Cover

Ein paar Worte der Autorin

Hallo liebe Leser und Leserinnen,

 

da ich einige Fragen bekommen habe, ob die Geschichte etwas mit mir zu tun hat, möchte ich diese gleich am Anfang beantworten.
Dieses Buch hat nichts mit mir und meinem Leben zu tun. Alles außer ein paar Namen, die aus meinem Umfeld stammen, die aber persönlich nichts mit der Geschichte zu tun haben, ist frei erfunden. Alle Dialoge, Charaktere, Ereignisse und Gedanken sind frei erfunden. 
Ich habe dieses Buch geschrieben um mich abzulenken, nicht um Geschehenes aufzuschreiben/ es so zu verarbeiten.
Die Gedanken oder Tätigkeiten der Protagonisten spiegeln nicht meine eigenen wieder.

Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß beim lesen und beim mitfühlen.

 

Eure Laura Aßmann

Vorwort

 

 

 

Niemand kann wissen wie es dir geht.

Man kann es zwar erahnen, 

aber man kann nie wissen was in dir abläuft.

Jeder sieht dein Lächeln,

aber niemand sieht dass dein Herz leise weint.

Jeder sieht dein Gesicht, 

doch niemand sieht deine Augen,

die von Tränen getrübt sind.

Und wenn du einfach nicht mehr kannst,

lass dich fallen. 

 - Laura (Autorin)

Emoschlampe

***

Bye

Jedes Mal wenn wir uns trafen, sah ich dieses Funkeln in deinen Augen, und dein süßes Lächeln im Gesicht. Wenn ich diese beiden Sachen sah, wusste ich, dass nichts Böses folgte. Wir nahmen uns in den Arm, du sahst mich an, und wir küssten uns. Das war ein unglaubliches Gefühl.

Doch an einem Tag änderte sich alles. Ich war bei dir zu Hause. Als wir gerade aneinander gekuschelt auf deinem Bett saßen, standest du auf und sahst mich an. "Wir müssen reden.", flossen die Worte aus deinem Mund. "Warum, was ist los?", fragte ich. Ich hatte schon Tränen in den Augen, weil ich wusste was kommen würde. "Es funktioniert nicht mehr. Du bist einfach nicht die Richtige. Du wirst einen Besseren als mich finden.", hörte ich ihn sagen. Doch mein Verstand war abwesend. Ich sah in meinem inneren Auge die eiskalte Zukunft auf mich zu rasen. Ich holte mich zurück, und fragte ihn: "Was ist los? Bin ich nicht hübsch genug für dich?" Er sah mich an. Meine Augen waren kurz davor die Tränen wie eine Gießkanne über meine Wangen zu schicken. Doch ich dachte mir: Nein. Du musst jetzt stark sein. Die Antwort schien ihm schon auf die Stirn geschrieben zu sein. "Naja... es gibt Hübschere. Ich brauch einfach wieder was Neues, tut mir leid." Ich sah die Lüge in seinen Augen. "Ach? Lüg mir nicht ins Gesicht. Sag mir die Wahrheit. Warum willst du wirklich Schluss machen?" Mittlerweile war ich schon aufgestanden. Da er immer noch nichts sagte, drängte ich ihn weiter. "Sag schon. Das werde ich ja wohl verkraften." Doch er starrte mich nur an. Dann kullerte doch eine Träne über meine Wange. Ich schnappte mir meine Tasche und sah ihn böse an. Bitte, sag doch etwas. Oder versuch mich aufzuhalten. ,,Dann ist es also wirklich aus.", stellte ich fest, presste meine Lippen aufeinander und drehte mich zur Tür. Doch als ich einen Schritt auf die Tür zu machte, spürte ich seinen Griff an meinem Arm. ,,Luna.", flüsterte er und brachte mich dazu mich zu ihm zu drehen. Seine Augen glänzten etwas rot. Er schaute kurz auf meinen Unteram und mir dann wieder in die Augen. Ich sah ihn erwartungsvoll an. ,,Denk nicht, dass ich das leichtfertig mache. Du hast jemand besseren verdient.", sagte er. Ich befreite mich aus seinem Griff und öffnete den Mund, aus dem dann doch keine Wörter kamen. Danach drehte ich mich um und verließ das Haus. 

 

Ich weinte den ganzen Weg über. Als ich die drei Kilometer gelaufen war, und in meinem Ort ankam, glänzte die Sonne rot über dem Horizont, als wenn jemand sie mit Wasserfarben angemalt hätte. Ich lief aber nicht nach Hause. Ich lief an den Ort, an den ich schon einige Male zum Nachdenken hingelaufen war. Es war ein kleiner Berg, mit Feldern bestückt. Und ganz oben am Weg stand eine Bank. Ich setzte mich auf sie und schloss die Augen. Die lauwarme Sommerluft brachte das Gras zum rauschen. Dann wurde mir alles bewusst. Ein halbes Jahr war ich mit ihm zusammen. Ein halbes Jahr Glück und zugleich auch Trauer. Es war viel passiert in der Zeit. Freunde sind gegangen, Freunde sind gekommen. Ich starrte auf meinen Arm. Alles voller Narben. Schön, ich lebe noch, dachte ich mir. Die Narben waren schön gerade, fast parallel angeordnet. Auf der Unterseite meines Unterarms befanden sich die frischeren Wunden. Ich würde die Zeit mit ihm nicht bereuen, nein. Aber dass mein Arm jetzt so aussieht, das bereue ich. Meine Tränen waren versiegt. Ich wischte mir meine nassen Wangen trocken. Ich nahm meine vielen Armbänder ab, und starrte auf meinen Unterarm. Und das war es also wert...soso... dachte ich mir und legte meine Armbänder nach einigen Minuten wieder an. Ich legte mich mit den Rücken auf die Bank und ließ mich von der warmen Abendsonne wärmen. Wie ich diesen Duft von Blumen an einem Sommerabend doch liebte. Ich starrte in den blau roten Abendhimmel. Ein halbes Jahr. Verdammt. Das Letzte was er gesagt hatte, war 'Es tut mir leid'. Tzz, es tat ihm kein Bisschen leid. Er konnte mir ja noch nicht mal den richtigen Grund ins Gesicht sagen.

Plötzlich vibrierte mein Handy. Ich zog es aus meiner Hosentasche und guckte auf das Display. Eine SMS von ihm. 'Ich liebe dich ._.' stand da. Ouh bitte. Nicht dein Ernst. Ich war stocksauer. Was erlaubte sich der Typ eigentlich? Ich sprang auf, wählte seine Nummer, und rief ihn an.

"Ja. Was ist?"

"Ich hab deine SMS bekommen. Was soll das?", fragte ich herrisch.

"Ich liebe dich halt noch..."

"Achso. Und deswegen macht man Schluss?!"

"Es ist nur...weil..."

"Ja was?! Sag mir endlich diesen scheiß Grund verdammt!!"

"Ich hab einfach Angst um dich... Du hast dir so viel wegen mir angetan. Ich will nicht, dass es so weiter geht. Schatz ich bin nicht gut für dich..." Ich hörte seinen Fernseher im Hintergrund.

Eine kurze Pause trat ein. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich stellte mir vor, wie er vor mir steht und mir mit weinerlicher Stimme sagt, dass er Angst um mich hat.

"Achso... Und warum hast du mir diesen Grund nicht eher gesagt? Und wieso kommt das jetzt?"Ich hatte das komische Gefühl das er lügt.

"Es tut mir so leid... Ich hatte Angst vor deiner Reaktion. Ich wusste nicht was ich tat."

"Ach ja? Deswegen küsst du mich dann auch noch. Ist klar. Weißt du wie ich mich gerade fühle? Ich bin diese beschissenen drei Kilometer gelaufen, weinend, hab mich hier auf diesen scheiß Berg geschleppt und hab mit der ganzen Sache schon abgeschlossen. Und dann kommt dieser Mist! Wenn du mich wirklich lieben würdest, hättest du mir geholfen mit diesem...“ Ich konnte es nicht aussprechen. „...Würdest du mich lieben, hättest du deswegen nicht einfach Schluss gemacht, wie ein Feigling! Würdest du mich lieben, hättest du mir diesen Grund ins Gesicht gesagt! Aber nein, du lässt mich gehen, lässt mich allein. Und das du Angst um mich hast, fällt dir erst nach einem halben Jahr auf?! Achso. Ist klar."

Dreißig Sekunden nichts. Eine Minute nichts. Zwei Minuten nichts. Genug gewartet. Ich sagte mit starker und klarer Stimme diese neun Wörter, die total unüberlegt kamen. 

"Komm wieder, wenn du eine ordentliche Erklärung hast. Bye." Somit legte ich auf, schaltete mein Handy aus und steckte es in meine Tasche. 

Natürlich hatte ich mit der Sache noch nicht abgeschlossen. Ich liebte ihn. Kennt ihr das, wenn ihr an Silvester  den Kopf in den Nacken legt, und direkt in das Feuerwerk schaut? Es ist wie hunderte Sterne die auf dich nieder rieseln. Das ist eins der besten Gefühle der Welt. Und so war es für mich in zu küssen, mit ihm zu schlafen und ihn einfach nur anzusehen. Ich verstand meine Welt nicht mehr. Doch wenn ich eins nicht kann, dann ist es Schwäche zu zeigen. Ein bisschen musste ich ihm zeigen um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. 

Irgendwann kam dann noch eine SMS. ‚Ach komm, such dir doch jemand anderen zum ficken!‘ Ich ignorierte sie einfach und wusste, dass ich das Feuerwerk niemals wieder sehen werde. 

Ich holte aus meiner Tasche ein Bild von ihm und mir, und mein Feuerzeug. Das Bild zeigte uns Beide küssend auf einer Bank, hinter uns der Sonnenuntergang. Ein schönes Bild. Wenn es noch Bedeutung hätte. Ich atmete tief ein und aus, wischte meine unerwünschten Tränen weg, und hielt die Flamme des Feuerzeugs an eine Bildecke. Die rote Flamme schlängelt sich vorsichtig um die Ecke des Bildes, dann zügelt sie sich und färbt die Ecke schwarz. Die Flamme greift das Bild immer mehr an. Ich hielt das Feuerzeug weg. Die Flamme suchte sich weiter ihren Weg durch das Bild. Er war schon verkohlt. Es fühlte sich an als würde das Feuer mein Herz verbrennen. Dann war „ich“ auch weg. Ich ließ das letzte verkohlte Stückchen auf den Boden fallen und trat das Feuer aus. Ich setzte mich wieder auf die Bank und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass jetzt alles vorbei war. Ich legte mich wieder hin und starrte in den Himmel.

Wenigstens konnte ich den Schmerzen in meiner Seele 'Auf Wiedersehen' sagen. Denn ich wusste, sie würden wieder kommen.

 

 

 

 ,,Jeder von uns ist Kunst, gezeichnet vom Leben.“
-Unzerbrechlich, Casper

Nächtlicher Besuch

Ich guckte auf meine Handyuhr. Es war halb neun. Ich hätte schon längst zu Hause sein müssen. Ich stand auf und holte aus meiner Tasche mein dünnes Jäckchen heraus. Ich zog es mir über, schnappte mir meine Tasche und lief langsam den Berg hinunter. Die Luft wurde immer kühler, und meine Beine fingen an zu zittern. Ich lief etwas schneller, denn ich wollte vor um neun zu Hause sein. Die Sonne war fast untergegangen, als ich den Fuß meines kleinen Berges erreicht hatte.

Als ich zu Hause ankam, wurde ich gleich von dem wütenden Gesicht meiner Mutter begrüßt. ,,Wo hast du dich denn noch herum getrieben?!" Ich sah sie an, und hoffte, dass sie meine verschmierte Schminke sieht. Sie musterte mich, doch sie fasste das alles ganz anders auf. ,,Wasch dich gefälligst, du siehst furchtbar aus! Ich will nicht wissen wo ihr überall wart!" Ich zog meine Schuhe aus, Wut geladen, bereit abzuschießen. Ich stellte mich gerade hin, und sah ihr in die Augen:,,Mach du doch mal durch was ich heute erleiden musste. Will mal wissen wie du danach aussiehst. Und jetzt mach Platz!" Ich stieß sie zur Seite und lief die Treppen hoch. Ich schmiss meine Zimmertür hinter mir zu und lehnte mich mit dem Rücken an die Tür. Ich sank langsam hinunter bis ich auf dem Boden saß. Ich lehnte mein Kopf gegen meine Knie und umschloss meine Beine mit meinen Armen. Ich lauschte ob meine Mutter irgendwas sagte, doch ich hörte nichts. Ich hob meinen Arm und ertaste mit meiner Hand den Schlüssel im Türschloss. Ich drehte ihn um und hörte das dumpfe Klacken im Schloss. Schon wieder flossen die Tränen in Strömen über meine Wangen. Da fiel mir wieder meine Klinge ein. Nein, das darfst du nicht. Aber, wie immer, fand ich keinen anderen Ausweg. Ich ertrug diese Schmerzen in mir nicht mehr, ich ertrug die Trennung nicht, ich ertrug meine Familie nicht. Ich ertrug alles nicht.Ich hievte mich hoch und lief zu meinem Schreibtisch. Aus einer alten Federmappe die dort lag nahm ich eine kleine Schachtel heraus. Ich öffnete sie und holte mir meine Rasierklinge heraus, die in Seidenpapier eingewickelt war. Ich legte die Schachtel wieder in die Federmappe und setzte mich auf mein Bett. Ich nahm meine Armbänder ab und legte somit meinen Unterarm frei. Ich setzte die Klinge auf der Unterseite meines Handgelenks an. Die Tränen tropften auf mein T-Shirt, doch mein Gesicht war ausdruckslos. Mein Herz schlug immer schneller, sehnsüchtig wartete es. Ich überlegte hin und her ob ich es tun sollte oder nicht. Es würde wieder eine Narbe geben. Es würde wieder auffallen. Aber ich konnte diese Last nicht mehr tragen. Ohne mit der Wimper zu zucken wollte ich schneiden. So nah an der Pulsader wie nie zuvor. Ich habe gewusst, dass es sehr stark bluten wird, dass ich hätte sterben können. Doch genau in diesem Moment klingelte mein Handy.
Es war Pascal.
    ,,Hey Luna.“

,,Hey..." 

,,Ich hab das bei Facebook gesehen... dein Freund ist Single? Was ist passiert?" 

,,Er hat Schluss gemacht... Und mir dann gesagt das ich mir jemand anderen zum ficken suchen soll." 

,,Wirklich? Was ist das bitte für ein Assi?! Süße so einer hat dich nicht verdient!" 

,,Pascal... gut das du angerufen hast. Ich wollte grad..." Ich konnte es nicht aussprechen. Nicht jetzt. 

,,Luna leg sofort diese scheiß Klinge weg. Er ist es nicht wert! Versteh es doch endlich. Du sollst dir wegen dem nicht noch mehr antun. Du weißt wie dein Arm aussieht!" 

,,Du verstehst nicht wie es mir geht... Wir haben nicht mehr so viel Geld, ich hab nur noch Stress mit meiner Mutter, in der Schule werde ich von den meisten nur gemobbt. Er war mein einziger Halt! Und jetzt ist er auch weg." 

,,Hör mir jetzt zu. Es sind Sommerferien, und ich komme jetzt zu dir. Mach bitte dein Fenster auf." Ich wollte noch sagen, dass er es nicht tun sollte, doch er hatte schon aufgelegt. Ich wischte meine Tränen aus dem Gesicht und starrte auf meinen Arm. Ich hatte die Klinge immer noch angesetzt. Ich atmete tief durch, schloss die Augen, ließ die Klinge etwas lockerer und nahm sie von meinem Arm weg. Ich öffnete meine Augen wieder, stand auf und packte die Klinge wieder weg. Ich öffnete mein Fenster, so wie es mir Pascal gesagt hatte. Danach bürstete ich mir meine Haare, duschte mich, zog meine Chillklamotten an, und legte mich auf mein Bett. Ich starrte einfach nur auf den Schrank, der rechts neben meinem Bett an der Wand stand. Ich versuchte, nicht an ihn zu denken, doch es klappte nicht.

Ich würde nach den Ferien noch mehr gemobbt werden. Ich würde die kleine dumme Schlampe sein, die auf jeden Typen reinfällt. Jetzt haben sie endlich einen richtigen Grund mich zu mobben. Denn eigentlich sah ich ganz normal aus - Lange, braune Haare, schmales Gesicht, natürlich geschminkt, schlanke Figur und einen ganz normalen Kleiderstil. Der Grund warum sie mich gemobbt haben, war aber eigentlich ganz simpel. Ich hatte nicht genug Geld für Markenklamotten, konnte nicht mit reden wenn es um 'Vans' und 'Nike' geht. Und als sie in Sport dann noch meine Narben gesehen hatten, war ich dann der arme Emo. Wenn ich an ihnen vorbei lief, warfen sie mir Centstücke hinterher. Sie riefen:,,Na, heute schon geritzt, Emolein?" oder andere Sachen. Ich war ein gefundenes Fressen. Er war mein einziger Halt, durch ihn hatte ich noch das Gefühl etwas wert zu sein. Doch jetzt war er weg aus meinem Leben... Für immer. Ich war also dieses „Klischee-Emo-Mädchen“, dass aber kein Emo war. Ich verletzte mich wegen Gründen, die es eigentlich nicht wert waren.

Ich atmete tief ein und aus, und schloss die Augen. Ich lauschte, ob Pascal schon kommt. Aber da war kein Geräusch. Nur das Zirpen der Grillen und leises Rascheln des Grases. Ich kam langsam zur Ruhe, meine Tränen aber waren noch nicht versiegt. Sie kamen wieder und überfluteten meine Wangen. Mein Herzschlag wurde ruhiger und ich öffnete die Augen, und sah aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne war untergegangen und man konnte wunderbar die Sterne sehen. Sie leuchteten wie kleine Augen die auf mich herab sahen und auf mich Acht gaben. Bei diesen Gedanken musste ich lächeln. Ich sah auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Es war halb Elf.

Plötzlich hörte ich leise Schritte auf unserem Kiesweg, dann ein Rumpeln, und dann sah ich das Gesicht von Pascal am Fenster. Ich stand auf und umarmte ihn. ,,Hey, nicht weinen.", flüsterte er. Doch meine Tränen waren untröstlich. Wie Wasserfälle stürzten sie aus meinen Augen und ich musste schluchzen. Pascal kletterte durch mein Fenster in mein Zimmer und setzte sich mit mir auf mein Bett. Mein Herz schlug wieder schneller und ich spürte wieder diesen Schmerz, dass ich alleine war. Ich sah ihm in die Augen. ,,Was soll ich denn jetzt machen? Ich werde nur noch mehr gemobbt werden...Bitte hilf mir.", flehte ich ihn unter Tränen an. Er nahm mich in den Arm, und gab mir das Gefühl dass er mich nie wieder loslassen würde. ,,Also Luna... entweder du wechselst die Schule oder du bist stark und stehst das durch, so wie du bisher immer gedacht hast. Aber ganz ehrlich... Ich glaube du bist nicht stark genug um das durch zu halten. Ich denke dir wird keine andere Wahl bleiben...du musst gehen." Er sah mir von oben in meine verweinten Augen. ,,Ich kann nicht gehen... Ich kann dich nicht verlassen. Du bist meine einzige Möglichkeit das hier alles noch zu meistern. Bitte...", flüsterte ich. Ich versuchte meine Stimme so unter Kontrolle zu haben, dass sie nicht allzu verzweifelt klang. ,,Wir haben kein Geld für einen Umzug oder eine andere Schule hier in der Nähe. Ich habe keine andere Wahl.", sprach ich weiter. Wir redeten noch etwas, bis ich dann irgendwann in seinen Armen einschlief. Ich kam mir dort sicher vor. Bis er mich in der Nacht irgendwann aufweckte.

 

 

  

Suizid?

,,Luna...Hey Luna!", flüsterte er in mein Ohr. Er rüttelte mich sachte, und ich machte erschrocken die Augen auf. Um mich herum war alles dunkel, nur das weiße Licht eines Handys erhellte mein Zimmer ein wenig. Ich wollte mich aufrecht hinsetzen, doch Pascal hielt mich noch fest. ,,Wie spät ist es?", fragte ich ihn leise, weil es das erste war, was mir durch den Kopf schoss. ,,Halb vier... Aber was viel wichtiger ist, du hast eine SMS bekommen.", antwortete er mir flüsternd. ,,Was!? Von wem?", fragte ich entsetzt. Wer schreibt einen denn so spät noch eine SMS? ,,Von deinem Exfreund... sieh selbst. Tut mir aber leid, dass ich einfach so geguckt hab. Ich hab seinen Namen auf dem Display gesehen. Ich hoffe du bist mir nicht böse." Es war mir in diesem Moment total egal ob er diese SMS gelesen hatte oder nicht. Ich wollte einfach nur wissen was drin stand. Ich nahm mein Handy und starrte auf das Display. 'Du dumme Fotze, es ist mir egal ob du dir deinen Arm weg ritzt. Du kannst sterben gehen! Niemand hätte dich dumme Schlampe verdient! Fick dich.' Ich las mir die SMS ungefähr zehnmal durch, und blickte ungläubig auf das Display. Sofort dachte ich an meinen vernarbten Arm. Natürlich... Nein. Nichts natürlich. Komischerweise kamen keine Tränen, mein Mund stand nur offen und ich vergaß, dass ich immer noch in Pascals Armen lag. Ich ließ mein Handy fallen, befreite mich aus Pascals Armen und stand auf. ,,Luna, was ist mit dir? Wo willst du hin?!", fragte er aufgeregt und wollte nach meinen Arm greifen, doch ich drehte mich weg und lief ins Badezimmer.

Ich verschloss die Tür hinter mir und rannte zu einem Schrank. Dort holte ich unsere Nagelschere raus, ließ mich auf den Boden fallen, und hörte nichts mehr. Ich hörte nicht mehr Pascals Klopfen gegen die Tür. Seine Rufe. Sein Flehen. Ich hörte nicht, dass meine Eltern aus dem Schlafzimmer heraus kamen, hörte nicht wie mein Vater gegen die Tür trat.

Ich nahm die Nagelschere, setze sie an, drückte, und schnitt. Ich merkte wie der Schmerz meine Körper erfüllte. Ich merkte wie das Blut an meinem Arm herunter lief. Ich spürte die Wärme der roten Flüssigkeit, die mich leben ließ. Mein Herz konnte sich nicht entscheiden ob es langsam oder schnell schlagen sollte. Schnell vor Aufregung, langsam wegen der Schmerzen. Es pumpte das Blut durch meine Adern, das mich gleich danach wieder verließ. Doch ich merkte, dass ich noch lebte. Ich merkte, dass ich noch da war. Ich erfüllte hiermit seinen größten Wunsch, meinen Tod. Ich wusste nicht wieso. Aber ich wusste, dass es einfach so war. Kurzschlussreaktion. Immer noch da. Still alive.Mein Blick verschwamm langsam, mein Körper wehrte sich mit allen Mitteln gegen den Tod. Ich lag verkrampft auf dem Boden, zusammengekauert vor Schmerzen.Meine Augen nahmen die weißen Fliesen an den Badezimmerwänden war, sie nahmen den tropfenden Wasserhahn war, die kleine Blutlache neben mir auf dem Boden.

Die Tritte vor die Tür. Die Rufe. Das Klopfen. Doch nichts half. Ich wollte nicht mehr.

Man sagt, dass man bevor man stirbt, sein Leben in einzelnen Abschnitten vor sich sieht. Und das stimmt auch. Ich sah meine ersten Laufversuche, meine ersten Geburtstage, meine Einschulung, meine Grundschulzeugnisse, meine Versetzung in die 5. Klasse, meine Freunde, Pascal, die 8. Klasse, in der es mir schon nicht mehr so gut ging, die 9. Klasse, in der ich anfing mich selbst zu verletzen, die katastrophale 10. Klasse, meinen Abschluss und meinen Exfreund. Aber größtenteils ihn.

Dann schloss ich die Augen und ließ es geschehen. Es war so einfach.

 

 

 

 

 ,,Und heute bin ich aufgewacht,  Augen aufgemacht,  
Sonnenstrahlen im Gesicht.  
Halte die Welt an und bin auf und davon.  
Auf und davon.  
Auf und davon.“

- Casper - Auf und davon -

 

 

Erwachen

Mein Verstand war wieder anwesend. Zuerst spürte ich die kühle Decke über meinem Körper. Ich hörte das leise 'Piepen' eines Apparates. Ich spürte einen warmen Verband um meinem Handgelenk. Ich spürte, dass eine Schnur in meinem Unterarm steckte. Ich wollte die Augen nicht aufmachen. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sie mich wieder geholt hatten. Ich versuchte wieder einzuschlafen, doch es ging nicht. Ich öffnete vorsichtig meine Augen. Grelles Licht stach mir in die Augen, doch ich schaffte es sie offen zu halten. 

