen, als ewig in ein anstrengendes Gerichtsverfahren verwickelt zu sein.“, erklärte er. Das konnte ich schon irgendwie nachvollziehen, doch tief in mir drin hasste ich ihn trotzdem. Ich sollte Derek in den Knast schicken. Ihm das Leben zur Hölle machen für das, was er meinem besten Freund angetan hat. Doch ich saß auf dieser Bank und habe mir seine ach so traurige Geschichte angehört und ihm die Chance gegeben, es wieder gut zu machen. Kann ich ihm das jemals verzeihen? Kann ich seine Gefühle jemals erwidern? Für mich war „unsere Sache“ eigentlich schon vor langer Zeit vorbei. Doch warum hat mein Herz so schnell gepocht und meine Atmung angetrieben, als er mir vor einigen Wochen so nah gegenüber stand? Ich hatte keine Erklärung parat.

Ich antwortete also mit einem einfachen „Okay“ und fragte, ob wir uns langsam auf den Weg machen wollen. Ich würdigte Phil keines Blickes. Ich war sauer auf ihn, weil er trotz seiner Gefühle Charlie durch die Hölle gehen ließ. ,,Rachel?“, hörte ich Phil mir hinterher rufen, als wir auf dem Weg zur Haltestelle waren. Ich blieb widerwillig stehen und Charlie lief mich fast über den Haufen. ,,Geh ruhig schon mal vor, Charlie.“, sagte Phil und lächelte ihn an. ,,Okay. Bitte töte ihn nicht, Rachel.“, den letzten Satz flüsterte er mir zu. Ich musste kurz lachen, doch sah Phil dann wieder bitterböse an. Als Charlie schon fast an der Bushaltestelle war, begann er zu reden:,,Ich weiß, dass du mich nicht sonderlich leiden kannst.“ ,,Das ist eine ziemliche Untertreibung.“, entgegnete ich und verschränkte die Arme wie ein bockiges Kind. ,,Ja, okay. Doch du musst wissen, dass es nicht leicht war, es mir selbst einzugestehen. Ich habe Charlie schon eine Weile beobachtet. Und mir ist natürlich aufgefallen, dass er mich auch betrachtet hat. Also war die Nachricht von ihm nicht allzu überraschend. Ich war immer nur mit Mädchen aus und fand dich ehrlich gesagt auch ganz hübsch und wie ich gehört hatte, auch verdammt klug. Also wollte ich mich darauf konzentrieren, doch Charlie, dieser verdammte Junge, ging mir einfach nicht aus dem Kopf.“ Er machte eine kurze Pause, weil ich eine Zigarettenschachtel aus meiner Jackentasche zog und ihm mit einem Kopfnicken andeutete, dass wir zu der etwas versteckten Raucherecke gehen sollten, die nur einige Meter entfernt war. Falls uns irgendein Lehrer sehen sollte.

Als wir dort ankamen, tat er es mir gleich und zündete sich ebenfalls eine Kippe an. ,,Na los, erzähl schon weiter.“, forderte ich ihn auf und nickte ihm zu. Meine Stimmung war immer noch abwehrend und kalt. Er zog noch einmal, und sprach weiter:,,Jedenfalls ging das einige Wochen so weiter. Dann war das mit der Prügelei und ich hatte so ein schlechtes Gewissen. Ich hätte nie gedacht, dass sie ihm so etwas antun würden. Ich kam zum Krankenhaus um ihm alles zu erzählen, doch dann warst du dort und er noch im Koma. Und weil ich mich so schlecht gefühlt habe und ich dachte, dass er mich eh auf Ewig hassen wird, bin ich nicht zu ihm gegangen. Es war ein Fehler, ich weiß. Doch ich hab mich jetzt getraut und wir haben endlich Zeit uns kennenzulernen.“ Er zog noch einmal und sah zu Boden. Er war verletzt, beschämt und wehmütig. ,,Hast du noch ein paar traurige Geschichten auf Lager, oder können wir jetzt gehen? Ich weiß nicht, wieso du mir das erzählt hast.“, antwortete ich unterkühlt. Ich wollte wissen wie er reagiert. Will er Charlie, muss er mit mir zurecht kommen. Ich wollte wissen, ob es ihm wirklich ernst war. Er sah mich verschreckt an und sagte:,,Weil du seine beste Freundin bist und viel Einfluss auf ihn hast. Ich will, dass das klappt. Mit ihm und mit dir.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. ,,Du sagtest, dass du mich auch interessant fandest. Ich hoffe, du machst das alles nicht, um bei mir zu punkten.“, machte ich ihm deutlich und schnaufte. Er schüttelte den Kopf. ,,Nein. Dass ich bei dir keine Chance hab, ist mir bewusst.“ ,,Gut.“, antwortete ich und warf meine Kippe zu Boden um sie aufzutreten. ,,Lass uns zu Charlie gehen.“, sagte ich und wir machten uns auf den Weg.