Krankenhaus. Weiße Wände, unbequemes Krankenbett, ein Haufen Schnüre an einem dran. Super.

Plötzlich bekam ich Angst, dass jemand hier mit in diesem Raum war und bemerkt hat, dass ich wach bin. Doch das einzige was ich hörte war dieses 'Piepen', was meinen Herzschlag darstellen sollte. Ich setzte mich also auf, um mich besser umzuschauen. Ich denke jeder weiß, wie so ein Krankenzimmer aussieht. Total lieblos. Doch ein kleines Detail verwunderte mich. An meinem Fußende lag ein Blumenstrauß. Rote Rosen. Ich beugte mich nach vorne und nahm ihn in die Hand, die verbunden und verkabelt war. Zu meiner Freude hing ein Zettel dran. Ich klappte ihn auf. Das erste was mir auffiel, war die Jungsschrift, die wirklich unverkennbar war. Es war Pascals Handschrift. Eigentlich wollte ich es mir gar nicht durchlesen, weil ich wusste, dass er entweder sehr traurig oder sehr sauer war. Doch ich las trotzdem. Und es war ziemlich viel Text für so einen kleinen Zettel.

'Hey meine Sonne. Ich kann leider nicht bei dir sein, wenn du aufwachst. Ich bin mit ein paar Kumpels zu deinem Ex gefahren um ihm eine Lektion zu erteilen. Wenn ich nicht wieder komme, weißt du, dass ich mich trotzdem bemüht hab. Du bist und bleibst meine Sonne. Du solltest nicht so schnell aufgeben, ich hoffe du bleibst.'Bei dem zweiten Satz rollte eine kleine, kühle Träne über meine Wange. Ich schnupperte an den Blumen, und sofort hatte ich bessere Laune. Ich war nicht alleine. Das brachte mich zum Lächeln. Ich drehte den Zettel noch einmal um, um sicher zu gehen, dass ich alles gelesen hatte. Dort standen ein paar Namen.'WIR hoffen du bleibst. Pascal, Felix, Benny, Lukas, Vanessa, Melissa, Robin, René, Mara.'Ich lächelte wieder. Ich hatte auf einmal viele Leute hinter mir. Man musste halt erst fast tot sein eh einer reagiert...

Ich sah mich nach einer Uhr um. Es war um drei, nachmittags. Ich dachte das Pascal ja langsam fertig sein musste, ihm eine Lektion zu erteilen. Und dann kam plötzlich die Angst. Ich hatte Angst, dass er irgendwann, wenn ich ihn wieder sehe, auf mich los geht. Das er irgendwelche Scheiße über mich verbreitet. Was er bestimmt sowieso schon gemacht hat. 

Plötzlich hörte ich eine Krankenschwester vor der Tür reden, dann sah ich wie jemand die Türklinke hinunter drückte, und schon sah ich Pascal in den Raum hinein stürzen, auf mich zu. Hinter ihm kamen Benny, Felix und Lukas rein. ,,Luna du bist ja wach!", sagte Pascal und lächelte. ,,Hast du den Zettel gelesen?", fragte er mich. Ich hatte die Rosen wieder an das Bettende gelegt. Ich sah ihn an und nickte. Ich wollte gar nicht wissen wie ich aussah. Bestimmt furchtbar. Auf einmal kam Benny auf mich zu und nahm mich in den Arm. ,,Mach bitte nie wieder so eine Scheiße... bitte.", flüsterte er in mein Ohr, stellte sich wieder hin und lächelte mich an. Es war ein ehrliches, ermutigendes Lächeln. Niemand in diesem Raum sah aus als würde er mich für verrückt halten. Ein schönes Gefühl. ,,Und...?", fragte ich. Die Jungs grinsten sich an, keiner hatte eine Verletzung. ,,Nun ja,", fing Felix an zu sprechen, ,,wir haben sein Haus gefunden, und er war auch zu Hause. Ich hab ihn aus dem Haus gezerrt, Pascal hat ihn zu Boden getreten und ihm erzählt was er angerichtet hat. Dann hat Lukas ihn in die Eier getreten und ich ihm ins Gesicht. Dann hat er angefangen zu bluten und zu weinen. Und naja... entweder er liegt jetzt immer noch da, oder er ist schon hier im Krankenhaus." Ich wusste nicht was ich davon halten sollte. Auf der einen Seite fand ich es super, dass er eine Abreibung bekommen hat. Und auf der anderen Seite hatte ich Angst was danach kommen würde. Und auf einmal durchfuhr ein dunkler Gedanke meinen Kopf. Meine Familie. Plötzlich bekam ich panische Angst und fragte Pascal, wo meine Familie sei. Bei dieser Frage verdunkelte sich sein Gesicht und seine Stirn setzte sich in Falten. ,,Jungs, geht mal kurz raus bitte...", sagte er mit starker Stimme. Ohne zu widersprechen verließen sie den Raum, jetzt war ich mit Pascal alleine. Er setzte sich auf die Kante meines Bettes, und sagte ich solle zu ihm rutschen. Ich tat es, und er nahm mich in den Arm. Ich starrte ihn fragend an, doch sein Blick war starr auf die weiße Wand gegenüber von uns gerichtet. Er atmete tief ein und aus. ,,Deine Eltern wollen dich in Therapie geben. Sie kommen mit deiner Krankheit nicht klar. Sie sagten ich soll dir es so sagen. Und sie sagten ich soll dir sagen, dass sie deine Sachen gepackt hatten und du nur noch das holen sollst was du noch unbedingt mitnehmen willst. Es tut ihnen leid, aber sie kommen nicht mit dir klar..." Bei diesen Worten stieg in mir die Wut ins unermessliche hinaus. Doch meine Trauer überholte meine Wut. Ich hasste mich. Ich wollte mich für so einen Idioten umbringen. Jetzt sitze ich hier in einem hellblauen Krankenhausanzug, meine Haare ungewaschen, meine Schminke verschmiert. Schläuche steckten in meinem Arm, ein Verband wand sich um meinen Unterarm. Und jetzt liege ich hier in Pascals Armen, und lasse mir sagen, dass meine Eltern mich für bescheuert hielten, und mich in eine Psychiatrie schicken wollen. Aber klar, ich hatte es nicht anders verdient. Ich war bescheuert. Krank. Dumm. Das alles nur wegen diesem Spasten. Aber vielleicht war ich auch nur eine Fehlproduktion auf dieser Erde. 

Meine Worte waren wohl sortiert, als ich sie aussprach:,,Ich hasse mich. Ich soll wohl nicht sein. Sag mir, wer kann mich denn noch leiden? Oder eher; wer hält mich nicht für krank?" Ich traute mich nicht, in Pascals Augen zu schauen. Doch wahrscheinlich starrte er wieder nur stur gegen die Wand. Aber ich hatte mich getäuscht. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er seinen Kopf in meine Richtung bewegte und mich ansah. ,,Ich muss hier wohl was klar stellen. Du bist ein wundervoller Mensch Luna. Er hat dich einfach nicht verdient, versteh es doch bitte. Diese Personen, die auf der Rückseite des Zettels stehen, die können dich leiden. Von jedem Einzelnem sind in dem Strauß zwei Rosen. Eine für Verständnis, die zweite für ein 'Es tut mir leid'. Sie stehen hinter dir Luna, rede dir nicht immer ein das du alleine bist. Und zu dem 'krank sein'... im Endeffekt ist es doch egal. Nur weil du anders gehandelt hast als andere, bist du noch lange nicht krank. Ich will ritzen nicht schön reden, nein. Ich will nur, dass du verstehst, dass ich dich immer mögen werde. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben." Er sagte das in einem ruhigen, leisen Ton. Ich blickte ausdruckslos auf irgendetwas, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. ,,Ich habe mein ganzes Leben versaut.", flüsterte ich. ,,Nein...", hauchte Pascal. Plötzlich spürte ich seine Lippen auf meiner Stirn. ,,Ich werde dir immer den Rücken frei halten, dir immer wieder auf helfen wenn du fällst... du bist meine kleine Sonne, und du wirst für mich nie aufhören zu scheinen." Er lehnte seinen Kopf an meinen, und ich hörte wie er leise schluchzte. Er nahm meine Hände in seine. Schon wieder hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht loslassen will. ,,Guck dir mal bitte deinen Arm an.", forderte er mich auf. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf. ,,Nicht deinen verletzten, den anderen.", fügte er hinzu. Ich wunderte mich kurz, doch ich zog meinen Ärmel etwas hoch und sah dort ein Herz. ,,Wieso ist hier ein Herz?", fragte ich ihn verwundert. Ich sah ihn an, und er musste lächeln. ,,Ich habe den Arzt gefragt, ob ich dir kurz ein Herz auf den Arm malen dürfte, bevor ich weggehe, falls das ich sterbe, du ein Andenken an mich hast. Dann grinste der Arzt mich an, und sagte 'Also entweder darf sie sich dann nie wieder duschen, oder sie lässt es sich eintätowieren.'" Ich musste grinsen. ,,Aber du bist wieder hier, und das ist schön.", flüsterte ich und lächelte immer noch. Plötzlich störte ein Klopfen unser Gespräch. ,,Ich denke wir sollten die anderen Jungs mal wieder rein lassen...", sagte Pascal, und wir lösten uns voneinander.

 

Nachdem ich ein bisschen mit den Jungs geredet hatte, und sie wieder gegangen waren, war ich wieder alleine, bis die Ärztin rein kam. Sie hatte aschblonde Haare, ungefähr so wie Pascal. Sie hatte ein ganz normales Gesicht, schmal, eine kleine Stupfnase, einen schmalen Mund und Haare, die zu einem Dutt hochgesteckt waren. Sie lächelte mich an, und fragte:,,Wie geht es dir denn?" ,,Ganz gut, denke ich.", antwortete ich. Ich versuchte meine Stimme stark klingen zu lassen, damit sie mich vielleicht schneller raus ließen. ,,Du hast ja wirklich viel durch gemacht gestern, beispielsweise heute Nacht. Ich würde dir gerne einen neuen Verband drum machen." Ich wollte lächeln, vorspielen dass es mir gut ging. Doch es ging einfach nicht. Die Ärztin kam auf mich zu, und sagte mir ihren Namen. Sie hieß Marissa. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Bestimmt verheiratet, oder verlobt, oder hatte einfach nur einen Freund. Sie setzte sich neben mich, und bat mich ihr meinen Arm hinzuhalten. Sie entfernte vorsichtig Schicht für Schicht den Verband und sah mich an, bevor sie die letzte Schicht abrollte. ,,Willst du den Schnitt wirklich sehen? Wir mussten es nähen.", erzählte mir Marissa. Aber ich nickte und sah stur auf meinen Arm. Sie nahm rollte die letzte Schicht ab. Der Schnitt war ungefähr sechs Zentimeter lang. Er verlief vom Handgelenk waagerecht nach oben. Ich hatte die Pulsschlagader anscheinend perfekt getroffen. Der Schnitt war sauber genäht wurden. Marissa zögerte nicht lange, desinfizierte die Wunde und fing an einen neuen Verband drum zu wickeln. ,,Weißt du, ich weiß wie es dir geht.", sagte sie und guckte mich an als sie fertig war. Ich sah sie stirnrunzelnd an und fragte sie, woher sie das wusste. ,,Es fing alles an als ich 15 war. Ich hatte Depressionen. Niemand weiß wieso, ich auch nicht. Dann eines Tages nahm ich meinen Hausschlüssel und fuhr damit an meinem Arm lang. Dann kannst du dir ja vorstellen was danach passiert ist. Ich fand es schön, und macht immer tiefere Schnitte... jeden Tag. Kennst du ja sicherlich." Ich erkannte in ihren Augen, dass sie diese Zeit bereute. Sie krempelte ihren Ärmel hoch und zeigte mir ihren Unterarm, der übersät war von weiß schimmernden Narben. Hässlich. Genauso wie meine. Ich sah jedoch keine frischen Schnitte. Ich zählte nach. Es waren über vierzig Narben. ,,Und jetzt? Wie hast du es geschafft aufzuhören?", fragte ich sie. Sie lächelte immer noch, als sie meine Frage beantwortete:,,Ich habe einen Jungen kennengelernt. Er hatte sich auch geritzt...ich musste ihm helfen aufzuhören. Dadurch wurde mein Ritzen aber noch stärker. Und an einem Tag kam er an und hat gesagt dass er es geschafft hat aufzuhören. Von da an tat ich es nie wieder, egal wie stark das Verlangen war."  Und von diesem Moment an bewunderte ich sie. Sie und den Jungen, der ihr praktisch das Leben gerettet hat. Auch wenn ich es hasste, mit fremden Personen über's ritzen zu reden, war es mit Marissa anders. Sie verstand mich. ,,Liebst du es auch wenn der Schmerz den anderen Schmerz überdeckt?", fragte sie mich. Ich wunderte mich, aber ich nickte. ,,Um Gottes Willen, ich will jetzt hier nicht einen auf Psychologin machen, sorry. Ich hab es damals so gehasst mit fremden Personen darüber zu reden und mich belabern zu lassen, obwohl sie es eh nicht verstehen. Die wollen eh nur ihr Geld.", sagte sie und lachte. Ich grinste. Plötzlich schoss mir eine Frage in meinen Kopf, als hätte sie gerade jemand reingeballert. ,,Hast du diesen Jungen gesehen? Mit den kurzen, aschblonden Haaren?" ,,Ja, wieso? Ich meine er scheint sich sehr um dich zu kümmern." Warum war sie mir so sympathisch? Als sie in den Raum reingekommen ist, habe ich sie gehasst weil sie die Ruhe zerstört hatte. Doch als sie ihre Geschichte erzählt hatte, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben verstanden. ,,Ja, das tut er. Er ist einfach ein wundervoller Mensch. Und er ritzt sich auch...", antwortete ich. Marissa sah mich an und ihr Blick wurde getrübter. ,,Wieso, wenn ich das fragen darf? Du musst es mir natürlich nicht sagen. Aber weißt du was? Meine Narben erzählen mir heute noch Geschichten von damals. Ich hasse sie zwar, aber sie sind Erinnerungen... solltest du dir zu Herzen nehmen Luna.", erklärte sie. Dann stand sie auf und ging zur Tür. Sie wollte sie gerade öffnen und gehen, als sie sich herumdrehte und sagte:,,Lass den Jungen nicht gehen, versprich mir das, auch wenn ich nur eine Krankenschwester bin, die du seit zehn Minuten kennst. Ich spreche aus Erfahrung. Morgen kannst du übrigens gehen, ich hol dich vormittags ab." Dann öffnete sie die graue Tür, ging hinaus und schloss sie hinter sich. Ich legte mich in mein Bett und dachte an ihre Narben und ihre Geschichte. Und ich fragte mich, ob ich so einen Jungen schon gefunden hab.

 

Michael X

Als ich da so lag und an die weiße Decke starrte, vergingen ungefähr zwei Stunden. Ich dachte über mein beschissenes Leben nach. ICH hatte mir alles versaut. Wieso musste ich vor ungefähr zwei Monaten mit ritzen anfangen? Warum? Diese Frage stellte ich mir die ganze Zeit. Jetzt lag ich hier im Krankenhaus, seelisch kaputt, körperlich kaputt und um mein Handgelenk schlängelte sich ein strahlend weißer Verband, der nach Desinfektionsmittel stank. Ich dachte über Marissas Geschichte nach, über ihren Freund, über meine Narben, über meine Eltern, über meine Freunde und über die Schule (Ich hatte zum Glück meinen Abschluss schon in der Tasche). Die Leute mobbten mich, hassten mich.

Und auf einmal verspürte ich dieses Gefühl, dass etwas fehlte. Es fehlte das Gefühl der Klinge in der Hand, das Gefühl die Klinge auf etwas zu pressen, sei es meine Haut oder nicht. Es fehlte das Gefühl des Schmerzes, der durch meinen Körper schoss, wenn ich schnitt. Meine rechte Hand fing an zu zittern, mein Herz schlug schneller. Ich schloss die Augen und versuchte alles auszublenden. Denk an Pascal, denk an Pascal... sagte ich in Gedanken immer wieder vor mich hin. Ich fühlte mich als würde die Klinge an mein Herz genäht worden sein. Doch ich durfte nicht, das wusste ich. Ich wusste aber auch, dass ich nicht dazu in der Lage war zu widerstehen. Bevor es schlimmer würde, nahm ich den Telefonhörer und wählte Pascals Handynummer, die ich mal auswendig gelernt hatte. Es klingelte. Beim dritten Mal ging er ran.

,,Hey..."

,,Hey meine Sonne, was ist los?"

,,Wo bist du gerade?"

,,Ich bin bei mir zu Hause. Was ist denn?"

,,Ich brauch eine Umarmung...und etwas anderes."

,,Mmmh ich habe grad leider keine Möglichkeit ins Krankenhaus zu kommen, meine Eltern sind einkaufen. Was brauchst du denn noch?"

,,Pascal ich bin so verzweifelt... meine Hände zittern und mein Herz schlägt schnell. Ich hab total Entzugserscheinungen..." Ich hörte wie Pascal tief durchatmete.

,,Bei mir sind seit gestern Nacht fünf neue Schnitte dazu gekommen...ich konnte nicht mehr." Mein Mund stand offen und ich kniff meine Augen zusammen. Nein...nicht wegen mir. 

,,Ich habe eine Krankenschwester kennengelernt... sie hatte sich auch geritzt, weil sie Depressionen hatte. Dann hat sie einen Jungen kennengelernt, der es auch tat. Und eines Tages hat er ihr gesagt dass er aufgehört hat. Von da an tat sie nie wieder... Und ich frage mich die ganze Zeit, während ich gegen meine Sucht ankämpfe, ob ich diesen Jungen schon gefunden hab.", lenkte ich ab.

,,Okay... Bitte sei stark. Du kannst das."

,,Nein kann ich nicht. Ich kann nicht widerstehen..." Und mit diesen Worten legte ich auf. Ich umfasste mit meiner Hand mein Handgelenk und wendete meinen Kopf ab. Ab jetzt kämpfte Verstand gegen Herz. Mein Verstand weiß, dass ich es nicht tun sollte, vor allem nicht im Krankenhaus, und vor allem, weil es wieder eine Wunde geben würde, wieder eine Narbe. 

Doch mein Herz war an die Klinge gebunden, es zog mich immer wieder zu ihr. Mein Herz wollte den Schmerz nicht mehr ertragen, dass ich mein ganzes Leben versaut hatte. Obwohl ich wusste das ein weiterer Schnitt es nicht besser machen würde. Doch mein kleines Herz flüsterte immer wieder, dass es für den Moment helfen würde.

Ich stand auf, wobei mir auffiel, dass Marissa die Schnüre aus meinem Arm entfernt hatte. Meine Hand immer noch an mein Handgelenk gepresst, lief ich zum Fenster. Ich sah hinaus und betrachtete die Autos die rauschend über die Straßen polterten. Grau, schwarz, rot, grün, blau. Groß, klein, lang, niedrig. Die Sonne schien, und der Himmel war wolkenlos. So ein wundervoller Tag. Die Blumen blühten in allen Farben auf den kleinen Rasenstückchen hier in der Stadt. Ich fragte mich, wo dieses Krankenhaus wohl war. Doch eigentlich interessierte es mich nicht. Das Knacken der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und sah Marissa mit Kleidung in der Hand. ,,Hier, deine Sachen. Zieh dich um, und komm dann an in den Flur raus, es wartet jemand auf dich.", erklärte sie mir. Ich fragte mich ob sie schon wieder, oder immer noch lächelte. Ich nahm ihr meine Sachen ab und sie fragte mich, wie es mir ginge. Ich wusste, ich müsste die Wahrheit sagen:,,Naja... ich kämpfe grad innerlich, aber ich denke, ich kann es durchstehen." Ich lächelte sie an. Oh mein Gott, ich lächelte wirklich, ehrlich. Sie ging zur Tür und sagte bevor sie hinaus ging:,,Du schaffst das schon. Du musst sowieso erst einmal mit diesem Jungen hier draußen reden." Dann ging sie. Wen meint sie? Pascal kannte sie ja, es musste wohl jemand von den anderen Jungs sein. Ich zog die Krankenhausklamotten aus und meine normalen Sachen an, so schnell es ging. Danach verließ ich das Zimmer und betrat den Flur. 

Ich drehte mich nach rechts, und dort stand einer mein bester Freunde. Benny. ,,Hey, was machst du denn hier?", fragte ich ihn und umarmte ihn. Er drückte mich fest an sich. ,,Ich wollte dich sehen.", flüsterte er während unserer Umarmung. Ich brauchte ihn doch auch. Er war neben Pascal die einzige Person der ich alles anvertrauen konnte. Er nahm seine Cap ab und setzte sie mir auf meinen Kopf, wie er es immer machte. Ich musste lächeln und richtete die Cap etwas. Wir gingen in mein Krankenzimmer und setzten uns auf mein Bett. ,,Als ich das gehört hab...Ich hab sofort alles stehen und liegen gelassen, hab das Motorrad meines Vaters genommen und bin hierher gefahren. Wie geht‘s dir?", sagte er. Ich lächelte und antwortete:,,Ah Benny, ich danke dir. Mir geht es seit du hier bist eigentlich relativ gut. Weißt du wie es Pascal geht?" Sein Blick trübte sich, und er sah mir in die Augen. ,,Ihm geht es nicht so gut, er hat mir gerade eine SMS geschrieben, dass er auch herkommt. Keine Ahnung wieso.", sagte er. Mein Lächeln verschwand, und ich merkte wieder diesen Drang. ,,Ich find‘s gut das du hier bist. Wirklich.", erzählte ich ihm und versuchte nicht mehr an meine Klinge zu denken, die hoffentlich noch in meiner alten Federmappe auf meinem Schreibtisch lag. Meine Hand hatte ich immer noch an mein Handgelenk gepresst. Ich sah aus dem Fenster. Benny atmete laut und ließ sich mit den Rücken auf das Bett fallen. Ich fühlte mich schlecht, weil es allen wegen mir beschissen ging. ,,Wie geht‘s dir?", fragte ich diesmal ihn. Er zuckte bloß mit den Schultern. Sein Handy vibrierte und er schaute auf das Display. ,,Pascal kann doch nicht kommen, aber er ist froh das ich hier bin.", erzählte er mir, schrieb zurück und steckte sein Handy wieder ein. 

Ich ließ mich neben ihm nieder und wir starrten zusammen auf die weiße Decke. Es war kein peinliches Schweigen, es war einfach nur gut, dass er da war.

Nach ein paar Minuten redete ich mit ihm über meine Eltern, die mich in Therapie schicken wollten. Er sprach von einem Songtext.

 

 

,,Und deine Mum hält dein Zimmer wie du's gelassen hast,

an dem Moment wo dich Willen und Mut verlassen hat.

Die Lautsprecher tönen es laut, dein Lieblingslied,

aber hörst du es auch?

Sag, hörst du es auch...

Jedes Mal wenn der Wind pfeift und durch Äste weht,

wissen wir du warst da,wolltest nur nach dem Rechten seh‘n.

Dann warst du kurz zu Besuch,

leider nur zu Besuch.

Hoff es geht dir gut da wo du bist...“

Casper - Michael X

 

 

 

Zu Hause

Ich wachte auf, es war ungefähr halb neun. Ich spürte wieder den Verband, die kühle Bettdecke. Ich setzte mich hin und musste erst mal registrieren, dass ich immer noch hier war, immer noch alles scheiße war, meine Eltern mich immer noch hassten, und das Pascal sich wegen mir geritzt hatte. Ich wünschte in diesem Moment ich hätte mein Handy, um zu schauen, ob er mir geschrieben hatte, aber das durfte man im Krankenzimmer ja anscheinend nicht haben. Ich hatte gestern Abend nicht darauf geachtet das ich in meinen normalen Sachen eingeschlafen bin, aber das interessierte mich in diesem Moment wenig. Meine Stimmung war am Ende, als ich Pascals Nummer wählte. Er nahm sofort ab, als hätte er auf meinen Anruf gewartet. 

,,Pascal!"

,,Hey." Seine Stimme klang unmotiviert.

,,Wie geht‘s dir?"

,,Es geht so... Benny hat mir gestern noch geschrieben dass es dir besser geht. Ich komme nachher zum Bahnhof und fahre mit dir zu deinen Eltern, damit du keine Scheiße machst. Das ist mit allen abgesprochen." 

,,Okay, super. Aber mal im ernst... Du sollst dir nichts wegen mir antun. Da komme ich mir noch beschissener vor. Ich weiß sehr wohl wie es hilft, aber ich will nicht das DU dir damit auch noch dein Leben versaust."