,,Er lebt noch!“, rief Charlie freudig und warf übertrieben die Hände hoch. Wir mussten lachen und stellten uns neben ihn. ,,Und, Rachel, hasst du ihn noch?“, fragte er und stieß mich sanft in die Seite. ,,Naja also, mein Hass ist so von 80 Prozent auf, sagen wir mal, 40 Prozent gesunken. Er hat einiges erklärt.“, sagte ich und zuckte mit den Schultern. ,,Danke.“, sagten beide im gleichen Moment. Ich grinste in mich hinein.

,,Hey, unser Bus.“, bemerkte Charlie und trat einen Schritt vor, aus der Masse der kleinen Kinder. Da Phils Bus immer nach unserem kam, blieb er stehen und sah Charlie fragend an. Er wusste anscheinend nicht, wie er sich verabschieden sollte. Wir standen umringt von 30 fünft bis acht Klässlern und die beiden waren sich unsicher. ,,Umarmt euch.“, warf ich ein und grinste. Beide sahen mich gleichzeitig an und machten einen Schritt aufeinander zu. Doch statt einer normalen Umarmung, kamen beide im gleichen Moment darauf, diese „Bro-Umarmung“ zu machen. Also eine Mischung aus Handschlag und Umarmung. Naja, besser als nichts. Peinlich berührt stieg Charlie vor mir in den Bus ein und griff hinter sich nach meiner Hand. Es war schön zu wissen, dass ich ihn wieder an meiner Seite hatte.
Wobei er eh nie richtig fort war.