,,Ja, ist ja gut." Seine Stimme klang traurig, gleichzeitig aber auch gereizt.

,,Wann kommst du?"

,,Um elf. Bis nachher." Piep. Piep. Aufgelegt. Ich legte den Hörer wieder weg und stand auf.

Ich ging in den Flur und fragte eine Krankenschwester wo die Toiletten waren. So freundlich wie sie war (oder sie hatte gerade nichts zu tun), führte sie mich sogar dahin. Ich stellte mich vor den Spiegel. Meine Haare sahen grauenvoll aus, ich hatte krasse Augenringe und meine Augen waren von Tränen getrübt, und sahen nach Depression aus. Ich schaute wieder weg und machte den Wasserhahn an. Ich hielt meinen Kopf ins Waschbecken und wusch meine Haare ordentlich aus. Ich ärgerte mich, dass ich kein Shampoo hatte. Selbst jetzt könnte ich zu Klinge greifen... dachte ich aber verdrängte diesen Gedanken schnell wieder. Ich schnappte mir ein paar Tücher aus dem Spender und versuchte meine Haare etwas zu trocknen. Danach kämmte ich sie mit den Fingern durch und versuchte einen halbwegs ordentlichen Scheitel hinzubekommen. 

Als ich wieder zu meinem Zimmer laufen wollte, traf ich Marissa vor meiner Tür. ,,Ich wollte gerade nach dir gucken und dir sagen das dich Pascal um elf abholt und mir dir zum Bahnhof fährt.", erzählte sie. Ich unterbrach sie und sagte, dass ich das schon wüsste. Danach ging ich in mein Zimmer und Marissa lief eilig fort.Von da an wartete ich die quälenden drei Stunden bis Pascal endlich kam. Warum quälend? Weil ich meine Sucht zu spüren bekam.

 

Es war Punkt um Elf. Ich erwartete nicht wirklich, dass er pünktlich kam, aber ich hoffte es. Es öffnete jemand die Tür. Pascal versuchte zu lächeln als er auf mich zukam. Ich sprang auf und viel ihn in die Arme. Ich lächelte. Zwar etwas gezwungen, aber ich lächelte. Wir lösten uns voneinander und musterten uns. Seine Augen strahlten eine leichte Freude aus, so wie sie in meine sahen. Ich konnte keine Mimik erkennen. Ich nahm seine Hand, drehte sie leicht, dass ich die Unterseite seines Armes sehen konnte, und zog seinen Ärmel hoch. Die Schnitte sahen sehr frisch aus. Sie waren gesäubert und formten ein Herz. Ich sah ihm in die Augen. Sein Blick hatte sich blitzartig von freudig in traurig geändert. ,,Wieso ein Herz?", fragte ich ihn leise. ,,Weil ich eine Erinnerung an dich haben möchte. Es soll eine Narbe werden.", sagte er. Ich bin doch noch hier... ,,Ich gehe nicht, dass hab ich dir versprochen." ,,Nein.", antwortete er knapp und emotionslos. Er nahm mich noch einmal in dem Arm. ,,Lass mich nicht los, bitte.", bat er mich. Ich drückte ihn fester an mich und vergrub meinen Kopf in seiner Schulter. ,,Du bist alles was mir noch bleibt...", flüsterte ich. Mein Blick war trotzdem leer. Ich starrte einfach nur vor mich hin, während ich ihn in meinen Armen hielt. Das Knacken der Tür rüttelte uns auf. ,,Kommt schon, der Zug wartet nicht.", hörte ich Marissas Stimme sagen. Wir gingen hinaus, wo uns die Sonne anlächelte. Wir schleppten uns mit meinen Koffern zum Bahnhof der kurz in der Nähe war, und stellten uns an das Gleis. Ich hatte keine Ahnung was meine Eltern mir eingepackt hatten. Aber egal, ich wollte sie eh nie wieder sehen. ,,Wie lange bleibt uns noch?", fragte ich Pascal. Er sagte, dass es noch eine gute halbe Stunde war. ,,Ich versteh nicht wieso wir schon meine Koffer haben, wenn ich eh noch mal nach Hause muss." Ich sah ihn an. ,,Es kommt gleich so ein Idiot der uns die Koffer abnimmt und sie in dein...neues Zuhause bringt.", sagte er. In seiner Stimme steckte Hass. Ich wusste nicht, ob er gegen mich war oder gegen meine Familie, oder den Typen der meine Koffer abholte. ,,Sag's ruhig. Psychiatrie. Irrenanstalt. Klapse.", sagte ich protzig, obwohl ich das gar nicht wollte. Er zuckte bloß mit den Schultern und nahm mich von der Seite in den Arm. ,,Ich werde dich besuchen kommen, wie oft es nur geht. Hier.", er gab mir eine rote Schachtel. Ich stutzte, aber öffnete sie. Ich fand dort eine Kette, mit einem schwarzen Herzförmigen Anhänger daran. Er war selbst gemacht, erzählte er mir. Und ob ihr es mir glaubt oder nicht, ich habe mich gefreut. Ich nahm sie aus der Schachtel und band sie mir um den Hals. Pascal nahm den Anhänger in die Hand, hob mein Shirt am Kragen an und ließ den Anhänger darunter verschwinden. ,,Das Herz ist so schön, ich will es zeigen.", sagte ich. ,,Ich will, das du es näher an deinem Herzen trägst, meine kleine Sonne.", erklärte er, und lächelte mich an.

,,Hallo!", rief jemand hinter uns. Ich erschreckte mich und drehte mich um. Der kleine Mann mit dem Anzug zeigte uns seinen Ausweis und sagte Pascal seinen Namen. ,,Klar, hier haben sie die Koffer. Sagen sie, dass wir heute Abend ungefähr um sechs ankommen. Sie sollen ihr Abendessen aufheben." Der Mann nickte, schnappte sich die zwei großen Koffer und ging zu einen anderen Gleis hinüber. Jetzt hatte ich nur noch meine Handtasche. Ich kam mir so dumm vor, so Psycho. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in die Klapse muss. Tja, scheiße war's.

 

Im Zug holte ich mein Handy aus meiner Handtasche. Fünf Nachrichten. Die erste war von Mara: ’Ich hab gehört was passiert ist. Wie geht’s dir?” Die zweite von Felix: ’Tut mir leid wegen allem was so passiert ist. Deinen Ex erteilen wir heute eine Lektion.’ Die dritte schickte mir Robin: ’So ein Assi, alter. Hoffe es geht dir gut.’ Die dritte und die vierte waren von ihm: ’Deine Kumpels bekommen alles zurück, das schwöre ich dir.’ und ‘Warum bist du nicht verreckt?’ Die fünfte und letzte Nachricht war von Benny: ‘Alles gut bei dir? Ich mach mir Sorgen um dich meine Kleine.’ Mara, Robin und Benny schrieb ich, dass es mir nicht so gut ging, weil ich gerade auf dem Weg zu meinen Eltern war und ich danach in die Psychiatrie musste. Ich packte mein Handy wieder ein und blickte Pascal an, der gegenüber von mir saß. ,,Deine Haare sind schön.”, sagte er zu mir. Haha, sind sie nicht, dachte ich und sagte, das ich sie heute früh unter dem Wasserhahn gewaschen hatte, ohne Shampoo, und ich sie nur mit den Fingern durchgekämmt hatte. ,,Ich finde sie trotzdem schön. So wild. Guck doch mal ob du deine kleine Bürste in der Handtasche hast.”, antwortete er. Ich schaute nach und ich fand tatsächlich meine kleine Bürste mit Spiegel. Ich bürstete zuerst meine Haare und betrachtete mich dann im Spiegel. Okay. Meine Haare waren tatsächlich ganz angenehm, mein Gesicht nicht. Ich hatte Augenringe von dem ganzen Stress, meine Haut war blass und mein Blick einfach leer. ,,Ich hab mal eine Frage an dich.”, erklärte ich ihm. ,,Frag.”, forderte er. ,,Ich möchte dort nicht alleine sein. Wie oft denkst du, kommst du im Monat?” Ich krempelte meine Ärmel hoch, weil es in dem Zug ziemlich warm war und legte damit meinen Verband frei. ,,Ich werde jede Woche mindestens einmal kommen. Du denkst doch nicht ich lass dich mit den wirklichen Psychos alleine?”, er lachte. Ich schüttelte mit dem Kopf. Mit den wirklichen Psychos… Ein Ton erklang und eine Frauenstimme war durch die Lautsprecher des Zuges zu hören. Sie sagte den nächsten Halt an, der Halt, wo wir ausstiegen würden.

Als wir auf das Auto meiner Eltern zuliefen, kroch die Angst in mir hoch. In diesem schwarzen Ford saßen die drei Personen, die mich wohl nie verstehen würden. Meine Mutter, mein Vater und mein jügerer Bruder. Ich sah Pascal verunsichert an, er blickte zurück. Er sah wütend aus. Ich sah nach unten als ich die Autotür aufmachte, mich hinsetzte, und Pascal neben mich rutschte. Ich war an meinen Bruder gequetscht, deswegen rutschte ich noch etwas näher an Pascal. Ich spürte den kühlen Anhänger an meinem Dekolleté. Ich atmete tief durch, und blickte meinen Verband an. Ich legte sanft meine Hand auf den weißen Stoff, merkte wie der Wagen ruckelte, und wir losfuhren. Eine halbe Stunde würde ich in diesem Auto aushalten müssen. ,,Ich denke zwar wir haben alles was du brauchst eingepackt, aber kann ja sein das du noch irgendwas dringend brauchst.", sagte meine Mutter vom Vordersitz. Schon bei den ersten Worten wurde ich richtig wütend. ,,Mir wäre es lieber ich hätte euch nie wieder gesehen...", nuschelte ich und blickte immer noch meinen Verband an. Mein Vater hustete, doch hielt sich da raus. ,,Was?", fragte meine Mutter nach. ,,Ich wünschte ich würde euch nie wieder sehen!", schrie ich fast. Pascal legte mir seine Hand auf meine Schulter, doch das beruhigte mich überhaupt nicht. Ich stieß sie weg und sagte:,,Wie kann man nur seine eigene Tochter auf einmal so wegschieben?!" Ich schaute nach oben und sah wie sich mein Vater und meine Mutter geschockt anguckten. Dann mischte sich mein Bruder ein:,,Wir wollen dir ja nur helfen! Denkst du uns belastet das nicht?! Die können dir dort sicher helfen... ich meine dann bist du sozusagen nicht mehr unser Problem, und wir können uns, wenn du wieder gesund bist, mal aussprechen!" Ich fragte mich wie man so herzlos sein konnte. Aber mein Bruder dachte mal wieder nur an sich und seine Probleme. Ich hatte eine komische Familie. Naja, was heißt komisch. Ich wusste damals einfach nicht, warum sie mich nicht verstanden haben. ,,Hast du auch nur einmal daran gedacht wie es mir dabei geht?! Nein, hast du nicht, war ja klar.", entgegnete ich. Aber ich wusste was wieder kommen würde. Er sagte, dass er mit mir abgeschlossen hätte, und, dass ich ihn nicht mehr anquatschen solle. Die ganze Fahrt über hasste ich alle Menschen, alles was sich um mich befand. Ich wollte nur noch raus hier. Selbst Pascal hatte mich nicht angesprochen, weil man mir es wahrscheinlich mal wieder ansah, dass ich total wütend war.

 

Wir hielten an unserem Haus an. Erst stieg Pascal aus, dann ich. Ich lief dicht hinter ihm in mein Zuhause, die Handtasche umklammert. Ohne ein Wort zu sagen, oder mich um zusehen, lief ich die Treppen hoch in mein Zimmer. Ich ließ die Handtasche auf den Boden fallen. Mein Bett war kahl, ohne Bettwäsche. Mein Laptop lag nicht auf meinem Schreibtisch, ich hoffte er war in einem meiner Koffer. Ich öffnete meinen Kleiderschrank. Leer. Ich zog die Schubfächer an meinem Schminkschrank auf. Leer. Mein Schminkkoffer - Leer. Die Poster an meinen Wänden waren ab, keine Dekoration mehr. Einige Bücher waren auch weg. Ich setzte mich auf mein Bett, und bemerkte dass Pascal rein kam. ,,Wie lange werde ich in Therapie gehen?", fragte ich ihn, meinen Blick leer auf meinen Schrank gerichtet. ,,Drei Monate.", sagte er traurig und ich sah aus den Augenwinkeln, dass er seinen Blick auf mich gerichtet hatte. Drei Monate. Zwölf Wochen. Es war gerade Juli, wir hatten Sommerferien. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich soeben meinen Sommer versaut hatte. Um genau zu sein, glaube ich, war es an dem Tag der Elfte Juli. Gestern Nacht noch habe ich in diesem Haus versucht mich umzubringen. Ich lag hier auf diesem Bett in Pascals Armen, habe die SMS gelesen, bin aufgesprungen und ins Bad gerannt. Das Bad. Ich teilte Pascal mit, dass ich nichts mehr bräuchte und noch mal auf Toilette muss. Im Badezimmer angekommen war dort kein Blut mehr. Doch auf der Heizung lag ein rötlich gefärbter Lappen. In den Fugen war noch ein roter Abdruck zu erkennen, der aber mit der Zeit ausbleichen würde. Ich öffnete die kleine Tasche in der das Nagelset war. Die Nagelschere. Blut, Klopfen, Treten, Rufe, Verzweifeln, Schmerz. Mir schossen die Bilder von gestern Nacht in den Kopf, und ließ vor Schreck das Set fallen. Sofort hörte ich Pascals Stimme von draußen. ,,Luna, alles ok?" ,,Ja.", brachte ich gerade mal laut genug hervor, dass er es durch die Tür hören sollte. Ich ging auf Toilette, räumte das Set wieder weg, wusch Hände und ging wieder heraus. Pascal stand im Flur, und betrachtete mich. Als er nichts Merkwürdiges sah, gab er mir meine Tasche und wir liefen runter. Als ich an unserer Küche vorbei lief, roch ich Essen. Dabei fiel mir auf das ich extremen Hunger hatte. Als hätte meine Mutter meine Gedanken gehört, gab sie mir eine Brotbüchse mit Essen drin. Ich steckte sie ein, nickte meiner Mutter und meinem Bruder zu, und ging mit Pascal hinaus. Mein Vater fuhr mich wieder zum Bahnhof. Währenddessen aß ich die zwei Sandwichs und den Jogurt, und trank eine Flasche Eistee aus. Mittlerweile war es um drei. Der Zug fuhr halb vier ab nach Erfurt. ,,Pass auf dich auf.", sagte er als ich ausstieg - ich zuckte bloß mit den Schultern. Als wir auf unseren Gleis angekommen waren, hörte ich schon die Durchsage, dass unser Zug gleich kam. Von da an warteten zwei ein halb Stunden Zugfahrt auf mich.

 

Kaltes Wasser floss über meinen Körper. Ich stand unter der Dusche. Ich wollte wach werden, deshalb stellte ich das Wasser kalt. Ich hielt die Klinge in meiner Hand. Ich starrte sie an, mein Blick war leicht verschwommen. Plötzlich schnitt ich in mein Bein, ein langer Schnitt. Sofort lief das Blut aus der Wunde und färbte das Wasser rot. Um mich herum waren Spiegel. Meine schwarze Schminke verlief, meine Haare waren nass und dunkler als sonst. Und noch ein Schnitt. Wieder floss Blut. Ich spürte die Erleichterung, aber keinen Schmerz. Plötzlich öffneten sich zwei Spiegel wie eine Tür, und eröffneten mir einen Spiegelgang. Ich ließ die kalte Dusche hinter mir und lief den Gang entlang. Weiße Tauben kamen auf mich zugeflogen, umflatterten mich und auf einmal hatte ich ein etwas schmutziges, weißes Kleid an. Es hatte keine Träger, war Vorne kürzer als Hinten und Rüschen schmückten den unteren Teil des Kleides. Ich betrachtete mich im Spiegel. Meine Harre waren trocken und ich trug roten Lippenstift. Der untere Teil des Kleides bekam rötliche Flecken, die vom Blut aus meinem Bein kamen. Ich lief weiter den düsteren Gang entlang. Am Ende sah ich ein Licht in dem eine Person stand. ,,Luna!", rief er. ,,Schneller!", schrie er. Es war mein Ex. Ich drehte mich herum und sah einen Wassermasse auf mich rasen. Ich rannte los, immer schneller auf ihn zu. Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern, aber ich fiel ihm in die Arme, und eine Wand schloss sich hinter uns, die die Wassermasse von uns trennte. Als ich in seinen Armen war, merkte ich wie meine Wunde am Handgelenk aufklaffte und das Blut herausfloss. Ich ließ ihn los und ging von ihm weg. Ich schaute ihn verständnislos an, während er mir sein Messer zeigte, mit der er die Wunde gerade wieder geöffnet hatte. Ich starrte auf meinen Arm und merkte wie mich jemand rief.

Eine alte Freundin

,,Luna!", rief jemand und rüttelte mich. Mein Verstand war wieder da, aber mein Körper noch nicht. ,,Luna wir sind da!", rief er. Pascal. Ich öffnete meine Augen und schreckte auf. Ich schaute mich blitzartig um. Aus dem Zugfenster sah ich nur den Erfurter Bahnhof. Es war mein Lieblingsbahnhof. Ich fand die Architektur schön. Über den verschiedenen Gleisen war eine helle Überdachung, die außen Glasflächen hatte. Alles in einem leuchtete in der Nacht wunderschön. Der Innenbereich gefiel mir auch, alles erschien so schön warm, und nicht so kalt und lieblos wie in manch anderen Bahnhöfen. Pascal und ich traten aus dem Haupteingang hinaus und sahen schon ein Taxi. Der Fahrer winkte uns zu, und fragte mich, ob ich die bin, die in die Kinder- und Jugendpsychiatrie müsse. Ich nickte bloß. Ich wollte nicht mit dem  reden, der mich zu dem Ort fuhr wo die... mehr oder wenigen Verrückten waren. Die Fahrt dauerte eine Viertelstunde. ,,Ich will nicht zu denen. Was wenn ich eine... komische Mitbewohnerin habe?", fragte ich Pascal leise, damit der Fahrer uns nicht hören konnte. ,,Wirst du nicht. Da bin ich mir sicher.", seine Stimme klang unsicher. Ich schaute aus dem Fenster und sah die wunderschöne Stadt Erfurt an mir vorbei rauschen. Ich liebte diese bunten Häuser, dicht aneinander gereiht. Ich mochte die Plätze, zum Beispiel den am Anger 1. ,,Wir sind gleich da.", hörte ich den Fahrer von vorne. Ich schaute zu Pascal. Er versuchte ermutigend zu gucken, doch es klappte nicht. Ich schloss die Augen und lehnte mich nach hinten. Gleich würde ich alleine sein. Alleine an diesem Ort, vor dem ich am meisten Angst hatte, seit dem ich mich ritze. Aber ich hatte es zu weit getrieben, und das war meine Strafe. Krankheit Borderline. Ich. Das Taxi hielt, ich öffnete die Augen, nahm meine Tasche und stieg aus. Ich stieg an der linken Seite aus, und stand direkt vor der Anstalt. Wenige Sekunden später, nachdem  er bezahlt hatte, stand Pascal neben mir. ,,Ich hab eine SMS von Lukas bekommen. Er sagte, dass dein Ex im Krankenhaus war.", sagte er. Doch diese Ablenkung half nur wenig. In mir war eine Barriere, die einfach nicht einen Schritt nach vorne gehen wollte. ,,Los.", hörte ich Pascal sagen, doch ich bekam es nicht richtig mit. Wie in Trance lief ich auf das Gebäude zu, durch den Haupteingang. Sofort kam ich mir von der Außenwelt abgetrennt vor. Rechts saß eine Frau hinter einer Glaswand und fragte nach Namen und Ausweis. Ich zeigte nur meinen Ausweis, mein Mund blieb stumm. ,,Der junge Herr muss sie jetzt leider verlassen.", sagte die Frau mit einer freundlichen, aber zugleich eiskalten Stimme. Ich mochte sie jetzt schon nicht. Nein, ich hasste sie, verabscheute sie. Ich verabscheute alle hier drinnen. Alle. Ich kam mir klein vor, verrückt, mit meinem Verband um den Unterarm. Pascal und ich schlossen uns gleichzeitig in die Arme. ,,Ich will nicht.", flüsterte ich. ,,Ich auch nicht.", antwortete er leise. Mein innerer Widerstand war stärker als je zuvor. Ich wollte hier nicht zurück bleiben. ,,Ich lass dich nicht lange alleine, versprochen.", wisperte er. Ich dachte es wäre Zeit loszulassen, doch er hielt mich fest. ,,Meine kleine Sonne...ich werde dich vermissen.", sagte er. Wir standen ungefähr noch eine Minute so da. Dann ließ ich ihn los. Eine kleine Träne floss über meine Wange. Sei nicht so ein Weichei, sagte ich zu mir selbst. Er schaute mir direkt in die Augen. Und in diesem kleinen Moment, zehn Sekunden vielleicht, fiel mir auf was für wunderschöne Augen mein bester Freund hatte. Nach drei Jahren fiel mir das auf. Sie waren blau, und hellblaue Klingel schmückten sie. Sie waren wie ein Portal in seine Seele. Nur durch diese Augen wurde mir warm ums Herz und ich vergaß alles für einen Augenblick. Ich konnte es nicht fassen. Erst nach 36 Monaten fielen mir seine Augen auf. Unglaublich. Seine Erinnerungen spiegelten sich förmlich in seinen Augen wieder, daran, woran er gerade dachte. Unser erstes Treffen, mein erster Freund, mit dem er mich verkuppelte, seine erste Freundin, unser Campingausflug, wo es ein Gewitter gab, unsere Streite, unsere gemeinsamen Momente. ,,Lass dich nicht verändern.", sagte er, drehte sich um und ging. Nun war ich hier alleine. Sofort wurde mein Herz wieder kalt und es tat weh. ,,Geh durch die Tür dort, da wartet Frau Seerein auf dich. Sie führt dich in dein Zimmer. Morgen früh gibt es eine Besprechung wegen deinen momentanen seelischen Zustand.", erklärte mir die Frau. Geistig abwesend, und mit einem leeren Blick starrte ich immer noch auf die Tür, durch die mein bester Freund gerade gegangen war. ,,Hallo?", sagte sie. Ich drehte mich erschrocken um und ging müde durch die mir zugewiesene Tür. Frau Seerein war eine Psychologin, sagte sie mir. Sie würde mich die nächsten Wochen betreuen und mit mir reden. Ja, in diesem Moment hasste ich sie auch. Sie zeigte mir mein Zimmer. Ich trat hinein und schaute mich um. Die Wände waren hellgelb. Links und rechts im Zimmer stand ein Bett mit roter Bettwäsche. Ein großes Fenster befand sich am Ende des relativ großen Zimmers. Mein Bett war wahrscheinlich das rechte, weil es unbenutzt aussah. Rechts neben dem Fenster stand ein kleiner Tisch, und darauf ein alter Fernseher. Aber er würde ausreichen für die nächsten drei Monate. Neben meinem Bett standen meine zwei Koffer, und am Kopfende stand ein mittelgroßer hellbrauner Kleiderschrank. Orangene Gardinen säumten das Fenster, und ließen das Zimmer wärmer erscheinen. Eigentlich gar nicht so schlecht für ein Psychatriezimmer. Wäre da nicht der Fakt, dass es in einer Psychiatrie ist, und das vor dem Fenster ein dünnes Gitter war.

Dann erst sah ich, dass ein Mädchen in der ersten linken Ecke des Zimmers stand. Und, ihr werdet es nicht glauben, ich kannte sie. Es war ein dunkelblondes Mädchen, kurze Haare mit einem schrägen Pony. Sie hatte blaue Augen und frische, rosa farbene Wangen. Ihr Mund war herzförmig, sie hatte eigentlich ein schönes Lächeln, also so wie ich es von Früher kannte, aber in diesem Moment bildete ihr Mund eine gerade Linie, und ihre ehemals leuchtenden Augen waren trüb und traurig. Sie trug eine graue, lange Bluse und eine schwarze, enge Hose. An den Füßen trug sie silberne Ballerinas. Sie hieß Annabell. Ich hatte sie das letzte Mal vor sieben Jahren gesehen. Ihre Oma war mit meiner befreundet, und da wir ungefähr gleich alt waren, kam sie einmal mit zu Besuch. Seit dem habe ich sie nie wieder gesehen. Naja, bis zu diesem Tag. Frau Seerein stellte uns vor und ging dann. ,,Hey.", sagte ich und versuchte zu lächeln. ,,Hallo Luna. Schön dich wieder zu sehen.", antwortete sie freudig. Also ihre Stimme klang froh, ihr Gesicht war ausdruckslos. Das machte die ganze Sache etwas komisch. ,,Find ich auch. Kannst du mir sagen wo die Toiletten sind?", fragte ich sie. Sie erklärte mir, das ich nach rechts gehen solle, in der dritten Tür dann waren die Toiletten. Dort waren auch gleich die Duschen. Ich nickte freundlich und machte mich auf meine Koffer auszupacken, und alles in meinen Schrank einzuräumen. Natürlich hatte Annabell auch einen Schrank, aber er war anders als meiner, ein bisschen kleiner sogar. Während ich alles auspackte und einsortierte, fragte ich:,,Was machst du eigentlich hier?" ,,Selbstverletzung. Du?" Ihre Antwort erschreckte mich etwas, aber ich antwortete mit starker Stimme:,,Auch. Und versuchter Selbstmord. Also Suizid, Borderline. Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, mich als Hure und so bezeichnet, in der Schule mobben mich alle und meine Familie hasst mich. Besonders mein Bruder hat das noch mal betont. Ich war im Krankenhaus, sie haben meine Wunde genäht." Ich hörte wie sie sich hinsetzte. ,,Krass. Aber ich mache es, weil meine Eltern so viel Druck auf mich ausgeübt haben. Ich sollte die Beste sein, war es aber nicht. Und dann haben meine Eltern sich getrennt. Also das Typische.", erklärte sie mir. Sie war noch genauso wie früher. Sie war damals meine beste Freundin, auch wenn wir uns nur einmal gesehen hatten, aber es war immerhin eine ganze Woche. ,,Wie lange bist du hier? Wie lange bleibst du noch?", fragte ich sie, als ich mit allem fertig war, und mir schon Schlafsachen herausgelegt hatte. ,,Ich bin eine Woche hier. Ich bleibe noch 6 Wochen. Keine so lange Therapie, weil meine Eltern nicht das Geld dazu haben. Übrigens bekommst du glaube kein Essen mehr heute.", sagte sie. Das Essen war mir in diesem Moment aber egal. Ich wollte ihre Arme sehen, aus Neugier. Sie zog ihre Ärmel hoch. Auf beiden Seiten säumten Wunden und Narben ihre Arme. Sie sagte, dass sie es nur an den Armen mache, es sei ein Schrei nach Hilfe. Ich zählte an dem linken Arm 35 Schnitte, an dem rechten zwanzig. Krass. Ich zog meine Ärmel hoch. Auf der rechten Seite der Verband, auf der linken die Schnitte und Narben. Siebzehn Narben auf der oberen Seite, achtzehn Schnitte auf der Unterseite, manche nicht mal drei Tage alt. Ich zog meinen Pulli schnell wieder runter, obwohl es warm war. Ich schnappte meine Sachen und ging mich Duschen.

Als ich mich vom warmen Wasserstrahl waschen ließ, dachte ich an meinen Traum im Zug. Ich hatte keine Ahnung was er zu bedeuten hatte, als auf einmal mein Bein anfing zu zittern. Ich stellte das Wasser aus, trocknete mich ab und zog mich schnell an. Eine lange Jogginghose und einen dünnen Pulli nahm ich als Schlafanzug. Ich schnappte mir meine getragenen Sachen und ging wieder auf mein Zimmer, wo nur noch ein Nachtlicht brannte. Annabell fand ich lesend im Bett vor. Ich fragte extra nicht nach was sie las, sondern schmiss meine Sachen in eine Tüte für Dreckwäsche und legte mich in mein Bett. Es war um Acht. Ich nahm die Fernbedienung vom Nachttisch und schaltete den TV an. Es lief gerade irgendeine Kochsendung, wo gerade jemand einen Hasen mit einem großen, scharfen Messer zerlegte. Ich merkte immer stärker, wie mein Bein zitterte. Dann fing auch noch mein Arm an. Ich beschloss mich Annabell anzuvertrauen. ,,Ist das eine Entzugserscheinung, wenn der Arm und das Bein zittern?", fragte ich sie. Ich sah zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie ein T-Shirt anhatte. Sie hatte sich wohl auch umgezogen. ,,Ja. Aber bei mir ist es schlimmer. Ich habe mich gerade mal seit einem Tag, also heute, nicht geritzt, und ich muss mich anstrengen dass mir mein Buch nicht aus der Hand fällt, so schwach bin ich. Und ich muss mich echt zusammen reißen um nicht meine Klinge aus meinem Versteck zu holen.", sagte sie leise aber bedacht. Mir fiel sofort ein, dass meine Eltern meine alte Federmappe mit eingepackt hatten. Ich hatte meine Klinge also auch hier. Mein Inneres kämpfte dagegen nicht aufzuspringen um meine Rasierklinge zu holen. ,,Scheiße ist das grad schwer.", presste ich wispernd hervor. ,,Schalt den Fernseher aus und versuch zu schlafen. Denn dann vergisst du alles für ein paar Stunden. Aber ich kann seit dem ich hier bin immer nur sechs Stunden schlafen. Ich muss immer ewig warten bis ich um acht zum Frühstück gehen kann.", sprach sie vor sich hin. Ich tat was sie sagte. Da das Licht der Nachtischlampe nicht sehr hell war, drehte ich mich einfach rum und machte die Augen zu. Unter der Bettdecke zog ich meinen Ärmel hoch und konnte es einfach nicht lassen über meine Narben zu streichen. So hässlich, aber auch gleichzeitig so schön. ,,Ich bin froh dass ich hier nicht mehr alleine bin..", hörte ich Annabell im Halbschlaf sagen. ,,Ich auch.", sagte ich müde. ,,Ich hasse es trotzdem hier.", antwortete sie und schaltete das Licht aus.  Ich dachte noch eine Weile über die ganzen Erlebnisse heute nach. Der Traum, das Wiedersehen mit Annabell. Aber das komischerweise in einer Psychiatrie. Ich hatte Bilder von ihren Armen im Kopf, Bilder von ihren frischen Schnitten, Bilder von ihren lila, weiß, grauen Narben. So verdammt hässlich. Ich war froh, dass ich mir mit ihr ein Zimmer teilen durfte, denn dann war ich nicht so alleine. Mein Bett war unbequem und heiß. Ist klar, draußen war es ja nicht schon warm genug. Irgendwann vergingen jedoch die Gedanken und ich schlief ein.

 

,,Lieber gestanden arm sterben, als reich leben auf Knien.“

- Casper - Michael X

 

Mara*

Ich fuhr mit dem Fahrrad einen Feldweg entlang, einfach nur um mal wieder den Kopf frei zubekommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine beste Freundin jetzt auf einmal in die Klapse muss. Sie hatte immer so viel gelacht, hatte meistens gute Laune und hatte immer ein Lächeln auf dem Gesicht. Wir haben immer so viel Scheiße zusammen gebaut, mit Benny, Felix und Pascal. Doch ich wusste, dass ich jetzt für sie da sein musste. Ich befürchtete, dass sie dort verändert würde. Ich hatte Angst, dass sie, wenn sie raus kam nach drei Monaten, ein vollkommen andere Mensch war. Ich glaubte, dass sie dann nicht mehr meine beste Freundin war, sondern einfach eine umgestülpte, leere Hülle. Ich wurde langsamer, blieb stehen und stieg vom Fahrrad ab. Ich kletterte einen Baum hoch und setzte mich auf einen dicken Ast. Der Himmel war strahlend blau, an diesem zwölften Juli. Seit gestern Abend war Luna in der Psychiatrie, es war gerade elf Uhr morgens. Sie war immer so ein starkes Mädchen, hatte vor der ganzen Klasse ihren Ex verteidigt, hat die ganze Klasse auf sich gehetzt, bis sie dann die Emoschlampe war. Doch für mich war sie immer meine beste Freundin, egal was sie tat. Mich störten ihre Narben nicht, aber es versetzte mir einen Schlag, wenn ich einen frischen Schnitt bei ihr entdeckte. Ich fragte mich immer, wieso sie es wieder getan hatte, aber ich sagte nie etwas. Und ich glaube das war mein Fehler. Ich sagte nie etwas. Also ich hab sie nicht verteidigt, als sie mit Geld beworfen wurde, ich hab einfach zugeschaut. Abends, als sie mit mir geschrieben hatte, erzählte sie mir, dass sie gerade weinte, und sich wünschte, dass ihr Freund da wäre. Doch was hatte sie jetzt noch? Ich beschloss sie anzurufen. Ich wählte ihre Nummer und hörte es 'duten'.

,,Hey Mara." Ich hörte keinerlei Emotionen aus ihrer Stimme.
,,Hi, wie geht's dir?" Ich versuchte aufmunternd zu klingen.
,,Naja, ich weiß es gerade selbst nicht so wirklich. Wie geht's dir denn?"
,,Mir geht es eigentlich gut. Bloß ich mach mir Sorgen dass sie dich dort zu sehr verändern."
,,Werden sie nicht. Komischerweise macht sich Pascal darüber auch Sorgen."
,,Was hast du heute schon so gemacht?"
,,Ich war bei einem Gespräch über meinen seelischen Zustand und hab gegessen."
,,Wie war denn das Gespräch? Waren die Leute nett?"
,,Es war eine Frau, sie heißt Frau Seerein, die eigentlich ganz in Ordnung ist, aber ich hasse eh alle hier. Sie hat mich nur gefragt wie es mir geht, und ob ich das Bedürfnis hab mich zu verletzen."
,,Und, willst du?" Ich hielt den Atem an, während ich auf die Antwort wartete. Aber ich wusste schon was kommen würde. 
,,Ja. Die ganze Zeit..." Ich erkannte Luna nicht wieder. Ihre Stimme war so gleichgültig. Entweder sie war traurig, die ganze Zeit am Lachen oder total aggressiv. Ich wäre gerne bei ihr gewesen.
,,Wie ist deine Mitbewohnerin?"
,,Es ist eine alte Freundin, die auch wegen SVV hier ist. Es ist besser als alleine oder mit einer die ich nicht kenne. Kommst du mich noch besuchen diese Woche?"
,,Klar. Morgen ist ja Samstag, da schau ich natürlich bei dir vorbei."
,,Ich vermisse dich."

,,Ich dich doch auch, und ich mach mir total Sorgen. Du bist so emotionslos... Ich würde dir so gerne  helfen, aber ich weiß, da kommt man nur alleine raus."

,,Mh, ist halt so. Ich versuche mich zu bessern... wenn ich Selbstvertrauen hab."
,,Ok. Bis morgen dann, viel Glück noch."
,,Tschau."
,,Warte mal kurz." Ich wollte sie noch etwas dringendes fragen, was mir schon die ganze Zeit im Kopf herum schwebte.
,,Was denn?"
,,Du kannst mir nicht versprechen das du dir nicht wieder weh tust, oder?"
,,Nein, kann ich nicht. Tut mir leid." Und auf einmal hörte ich ein leises Schluchzen von ihr. Und dann legte sie einfach auf. Ich stieg wieder von dem Baum und schwang mich auf mein Fahrrad. Nach einer halben Stunde war ich wieder zu Hause. Mein Hund begrüßte mich bellend, doch ich ignorierte ihn. Ich lief ins Haus und ging in das Wohnzimmer. Ich stellte mich vor meine Eltern, und sah sie erst ein paar Sekunden an, bevor ich es sagte:,,Luna ist in der Psychiatrie in Erfurt. Und ich möchte, dass ihr mich Morgen dahin fahr...bitte." Doch meine Eltern sahen mich nur verständnislos an, und baten mich, ihnen zu erklären, wieso Luna dort war. Doch ich schwieg. 

Egal wie, ich würde Luna Morgen besuchen.

 

*Kapitel dieser Art gibt es mit diesem nur zwei Mal. Es werden nur die persönlichen Schilderungen von zwei Personen gezeigt.

Sprechstunde

Ich wachte auf, und das Licht stach mir in meine Augen. Ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht, und richtete mich auf. Ich versuchte, während ich meine Augen zusammen kniff, mein Handy vom Nachttisch zu nehmen um zu schauen wie spät es war. 08:14 Uhr. Ich setzte mich hin und sah zu Annabells Bett. Dort saß sie, an die Wand gelehnt und schaute aus dem Fenster. ,,Morgen.", sagte sie und schaute zu mir. ,,Ja hey...", begrüßte ich sie. Ich rieb mir die Augen und guckte mich um. Ach ja, ich war ja in der Psychiatrie. Ich stand auf, suchte mir Sachen zusammen und bat Annabell sich umzudrehen. Doch sie sagte, dass sie jetzt eh noch mal auf Toilette müsse, bevor sie mit mir zum Essen geht. Als sie gegangen war, zog ich mir meine helle Jeans an, ein braunes Top und legte meine vielen Armbänder um. Diese legte ich extra über meinen Verband, den ich heute noch wechseln müsste. Ich bürstete meine Haare und flocht mir einen Seitenzopf. Sie waren zwar schon fettig, aber hey, ich war in einer Psychiatrie, da interessierte es kein Schwein wie man aussah. Zu guter Letzt schminkte ich mich noch ein wenig. Als Annabell wieder kam, gingen wir gemeinsam zum Frühstück. Der Essensraum war im ersten Stockwerk, daneben lagen der Gemeinschaftsraum, der Spielraum und der TV-Raum. Annabell erklärte mir, das am anderen Ende das Sprechzimmer lag, dort, wo die Sprechstunden waren. Im Gemeinschaftsraum waren die verschiedenen Kurse, wie malen oder die Musikstunde. Der Essensraum war ein großer Saal, auf der rechten Seite war die Essensausgabe. Ich holte mir nur ein Brötchen und etwas zu trinken. ,,Wann hast du deine Sprechstunden?", fragte ich meine Freundin, als wir uns einen Platz gesucht hatten. ,,Montags, mittwochs und freitags. Ähm, du müsstest zur Information deinen Plan abholen, wann du welchen Kurs hast, und natürlich wann du deine Sprechzeiten hast, also deine Therapien.", sagte sie. Ich biss das letzte Mal von meinem Brötchen ab, bis ich mich das erste Mal richtig im Saal umsah. Hier waren tatsächlich mehr Mädchen als Jungen. Die meisten trugen T-Shirts, und somit konnte man ihre Schnitte sehen. Bei manchen war es mehr, bei anderen weniger. Doch manche trugen auch lange Pullis, Stulpen oder Armbänder. Annabell trug heute schwarze Stulpen an den Armen. Aber nicht alle Mädchen hatten Schnitte oder Narben an den Armen. Die Jungs trugen alle T-Shirts, nur bei manchen blitzten mal Narben auf, doch die anderen sahen eher depressiv aus. ,,Weißt du, weswegen die anderen hier sind, die keine Depressionen haben, oder sich nicht selbst verletzen?", fragte ich meine Freundin. Sie schaute sich auch kurz um, aber antwortete dann:,,Naja, nach einer Woche weiß ich noch nicht ganz so viel, aber die meisten anderen sind hier, weil sie sich umbringen wollte, Depressionen oder Essstörungen haben. Ich weiß nur von ein paar Jungs, dass sie Gamer sind, also Suchtis. Mehr weiß ich nicht." Achso, ich sollte also zur Information gehen. ,,Wo ist die Information?", fragte ich sie. Ich stand schon auf, nahm mein Tablett und trank den letzten Schluck meines Tees aus. ,,Schätzchen, das ist die Frau hinter der Glaswand, von der du eingewiesen wurdest." Ich nickte und stellte mein Tablett weg. Danach verließ ich den Essenssaal und lief zum Foyer. Hier liefen schon ein paar Patienten herum, die sich entweder unterhielten oder rasch zu etwas liefen. Doch dort war ein Junge, der heraus stach. Er saß auf einem Stuhl mitten im Raum und beobachtete die Leute. Er sah mir direkt in die Augen, und winkte mich zu sich. Verunsichert lief ich zu ihm hin und blieb einen Meter vor ihm stehen. ,,Komm näher, ich hab was für dich.", sagte er zu mir. Seine Stimme hatte etwas Verruchtes. Ich kam einen Schritt näher und sah ihn misstrauisch an. ,,Deine Armbänder sind runter gerutscht.", flüsterte er, und ich zog schnell ohne hinzuschauen meine Armbänder wieder hoch. ,,Was willst du?", fragte ich ihn protzig. ,,Ich gebe dir Klingen, wenn du mir Tabletten besorgst." Meine Stirn legte sich in Falten, ich wusste gleich was abging. Das war ein Drogenabhängiger. ,,Hey, lass sie in Ruhe!", sagte jemand und stellte sich neben mich. Es war ein Junge, ungefähr zwei  Jahre älter als ich. Er hatte schwarze Haare, war schwarz geschminkt und trug dunkle Kleidung. Er hatte ein Lippenpircing. Ja, er war eindeutig ein richtiger Emo. Und was das Klischee noch mehr erfüllte, waren seine Schnitte an seinen Arm, die man gut sehen konnte, weil er ein T-Shirt trug. ,,Hey chill mal 'ne Runde.", nuschelte der Typ mit den Drogen. Der andere Junge legte seinen Arm um meine Schulter und ging mit mir in Richtung Information. ,,Das war Leon, unser Dealer. Deal ja nicht mit ihm, wenn er jetzt nach zwei Wochen wieder Drogen bekommt, dreht er durch. Ich bin übrigens Luca und du?" Ich ging ein bisschen von ihm  weg, und antwortete dann:,,Ich... ich bin Luna. Ich wollte gerade zur Information, mir meinen Plan abholen." Er lächelte mich an, während ich zwanghaft versuchte nicht auf seinen Arm zu starren. ,,Wegen was bist du hier?", fragte er mich lächelnd. Ich hielt meine Hand vor meine Armbänder, das sah er natürlich. ,,Achso... Ich auch, wie du ja sicher sehen kannst." Da ich ja jetzt die Erlaubnis hatte, konnte ich mir endlich seinen Arm angucken. Er hatte auch Worte eingeritzt. Auf seinem rechten Arm stand 'HATE ME', auf dem anderen waren nur normale Schnitte. Bemitleidenswert sah ich ihn an, und wendete mich ab. ,,Ich muss jetzt los. Danke für deine Hilfe.", sagte ich, mit dem Rücken zu ihm gedreht. ,,Okay, bis irgendwann mal.", sprach er. Danach ging ich zu der Information. Zum Glück stand niemand an. Ich stellte mich vor die Glaswand und klopfte. Es dauerte eine Weile, bis die Frau mir ihre Aufmerksamkeit schenkte. ,,Ich möchte gerne meinen Plan abholen. Mein Name ist Luna Wielforst.", sagte ich und versuchte höflich zu bleiben. ,,Ach, hallo Luna. Klar - hier dein Plan." Sie kramte etwas in ihren Unterlagen und gab mir dann durch ein rundes Fenster meinen Plan. Ich trat etwas zurück, und schaute dann drauf.
Luna Wielforst
Therapie:
Montag; 16:00 Uhr              
Mittwoch; 11:00 Uhr              
Freitag; 10:30 Uhr              
Sonntag; 16:00 Uhr
Kurse: Kreatives Zeichnen;
Donnerstag 15:00 Uhr          
Musik; Montag 15:00 Uhr         
Ich schaute auf die Uhr die mitten im Raum hing. Es war fast halb elf, also Zeit für meine erste Sprechstunde. Ich fragte an der Information noch mal genau nach, wo das Sprechzimmer liegt. 

Das Zimmer war weiß gestrichen, mitten im Raum stand ein brauner Holztisch, hinter dem Frau Seerein saß. Eine Frau mit kurzen, blonden Haare die schwarze Strähnchen hatten, und einer grauen Brille. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Ich setzte mich auf den braunen Ledersessel, der für mich gedacht war. ,,Hallo Luna.", begrüßte mich Frau Seerein freundlich und lächelte mich an. Ich guckte sie ausdruckslos an und begrüßte sie ebenfalls mit 'Hallo'. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, ich wollte mich der Frau eigentlich nicht anvertrauen...aber ich musste mir selbst eingestehen, dass ich Hilfe brauchte. ,,Wie geht es dir denn?", fragte sie mich. Da musste ich schon überlegen:,,Ich weiß nicht, ich bin müde und ausgelaugt... Ich weiß nicht wohin." Sie schaute mich fragend an, und fragte:,,Du weißt nicht wohin?" Ich schaute auf die Tischkante, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. ,,Ja...Ich will nicht hier her, aber auch nicht nach Hause, und auch nicht ins Krankenhaus. Ich fühle mich verloren." In meinem Herzen staute sich Trauer und Verzweiflung an. ,,Achso. Hast du bei diesen Gedanken den Drang dich selbst zu verletzen?", hakte sie nach. ,,Ja, eigentlich bei allen Gedanken. Selbst bei den Gedanken daran, dass mich meine Freunde besuchen kommen. Dabei muss ich auch denken, wie lange das noch hin ist, bis mich jemand besuchen kommt. Außerdem hab ich heute noch keine Nachricht bekommen. Es scheint niemanden zu interessieren wie es mir geht." Als ich auf den Tisch guckte, sah ich wie sie sich irgendetwas aufschrieb. ,,Wann kommt denn ein Freund von dir zu Besuch?", fragte sie. ,,Ich weiß nicht. Ich hoffe das mich heute noch jemand anruft." ,,Das kann ich verstehen, es ist nicht schön wenn man niemanden hat der einen unterstützt. Oder unterstützt dich jemand?" Ich sagte ihr, dass ein guter Freund von mir mich unterstützt, mehr nicht. Dann fragte sie mich noch, ob ich irgendwelche Klingen in meinem Zimmer hätte. Ich sollte nicht lügen, deshalb sagte ich ja. ,,Wirst du sie benutzen? Heute noch?", fragte sie. Ich sah ihr in die Augen:,,Ich kann nichts versprechen, tut mir leid."Und damit war das Gespräch beendet. Frau Seerein sagte mir Tschüss und ich ging.

Mittlerweile war es um Elf. Ich schaltete den Fernseher an und schaltete ein bisschen rum. Auf einmal klingelte mein Handy. Es war Mara. 
,,Hey Mara." 
,,Hi, wie geht's dir?" Ich hörte das ihre Freude gekünstelt war.
,,Naja, ich weiß es gerade selbst nicht so wirklich. Wie geht's dir denn?" 
,,Mir geht es eigentlich gut. Bloß ich mach mir Sorgen das sie dich dort zu sehr verändern." 
,,Werden sie nicht. Komischerweise macht sich Pascal darüber auch Sorgen." 
,,Was hast du heute schon so gemacht?" 
,,Ich war bei einem Gespräch über meinen seelischen Zustand und hab gegessen." 
,,Wie war denn das Gespräch? Waren die Leute nett?"
,,Es war eine Frau, sie heißt Frau Seerein, die eigentlich ganz in Ordnung ist, aber ich hasse eh hier alle. Sie hat mich nur gefragt wie es mir geht, und ob ich das Bedürfnis hab mich zu verletzen." Ich sagte bewusst nicht alles, über was wir geredet hatten.
,,Und, willst du?" 
,,Ja. Die ganze Zeit..." Ich wusste das ich sie nicht anlügen konnte, sie würde es eh merken.
,,Wie ist deine Mitbewohnerin?" 
,,Es ist eine alte Freundin, die auch wegen SVV hier ist. Es ist besser als alleine oder mit einer die ich nicht kenne. Kommst du mich noch besuchen diese Woche?"
,,Klar. Morgen ist ja Samstag, da schau ich natürlich bei dir vorbei." 
,,Ich vermisse dich." 
,,Ich dich doch auch, und ich mach mir total Sorgen. Du bist so emotionslos... Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß da kommt man nur alleine raus." 
,,Mh, ist halt so. Ich versuche mich zu bessern... wenn ich Selbstvertrauen hab." 
,,Ok. Bis morgen dann, viel Glück noch." 
,,Tschau." 
,,Warte mal kurz." 
,,Was denn?" 
,,Du kannst mir nicht versprechen das du dir nicht wieder weh tust, oder?"
,,Nein, kann ich nicht. Tut mir leid."  Eine Träne rollte über meine Wange. Ich legte auf. Dann reichte es mir, ich holte meine Klinge aus meinem Versteck, und scheißte auf alles. War mir doch egal ob ich in einer Psychiatrie war, und mich trotzdem ritzte. Da Annabell zum Glück grad nicht da war, war ich ungestört. Doch ich wusste, wenn ich es am Arm mache würde es jemand sehen und den Ärzten melden, also musste ich es an einer anderen Stelle machen. Am Bein. Ich zog meine Hose bis zu den Knien runter und setzte mich auf's Bett. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste es tun. Es war ein Teufelskreis, und das Gespräch hatte mir nicht wirklich geholfen. Ich blickte meine schöne Klinge an. Sie glänzte schön im Sonnenlicht, das von draußen rein schien. Ich setzte sie an. Ich dachte an Pascal, an Mara, an Benny und Felix. Doch sie waren nicht hier. Ich dachte an den zehnten Juli, wo ich versucht hatte mich selbst umzubringen. Und ich dachte an den Hasserfüllten Blick meines Bruders. Ich verstärkte den Druck auf meiner Haut etwas, meine Hand in der ich die Klinge hielt, zitterte. Ich lauschte einen Moment, dann schnitt ich langsam und bedacht drei Zentimeter in mein Bein. Ich spürte wie der Schmerz meinen Körper erfüllte. Drei Sekunden Ruhe, dann schoss langsam das Blut aus der Wunde. Das Rot wurde immer intensiver, bis dann die rote Flüssigkeit aus dem Schnitt schoss. Es bildeten sich rote Punkte, die langsam aber sicher über mein Bein verliefen. Sofort wurde ich glücklicher und ich lächelte. Das Blut erfreute mich, ich strich mit der Hand über das Blut, und schaute sie an. Auf meiner ganzen Handfläche war Blut. Alles war still. Ich atmete tief durch. Ich hatte meine Sucht befriedigt, meine Droge war das Blut und der Schmerz. Es hatte sich aber gelohnt, es ging mir besser. Meine Hand strich über die Wunde, Schmerz durchzog mich. Ich nahm ein Taschentuch und wischte die Wunde trocken und das Blut von meinem Bein und meiner Hand. Ich zog meine Hose wieder hoch und stand auf. Die Klinge ließ ich wieder verschwinden, und genau zu dem perfekten Zeitpunkt kam Annabell in unser Zimmer.