Als wir aus dem Bus stiegen, knurrte mein Magen so heftig, dass Charlie mich fragte, ob wir uns noch etwas zu Essen holen wollen. ,,Ich könnte auch einfach nach Hause gehen.“, entgegnete ich und zündete mir meine letzte Zigarette aus der Schachtel an. ,,Ja, oder wir machen noch etwas zusammen.“, schlug er vor und griff in seine Hosentasche. Als diese leer war, tastete er die anderen drei ab. ,,Scheiße! Meine Kippen sind alle. Hast du noch eine?“, fragte er mich und schaute mich hoffnungsvoll an. Ich schüttelte den Kopf und zeigte ihm meine leere Packung. ,,War das deine letzte?“, erkundigte er sich. ,,Ja, leider. Ich glaube dann müssen wir wohl oder übel doch was zusammen machen. Deine Tanke ist doch hier in der Nähe, da gibt’s auch belegte Brötchen.“, schlug ich vor und blieb stehen. ,,Oh, du musst also etwas mit mir machen. Willst du nicht? Ich muss sagen, ich hab dich echt vermisst.“, sagte er und sah mir in die Augen. Er sah wirklich etwas traurig aus. Ich lachte:,,Natürlich will ich, du Idiot. Das war doch nur Spaß.“ Und schon machten wir uns auf in Richtung der Tankstelle, bei der Charlie immer unsere Kippen ohne Ausweis bekommt.
Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die während unseres Weges aus den Wolken brachen, kitzelten mich im Gesicht. Das erste Mal seit Langem konnte ich wieder die Natur betrachten. Irgendwie ging das vorher nicht. Ich hatte dauernd Angst, Panik und mein Kopf war viel zu voll. Vor allem in den Wochen ohne Charlie. Jetzt war einiges mehr geklärt und trotzdem noch vieles offen. Wie würde es mit Derek weiter gehen? Und mit Phil? Und vor allem: was machen wir nach unserem Abschluss?
Die Äste waren kahl und leicht gräulich und man hörte nur vereinzeltes Vogelgezwitscher von denen, die den Winter über hier blieben. Die die Kälte und die Nässe ertragen. Ich fragte mich wie es wohl ist, ein Vogel zu sein. Man war unfassbar frei und alles war auf einander abgestimmt. Die Gruppe, die Formation, der Weg. Eigentlich widerspricht sich das. Doch dort oben in der Luft, wo niemand über einen urteilen oder einen auslachen kann, ist man trotzdem frei.
Dann dachte ich an zu Hause. An meine Eltern, von denen ich nie viel erzählt habe. An mein Zimmer mit den violetten Wänden und den schwarzweißen Möbeln, die alle immer irgendwie da waren. Ich habe keine besonderen Erinnerungen an tolle Ausflüge mit meinen Eltern, oder Spieleabende. Sie sind viel auf Arbeit und haben mich zwar nach Charlie gefragt, doch haben sich nie wirklich dafür interessiert. Ich liebe meine Eltern dafür. Das mag komisch sein, doch ich hatte meinen Freiraum den ich so sehr wollte. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter mir oft heiße Schokolade mit Sahne in mein Zimmer gebracht hat, sich neben mich gesetzt hat und mit mir Filme geschaut hat. Das war in den ersten paar Tagen nach Charlies „Unfall“. Vielleicht ist es nicht das richtige Wort, dass sie sich nicht interessiert haben. Vielleicht warteten sie einfach darauf, dass ich es von selbst erzähle. Was ich auch irgendwann tun werde. Mein Vater hat mich in dieser Zeit mit Büchern überhäuft. Er ist Professor an einer Universität mit der Fachrichtung Literatur und hat mir immer die ganz schweren Titel gegeben. Doch sie haben mich abgelenkt und ich habe sie verstanden. Er ist eh der Meinung, dass ich das Abitur machen sollte und irgendwas Kreatives studieren sollte. Er meint, dass es zu mir passt. Ich sage ihm immer wieder, dass ich das Abitur allein wegen Mathe nicht schaffen werde, doch er ignoriert das und glaubt an mich. Umso schwerer fiel es mir, ihnen zu sagen, dass ich reisen möchte. Ein Work and Travel oder sowas. Zusammen mit Charlie. Ich hätte es auch allein gemacht, doch mit ihm würde es 100 Mal besser sein. Sie haben die Nase gerümpft und gesagt, dass ich darüber noch einmal nachdenken soll. Doch als ich eines Abends hinunter ins Wohnzimmer wollte, um ihnen 'Gute Nacht' zu sagen, saßen beide auf unserer beigen Ledercouch. Meine Mutter hatte ihren Laptop auf dem Schoß und ich erkannte, dass sie nach Work and Travel Plätzen in Neuseeland suchten. Weiter weg ging es nicht. Und das war perfekt. Ich habe ihnen nie gesagt, dass ich das gesehen habe, doch ich stelle immer wieder beiläufige Fragen. Ob sie es besser finden, wenn ich mit oder ohne Charlie fliege, wo ich denn am besten hin kann und so weiter. Und danach Bücher schreiben. Über Charlie und mich und die Reisen. Das ist glaube ich mein Traum.