Sie guckte mich an, direkt in meine Augen. Ich trug immer noch ein Lächeln im Gesicht, sie nicht. ,,Wo warst du?", fragte ich sie. ,,Im Gemeinschaftsraum Tischtennis spielen. Wie war das Gespräch?", sagte sie. Sie stellte sich vor ihren Schrank, öffnete ihn und holte eine kleine Schachtel raus. ,,Ganz in Ordnung." Immer noch vor dem Kleiderschrank stehend, sagte sie:,,Scheint dir aber nicht geholfen zu haben. Der Blutfleck an deiner Hose und dein Lächeln verrät dich. Ich rate dir, wenn du es schon am Bein machst, zieh wenigstens 'ne weitere Jogginghose an Mädel." Sie öffnete die Schachtel und holte eine Kette raus, die sie sich umhing. Erschrocken blickte ich auf meine Hose. Tatsächlich sickerte das Blut durch. Sofort stand ich auf, kramte eine Jogginghose aus meinem Schrank und zog sie an. Bei dem Anblick ihrer Kette fiel mir Pascals Kette wieder ein, die er mir geschenkt hatte. Ich fasste an meinen Hals, spürte die Schnur und holte den Anhänger unter meinen Pulli hervor. Er war lauwarm, und etwas kühl. Als ich ihn in meine Hand schloss, merkte ich, dass ich einen Teil von Pascal mit mir trug. Ich ließ den Anhänger wieder unter meinem Pulli verschwinden und stellte mich ans Fenster. Wir hatten keinen besonderen Ausblick. Wir konnten auf das Nebengebäude schauen, wo sich der Essensaal befand. Der Himmel war leicht bewölkt, doch das waren nur Schönwetterwolken. Mein Handy vibrierte. Ich holte es aus meiner Hosentasche. Die Nachricht war von Felix. 'Hey Luna, Pascal, Benny und ich kommen dich Heute um drei besuchen, wenn das ok ist.' Ich musste wieder lächeln, und schrieb zurück:'Ok, cool. Ich freu mich, bis dann.' Ich musste ja irgendwie gute Laune vortäuschen, die ich im Moment aber (leider) hatte, durch eine Sache, die nicht gut war. Gute Laune, durch eine schlechte Sache. Diesen Gedanken ließ ich mir bis zum Mittag durch den Kopf gehen.

 

„Doch sie liebte die Klinge,

liegt in der Klinge keiner würde sie je verstehen,

ihre Liebe zur Klinge!

Sie ging ein Schritt weiter ein Schnitt weiter,

der beste Freund liegt ein Griff weiter.“

- Casper - Rasierklingenliebe 

Neue und alte Freunde

,,Hey komm schon, wir müssen essen!", sagte Annabell und nahm mich an die Hand. ,,Was geht denn mit dir? Warum bist du so fröhlich?", fragte ich sie und runzelte die Stirn. Wir verließen unser Zimmer und liefen den Gang entlang bis zu den Treppen, bei denen wir genau zu dem Zeitpunkt ankamen, als der Dealer, Leon auch kam. ,,Hey, na Mädels?", begrüßte er uns. Er klang bekifft und stank nach Rauch. Annabell und ich sahen uns angewidert an und liefen schneller, sie hielt mich immer noch an der Hand. Aus irgendeinen Grund machte mir das gute Laune und ich musste lächeln. ,,Nein, mal ehrlich, was ist mit dir los?", fragte ich wieder. ,,Falls du denkst, ich habe mich geritzt, nein, das habe ich nicht. Hab bloß erfahren das mein Freund mich heute um drei besucht." Ich staunte. ,,Du hast einen Freund? Wie schön! Meine Freunde kommen mich auch um drei besuchen, sollen wir da lieber in den Gemeinschaftsraum oder so gehen?", fragte ich sie, immer noch verwundert über die neue Information. ,,Ja, wäre toll von dir!", trällerte sie. Es machte mich unfassbar glücklich sie so froh zu sehen. Als wir in den Essensaal ankamen, nahm ich mir gleich etwas mehr zu Essen. Eine kräftige Portion Pommes mit Ketchup, ein Schnitzel und ein Getränk. Wir setzten uns an den Tisch von dem "Emo", von dem mir der Name nicht mehr ein fiel. Annabell und der Typ quatschen gleich drauf los, es schien mir, als wäre sie schon komplett geheilt, was natürlich nicht so war. Nach einiger Zeit setzte sich neben mich ein Mädchen. Sie war wunderschön. Sie hatte lange, lockige braune Haare, grüne Augen trug nur Mascara und einen rosé farbenen Lippenstift. Ihr Lächeln war perfekt, und auf ihrer Stupsnase trug sie ein paar Sommersprossen. ,,Hey.", sprach sie mich an, während ich mich fragte, warum sie wohl hier war. Ihre Stimme gleichte die eines kleinen Kindes, aber doch erwachsen genug, um erahnen lassen zu können, das sie ungefähr fünfzehn war. ,,Hey, ich bin Luna, du?", fragte ich neugierig. Sie lächelte mich an, und sagte:,,Was für ein schöner Name. Ich heiße Noel." Ich lächelte sie an, obwohl mein Lächeln mit meinen leicht schiefen Zähnen und meinen trockenen Lippen nur halb so schön war wie ihres. ,,Warum bist du hier?", fragte sie mich und zuppelte etwas an ihrem hellgrauen Pulli herum, der perfekt zu ihrer dunklen, engen Jeans und ihren abgelatschten Chucks passte. Ich hielt meinen Arm hoch und zeigte ihr meinen Verband und meine Armbänder. Trotzdem sagte ich noch etwas dazu:,,Suizidversuch, Borderline. Du?" Obwohl ich es schon erahnte, zerstörte sie meine Idee, dass sie auch ein Borderliner war, mit einem mal. ,,Ich...ich wurde vor einem Monat vergewaltigt. Von meinem Onkel. Es ist nicht leicht für mich darüber zu reden... Ich bin freiwillig hier." Ihre Sätze schockten mich. Vom eigenen Onkel vergewaltigt. Unfassbar. ,,Wie lange bist du schon hier?", fragte ich, versuchte aber meine Neugier zu zügeln. ,,Fünfunddreißg Tage. Ich werde nächste Woche Montag entlassen. Ich bin fast wieder ganz in Ordnung. Das hier war wie eine Flucht aus der realen Welt für mich. Und egal was ich hätte, ich würde wieder kommen.", sie lächelte mich an. Deswegen sah sie schon so froh aus. Fünfunddreißig Tage. Mmh... ich würde länger hier bleiben, aber irgendwie gab mir Noel Hoffnung. ,,Und ich glaube das dir auch geholfen wird. Ich muss aber wieder los, hab jetzt meine Therapie. Bis dann!", sagte sie und stand auf. ,,Bis dann!", rief ich ihr hinterher. Dieses Mädchen war unglaublich, sie war fast geheilt. Dann sprach mich Annabell von der Seite an:,,Sag mal Luna, bist du fertig? Es ist schon um eins, ich würd mich gern fertig machen und mit dir unser Zimmer etwas aufräumen." Ich nickte, und sagte, dass es okay ist. Auf unserem Zimmer angekommen, schmiss ich meine blutige Hose in den Dreckwäschebeutel, machte mein Bett und schaute auf mein Handy, während sich meine Freundin schminkte. Ein verpasster Anruf von Benny. Ich rief ihn zurück, doch er ging nicht ran, womöglich war er gerade im Zug und hörte sein Handy nicht, aber es war okay. ,,Was machst du eigentlich den ganzen Tag hier, wenn dich grad niemand besuchen kommt, du keine Kurse hast und keine Therapie?", fragte ich Annabell als sie gerade fertig war mit schminken und jetzt anfing aufzuräumen. ,,Naja, ich gehe runter in den Gemeinschaftsraum, rede dort mit den Leuten, guck mir unten im TV-Raum einen Film mit anderen an, weil es zusammen ja immer mehr Spaß macht, find ich. Oder ich frag ob ich ins Café gehen darf, oder ins Kino. Aber das mit dem Kino will ich vielleicht Morgen mal fragen, da könnte ich vielleicht mit dir hin gehen." Ich sagte ihr, dass ich die Idee toll fände, und dass wir dann gleich meine eine Freundin mit nehmen könnten die mich Morgen besuchen kommt.

Es war um drei. Ich saß unruhig auf meinem Bett, und rieb die Stelle, wo der noch frische Schnitt war. Er juckte, und tat gleichzeitig höllisch weh. Aber so wie ich war, freute ich mich darüber. Annabell war schon raus gegangen, um dort auf ihren Freund zu warten. Schließlich klopfte jemand an der Tür. ,,Ja? Herein.", sagte ich etwas lauter. Und dann standen auch schon Benny und Felix vor mir. Sofort fiel mir auf das Pascal nicht mi da war. ,,Hey, na, wie geht's dir Luna?", begrüßte mich Benny und schloss mich in seine Arme. Nach ein paar Sekunden, in denen er mich fest an sich gedrückt hatte, umarmte mich Felix. ,,Schön euch wieder zu sehen.", sagte ich und versuchte zu lächeln. Beide lächelten zurück. Ich traute mich gar nicht zu fragen, machte es aber trotzdem. ,,Wo ist Pascal?" Sofort füllten sich meine Augen mit Tränen. War ja klar. ,,Ähm... Wir sollen dir das hier von ihm geben.", sagte Benny. Er überreichte mir einen sauber zusammen gefalteten Zettel. Ich faltete ihn auseinander und las. 
'Hey Luna, es tut mir weh dir das hier zu schreiben, aber du bist nicht gut für mich. Ich habe mich wieder geritzt, wieder immer näher an der Pulsschlagader. Ich bin aber auch nicht gut für dich. Du bist deprimiert wegen mir, weil ich mir wegen dir weh tue, aber ich will dir das jetzt nicht unter die Nase binden. Du solltest mich einfach aus deinem Leben löschen, mich einfach vergessen. Ich kann nicht mehr ansehen wie du dich weiter kaputt machst, das ist einfach zu viel für mich. Ich weiß, ich sagte, dass ich immer für dich da sein werde, doch es geht nicht mehr.
Aber was du nie vergessen solltest, ist, das du nie aufhören solltest zu scheinen, meine kleine Sonne.'
Eine Träne fiel auf das Blatt und verwischte die Tinte. Nein. Wieso?! Wie kann mir mein, eigentlich, bester Freund mir so etwas antun?  Benny setzte sich neben mich. ,,Beruhig dich okay?", sagte Felix beruhigend. Ich fasste an meinen Hals, umfasste den Anhänger und riss die Kette von meinem Hals ab. Ich schmiss sie auf die andere Seite meines Bettes. Ich freute mich eigentlich echt, mal wieder meine Kumpels wieder zu sehen, aber das war...das war zu viel. Ich wusste, dass ich, wenn die zwei weg waren, etwas dummes tun würde. Ich wusste es einfach. Ich stand auf und holte meine Klinge aus meinem Versteck im Kleiderschrank. ,,Hey hey Luna leg die sofort weg!", rief Benny und lief auf mich zu. Ich schüttelte den Kopf. Ich sah mein Spiegelbild in der Klinge und betrachtete die zwei scharfen Kanten die glänzten. Irgendwie fand ich sie echt schön. ,,Komm schon Luna leg sie weg, oder gib sie mir.", bat mich Benny. Felix stand nur geschockt in der Ecke. Ich sah in seine Augen und schüttelte wieder, aber nur ganz leicht, mit dem Kopf. Ich nahm die Klinge richtig in die Hand und drückte sie zu. Ich spürte wie sich die zwei scharfen Seiten in meine Hand bohrten. ,,Scheiße Luna hör auf!", rief Benny wieder. Er kam weiter auf mich zu und versuchte meine Hand zu greifen, was ihm auch gelang. Ich wehrte mich nicht. Er öffnete meine Hand, er und ich sahen die rote Flüssigkeit über meine Hand laufen. Die Klinge hatte zwei tiefe Wunden hinterlassen. Schnell zog ich ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und hielt es drauf. Ich hielt Benny die Klinge hin. Na los, nimm schon, sagte ich mit meinem Blick. Er sah mich misstrauisch an und sagte:,,Nein. Die musst du alleine wegschmeißen."  ,,Das kann ich nicht.", war das erste, was ich nach zehn Minuten mal wieder sagte. 

Ich musste den beiden versprechen, die Klinge weg zu werfen. Das tat ich dann auch gleich, ich gab sie meiner Therapeutin die wir auf den Weg zum Gemeinschaftsraum trafen. Yeah, meiner Therapeutin erfolgreich meine blutverschmierte Klinge gegeben. Das war ja auch nicht auffällig oder so. Naja, um es kurz zu fassen, habe ich von den Ärtzten meine Hand verbunden bekommen, der Verband war aber nach ein paar Minuten wieder blutig. Im Gemeinschaftsraum hockte der Dealer in der Ecke. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Er saß da einfach nur da und starrte in die Leere, mit weit aufgerissenen Augen. Er trug ein Krankenhaus T-Shirt und eine Unterhose. Doch ich starrte ihn nicht lange an, sondern wendete meinen Blick gleich wieder ab. Felix erzählte mir, das sein Pferd ein Fohlen bekommen hatte, und zeigte mir Bilder. Benny sah mir nur in die Augen, und betrachtete die ganze Zeit meine Hand. Ich kann nicht genau beschreiben, wie dieser Blick aussah. Es war eine Mischung aus Mitleid, Trauer, Hilflosigkeit und Angst. Ja, Angst war auf jeden Fall dabei. Aber nicht vor mir, er machte sich eher Sorgen. Irgendwann fragten sie mich dann wer der Typ sei, der dort so komisch in der Ecke saß. Ich sagte, das es der sogenannte "Dealer" sei. Sie lachten bloß. 
Als nächstes gingen wir in den Spieleraum, um irgendwas zu spielen. Felix sagte, um mich 'abzulenken'. Tzzz, als ob das ginge, dachte ich. Aber erstaunlicher Weise ging es doch. Für ungefähr zehn Minuten. Wir spielten Flaschendrehen mit Wahrheit oder Pflicht, mit ein paar anderen. Ich glaube es waren Emily, die Essstörungen hatte, Jonathan, der Zocker, Leona, die Suizid gefährdet war (mit der ich mich echt gut verstand) und Noel. Noel bekam zwei mal Wahrheit und einmal Pflicht. Als erstes musste sie benantworten, wie viele Freunde sie schon hatte. Sie sagte es wären zwei gewesen. Die zweite Frage, ob sie noch Jungfrau wäre. Ich fand raus, dass sie sechszehn war. Sie war keine Jungfrau mehr. Was für eine dumme Frage. Als Pflicht musste sie durch den Raum laufen und alle Jungs umarmen. Und die Jungs ließen sich das, wer hätte das gedacht, natürlich gefallen. Felix redete viel mit Emily und Noel, Benny starrte wieder nur die ganze Zeit auf meine Hand und sprach ein paar mal mit Emily. Da ich in dem Moment abgelenkt war, sprach ich mit allen mal. Es war eine lustige Runde. Doch dann war die Besuchzeit auch wieder vorbei. Um fünf mussten Benny und Felix wieder gehen. Ich umarmte beide. Felix sagte:,,Pass ja auf dich auf! Ich will nichts davon hören, das du dir wieder weh getan hast. Alles klar?" Ich zuckte mit den Schultern, aber lächelte ihn an. Benny sagte mir:,,Versuch dein bestes. Versuch dir keine neuen Klingen zu kaufen. Okay?" Versuch... Ich nickte. Ich sah ihnen noch hinterher als sie durch das Haupttor gingen, drehte mich um und ging.

Tagebucheintrag 1

Liebes Tagebuch, oder so,

also, meine Therapeutin hat gesagt, ich soll dieses Tagebuch hier führen, wenn ich niemanden meine wahren Gefühle sagen kann. Also fang ich mal an. Es ist Samstag, der 20. Juli. Ich hatte jetzt schon fünf Sprechstunden hinter mir. Die Kurse (Kreatives Zeichnen und Musik) sind gar nicht so schlecht, bloß ich kenne dort niemanden und man redet nicht so viel miteinander, was, wie ich finde, Nachteile mit sich bringt. Aber darum geht es ja nicht. Fünf Therapien… natürlich haben sie rausbekommen dass ich mich wieder verletzt hatte (Ich habe gelernt das Wort ‚ritzen‘ zu hassen. Es klingt so abwertend).

Ich habe Mara die ganzen Tage über nicht gesehen, ihre Eltern erlauben es ihr nicht zu mir zu fahren, ich sei ihnen zu verrückt. Sie haben wahrscheinlich Angst, dass Mara auch anfängt sich selbst zu verletzen. Aber ich bin mir sicher, dass sie das nie tun würde. Jedenfalls habe ich noch eine SMS von meinem Exfreund bekommen. ‚Hoffe du verreckst da drinnen und wirst noch verrückter du kleine Hure.‘ Naja, ich will nicht behaupten, dass es mir danach gut ging, aber mir war es eigentlich relativ egal. Ich glaube das kommt von den Sprechstunden. In denen es nur wenig um SVV (Selbst verletzendes Verhalten) ging, sondern eher was meine Probleme sind. Ich denke, dass ich diese noch mal auflisten sollte.

1. Ich komme mir verloren und allein vor.
2. Meine Familie hasst mich.
3. Mein bester Freund lässt mich einfach fallen. Obwohl Benny mir irgendwie mehr hilft, mehr für mich da war, hab ich zumindest das Gefühl. Denn er war in letzter Zeit noch einmal da, sogar mich meiner anderen besten Freundin Vanessa, die in der ganzen Geschichte bisher etwas unter gegangen ist. Nein, Benny hat Pascal nicht ersetzt, denn Benny war schon eher da. Er ist besser. Er versteht mich irgendwie mehr, er macht sich mehr Sorgen. Ich will eigentlich nicht das es ihm wegen mir schlecht geht, deswegen verletze ich mich nicht mehr so oft wie früher. Ich will nicht wissen was wäre, wenn er nicht da wäre. Mh, ich wäre wahrscheinlich schon verloren. Wenn du dieses Tagebuch mal liest, will ich dir hiermit danke sagen.
4. Ich habe Borderline und habe versucht mich umzubringen.
5. Ich werde/wurde in der Schule sehr gemobbt.

Eigentlich würde ich als sechsten Punkt noch schreiben, dass mich mein Freund verlassen hat, aber Frau Seerein hat gesagt (Ich zitiere): „Auf so einen Idioten musst du doch nicht hören. Er sucht sich zwar wieder eine Neue die er umgarnen kann, aber hey, wenigstens hast du dieses Arschloch endlich los!“ Dabei muss ich erwähnen, dass ich Frau Seerein ziemlich gut leiden kann. Als einzige erwachsene Person hier im Irrenhaus kann ich sie leiden.

Noel, meine neu gewonnene Freundin, wurde entlassen. Sie hat meine Bewunderung voll verdient. Das Jugendamt hat entschlossen Noel zu einer Pflegefamilie zu geben, denn ihr Vater ist eh im Knast und ihre Mutter kann ihre Tochter irgendwie nicht so richtig leiden (glaube ich). Naja, jedenfalls geht es dem Dealer immer noch nicht besser und Luca, der Emo, hat wieder neue Schnitte gehabt. Ich rede übrigens immer mehr mit ihm und wir verstehen uns auch super. Es macht mich trotzdem traurig, wenn ich wieder die blutigen Wunden an seinem Arm sehe. Ich denke nicht, dass er sich umbringen wird, aber trotzdem macht es mir Angst.  Annabell geht es relativ gut, ihr Freund kommt sie öfters besuchen, und sie sehen echt glücklich aus. Nur das Komische daran ist: Selbst bei den kleinsten Streit sehe ich wieder die Pflaster im Papierkorb liegen. Sie hatte sich wieder geritzt. Öfters die letzten Tage, ich weiß nicht so genau was da los ist.

Das gute hier drinnen ist, dass man (wie Noel schon gesagt hatte) komplett von der Außenwelt abgeschlossen ist, man lebt hier in seiner eigenen Welt, der Welt der Genesung. Und das beste hier ist, dass man sich keine Sorgen machen muss, wie man den anderen am besten helfen kann, denn das ist ja nicht meine Aufgabe. Es ist echt richtig entspannend hier, aber trotzdem ist Druck da. Trotzdem sehe ich jeden Tag vor Augen, was für einen Scheiß ich gemacht hab, wie sehr ich mein Leben verbaut hab. Und da bin ich auch schon bei dem Punkt angekommen, auf den ich eigentlich hinaus wollte. Wie ICH ja weiß, hab ich beim vorletzten Besuch von Benny meine Klingen abgegeben. Letzten Samstag war ich dann mit Annabell im Kino. Als sie gerade nach einer neuen Tasche guckte, machte ich mich auf in den Schreibwarenladen. Und, wie konnte es anders sein, hab ich mir dort einen Spitzer gekauft. Im Zimmer hab ich die Klingen dann mit meinem Taschenmesser, dass ich von zu Hause hatte, abgeschraubt und versteckt. Bis jetzt habe ich sie nur fünf Mal benutzt, eigentlich richtig gut für mich. Vor allem weil man hier eigentlich keine Zeit mehr hat zum Verletzen. Aber es sind trotzdem dreizehn Schnitte. Noch drei dann hab ich mein Alter zusammen.

Sechzehn. Mit Sechzehn schon alleine, verzweifelt, Leben versaut, kaputt, in einer Psychiatrie, unnormal, Mobbingopfer. Wie ich mich fühle? Oh, im Moment, nachdem ich das alles noch mal im Kopf durchgegangen bin, richtig schlecht. Aber hab heute noch was vor, keine Zeit zum Verletzen.

Und das ist auch gut so.

(Ich weiß nicht ob dieser Tagebucheintrag so voller Emotionen war wie er sein sollte. Ich glaube nicht. Ich denke das muss ich noch ein bisschen üben.)

Schläger und ein Auftrag

Sonntagmorgens. Eigentlich ein totaler Chill-Tag. Aber das war natürlich hier nicht so.

Nach dem Frühstück musste ich zur Krankenstation der Klinik, wo sie Schnitte nähten, Medikamente verschrieben und den Leuten mit Essstörungen halfen. Aber ich musste nur dorthin, um einen neuen Verband zu bekommen. Als ich in das weiße Zimmer trat, begrüßte mich ein lächelnder Mann in einem weißen Kittel. ,,Hallo, bist du Luna Wielforst?“, fragte er und schaute dabei auf eine Liste. ,,Ja.“, antwortete ich monoton und nickte. Ich hatte nicht unbedingt das Bedürfnis mit dem Mann freundlich umzugehen. Obwohl es mir die restlichen Tage… besser ging.Er machte eine Handbewegung zu der Liege, auf die ich mich setzte. Die Liege war hart und quietschte. Ich wollte nicht wissen wie alt die schon war. ,,Nimm bitte mal deine Armbänder ab.“, forderte er mich auf. Ich hatte sie wieder drum gemacht, damit nicht jeder meinen Verband sieht, obwohl es mir eigentlich auch egal sein konnte. Aber ich mochte diese Blicke nicht, die man zwar nicht von allen bekam, aber von einigen.  Nachdem ich fünf Minuten gebraucht hatte um wirklich alle abzubekommen, wickelte der Arzt schnell den Verband ab, noch lange nicht so vorsichtig wie Marissa. Er fragte mich auch nicht ob ich das sehen wollte. Ist ja klar, muss ich ja auch alleine wissen und entscheiden. Ich sah wieder hin. Die Fäden müssten sie nächste Woche ziehen, erklärte er mir.  Der Schnitt sah immer noch furchtbar aus, immer noch rot, doch er wuchs schon gut zu. Aber ich würde diese Narbe bis an mein Lebensende tragen, und müsste meinen Kindern dann erklären, was ich da gemacht hätte. Anfangs könnte ich einfach sagen, dass ich früher einen Unfall hatte. Aber wenn sie dann älter werden würden sie wissen was das für Narben sind, und würden mir nachahmen. Und dann müsste ich sie auch ins Krankenhaus fahren, und wahrscheinlich auch in eine Klinik schicken. Und genau deswegen bekomm ich lieber keine Kinder. Von wem denn auch? Es hassen mich doch eh fast alle. Der Arzt unterbrach meine Gedankengänge:,,So fertig, du kannst wieder gehen. Aber nicht wieder verletzen!“ Ich stand auf, packte meine Armbänder in meine Hosentasche, zuckte bloß mit den Schultern und trat in den Gang hinaus.
Dort lehnte Luca an der Wand. ,,Hey, na, wie wars?“, fragte er und verzog wie immer keine Miene, obwohl er es trotzdem freundlich sagte. ,,Wie soll es denn gewesen sein? Ich hab beschlossen keine Kinder zu kriegen.“, antwortete ich lächelnd. Er wunderte sich wahrscheinlich über mein Grinsen, aber zuckte bloß mich den Schultern. Ich lief den Gang weiter, hörte eine Tür knallen, und als ich mich umdrehte, war Luca plötzlich weg.

Als ich die Treppen hoch zu den Zimmern. Davor stand Annabell und ihr Freund, Timo.  Sie lehnte an der Wand, er stand vor ihr. Er hatte seine Hände um ihre Hüfte und küsste sie. Ich sah wie eine Träne über ihre Wange rollte. Sofort läuteten bei mir die Alarmglocken. ,,Hey, was ist los?“, fragte ich und ging mit geballten Fäusten auf die beiden zu. Timo ließ von ihr ab und beide sahen mich erschrocken an. Als ich in ihre Augen sah, erkannte ich, dass sie rot waren, und sie schon eine Weile geweint hatte. Sofort ergriff sie Timos Hand und klammerte sich an ihn. Ich sah einen blauen Fleck an ihrer Schulter und über ihrem linken Auge. Scheiße. ,,Was ist los verdammt!?“, fragte ich erneut, diesmal lauter und aggressiver. ,,Nichts.“, antwortete Annabell. ,,Ach ja, so sieht dein Gesicht ja auch aus.“, murmelte ich und ging auf Timo zu, meine Fäuste immer stärker geballt. ,,Du lässt sie jetzt sofort los.“, forderte ich ihn auf. Ich sah nicht wirklich stark aus, aber wenn es darauf ankam, konnte ich ganz schöne Kräfte entwickeln. ,,Tzz, was hast du denn bitte zu sagen, du kleiner Emo? Na los, verpiss dich. Vorher ist es dir doch auch nicht aufgefallen!“ Scheiße was erlaubt der sich?! Aber er hatte Recht, vorher ist es mir nicht aufgefallen das er sie schlug. Sie war so blind vor Liebe, das sie trotzdem glücklich war, aber durch die Schläge tat sie sich weh. Nun stand ich nur noch einen knappen Meter vor ihm und baute mich auf. Wenn Blicke töten könnten, wäre er schon längst tot umgefallen. ,,Du kleine Missgeburt. Du hast hier nichts zu suchen. Also mach das du weg kommst, sonst gibt’s auf’s Maul!“, sagte ich deutlich und noch aggressiver. Okay, ich war etwas aggressiv drauf, naja, sogar sehr. Denn niemand, niemand, durfte meine beste Freundin schlagen. Egal aus welchem Grund. Er lachte. Wie süß. Dann ging alles ganz schnell. Ich packte ihn am Kragen und stieß ihn an die Wand. Sein Lachen verschwand, als er keine Luft mehr bekam. Annabell versuchte mich von ihm weg zu reißen, doch sie war nicht besonders stark. Seine Arme fixierte ich schnell mit dem anderen Arm hinter seinen Rücken und drückte mein Bein gegen seinen Bauch. ,,Ich hab gesagt, dass du hier weg sollst.“, sagte ich noch einmal deutlich. Doch er lächelte nur komisch und hauchte:,,Haha, sonst was?“ Sein Krächzen erfreute mich. Er versuchte sich zu wehren, und riss sich los. Doch mein Tritt in sein bestes Stück ließ ihn verstummen. ,,Sonst gibt’s auf’s Maul, sagte ich!“ Dann noch ein Tritt in seinen Hintern, und er lag auf dem Boden. Ich hockte mich neben ihn und lächelte. ,,So, und wenn du jetzt noch einmal versuchst Annabell zu schlagen, wirst du mich richtig kennenlernen. Und danach wirst du nicht mal mehr in der Lage sein können und Fliege weg zu schnipsen.“
Auf einmal tippte mir jemand auf die Schulter. Ich schreckte auf und drehte mich um.
Es war Luca. ,,Was ist denn los?“, fragte er und zog mich sachte von Timo weg, der sich gerade wieder aufrichtete. ,,Alter die ist doch vollkommen irre!“, flüsterte dieser und ging so schnell wie möglich die Treppen runter. Dann fiel mir Annabell auf, die zusammen gekauert in der Ecke saß. Sie sah mich erschrocken an, ungefähr genauso wie Luca. ,,Was habt ihr denn? Noch nie ein Mädchen gesehen das ihre beste Freundin beschützt?“, sagte ich und grinste. Luca hielt immer noch meine Schulter fest, die andere Hand um meine Hüfte, damit ich auch ja keine Chance hatte abzuhauen. ,,Tut mir leid Annabell, aber er hat dir weh getan!“, entschuldigte ich mich. Sie stand nur auf, ging auf mich zu und nahm mich in die Arme. Das erste Mal seit dem ich hier bin. ,,Danke.“, flüsterte sie leise. 

Sie ließ mich wieder los und wischte sich ihre Tränen weg. ,,Warum hast du mir das nicht eher gesagt?“, fragte ich sie. Sie zuckte mit den Schultern. Blind vor Liebe, wie gesagt.

Beim Mittagessen setzte ich mich wieder zu Luca und Annabell, klar, wo auch sonst. Diesmal gab es irgendeinen Auflauf, der schrecklich schmeckte. Ich saß neben Luca, der mir gerade von seiner Behandlung im Krankenzimmer erzählte, und dann auf einmal anfing, ernster zu werden.

,,Warum verletzt du dich?“, fragte er. Ich sah ihn an. In seinen Augen konnte ich Neugier und Angst erkennen. Ich blickte wieder auf mein Essen, als ich antwortete:,,Naja, eigentlich ein Klischee-Mädchen dass dich schneidet. Meine Familie hasst mich, ich bin schlecht in der Schule, die anderen mobben mich, meine Freunde verlassen mich einer nach dem anderen… Und du? Warum machst du es?“ Ich stocherte in meinem Essen rum, während ich auf die Antwort wartete. Ich hörte wie er tief ein und aus atmete, und dann hörte ich ihn sagen:,,Meine Eltern sind tot.“ Sofort hörte ich auf mit den rum stochern. Ich hielt den Atem an und sah ihn an. Er sah mich auch an, trotzdem erkannte ich nichts in seinen Augen. Vollkommen ausdruckslos. ,,Danach bin ich zum Emo geworden, und dann wurde ich als Schwuchtel bezeichnet. Und erst dann hab ich mich angefangen zu…ritzen.“ Bei dem Wort baute sich Hass in mir auf. Wie ich es verabscheute. ,,Warum zeigst du es so offen?“, fragte ich ihn und runzelte die Stirn. ,,Mh, hört sich komisch an, aber naja. Was ist das Klischee von einem Emo? Schwul und Selbstverletzung. So, also dachte ich mir: gibst du ihnen was sie wollen. Und jetzt bin ich hier, und hab dich kennengelernt.“ Okay, ab diesem Moment konnte ich wirklich nicht mehr atmen. Was meinte er damit? ,,Achso, ok. Warum hast du das Klischee erfüllt? Ich meine, damit hast du ihnen doch gezeigt, dass sie gewonnen haben.“ Ich sah ihn immer noch an, wobei mir auffiel das er dunkelblaue, ja fast Mitternacht blaue Augen hatte. Irgendwie konnte ich mich so schön darin verlieren. ,,Sie haben nicht gewonnen. Hätten sie gewonnen, hätte ich mich umgebracht.“ ,,Sag nicht sowas. Bitte.“ Auf einmal wurde ich traurig. Ich wollte nicht hören wie jemand so was sagt. Sofort dachte ich an meinen Suizidversuch, der nicht so ganz geklappt hatte. Denn ich war immer noch hier, saß hier und unterhielt mich mit ihm. ,,Komm mal mit!“, forderte er mich auf und fasste mich an die Hand. Er rannte (ja, er rannte) mit mir durch den Essenssaal, hoch zu den Zimmern, meine Hand fest umklammert.

Er führte mich in den Jungstrackt, wo wir dann langsamer wurden. Beim Zimmer Hundertelf blieb er stehen, und öffnete die Tür mit seinem Schlüssel. ,,So, willkommen in meinem Zimmer.“, sagte er und wedelte mit den Armen in Richtung Bett. Die Zimmer der Jungs sahen genauso aus wie bei den Mädchen. War ja klar. Wir setzten uns auf sein Bett, das rechte. Doch er stand wieder auf und holte etwas aus seinem Nachttischchen heraus. Es war eine schwarze, einfache Schachtel. Er legte sie mir auf den Schoß, und bat mich, sie zu öffnen. Für manche scheint der Inhalt dieser Schachtel fruchtbar zu sein, wenn nicht sogar verstörend und erschreckend. Doch für mich war er, wie soll ich sagen, normal. In der Schachtel befanden sich fünf Klingen, die glänzten und sehr sauber waren, zwei Cuttermesser, Taschentücher, Pflaster, Verbände, eine Schere und Desinfektionsmittel. Ich hatte ja schon einiges an Zeug gesehen, mit den man sich verletzen kann, aber das erschreckte mich trotzdem ein wenig. Sonst sah ich solche Gegenstände nur auf Bildern im Internet, aber jetzt saß ich hier, hielt sie in der Hand und neben mir saß derjenige, den diese Dinge gehörten. Ich nahm ein Cuttermesser in die Hand und berührte sachte die scharfe Kante mit den Fingerspitzen… Was für eine Verlockung. Doch ich legte das Messer wieder rein und schloss die Schachtel. ,,Wieso zeigst du mir das?“, fragte ich Luca und sah ihm in die Augen. ,,Ich…ich möchte dass du sie mit nimmst und irgendwo versteckst, oder weg wirfst oder so. Ich will das nicht mehr hier haben. Würdest du das tun?“ In zwei Sekunden ging ich alle Möglichkeiten durch. Die erste war, das ich sie mit nehme und mich dann mit den Sachen noch verletze, und dann abgebe. Die zweite, dass ich sie mitnehme und behalte und irgendwann abgebe oder mich damit verletze. Die dritte war das ich sie mitnehme und gleich verstecke oder einfach weg bringe. Und die vierte war das ich sie ihn hier lasse, weil ich kein Risiko eingehen kann. Doch trotz der vierten Möglichkeit sagte ich:,,Ok. Ich nehme sie mit… Dann hast wenigstens du das Zeug weg.“ Und mit diesen Worten stand ich auf, und wollte gehen, doch Luca hielt mich fest, zog mich zu ihm rum und umarmte mich. ,,Danke.“, hörte ich ihn sagen, und ging dann wie in Trance, weil ich nie erwartet hätte das er mich je umarmen würde, aus dem Zimmer.

Ich lief die Treppen runter, und ging vor zur Information, wo die ,,nette“ Frau hinter dem Glas saß. Ich klopfte an  und sagte wie immer meinen Namen. ,,Ja, was möchtest du denn?“, fragte sie und lächelte. Während sie das tat, verschob sich ihre schwarze Brille und ihr Gesicht trat in Falten. Grässlich. ,,Ich wollte fragen, ob ich vielleicht für eine halbe Stunde Ausgang haben dürfte. Ich möchte nur etwas spazieren.“ Ich hielt die Schachtel unauffällig hinter meinen Rücken versteckt, während die Frau in den Unterlagen blätterte. Sie nickte, aber erinnerte mich noch mal an meine Sprechstunde um vier. ,,Okay, danke, tschüss.“, sagte ich schnell, und wartete einen Moment bis sie das Haupttor öffnete. 

Endlich konnte ich wieder raus, nach Tagelangen Aufenthalt in der Anstalt, endlich wieder blauer Himmel, Wind, und die Wärme der Sonne spüren. Ich hörte die Vögel zwitschern und wie das Gras leise rauschte. Die Schachtel immer noch fest umklammert lief ich den gepflasterten Weg bis zum Tor und trat dann auf den Fußweg. Ach ja…jetzt einfach abhauen. Einfach irgendwo ins Nirgendwo. Einfach weg hier, weg von allem hier. Einfach alleine sein. Das wär’s jetzt. Ich schlenderte den Fußweg etwa zehn Minuten entlang, bis ich auf einen Feldweg abbog. Ich kannte mich hier nicht aus, also hatte ich ziemlich Angst dass ich mich verlaufen würde, doch das hielt mich nicht von meinem ,,Auftrag“ ab. Also lief ich einfach weiter, immer der Sonne entgegen. An diesem 21. Juli war es sehr warm, doch ich hatte eh Hotpants und ein Top an. Ich hatte meine  Schnitte versucht mit Make-Up ab zudecken, doch leider ist mir das nicht wirklich gelungen. Also hab ich beschlossen, dass es mir egal ist wer meine Schnitte sieht. Wir sind eh alle hier ein bisschen verrückt. Und bei dieser Hitze mit Jogginghose rumzulaufen, konnte ich mir einfach nicht antun. Zwar hab ich in meinem Tagebuch geschrieben, dass es mir nicht egal war ob jemand die Schnitte sieht…Aber wie gesagt, bei dem Wetter! Außerdem hatte ich heute meine Sprechstunde, und da musste ich Frau Seerein einfach zeigen, dass es mir doch noch nicht wieder gut ging, weil ich  es nicht in Worte fassen konnte.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten blieb ich stehen und sah mich um. Die Felder waren gut bewachsen und die Landschaft sah wirklich schön aus. Ich entschloss mich, die Schachtel noch nicht hier zu verstecken, sondern lief noch ungefähr zehn Minuten weiter, bis ich  schon den Rand eines Waldes sah. Ich blieb stehen und öffnete die Schachtel. Die Klingen glitzerten und das Licht blendete mich. Ich nahm das Cutter Messer und hielt es an meinen Unterarm. Es war so verlockend. Einfach hier draußen zu sterben…Niemand könnte mich retten. Aber ich durfte nicht… aber, obwohl. Wieso sollte ich denn noch leben? Wegen Felix? Benny? Annabell, Mara, Vanessa oder vielleicht auch Luca? Ich kam mir trotz allen zu wertlos vor… Als würde mich eh keiner brauchen, da ich eh nur Scheiße baute. Ich fühlte mich so, als wäre ich nur noch eine Last für alle, mit meinen Problemen. Also hey, wieso nicht aufgeben? Ich schloss die Schachtel und warf sie mit einem letzten Blick auf das Feld. Leb wohl. Doch das Cutter Messer behielt ich bei mir. Ein letzter Blick auf mein Handy, und vor allem auf die Uhrzeit, erschreckte mich. Ich war schon  35 Minuten draußen. Eigentlich hatte ich nur eine halbe Stunde angegeben. Okay, das würde Ärger geben. Ich kniff die Augen zusammen und warf das Cutter Messer auch auf das Feld. Sofort entfernte sich der Druck von meinem Herzen, von dem ich nicht wusste woher er kam. Ich glaube, weil ich vor hatte mich auszulöschen. Dann nahm ich die Beine in die Hand, dachte nicht nach und rann einfach den Feldweg entlang, wieder runter zur Straße. Ich stolperte fast über etliche Steine und mein Herz schlug immer schneller. Es fühlte sich komischerweise echt gut an, sich mal so auszupowern.

Als ich der Straße immer näher kam, verlangsamte ich  meinen Schritt. Joggend lief ich die Straße entlang, bis ich wieder vor dem Haupttor der Anstalt stand. Bis hier hin hab ich wieder fünfzehn Minuten gebraucht. Aber egal, ich wusste nicht mal ob ich total Ärger bekommen würde. Ich klingelte, und die Frau öffnete mir die Tür und schaute mich schon so grimmig an. ,,Wo warst du denn? Du hast gesagt eine halbe Stunde!“, gaffte sie mich an. Ich trat ein und blieb vor der Glaswand stehen. ,,Tut mir leid, ich hab die Zeit aus den Augen verloren.“, sagte ich schnell und lief weg, bevor sie noch irgendetwas sagen konnte.

 

 

Entweder - oder

Und wieder setzte ich mich auf den braunen Ledersessel, als es um vier war. Frau Seerein begrüßte mich lächelnd. Ich hasste es wenn sie meine Schnitte sah, obwohl ich versucht hatte sie abzudecken. Ich weiß auch nicht, sie lächelte zwar, aber verzog immer so komisch ihr Gesicht, als wenn sie mich versteht aber auch enttäuscht von mir ist. So aus der Erinnerung heraus kann ich das nicht mehr so gut beschreiben, aber dieser Blick störte mich einfach. Ich setzte mich also hin und wartete ab. Frau Seerein las irgendetwas in ihren Unterlagen, und fragte dann:,,Also, Luna, wie geht es dir heute? Oder soll ich das lieber nicht fragen?“ Sie guckte immer noch so. Grässlich. Ich schaute kurz auf mein Bein und sah ihr dann ins Gesicht. ,,Naja, ich habe heute einen Kumpel einen Gefallen getan. Ich habe seine Klingen weggeworfen.“, erzählte ich und zuppelte an dem Ende meines Tops herum. Ich hörte wie sie sich wieder etwas aufschrieb. ,,Das ist doch schön. Ich habe dir letztens ein Tagebuch gegeben, hast du schon etwas rein geschrieben?“, fragte sie, während sie mich wahrscheinlich wieder super freundlich ansah. Ich nickte bloß. ,,Wann hast du dich das letzte Mal geschnitten?“ Ich hielt die Luft an. Das hatte sie mich lange nicht gefragt. Meine Hand ballte sich zu einer Faust und ich rieb über die Schnitte, weil sie fürchterlich juckten. Ich zuckte mit den Schultern, obwohl ich es eigentlich genau wusste wann das letzte Mal war. ,,Es war diese Nacht“, flüsterte ich und schaute wieder hoch. Sie nickte und lehnte sich zurück. ,,Weißt du, eine junge Frau hat hier angerufen, sie wollte fragen wie es dir geht. Sie hatte gesagt sie wäre eine Krankenschwester die dich betreut hatte.“, erzählte sie mir. Meine Laune machte einen sofortigen Aufstieg um 50%. ,,Marissa?!“, fragte ich aufgeregt. ,,Ja, so hieß sie. Sie hat ihre Handynummer da gelassen. Du kannst sie gerne zurück rufen.“ Sie hielt mir einen kleinen Zettel hin, auf dem sich eine Nummer befand. Ich steckte ihn in meine Hosentasche und freute mich schon riesig sie anzurufen. Warum wusste ich nicht. Es war einfach mal schön mit jemand anderen zu reden als Frau Seerein, Annabell oder Luca.   ,,Also, wie soll es jetzt mit dir weiter gehen? Hast du eine Verbesserung deiner Laune festgestellt?“, fragte sie mich nach ein paar Minuten. ,,Mmh… Ich glaube schon. Vor allem weil ich ja hier einen Jungen kennengelernt habe der eigentlich ganz nett ist.“ Ich versuchte zu lächeln, was mir sogar etwas gelang. Sie nickte zufrieden und schnappte auf einmal nach Luft:,,Mir ist etwas eingefallen. Mir hat ein Jugendlicher heute gesagt, dass du jemanden verprügelt hättest, weil er ein Mädchen geschlagen hat, angeblich seine Freundin. Stimmt das?“ Scheiße. Welcher Mistkerl war das?! Ich meine, ich konnte nicht glauben dass es Luca gewesen sein konnte, das traute ich ihm nicht zu. Irgendeiner musste es also noch gesehen haben. Ich starrte wieder nach unten, und suchte panisch nach einer guten Antwort. Doch als ich auf meine Beine sah sprang ich sofort auf und presste meine Hände auf meine Oberschenkel – Die Schnitte waren aufgegangen als ich mich gejuckt hatte. Aber nur einige, die noch am frischesten waren. ,,Ouh Luna beruhige dich, ich hole schnell einen Arzt!“, sagte sie und lief zügig aus dem Sprechzimmer hinaus. Das Blut sickerte durch meine Feinstrumpfhose und lief mein Bein entlang. Viele kleine rote Punkte quollen aus den Schnitten heraus, und ich fragte mich wie das überhaupt gehen kann. Die Schmerzen überrannten mich und ich fiel zu Boden. Mist - wie konnte das passieren?! Als der Arzt mein Bein verbunden hatte und gegangen war, stand ich immer noch unter Schock. Verdammte Klinge!!! Ich glaubte damals es waren die tiefsten Schnitte die aufgegangen waren, aber wahrscheinlich hatte ich nicht gemerkt wie viel Druck ich mit meinen Kratzen auf die Wunden ausgeübt hatte. ,,Okay nach diesem kleinen, unschönen Vorfall möchte ich trotzdem das du meine Frage beantwortest: Stimmt es oder nicht?“, fragte Frau Seerein und sah mir prüfend in die Augen. Was solls, ich musste eh die Wahrheit sagen. ,,Ja, es stimmt… Aber ich kann doch nicht meine Freundin bei diesen Typen lassen! Sie wäre noch daran kaputt gegangen! Es tut mir leid, so was passiert nie wieder.“ Ich versuchte so verzweifelt wie möglich zu klingen, obwohl es mir gar nicht leid tat. ,,Es ist nicht so schlimm. Als erwachsene Person muss ich dir sagen, dass es falsch war was du getan hast. Aber als deine Therapeutin sage ich dir, das du natürlich damit deiner Freundin geholfen hast und das somit korrekt war. Aber bitte unterlasse das.“ Sie sah mich mit einem strengen aber auch gutmütigen Blick an… mmh diese Blicke machten mich noch verrückt, ich kann sie so schlecht erklären. Ich konnte mich nicht auf diese Prügelei konzentrieren, weil ich immer noch an das ganze Blut und den Schmerz von eben denken musste. Ja, vielleicht fand ich die Schmerzen auf der einen Seite auch schön, aber ich hatte so einen Druck auf den Herzen. Und ich wusste immer noch nicht woher der kam. ,,Okay…“, ich atmete tief ein und aus und strich über den Verband, ,,Ich verspreche das ich es sein lasse. Aber ich… ich weiß nicht. Ich habe nachdem ich das ganze Blut gesehen hatte und an das schneiden denken musste so einen Druck auf den Herzen…“, flüsterte ich und ließ meine Hand ruhig auf den Verband liegen. ,,Hast du jemanden versprochen aufzuhören?“, fragte Frau Seerein mich nach einer Weile. ,,Nein… Ich habe nur gesagt ich versuche es.“, antwortete ich leise. Meine Stimme hatte  an Kraft verloren, warum auch immer. ,,Ich glaube das ist das schlechte Gewissen, oder täusche ich mich da? Hast du dich schlecht gefühlt, weil du Schmerzen hattest, oder hast?“, fragte sie mich ruhig und freundlich, wie immer eigentlich. ,,Nein. Die Schmerzen waren…schön. Bloß der Gedanke, dass die Schnitte wieder aufgegangen waren, oder der bloße Gedanke daran es wieder zu tun… ja, ich glaube das bereitet mir ein schlechtes Gewissen.“ Und damit sagte ich die volle Wahrheit. Ich freute mich innerlich über die Schmerzen wie ein kleines Kind über ein Eis. Ich hatte mir damit genug wehgetan, mir genug Elend zu gefügt. Ich hatte es ja nicht anders verdient… dachte ich. Aber ich glaube damals, in diesem Moment, war mir eh alles egal. ,,Okay. Versuche einfach daran zu denken wenn du dich das nächste Mal verletzen willst. Gibt es noch irgendetwas, was du mir sagen möchtest? Denn unsere Zeit ist durch deinen kleinen Unfall vorhin etwas eigeschränkt wurden.“ Ich überlegte einen Moment, und antwortete dann:,,Ja. Ich bin froh hier zu sein. Irgendwie. Auf Wiedersehen!“ Und mit diesen Worten stand ich auf und humpelte (wegen des Schmerzes) zur Tür hinaus, wo ich überraschender Weise schon ein bekanntes Gesicht sah.