 

 

 

,,Du bist so laut in meinem Kopf und alles dreht sich
Ich versuch dich zu vergessen, doch es geht nicht.
Ich lieg wach und bleib ratlos,
was soll ich tun? Du machst mich schlaflos.“
- Jennifer Rostock, Schlaflos

 

Poch, poch, poch

 Charlie und ich sind an der Tankstelle angekommen und quetschten uns an einem etwas fülligeren Mann vorbei an die Kasse. Ich ging hinüber zu den belegten Broten und war nicht gerade beeindruckt. Der Salat war schon weich, und die Remoulade sah alt aus. Da ich trotzdem unglaublichen Hunger hatte und man meinen Magen sicherlich schon von zu Hause aus hören konnte, suchte ich mir das mit den zwei Scheiben Käse und dem noch halbwegs knackigen Ruccola Salat aus. Charlie hatte uns wieder Zigaretten besorgt und ich etwas, um das hungrige Monster in mir zu stillen. Ich kramte aus meinem Portmonee das Geld für die Schachteln heraus und wollte es Charlie geben, doch er reagierte nicht. Ich sah von seinen Händen auf zu seinem Gesicht, was auf den kleinen Fernseher der Tankstelle gerichtet war. Seine Augen waren starr und aufgerissen, doch ich wusste nicht warum. ,,Charlie, ist alles...?“, er ließ mich nicht aussprechen. ,,Könnten Sie das etwas lauter machen?“, fragte er den Tankwart. Dieser zuckte bloß mit den Schultern und tippte müde auf der Fernbedienung herum. Der Fernseher wurde lauter und dann wusste ich, warum Charlie so geschockt aussah. ,,Der Unfall ereignete sich vor etwa zehn Minuten an der Kreuzung am Stadtmuseum. Der Jugendliche fuhr nach Aussage der Augenzeugen achtlos auf seinem Moped über die Kreuzung und wurde von einem weißen SUV angefahren. Dieser hatte grün und hat den Mopedfahrer zu spät gesehen. Der Jugendliche war sofort tot... ah, gerade bekomme ich den Namen rein. Es war der 16 Jährige Derek Crest, der wohl gerade auf dem Weg von der Schule nach Hause war.“

Charlies Geld fiel mir wie in Zeitlupe aus der Hand und der Bissen meines Brotes blieb mir im Halse stecken. In meinem Kopf war ein großes Durcheinander und es spielten sich bruchstückweise die letzten paar Wochen ab. Das Outing, die Prügelei, die Todesstille, der Fast-Kuss mit Derek, die Albträume und wie er mir noch vor einer Stunde auf der Bank gegenüber saß. Klein gemacht, klein geredet. Traurig, aufgewühlt, aufgelöst. Beschämt, wehmütig, mitleiderregend.
Erst viel zu spät hörte ich das Klirren der Münzen auf dem Boden. Zu spät spürte ich Charlies Griff an meinem Arm und die Träne, die mir die Wange hinunter rollte. Sie war groß und schwer und voller Unschlüssigkeit. Ich stellte mir nicht die Frage, ob wir vielleicht Schuld waren. Denn das würde mein Herz nicht verkraften. Dann wäre ich auf den Boden gesunken, hätte geschrien und geweint und hätte niemals aufhören können. Stattdessen fragte eine unangenehme, leise Stimme in meinem Hinterkopf, ob es Karma war. Nein. Die Stimme war hässlich und ich drängte sie wieder zurück.
Ich weiß nicht wie lange wir so da standen, doch irgendwann wendete ich meinen Blick Charlie zu. Dieser schaute nur geradeaus. Er stand da wie eine leere Hülle. Als hätte er den Charlie der in ihm drin war und ihn ausmachte, draußen vor der Tür gelassen. Er starrte an die Wand der Tankstelle und hielt meinen Arm fest. Wie ein Anker, der, wenn er ihn los lassen würde, ihn nicht mehr halten und wegtreiben würde. Wohin auch immer. Ich schluckte, blinzelte und bückte mich. Die Träne viel dabei zu Boden und Charlie musste mich loslassen. Ich hob das Geld auf und steckte es ihm in die Jackentasche. ,,Komm, wir gehen.“, sagte ich monoton und leise, nahm ihn an die Hand und verließ die Tankstelle.