,,Luca, hey!“, sagte ich und humpelte auf ihn zu. Ich stützte mich mit einer Hand auf seiner Schulter ab und lehnte mich gegen die Wand. Wie ein schneller Blick auf mein Handy mir verriet, war es um fünf, also bald Zeit für’s Abendbrot. ,,Hey. Ich wollte dich abholen. Wie war die Sprechstunde?“, fragte er mich und versuchte mich anzulächeln. Ich fuhr mit meiner freien Hand über seinen Arm, seine Schnitte und seine Narben. Die Schnitte waren wunderschön. ,,Naja, ganz ok. Irgendein Spast hat erzählt das ich den Ex von Annabell verprügelt hab. Und meine Wunden sind aufgegangen… Aber ich glaube es hat was gebracht. Denke ich.“ Luca schnaubte und stellte sich auf einmal vor mich und stemmte seine Arme gegen die Wand, sodass unsere Gesichter nur 20 Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich blickte in seine schönen, dunklen Augen und versank wieder einmal darin. Er legte seinen Kopf etwas schräg und kam noch näher an mich heran. ,,Versprich mir einfach… Dass du es versuchst erst mal deine Klingen weg zu schmeißen… Bitte.“ Dann kam er noch einige Zentimeter auf mich zu. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Wange und starrte immer noch in seine Augen. Sein Blick war auf meine Lippen gerichtet, der manchmal auch zu meinen Augen abschweifte. ,,Ich weiß nicht ob ich das kann.“, flüsterte ich und lehnte meine Stirn gegen seine. Ich war mir nicht sicher, ob es zu einem Kuss kommen würde… weil ich ihn nicht einschätzen konnte. Und genau das sollte irgendwann mein Fehler werden. ,,Doch kannst du. Mach’s für Benny oder so.“ Ich zuckte mit den Schultern. Er fuhr langsam mit seinen Händen zu meiner Hüfte runter und zog sich näher an mich. ,,Darf ich?“, fragte er und kam noch ein kleines Stückchen näher an mein Gesicht heran. ,,Ich bin es nicht wert.“, flüsterte ich und wand mich aus seinem leichten Griff. ,,Ich bin es nicht wert. Tut mir leid.“, wiederholte ich, drehte mich um und wollte gehen, doch er hielt mich fest, drehte mich zu sich um und gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange. ,,Doch. Bist du.“, sagte er und ließ mich dann los. Ich spürte wie eine kalte Träne über meine Wange rollte, und wischte sie schnell weg. Danach ging ich mit Herzklopfen die Treppe hinauf, drehte mich ein letztes Mal um, doch Luca war weg. Wahrscheinlich war er auch zu seiner Sprechstunde. Mit zitternden Knien trat ich in mein Zimmer ein, in dem Annabell saß. Sie las gerade ein Buch, ich weiß nicht mehr welches es war. ,,Hey.“, begrüßte ich sie und setzte mich auf mein Bett. Ich nahm mir mein Handy vor und schrieb Benny eine SMS, wie es ihm und den anderen denn ginge. ,,Luna?“, fragte Annabell nach einer Weile und setzte sich neben mich auf mein Bett. ,,Ja, was ist denn?“, fragte ich und setzte mich im Schneidersitz auf das Bett, sodass ich sie ansehen konnte. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Unterarme, die von Schnitten und Narben übersät waren. ,,Ich möchte die Klinik verlassen.“, sagte sie nach ein paar Minuten. Es schien schwer für sie zu sein es auszusprechen, weil sie kurz davor war zu weinen. Sofort wurde mir mulmig, und ich fand die Idee echt scheiße. ,,Wieso?!“, fragte ich entsetzt und riss die Augen auf. ,,Ich… ich kann das alles nicht mehr. Ich hau ab.“, flüsterte sie verzweifelt. Ihre Tränen tropften auf ihr T-Shirt und brachten graue Flecken auf ihr Oberteil. Okay, das war zu viel. ,,Sag mal spinnst du?! Du kannst nicht einfach abhauen! Du brauchst die Hilfe, und das weißt du auch.“, ich versuchte sachlich zu bleiben, nicht auszurasten. Und das fiel mir verdammt schwer. 
Und dann sagte ich das, was ich einfach sagen musste. ,,Hör mal. Ich habe versucht mich umzubringen! Ich habe den Tod vor dem eigenen Auge gesehen. Ich war immer ziemlich verwöhnt, bin so welche Verhältnisse hier nicht gewöhnt. Ich habe Freunde verloren, musste einen Typen verprügeln. Ich wollte nur noch sterben. Und das will ich heute wahrscheinlich auch noch… und wenn ich das durch stehe, dann bleib bitte auch du hier!“ Sie musterte mich und ihr Blick wurde weicher. ,,Du hast Recht… aber ich muss noch nachdenken.“ Und somit war das Gespräch kurzzeitig beendet, und ich hoffte einfach von ganzem Herzen das sie hier bleiben würde. Dass ich die nächsten Wochen aufwache und sie immer noch friedlich in ihrem Bett liegt. Ich hoffte es einfach so sehr, denn sie war einfach eine gute Freundin hier, die Hilfe brauchte, genauso wie ich. Und wenn sie gehen würde, würde mich das total entmutigen, und außerdem wollte ich sie nicht verlieren… Sie musste einfach bleiben. Es ging gar nicht anders. Sie setzte sich wieder zurück auf ihr Bett. Benny hatte mir immer noch nicht geantwortet.

,,Was bringt dir das?“, fragte ich nach einer Weile. Sie schaute auf und sah mir in die Augen. ,,Ich sagte doch, ich will ernst genommen werden. Und meine Eltern verstehen es immer noch nicht. Ich weiß nicht was ich noch machen soll!“, antwortete sie, und schaute wieder aus dem Fenster. ,,Komm schon, meine Eltern mögen mich immer noch nicht, sogar noch weniger. Glaubst du so erlangst du Respekt, oder Ansehen, oder Aufmerksamkeit? Ja, Aufmerksamkeit vielleicht, aber ich meine was willst du denn da draußen? Willst du verhungern, verdursten, einfach sterben? Das könntest du auch leichter tun. Sie werden nach dir suchen, klar. Aber was ist denn danach? Dann hast du keinen Respekt, den du so unbedingt willst. Das ist einfach nur scheiße so was.“, erklärte ich, während meine Stimmung immer aggressiver wurde, was ich aber versuchte nicht so zu zeigen. Annabell guckte mich verdutzt an. ,,Okay… Ich will mich nicht mit dir streiten, ja? Ich meine es wäre so viel Freiheit da draußen… unfassbar.“, murmelte sie verlegen. ,,Klar, Freiheit…“, grummelte ich, stand auf und verließ schnell und wütend das Zimmer. Freiheit… Tzz, die wollte Pascal mit seiner Aktion bestimmt auch nur. Und dann erinnerte ich mich wieder an das Gespräch jener Nacht, in der ich mich umbringen wollte. Er sagte, dass ich gehen sollte, zwar nur auf eine andere Schule, aber er sagte ich solle gehen… bestimmt war ich eh nur eine Last für ihn. Aber in der ganzen Zeit hatte ich gelernt, Menschen leicht aus meinem Leben zu verbannen. Und das war auch gut so.

Ich lief die Treppen runter ins Erdgeschoss, und wollte gerade zum Essenssaal gehen, als ich eine Tür hörte, und meinen Name gerufen wurde. Mist, Luca… Ich drehte mich um und blieb stehen. ,,Hey… hattest du Therapie?“, fragte ich und versuchte damit gleich auf ein anderes Thema abzuschweifen. ,,Ja. Was sollte das vorhin? Mit dem ‚Ich bin es nicht wert‘?“ Natürlich ließ es sich nicht ablenken, war ja klar. ,,Naja, dass ich es einfach nicht wert bin. Ich mache alle Menschen in meiner Umgebung kaputt.“, sagte ich und sah ihm dabei in die Augen, damit er wusste, dass es ernst gemeint war. ,,Tzzz.“, er grinste. ,,Mich kannst du nicht mehr kaputt machen. Aber die Gründe für's Schneiden sind zu wenig zum Sterben und zu viele zum Leben… Bis ich dich kennenlernte.“ Er schaute mich verlegen an. Nein, nein, nein, nein. Bitte kein Liebesgeständnis. Das brauch ich jetzt echt nicht. ,,Nein… Sag nicht du bist in…“, fing ich an zu reden, doch ich führte den Satz nicht zu Ende. Es hörte sich komisch an. ,,Doch. Ich denke ich hab mich in dich…“ ,,Nein. Hör auf. Hör auf ok? Mich sollte man nicht lieben, verstehst du? Am Ende bin ich  dann eh eine Bitch.“, unterbrach ich ihn. Ich wollte das nicht. Das funktionierte doch nicht! ,,Ich bin nicht wie die anderen…“, sagte er leise und sah mir in die Augen. ,,Das hatte mein einer Ex auch gesagt. Er sagte, dass er kein Arschloch wäre, dass er keine Mädchen verarscht… Und am Ende war ich das Mädchen bei dem er diese Sachen wohl ausprobiert hat.“ Damals wusste ich nicht, ob ich jetzt lachen oder weinen sollte. Ich entschied mich für keines von beiden. ,,Aber bitte… versteh mich doch… Ich kann doch nix für die anderen Jungs die du hattest!“, sagte er verzweifelt und ging auf mich zu. ,,Bitte. Lass es mich versuchen. Und wenn du nichts spürst, dann soll es halt nicht sein.“
Ich schüttelte leicht mit dem Kopf.
,,C’est la vie, sagte der Clown und malte sich sein Lächeln ins Gesicht.“, flüsterte ich, und küsste ihn.

 

Danke Welt, du zeigst mir, wie wenig ich wert bin!
     Zeit ist Geld und kostet lediglich Nerven.
Tzz, seltsam was für Scheiße passiert,
wenn alles was du denkst das wir gehört,
einbricht und stirbt!
Ich stell mir vor das es Liebe gibt,
und sie wartet nun,
unter Eis verschlossen,
hofft auf den ersten Atemzug!

- Casper - Herz aus Holz

Tagebucheintrag 2

Liebes Tagebuch,

bei diesem Eintrag wollte ich mich eigentlich ziemlich kurz fassen, doch ich weiß nicht ob das was wird.

Also, sagen wir es mal so. Es ist der 25. Juli, Donnerstag. Es ist abends so ungefähr um elf. Und ich liege hier im Bett und versuche einen ordentlichen Eintrag zu verfassen. Also, ich bin mir nicht sicher, was das zwischen Luca und mir ist. Es ist klar, ich hab ihn echt gern, aber ich glaube wir beide wissen, dass wir keine Lust darauf haben verletzt zu werden, deshalb sind wir uns noch nicht so richtig einig ob das jetzt schon eine ordentliche Beziehung ist. Wobei er einfach perfekt ist. Er ist genauso kaputt wie ich, soviel steht schon mal fest. Aber immer wenn ich morgens aus dem Bad komme, lehnt er schon an der Wand und begrüßt mich mit einer einfachen Umarmung, die einfach schon erheblich meine Stimmung hob. Er wollte andauernd meine Hand halten, und wenn ich ihn nicht sah, umarmte er mich von hinten und albert die ganze Zeit mit mir rum. 
Klar, er ist ein Emo, aber er hat aufgehört sich zu „schminken“ und will seine Haare wieder so färben wie sie mal waren, braun. Ich hatte ihm eigentlich gesagt, dass er das nicht machen braucht, doch er wollte es angeblich auch von sich aus, weil er nicht mehr dem Emo-Image folgen wollte. Ich mag ihn wirklich, und ich hoffe das wird sich nicht ändern. Doch was ist in der Zeit danach? Was ist, wenn ich entlassen werde, oder er schon vor mir entlassen wird? Er wohnt in Leipzig, ich zwei Stunden von Leipzig entfernt. Was ist denn dann? Wir können uns vielleicht einmal im Monat sehen… Ich hatte schon mit ihm darüber geredet, und er sagte immer, dass er sich schon was überlegt hatte, doch er sagte mir nie was. 

Kommen wir zu dem unschönen Thema… Ich habe mich wieder mal verletzt, wieder neue Schnitte. Ich weiß nicht, es liegt nicht daran das ich mit Luca zusammen bin (?!), es liegt einfach an den Umständen. Und zwar die gleichen wie davor. Warum musste das alles mir passieren, ist die Frage die ich mir jedes Mal stelle wenn ich aufstehen will. Warum? Warum ich?

Luca sagte mir ja, ich solle versuchen meine Klinge wegzuschmeißen… ich sag nur so viel: es hat nicht geklappt. Annabell spinnt immer noch mit dem Gedanken herum abzuhauen, aber ich glaube ich konnte sie schon etwas umstimmen, und die Chance scheint sehr gering, dass sie tatsächlich abhaut… obwohl ich sie in der Hinsicht nicht richtig einschätzen kann, denn ihre Selbstverletzung ließ nicht wirklich nach.

Was mit mir ist, meinen Gefühlen? Ich weiß nicht ob es absurd ist, einen Freund (?!) in einer Psychiatrie zu haben, vor allem nach so kurzer Zeit der Trennung. Wie gesagt, er hat sich echt in meinem Herzen fest gesetzt, das ist mir vollkommen klar, und er mag mich auch wirklich. Diese ganze Sache macht mich ja auch nicht sonderlich kaputt, bloß ich komm mir wie eine Schlampe vor.

Ich meine, vielleicht hatte mein Ex ja Recht.

Vielleicht, aber nur vielleicht, hätte ich damals doch sterben sollen.

Vielleicht.

Vermissen?

Ich war gerade dabei meine Klinge wieder in mein Versteck zu tun, als jemand an die Tür klopfte. ,,Ja, herein.“, sagte ich noch etwas verschwommen von gerade eben. ,,Luna Wielforst?“, fragte die etwas dickere Frau, die von ihrer Kleidung her zu urteilen hier arbeitete. ,,Ja, das bin ich.“, sagte ich und versuchte etwas klarer zu klingen. ,,Sie sollen bitte runter zur Information, eine Krankenschwester hat hier angerufen.“ Scheiße!!!! Marissa!!!!  
Ich lief schnell aus meinem Zimmer raus und rannte total in Luca hinein. ,,Hey Süße was ist denn?“, fragte er und legte seine Hände um meine Hüfte. ,,Ich muss schnell Marissa anrufen, ich habe total vergessen mich bei ihr zu melden, so eine Scheiße!“, erklärte ich ihm. Natürlich hatte ich ihn in den Tagen schon vieles erzählt, was im Krankenhaus war, was mit meinen „Freunden“ ist, und mit den Leuten in meiner Schule. Ich wollte schnell weiter, doch er hielt mich fest zog mich sachte zu sich heran und gab mir einen leichten Kuss. Ich musste grinsen und meine trüben Augen füllten sich wieder etwas mit Licht. Er drückte mich an sich und flüsterte ,,Ich liebe dich.“ In mein Ohr.
Das liebte ich so an ihm. Egal was war, er hatte immer Zeit für eine Umarmung, oder einen Kuss, oder ein kurzes, liebes Gespräch. Er wollte immer irgendwie meine Nähe spüren, also nichts stark körperliches, oder gar Perverses, eher so diese ruhige, sanfte Art. Und das war absolut unwiderstehlich an ihm. Irgendwie war es anders als bei den anderen Beziehungen… wir konnten nie ohne uns. Wir mussten uns immer anlächeln, auch wenn es nur Händchenhalten war und ich spürte somit das jemand da war, egal was passierte. Und das war in dieser Zeit absolut wichtig. Auch wenn dieser Ort unpassend war.
Da wir sehr nahe an der Treppe standen, drängelte sich die dickere Frau an uns vorbei und meckerte:,,Das ist hier eine Hilfsanstalt und keine Partnervermittlung!“ Ich musste nachdenken. Ja, klar. Es war irgendwie schon komisch und verwirrend… aber meine Probleme schieben sich damit immer mehr in den Hintergrund, das hatte Frau Seerein (die meine „Beziehung“ sehr unterstützte) auch schon mit bekommen. Ich dachte nach, Luca lachte, irgendwie komisch wir zwei, aber egal. Ich löste mich von seinem Griff und stürmte die Treppe hinunter, wobei mich andere Patienten ziemlich komisch anguckten. Ich lief an die Information und erklärte die Situation. Sofort gab sie mir den Hörer und ich wählte die Nummer die auf dem Zettel stand, den ich immer in meiner Hosentasche trug. Es klingelte zwei Mal, dann hob Marissa ab. Sofort erinnerte ich mich wieder an ihre freundliche Stimme, und hatte ihr Gesicht vor Augen. 
,,Hallo?“, meldete sich Marissa.
,,Hey, hier ist Luna Wielforst, ich rufe aus der Klinik an.“
,,Oh, hi Luna! Wie geht’s dir?“
,,Für die ganzen Umstände… relativ gut. Dir?“
,,Mir geht es super! Ich bin verlobt!“
,,Ouh wie schön. Tut mir leid das ich mich so spät erst melde."
,,Ach naja nicht so schlimm. Wie kommst du mit der Therapie voran?“
,,Naja, ich hab noch nicht geschafft aufzuhören… aber es bessert sich. Ich habe einen Jungen kennengelernt.“
,,Naja, das wird schon, glaub mir. Wie heißt der Junge, ist er süß?!“
,,Ja, er ist echt toll. Wie hat er denn den Heiratsantrag gemacht?“
,,Das ist doch schön. Naja, ich kam von der Arbeit, und im Flur lagen schon Blütenblätter, die ins Wohnzimmer führten. Und da stand er dann ganz schüchtern, hat sich vor mich gekniet und mir wundervoll einen Antrag gemacht.“
,,Ein richtiger Traummann, hä?“
,,Ja klar... du kennst ja unsere Geschichte. Und sonst so, alles ok da in der Klinik?"
,,Ja... Naja, ist ja nicht so als würdeich es hier komplett hassen, aber ich fühle mich hier mega unwohl."
,,Kann ich mir vorstellen. Hey, ähm ich muss jetzt los, ich muss noch Einkäufe machen. Wäre schön wenn wir mal wieder telefonieren könnten."
,,Okay, ist gut. Bis irgendwann, man sieht sich."

Ich legte auf. Sie klang total glücklich. Es war, als würde ich mit einer alten Freundin telefonieren, das natürlich nicht so war. Ich drehte mich um und wollte wieder nach oben gehen, um mit Annabell zu quatschen, doch an der Wand lehnte Luca. Ich lief zu ihm hin und stellte mich vor ihn. ,,Und, gibt's was neues Kleine?", fragte er und zog mich zu sich ran. ,,Ja, Marissa, die Krankenschwester, ist verlobt!", teilte ich ihm fröhlich mit. ,,Wie geht's mit deiner Therapie voran, Schatz?", fragte ich ihn und gab ihn eine kurzen Kuss. Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln (das ich liebte) und blinzelte mich an. ,,Ja, es ist ganz ok. Da ich aber neue Klingen hab... ich weiß auch nicht. Es ist zu einfach. Es ist alles zu einfach.", murmelte er und sah mir in die Augen. ,,Der Tod... der Tod ist nicht einfach. Ich weiß es.", flüsterte ich und er beugte sich zu mir vor, und küsste mich. Nach einen langen, schönen Kuss antwortete er:,,Ich bin froh das der Tod für dich so schwer war. Sonst wärst du jetzt nicht hier." Irgendwie klang das ja schon scheiße, aber ich wusste wie es gemeint war, und lächelte ihn deshalb nur mit meinem schönsten Lächeln an. Er grinste und sagte, er müsse jetzt zu seinem Kurs. Ich ließ ihn gehen und ging auf mein Zimmer. Wie erwartet war Annabell in unsrem Zimmer und räumte gerade ein paar Sachen in ihren Schrank. ,,Warst du Wäsche waschen?", fragte ich, setzte mich auf mein Bett und las eine SMS von Mara: 'Hey Süße wie geht's dir? Schlägt die Therapie an? Sry das ich dich nicht besuchen kommen kann.' ,,Ja. Sag mal du und Luca, was ist das eigentlich zwischen euch?", fragte sie. Das erste Mal das sie danach fragte, was unnormal war. Ich lachte. ,,Ich weiß es nicht. Irgendwie fanden wir es komisch eine Beziehung in einer Psychiatrie anzufangen. Also naja keine Ahnung. Wir lieben uns ja, aber was das zwischen uns ist, das wissen wir nicht. Ich meine was ist denn nach dem Aufenthalt hier? Er wohnt zwei Stunden entfernt!", sagte ich und ließ mich nach hinten fallen. ,,Ja ist mir schon klar, ich meine ja klar, was ist danach. Das ist die Frage.", sie setzte sich auch und sah mich an. Ich fuhr mir durch meine offenen Haare und antwortete schnell auf Mara's SMS: 'Mir geht es relativ ok. Die Therapie wirkt und ich habe einen tollen Jungen kennengelernt. Ist schon ok, so lange geht die Therapie ja nicht mehr. Frau Seerein sagte es wären noch vier Wochen.' ,,Wie lange Zeit habt ihr denn noch?", fragte Annabell nach einer Weile. ,,Ich bleibe noch vier Wochen. Wie lange er noch bleibt... niemand weiß es. Er hat ziemlich stark Boderline, aber die Ärzte sagen, dass es durch mich besser wird." Ich setzte mich wieder hin und sah das Annabells Gesicht dunkler wurde. ,,Ich bleibe noch zwei Wochen. Ich verletze mich fast gar nicht mehr... ich kann es nicht glauben aber ich denke ich hab es langsam geschafft." Ich atmete tief ein und aus, und sagte mit Tränen in den Augen:,,Ich werde dich vermissen."

 

 

 

 Man lernt im Leben viele Menschen kennen.

Die einen liebt man,
die anderen hasst man.
Die einen vermisst man,
die anderen vergisst man.
Doch was ist eigentlich schlimmer?
Vergessen werden?
Vermisst werden?
Vergessen?
Vermissen?
Ich glaube vergessen ist der einzige Weg zur Gesundheit.
Doch was, wenn man irgendwann zu viel vergisst?
Wenn man gar nicht mehr weiß, 
wie der Name des Jungen war,
mit dem man seinen ersten Kuss hatte?
Wie der Junge aussah,
mit dem man das erste mal zusammen war.
Wie der Junge hieß,von den man mal verarscht wurde?
Irgendwann läuft man dann auf der Straße,
wird angesprochen,
und du weißt nichts mehr von den ganzen Menschen,
die einst so eine große Rolle im Leben gespielt haben.
Doch eigentlich ist es egal.
Menschen kommen und Menschen gehen.
Erinnere dich an den der bleibt, 
und vergesse den der geht
Vermisse.

 

 

Abschied

Drei Wochen später, am 22. August, hatte sich nicht viel verändert. Ich ging zu meinen Sprechstunden, zu meinen Kursen, unterhielt mich mit Annabell, küsste Luca, telefonierte mit Mara und traf ab und an mal auf Leon. Frau Seerein sagte zu mir, dass ich mir schon mal Gedanken machen sollte, ob ich mein Abitur mache oder nicht. Meine Antwort war:,,Ich bin 16. Ich hab die 10. Klasse diesen Sommer hinter mir gelassen. Vorher wollte ich ein Abi machen. Heute kann ich da nicht mehr zurück.“ Dann fragte sie mich, was ich mal werden möchte. ,,Friseurin.“, sagte ich. Ich wusste das man damit nicht viel Geld verdient, aber ich wollte das machen was ich liebe. Ich wollte Leute so herrichten, dass sie sich auch mal schön fanden. Also war alles beim Alten, nur eins nicht. Die Ausflüge in die Stadt verbrachte ich nicht mehr damit, mir neue Klingen zu besorgen. Ich trug keine Armbänder mehr. Ich hatte keine Klingen mehr. Ich hatte keine frischen Wunden mehr. Warum?Weil es vor einer Woche bei mir Klick gemacht hat. Einfach so. Einfach einen Schalter umgelegt.Vor einer Woche ist Annabell aus der Klinik gekommen. Wie abgesprochen.Kurz bevor sie anfing, ihre Koffer zu packen, vibrierte mein Handy. Eine SMS von Pascal. Mein Herz machte einen Aussetzer und mir stockte der Atem.