 

***


Ich stand unter der Dusche und ließ das eiskalte Wasser über meinen Körper laufen. Über meine Haare, mein Gesicht, meine Brüste, meinen Bauch und schließlich zu meinen Beinen und Füßen. Ich lehnte mit meiner Stirn an den kühlen Fließen und befahl meinem Körper sich zu bewegen, was er nicht tat. Das Wasser sollte mich wach rütteln, meine Gedanken abwaschen. Doch das Einzige was es tat war, mich zum Zittern zu bringen. Aus meinem Handylautsprecher tönte „Every Breath You Take“ von Denmark + Winter. Es war eine schöne, langsame Version von einer Frau gesungen. Was eine Ironie. Derek würde nie mehr atmen können. Könnte uns nicht mit jedem Atemzug beobachten. Doch etwas stimmte. Ich sah immer nur sein Gesicht in meinem Kopf und weinte. Meine Tränen verschwammen mit dem Wasser der Dusche. Ich hörte das Lied, das Rauschen des Wassers. Doch am lautesten war mein Herzschlag. Mein Herz pumpte lautstark Blut durch meinen Körper, holte Luft, nur um es im nächsten Moment wieder zu tun. Poch, poch, poch, poch. Ich stemmte meine Hände gegen die Fliesen. Warum musste er sterben? An was hat er als Letztes gedacht? Was ist mit seinen Eltern? Ein Klopfen an der Badtür riss mich auf meinen Gedanken. ,,Alles okay, Rachel?“, hörte ich die dumpfe Stimme meines Vaters, die durch die Tür drang. ,,Ja. Alles gut.“, sagte meine erstickte Stimme und ich griff das Shampoo, was in dem Metallregal der Dusche stand. Ich wusch meine Haare und gleichzeitig meinen Körper. Mir war es egal, dass es Shampoo war. Ich duschte mich wieder ab, stellte das Wasser ab und stieg aus der Duschkabine.
Nachdem ich angezogen, geschminkt und geföhnt war, kam ich aus dem Bad und beschloss, meinen Eltern alles nach der Beerdigung zu erzählen. Dass sie verstehen, warum ich so reagiere und mich die letzten Tage in meinem Zimmer eingesperrt habe, als ich von der Schule kam. Oder sollte ich eher sagen, dass ich meine Gedanken eingesperrt habe. Ich wollte nicht denken, dass Charlie und ich schuld waren.
In der Schule war die Stimmung bedrückend und komisch. Wir hatten eine Durchsage des Direktors und eine Schweigeminute, die mal wieder keiner Ernst genommen hat. Tim und Jason haben sich bei Charlie entschuldigt. Es war irgendwie komisch. Sie haben es zwar glaube ich ernst gemeint, aber Charlie hat ihnen nur die Hand gegeben, ihnen sein Mitleid ausgedrückt und ist gegangen. Was anderes hat er nicht gesagt. Phil hängt die meiste Zeit mit uns ab und hat Charlie erstmal sehr lang umarmt, als er ihn am nächsten Tag in der Schule gesehen hat. Wir haben viel geschwiegen, aber das tat gut. Schweigen tut oft gut.

Ich stand vor dem großen Spiegel in meinem Zimmer und strich Falten auf meinem Kleid glatt, die nicht da waren. Es war schwarz. Genauso wie die dicke Strumpfhose die ich darunter trug, meine Fingernägel, meine Augen und meine Halskette. Die hatte mir Charlie zu meinem 16. Geburtstag geschenkt. Es war zwar eine silberne Kette, aber ein schwarzer Engel als Anhänger. Meine Mutter steckte den Kopf durch den Spalt, den meine halb offene Tür hergab. ,,Bist du fertig?“, fragte sie vorsichtig und lächelte mich an. Ich nickte viel zu energisch mit dem Kopf und folgte ihr herunter in den Flur. Dort zog ich meine schwarzen Chucks an und nahm den Blumenstrauß und eine kleine Schachtel von der Kommode. ,,Na dann wollen wir mal.“, flüsterte meine Mutter, als wäre es nur für sie gedacht. Als müsste sie sich selbst überreden. Mein Vater war arbeiten, deshalb begleitete mich meine Mutter auf die Beerdigung. Ich sagte ihr, dass sie das nicht tun müsste, doch sie widersprach mir. Sie sagte, dass sie mich da alleine nicht hingehen lässt, weil das unverantwortlich wäre. Weil sie für mich da sein wollte. Und außerdem kannte sie Dereks Väter. Sie wollte ihr Mitleid kund tun. Und ich war froh, dass sie mit kam.

Es war ein grauer Februartag. Ich trug eine dunkelgraue Strickjacke über meinem Kleid und fröstelte, als ich mich neben Charlie und Phil stellte. Meine Mutter legte den Arm um mich und sah mich aufmunternd an. Es standen ungefähr 20 Leute um seinem Grab. Verwandte, die weinten. Seine Väter standen ganz vorn und hielten sich in den Armen. Rechts vom Sarg entdeckte ich Tim und Jason. Beide hatten schwarze Jacketts an und versuchten angestrengt ihre Tränen zurück zu halten.
Der Pastor hielt seine Rede, alle weinten. Charlie griff nach meiner Hand, und Phil nach seiner. Eigentlich freute ich mich über diese Geste, doch konnte es in diesem Moment nicht zeigen. Mein Magen war ein einziger Knoten, mein Herz pochte wie wild in meiner Brust und mein Gehirn produzierte zu viele Schuldgefühle.
War ich zu kalt, zu abweisend? Eigentlich hatte er es doch verdient? Eigentlich, oder?
Als seine Rede zu Ende war, ließen sie den Sarg nieder. Er war nicht in einer Urne, war nicht verbrannt. Niemand sagte diesen Spruch. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Er lag dort in diesen Sarg. Hübsch gemacht, wahrscheinlich in einem Anzug. Seine Verletzungen unkenntlich gemacht. Seine Eltern konnten vorher in der Kirche nochmal zu ihm. Ihre letzten Worte sagen, für die sie nie eine Chance hatten, sie ihm persönlich zu sagen. Meine Brust zog sich bei der Erinnerung zusammen, was meine letzten Wort an ihm waren. Okay, Tschüss. Okay, Tschüss? Das sind keine guten letzten Wort an jemanden. Es sind zwar nicht die schlechtesten, aber auch keine guten. Es tat mir leid. Ich wollte ihn zurückholen, aufwecken. Und ein paar bessere letzte Worte finden als Okay, Tschüss.
Winzige Staubwolken wirbelten nach oben, als der Sarg den Boden berührte. Jeder warf eine Blume auf den Sarg und irgendetwas, was sie mit ihm verbinden. Ich warf eine Blume und die kleine Schachtel.
Er hatte Hirnblutungen, haben sie gesagt. Daran sei er gestorben.
Jeder seiner Verwandten und Freunde warfen eine Schaufel Erde auf Derek.
Es hat keine Minute gedauert, dann war er tot, haben sie gesagt.
Mir wurde die Schaufel in die Hand gedrückt und somit ließ auch ich ihn immer mehr unter der Erde verschwinden.
Ich fühlte mich, als ob ich kein Recht hatte dort zu sein. Alle haben ihn geliebt und waren mit ihm um einiges mehr verbunden als Charlie, Phil und ich. Sie waren auf eine schöne Art mit ihm verbunden. Wir waren höchstens durch Hass verbunden.
Während die Arbeiter den Rest der Erde in das Loch schaufelten und ihn somit ganz begruben, gingen allmählich alle Angehörigen und auch meine Mutter ließ uns allein. Mit den Worten:,,Ich warte dann im Auto auf euch.“, ist sie davon gestiefelt. Selbst das sind bessere letzte Worte als Okay, Tschüss.
Somit standen also nur noch Charlie, Phil und ich am Grab und waren zu steif um uns zu bewegen. Charlie räusperte sich kurz und sagte:,,Derek, du warst ein echter Mistkerl. Doch wir haben dir verziehen. Und du hattest auch deine Geschichte. Ruhe in Frieden.“ ,,Ruhe in Frieden.“, sagte auch Phil, legte seinen Arm um Charlies Hüfte und zog ihn etwas an sich heran. ,,Ruhe in Frieden.“, flüsterte ich, atmete schwer und hob meinen Kopf in Richtung Himmel. Irgendwo da war er jetzt und sah auf uns herab. Er würde sehen, dass wir immer noch da standen und das es langsam anfing zu regnen. Wie im Film. Es ist die Szene, in der alle immer ihren schwarzen Regenschirm aufspannen und gehen. Sie gehen über die Wiese eines Friedhofes und die Kamera fliegt immer höher, bis sie irgendwann abblendet und noch irgendeine kurze, spannende Szene zeigt. Und wir taten es ihr gleich. Bloß hatten wir keine schwarzen Regenschirme. Wir wurden durchnässt und die schwarze Kleidung klebte an uns.
Wir stiegen in das Auto meiner Mutter und sie fuhr ohne ein Wort zu sagen los. Sie sagte nichts dazu, dass wir uns alle auf die Rückbank quetschten und dass Phil den Kopf auf Charlies Schulter, und Charlie seinen auf meiner hatte. Im Radio lief „Obstacles“ von Syd Matters. Ich lehnte meinen gegen seinen und fragte ganz leise, sodass nur Charlie es hören konnte:,,Verziehen? Haben wir das wirklich?“

 

 

 

,,Every breath you take
Every move you make
Every bond you break
Every step you take
I'll be watching you

Every single day
Every word you say
Every game you play
Every night you stay
I'll be watching you“
- The Police, Every Breath You Take

 

Rachel Storm

 

Jetzt sitze ich, Rachel Storm, hier an der Küste von Neuseeland. Meine Haare liegen fast auf meine Schultern und sind wellig vom lufttrocknen, hell von der Sonne. Ich sitze in dem alten Pavillon des Ferienhauses, das Charlie und ich uns von unserer Arbeit hier gemietet haben. Die Sonne brennt auf den Sand, der dem Pavillon zu Füßen liegt und nach 30 Metern im Meer endet. Heute ist ein schöner Tag und viele Surfer reiten die Wellen, die das Meer und der Wind uns anspülen. Ja, und ich sitze hier vor meinem Laptop und schreibe meine Geschichte zu Ende.
Charlie und ich haben uns damals aufgerappelt und haben unser Abitur gemacht. Wir hatten beide einen Durchschnitt von 1,8. Das haben wir auch sehr Herrn Meinzner zu verdanken, er hat uns da ziemlich durchgeboxt.
Phil wurde ein Jahr eher fertig und hat ein Studium als Architekt angefangen. Sie haben es damals ganz einfach gemacht. Sie haben sich wie jedes andere Paar auch geküsst. Sie haben sich nicht versteckt, denn dazu gab es keinen Grund. Und wenn doch, dann hat Charlie mit dem Grund geredet, und seine Gründe aus der Welt geschafft. Ich habe mich nicht mehr eingemischt, habe ihn seine Sachen alleine regeln lassen. Wir liefen nicht mehr Hand in Hand durch die Schule. Die durfte jetzt nämlich Phil halten. Doch ich war eher froh darüber, als traurig. Ich ließ ihm seinen Freiraum und trotzdem blieb er mein Charlie. Wir schafften in der Zeit nach dem Abi in Neuseeland mehr Erinnerungen, für mehr schöne Flashbacks. Wir hatten sehr viele, lauwarme Nächte in denen wir spazieren gingen oder im Meer tanzten, wie damals an der Ostsee. Wir sind klettern gegangen, haben uns verlaufen, waren betrunken und haben gefeiert. Wir beide arbeiten als Kellner in verschiedenen Hotels. Es ist nicht unser Traumjob, doch es hat für dieses Jahr gereicht. Wir haben alles gemacht was wir wollten und sind uns noch näher als vorher.
Heute vor drei Jahren ist Derek ums Leben gekommen. Nächste Woche würden wir wieder nach Deutschland fliegen und Charlie würde Phil endlich wiedersehen. Und seine Eltern. Und ich meine Eltern.
Ich bin endlich glücklich. Ich habe mir meinen Traum erfüllt. Ich bin in Neuseeland und schreibe gerade die letzten Zeilen meines Buches. Vielleicht suche ich mir einen Nebenjob in Deutschland. Charlie war zwar naiv und meinte, dass ich den bei dieser Story nicht brauchen werde, aber wer weiß, wann ich das nächste Mal wieder etwas zu erzählen habe. Charlie hat schon eine Zusage für ein Bewerbungsgespräch als Polizist bekommen. Es ist pure Ironie.
Ich nippe an meinem Eistee und denke an die Schachtel zurück, die ich in Dereks Grab gelegt habe. Ich weiß noch, wie schwer es für mich war etwas zu finden, dass ich ihm mit ins Grab legen könnte. Charlie und Phil ist nichts eingefallen. Mir ist kurz davor doch eine Idee gekommen. Ich erinnerte mich an den grünen Smaragd, der Dereks Augenfarbe hatte. Derek und ich hatten ihn damals aus einem Kaugummiautomaten und er schenkte ihn mir. Also war es kein echter Smaragd. Es war ein Stück Plastik, das die Form eines Smaragdes hatte und die Farbe seiner Augen. Mehr nicht. Und doch war es irgendwie von Bedeutung. Weil wir zu der Zeit zusammen waren, und weil er damals etwas gesagt hatte. Falls mir mal was passieren sollte, passt der auf dich auf. Ich kramte ihn also aus der hintersten Ecke der Schublade meines Schreibtisches und legte ihn in die Schachtel, in der die Kette drin war, die mir Charlie schenkte.
Nun passt er auf dich auf, Derek.

 

Und somit beende ich meine Geschichte. Obwohl es nicht nur meine Geschichte ist. Es ist die von Charlie, von Phil und von Derek.



 

 

,,Hast du gedacht, du bist hier sicher? Bist du wie betäubt?
Macht die Medizin dich müde? Fühlst du ich verfolgt?
Hast du schwache Nerven? Rauben Sorgen dir den Schlaf?
Sehnst du dich nach Wärme? Halten Albträume dich wach?
Hast du Angst um dein Leben? Kommt Panik in dir hoch?
Fühlst du dich belogen? Fürchtest du den Tod?
Hörst du die Sirenen kommen?“
- Casper, Sirenen

Impressum

Texte: Alle Rechte bei mir
Bildmaterialien: Cover: NICHT VON MIR Quelle: http://www.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fdata1.whicdn.com%2Fimages%2F4946140%2Flarge.jpg&imgrefurl=http%3A%2F%2Fweheartit.com%2Fentry%2Fgroup%2F10869433&h=398&w=500&tbnid=Z7ujCevRablH2M%3A&zoom=1&docid=55L8
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch all denen, denen es genauso geht. Ich widme es all denen, die für ihre Freunde durch's Feuer gehen würden und all ihre Energie in einen Menschen stecken, der ihnen alles auf der Welt bedeutet. Ich widme es all den Homosexuellen, die sich nicht verstanden oder diskriminiert fühlen. Ich widme es all den Leuten, die sich mit den Personen aus dem Buch identifizieren können. Und ich widme es all den Leuten, die mich und meine Bücher unterstützen.

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