Pascal. Pascal. Pascal. Ich entsperrte den Bildschirm und las mit zitternden Händen die SMS durch.‚Hey Luna… es tut mir so unendlich leid, dich alleine gelassen zu haben. Ich hoffe dir geht es gut. Benny und Felix haben Angst vor dir bekommen. Sie finden, dass du an allem Schuld bist. Aber bitte vergiss niemals, dass du meine kleine Sonne bist. Pascal.‘Ich drehte mich zu Annabell um und zeigte ihr die SMS. ,,Gib mir deine Klinge. Ich weiß dass du noch eine hast.“, forderte ich sie auf, als sie sie fertig gelesen hatte. ,,Was?! Nein!“, entgegnete sie sofort. ,,Spinnst du? Du bist gerade auf Entzug.“, fügte sie hinzu. Ich blickte sie wütend an. ,,Gib sie mir. Bitte.“, versuchte ich sie wenigstens darum zu bitten. Ich wusste wie dumm es war, wieder damit anzufangen. Benny und Felix haben Angst vor dir. Sie finden, dass du an allem Schuld bist.Ich bin Schuld. Ich bin Schuld. Ich bin Schuld. Hämmerte es immer wieder in meinem Kopf. ,,Ich bin Schuld.“, flüsterte ich es, aber so, dass Annabell es hören konnte. ,,Laber keinen Scheiß, du bist nicht schuld. Dein Ex ist schuld. Deine Freunde sind schuld. Aber du, du bist nicht schuld!“, versuchte Annabell mich zu beruhigen. Sie legte ihren Arm auf meine Schulter, aber ich riss ihn weg. In mir stieg die Wut und Trauer auf, die ich die ganze Zeit in mir drin gelassen habe. Zu lange. ,,Du blöde Fotze gib mir sofort die Klinge!!!“, schrie ich sie an und stieß sie gegen die Wand. ,,Sag mal hast du sie noch alle!?“, fragte sie und versuchte wieder Standfestigkeit zu erlangen. Es klopfte an der Tür, aber das ignorierte ich. ,,Siehst du nicht wie scheiße es mir geht!? Ich hab seit Tagen nicht geschlafen und hätte fast ‚ne Pille von Leon genommen! Scheiß man, Entzug ist scheiße!“, schrie ich weiter und stieß sie wieder gegen die Wand. Doch auf einmal wurde ich sachte an der Hüfte genommen, herumgedreht und geküsst. Luca küsste die ganze Wut und Trauer aus mir heraus. Er küsste mir Liebe ins Herz. Er küsste mir die Depressionen aus dem Kopf. Als er aufhörte mich zu küssen, widmete ich mich Annabell. Doch anstatt böse zu schauen, sah sie mich eher mitleidig an. ,,Es tut mir leid… Es ist einfach die Bombe geplatzt.“ Überraschender Weise nahm sie mich in den Arm und drückte mich fest an sich. ,,Ist schon okay… es ist beschissen auf Entzug zu sein. Ich weiß das.“

Danach ging ich zu Luca ins Zimmer.Ich setzte mich auf sein Bett und schaute traurig auf den Boden. Er setzte sich neben mich und schwieg. ,,Warum hab ich das nur gemacht…“, flüsterte ich und legte meinen Kopf auf seine Schulter, doch er zeigt keine Reaktion. ,,Pascal hat mir geschrieben, dass ich schuld bin. Dass ich mir alles zuzuschreiben hab. Scheiße, ich hab meine beste Freundin attackiert. Wegen einer Klinge. Wegen einer beschissenen Klinge!“, sagte ich und legte meine Arme um ihn. Ich brauchte ihn mehr denn je. ,,Ich glaube wir müssen reden.“, fing er an. Mein Herz blieb stehen. Mein Atem stockte. Angst stieg in einer unfassbar schnellen Geschwindigkeit in mir auf. Nein. Nein. Nein. Nein. Nicht jetzt. Nicht hier. Das ertrage ich nicht. Ich rutschte von ihm weg und sah ihn mit Tränen in den Augen an. ,,Was ist?“, fragte ich ihn unter einen Schluchzen. ,,Weißt du, so macht das alles keinen Sinn mehr.“, fuhr er fort. Seine Worte ertönten in meinem Kopf wie ein Echo. Immer und immer wieder.,,Das alles macht keinen Sinn mehr.“, sagte er, und schaute mich immer noch nicht an. Zack. ,,Willst du mich jetzt etwa auch verlassen oder was?! Du mieses kleines Arschloch, du hast gesagt du bist nicht…“, doch er ließ mich nicht ausreden. Er stützte sich auf mich, legte mich sachte auf sein Bett und fing an mich zu küssen. Er fuhr langsam mit seinen Küssen meinen Hals herunter, packte mich an der Hüfte, kehrte wieder zu meinem Mund zurück und verpasste mir meinen ersten Zungenkuss. Es war wunderschön. Es war das wunderschönste dass ich je in meinem Leben gespürt hatte. Nach diesem langen Kuss, wand ich mich kurz aus seiner Umklammerung. ,,Ich versteh nicht, was meintest du damit, dass es keinen Sinn mehr macht?“, hauchte ich, und kurz darauf küsste er mich schon wieder. ,,Es macht ohne dich keinen Sinn mehr.“, flüsterte er zurück. Als er mir unter mein T-Shirt fuhr, setzte ich mich schlagartig auf und drängte ihn zurück. ,,Lass das.“, sagte ich und sah ihn in die Augen. Er schaute mich verwundert an und sagte:,,Ich hab doch noch gar nichts gemacht.“ Ich schüttelte leicht den Kopf. ,,Wir sind erst ein paar Wochen zusammen, ich möchte das nicht.“, erwiderte ich. ,,Schatz, das ist doch nichts schlimmes. Du bist wunderschön.“, lächelte er mich an und legte seine Hände um meine Hüften. ,,Nein es reicht, ok? Akzeptier das.“, blockte ich ab, und schlug seine Hände weg. ,,Ich brauch nicht noch einen Typen der dann sagt dass ich mir jemand anderen zum ficken suchen soll.“, ergänzte ich und stand auf. ,,Wann verstehst du endlich dass ich nicht so bin? Aber nach ein paar Wochen geht so was doch klar.“, sagte er, schon fast wütend. ,,Wenn ich sage nein, dann meine ich das auch! Man ich hab Angst, verstehst du? Angst wieder mal verarscht zu werden! Weil mit mir Schlampe kann man’s ja machen!“, schrie ich ihn an und stürmte aus dem Zimmer, direkt einem Mädchen in die Arme. Ich achtete nicht auf sie, stieß sie zur Seite und rannte in mein Zimmer, das leer war. Ich schaute mich panisch um. Wo war Annabell? Ihre Schränke standen offen, und ihre Koffer lagen offen auf dem Bett. Auf einmal erinnerte ich mich an das Mädchen im Flur. Sofort drehte ich mich um und lief aus dem Zimmer. Der Flur war bis auf eine Krankenschwester leer, also musste Annabell in eines der Jungenzimmer sein. Mein erster Gedanke war Luca. Vielleicht wollte sie mir irgendetwas vorbei bringen. Aber dann hätte sie mich gerufen. Es musste also irgendetwas anderes sein. Also ging ich zu Lucas Zimmer, zögerte kurz, aber klopfte dann. Als ich ein dumpfes ,,Ja?“, hörte, öffnete ich die Tür und schaute hinein. Dort saß ich Luca auf seinem Bett sitzen. Allein. Er schaute mich erstaunt an, und fragte:,,Alles wieder ok?“ Ich antwortete bloß:,,Nein, weil ich keine Hure bin. Hast du Annabell gesehen?“ Eiskalt.,,Boah Mädchen jetzt hör mal zu; weißt du wie viele Mädchen schon am ersten Tag mit ihrem Freund ins Bett gehen? Da bist du noch lange keine Hure, oder sonst was.“, antwortete er. ,,Und nein, ich hab sie nicht gesehen.“, fügte er hinzu. Und ohne ein Wort zu sagen verließ ich das Zimmer. Und gerade als die Tür hinter mir zu fiel, hörte ich noch:,,Verdammte Scheiße...“ Doch ich ignorierte den stechenden Schmerz in meinem Herzen und lief zur nächsten Tür. Ich wurde herein gebeten und von zwei netten Jungs empfangen, doch Annabell war nicht da.Als ich bei der vorletzten Tür angekommen war, hörte ich Annabell dort drinnen reden. ,,Ich wollte mich nur noch von dir verabschieden…“, hörte ich ihre dumpfe Stimme durch die Tür. Von wem wollte sie sich verabschieden? Ohne zu zögern klopfte ich an der Tür. ,,Wer ist da?“, fragte Leon. Leon. ,,Luna. Ich wollte sehen ob Annabell bei dir ist.“, sagte ich, etwas lauter, damit er mich auch hörte. ,,Ja, sie ist hier, komm rein.“, forderte er mich auf. Ich öffnete die Tür, trat einen Schritt vorwärts, schloss die Tür wieder hinter mir und sah wie Annabell und Leon nebeneinander auf dem Bett saßen. ,,Annabell, was machst du da?“, fragte ich.Sie lächelte und sagte, dass sie sich nur von allen verabschieden wollte, und Leon nur noch viel Glück wünschen wollte. Irgendwie erschien mir die Sache komisch, weil sie ihn eigentlich nicht leiden konnte. Doch ich achtete nicht weiter darauf und tapste wieder zurück in unser Zimmer, in dem ich bald alleine sein würde.

Eine halbe Stunde später kam Annabell wieder zurück und packte noch die restlichen Sachen in ihren Koffer. Ich nutzte meine Chance. ,,Annabell... ich weiß dass es vielleicht kindisch klingt, doch als ich gerade bei Luca war, wollte er mir unter's T-Shirt fahren. Ich hab das nicht zugelassen, und erklärte ihm, dass ich Angst hatte wieder verarscht zu werden, woraufhin wir uns gestritten haben.“, erklärte ich die Sache von vorhin. Ohne mich anzuschauen, antwortete sie mir:,,Ich weiß gar nicht wieso Luca da so hart reagiert. Ihr habt doch beide eine schwere Zeit hinter euch. Da hätte er es eigentlich verstehen müssen, wenn er dich liebt.“ Mich traf es wie ein Schlag ins Gesicht. Shit. ,,Oh Gott, erzähl mir nicht so was. Ich hab schon genug Panik. Aber naja, ich hab schon zu ihm gesagt – mit mir kann man es ja machen.“, sagte ich und blieb stocksteif auf meinem Bett sitzen. ,,Ich bin doch nur realistisch. Trotzdem tust du mir unendlich leid. Ich würde aber auf eine Entschuldigung von ihm warten. Da fühle ich mich ja erst recht scheiße, dass ich dich hier alleine lasse.“ Und damit packte sie ihr letztes Hab und Gut in ihren Koffer. Da schaute ich das erste mal richtig auf die leere Seite des Zimmers. Es sah viel zu leer aus. ,,Ist schon gut, ich freue mich für dich, dass du endlich hier weg kommst.“, murmelte ich gedankenversunken. Sie verschloss ihren Koffer und schaute auf die Uhr. ,,Ich muss dann langsam los. In einer viertel Stunde holt mich meine Tante ab. Bei der ich auch eine Zeit schlafen werde, um erst einmal alles mit einer Familie zu...klären...“, sagte sie und blickte mich traurig an. Ich atmete tief durch und versuchte für ein paar Minuten nicht an Luca zu denken, während ich mich von ihr verabschiedete. ,,Ich werde dich vermissen.“, sagte sie, ich fiel ihr in die Arme und schon sammelten sich die Tränen in meinen Augen. ,,Ich dich erst. Ich werde immer an dich denken.“ ,,Mach ja keinen Scheiß wenn ich weg bin, ok? Wir treffen uns danach, wenn du hier raus bist, wieder, ja?“, fragte sie mich und drückte mich fester an sich. Ich brauchte nicht auf die Frage zu antworten, denn die Antwort stand schon fest: natürlich würden wir uns wieder treffen. ,,Und pass du auf dich auf.“, sagte ich ihr noch. Eine Träne lief über meine Wange, und nachdem wir uns nach ein paar Minuten wieder los ließen, sagte sie:,,Ich möchte dass du das mit Luca klärst, und du dich wenn überhaupt nicht mehr mit solchen Typen wie deinen Ex einlässt. Versprich mir das.“ Dieser Satz brachte mein Herz kurz zum Stillstand. Versprich mir das. Alle sagten sie es zu mir. Ich sollte versprechen mich nicht wieder zu verletzen. Ich war nicht gut darin, jemanden etwas zu versprechen. Doch das war etwas anderes. Ich nickte. Wenn ich etwas gesagt hätte, hätte sie es eh nicht verstanden, denn jetzt weinte ich richtig. Sie schnappte sich ihren Koffer und ihre große Reisetasche und schaute mich noch ein paar Sekunden traurig an. Dann sagte ich doch mit weinerlicher Stimme:,,Nun geh schon. Sonst wird das ja nie was.“ Ich versuchte etwas zu lachen. ,,Ich hab dich echt lieb gewonnen in der ganzen Zeit hier.“, fügte ich noch hinzu, und mein Mund verzog sich zu einen Lächeln. ,,Ich dich auch.“, sagte sie, und nun weinte auch sie. Doch ohne noch ein Wort zu sagen, oder sonstiges, verschwand sie einfach aus dem Zimmer. Ich drehte mich nicht um, sondern blieb einfach mitten im Raum stehen. Das letzte was ich von ihr hörte, war die Tür, wie sie hinter mir zu fiel. Ich stand noch eine Weile da, und rührte mich kein Stückchen. Ich starrte ins Leere, und konnte einfach noch nicht fassen, dass sie gegangen war. Nun war ich hier alleine. Zum Glück nur noch einen Monat, wenn das mit mir so gut weiter ging. Doch in diesem Moment bezweifelte ich das. Dann, endlich rührte ich mich, doch ich verlagerte mich nur auf mein kaltes Bett, wo ich bitterlich anfing zu weinen. Ich weiß nicht wie lange ich dort lag, und ich ignorierte sämtliche Anrufe die ich bekam. Ich wunderte mich etwas, warum mich jemand so oft anrief, doch ich achtete nicht weiter darauf. Ich verpasste das Mittagessen und das kreative Zeichnen. Doch das war mir egal.

Nach Stunden schaute ich auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Es war um vier. Meine Tränen waren auf meiner Haut getrocknet, und meine Schminke bestimmt verlaufen. Ich hievte mich aus meinem Bett und lief in meiner Trauer zu den Waschräumen, wo ich mein Gesicht wusch und auf Toilette ging. Ich hatte Recht behalten. Mein Make-Up sah grauenvoll aus. Deshalb schminkte ich mich ab und verließ das Bad, wobei ich mich ungeschminkt sehr unwohl fühlte. Während ich langsam wieder zu meinem Zimmer lief, fragte ich mich, ob ich überhaupt noch lebte. Ob ich in diesem Moment noch etwas anderes außer Trauer wegen Annabell und Luca empfinden konnte. Zum Beispiel Schmerz.

Warum?

Ich führte meine Finger zu meinen vernarbten Arm, und bohrte mit aller Kraft meine Fingernägel in meine Haut. Fünf Stellen meiner Haut wurden gleichzeitig aufgerissen, doch ich lief einfach weiter, langsam zu meinem Zimmer. Der Schmerz kroch langsam aber sicher von meinem Arm in meinen ganzen Körper. Doch es stießen mir keine Tränen mehr in die Augen. Alles war anders. Nach längerer Zeit hatte ich mich wieder verletzt, doch diesmal war alles irgendwie taub. Der Gedanke, dass ich mich jetzt wirklich ganz allein meinen Problemen stellen musste, erschien zwar in meinem Kopf, doch gelangte nicht nach Vorne, wo es weh tat. Trotzdem machte allein schon der Hintergedanke alles taub. Und da traf es mich wie aus dem Nichts. Der Schmerz reichte nicht aus. Also nimm ich meinen verletzten Arm und bohrte mit dieser Hand in meinen anderen Arm. Der Schmerz war nun doppelt so stark, und das Blut schoss aus den Wunden, doch es reichte nicht. Erst dann bemerkte ich, dass ich nicht in die Richtung meines Zimmers lief, sondern in die andere Richtung – Lucas Zimmer. Es hätte mich eigentlich wundern müssen, dass niemand hier war. Aber warum sollten sie auch; sie hatten alle ihre Kurse, doch mir war das in diesem Moment egal. Ich blieb stehen, und drehte mich um. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, war mir das Blut auf meinen Armen immer noch egal. Der Schmerz genügte immer noch nicht. Doch ich hatte keine Klingen mehr. Und Annabell war nicht mehr hier. Dann schaute ich das erste Mal seit Stunden wieder auf mein Handy. Verpasste Anrufe von Luca, Marissa und Annabell. Scheiße. Als ich Lucas Namen auf dem Bildschirm sah, machte in meinem Kopf alles kehrt, bewegte sich von den Gedanken weg, dass Annabell nicht mehr hier war, und landete wieder bei Luca. Mir war egal, ob er mich wegen schlimmen oder guten Dingen angerufen hatte, denn nur dieses kleine Zeichen von ihm, dass er wieder mit mir reden wollte, und ordentlich konnte, brachte mich zum Zusammenbruch. Warum auch immer. Einfach so. Zack. Alles zu viel. Hoffentlich, dachte ich, würde ich tot sein. Aber natürlich war ich das nicht.

 

Als ich aufwachte, fiel mein erster Blick auf meine Arme. Das Blut war getrocknet und hatte zum Glück nicht so viele Spuren auf dem Boden hinterlassen. Auf mein Handy schaute ich nicht. Nur ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es um fünf war. Zum Abendessen musste ich wieder fit sein, denn ich hatte riesigen Hunger. Ich erschrak nicht, bei der Tatsache, dass ich umgekippt bin. Denn als ich vor wenigen Sekunden auf meine Arme geschaut hatte, war mir klar warum. Der Schmerz hatte mich lahm gelegt. Meine Arme trugen Fleischwunden, und ich hatte diesen Schmerz nicht einmal richtig wahr genommen. Ich rollte mich zur Seite und versuchte aufzustehen. Ich stemmte mich mit aller Kraft hoch, und hatte nur einen Gedanken: Luca.

Ich kümmerte mich nicht um das Blut, um Annabell oder Marissa. Ich musste mein Versprechen einlösen – ich musste die Sache mit Luca klären. Ich verließ also mein Zimmer, lief einige Meter, in denen ich meine Arme verschränkte und meinen Blick senkte, und stieß mit jemanden zusammen. ,,Oh sorry.“, murmelte ich und wollte schon weiter gehen, als mir Lucas Duft auffiel. Ich schaute nach oben, und sah Luca, der ein ein halb Köpfe größer war als ich, der auf mich herab sah, mit seinem schönsten Lächeln im Gesicht, dass sofort verschwand, als ich meine Arme von der Verschränkung löste.,,Oh Gott...“, flüsterte er und nahm mich sofort in die Arme. Er drückte mich an sich, doch ich stand einfach nur so da. Trotzdem ließ er mich nicht los. Er hielt mich einfach weiter fest, bis er fragte:,,Es tut mir so unendlich leid wegen vorhin... ist das wegen mir, Luna?“ ,,Nein.“, hauchte ich, und rührte mich immer noch nicht. ,,Gott sei dank. Ich war ein totaler Idiot vorhin. Ich hätte das nicht tun dürfen, und jetzt wo ich das sehe...“, er führte seinen Satz nicht zu Ende, aber ich konnte mir denken wie er enden würde. ,,Ich liebe dich.“, sagte er und löste die Umarmung nach einigen Sekunden. ,,Sag doch bitte was.“, bat er mich und sah mir in die Augen. Sofort richtete sich mein Blick nach unten. ,,Ich möchte jetzt mit dir reden, komm mit.“, brachte ich nur heraus und ging mit ihm in mein Zimmer. Er sagte kein Wort als wir auf meinem Bett saßen. Ich hatte eh genug zu sagen.,,Du kannst dir nicht vorstellen wie schwer es für mich ist, wieder jemanden zu vertrauen, wieder jemanden zu lieben. Ich lebe in ständiger Angst und ich weiß nicht ob du das verstehen kannst. Du sagst zwar immer, dass du nicht wie die anderen bist, doch das blockt mein Kopf ab. Ich träume jede Nacht davon, wie ich mich versuchte umzubringen, von meinen Gedanken, meinen Freunden, meiner alten Klasse und von dem Verlassen werden. Ich habe mich noch nie so angreifbar gefühlt, weil jeder durch meine Narben und Schnitte sehen kann, wie es mir im Inneren geht. Aber es interessiert niemanden mehr. Meinen ehemaligen besten Freund Pascal, meine Familie und meine ehemaligen Freunde. Ich dachte erst wenn man wirklich etwas tut ändert sich die Lage. Doch es hat nur alles schlimmer gemacht. Doch dann kam die Anstalt, dann kam Annabell und Frau Seerein. Und du. Du hast mir wirklich sehr geholfen, doch ich kann das nicht mehr. Es war einfach alles zu viel. Im Moment zumindest. Es tut mir leid Luca.“, erklärte ich ihm und versuchte meine Tränen zurück zu halten. ,,Bitte halt dich von mir fern.“, ergänzte ich noch. Ich erwartete einen Ausraster, doch nichts dergleichen kam. ,,Es ist ok, Luna. Es ist ok.“, antwortete er, ohne einen Hauch von Ironie oder Schmerz. Er stand auf und wollte gehen, doch bevor er die Tür öffnete, drehte er sich noch einmal zu mir herum und sagte:,,Bevor ich jetzt gehe und wir vielleicht nie wieder ein Wort miteinander wechseln werden... darf ich dich noch um eine letzte Sache bitten?“ Ich nickte. ,,Küsst du mich noch einmal, das letzte mal?“ Ich atmete tief ein und aus, stand dann auf und nahm ihn ein letztes Mal in meine Arme. ,,Ich hoffe du wirst diesen Kuss nie vergessen.“, flüsterte ich und küsste ihn. Ich küsste ihn mit aller Leidenschaft die ich noch hatte, ich küsste ihn mit Zunge, ich küsste ihn mit Schmerz und Liebe, die nach diesem Kuss leider versiegt sein würden. Nach ein paar Minuten endete der Kuss, wir sahen uns in die Augen und ab diesem Moment war mir eines klar: Ich würde mich in diesen mitternachtsblauen Augen nie mehr verlieren können. Ich würde ihn nie mehr umarmen können und es würde für lange Zeit mein letzter Kuss gewesen sein.

Doch vielleicht gab es jetzt wieder Hoffnung für mich.
Hoffnung darauf, dass ich wieder ein normales Leben führen konnte.
Hoffnung auf Freunde, einen Job, unzählige Urlaube, schöne Tage und vielleicht auch auf Liebe.

Er verließ das Zimmer, und ging seiner Wege. Ein paar Minuten später lief ich runter in das Krankenzimmer, ließ meinen Arm verbinden, ging essen, lief wieder in mein Zimmer und hörte Musik. Bis in die Nacht herein.

 

Und genau das war der Tag, an dem es bei mir Klick gemacht hat. Ich habe an diesem Abend seit langem mal wieder Musik gehört, und habe gemerkt wie es mir gefehlt hat. Mir fehlten die Stimme, die Texte und die Musik eines Rappers, Casper. Er bedeutete mir alles, und als ich endlich wieder seine Musik hörte, die ganze Nacht, wurde mir eine ganze Menge klar. Egal wie kaputt ich war, egal wie viele Leute mich verlassen haben, egal wer mich alles hasst, egal was ich meinem Körper und meiner Seele angetan habe, egal wie viele Wochen ich in einer Anstalt verbrachte, egal wie oft ich zusammenbrach. Ich hatte meine zweite Chance damals nicht umsonst bekommen.

 

 

,,Dann glaub‘ ich fest,

dass ein Text noch immer Leben retten kann.

Dass den Liedern die man liebt,

immer Frieden inne liegt.

Noten ewig leben,

kein Grab zu tief für die Musik.“

Alles endet (aber nie die Musik) - Casper

Zigarettengeschmack

Freitagmorgen. Ich öffnete meine Augen und starrte gegen die Wand. Ich wollte mich schon herum drehen und Annabell guten Morgen sagen, doch mir fiel schweren Herzens ein, dass sie ja nicht mehr da war. Ich blickte auf die leere Seite des Zimmers und spürte die Kälte, die von ihr zu mir herüber zog. Ich stöhnte und setzte mich auf. Der Blick auf meinen Wecker verpasste mir einen Schlag. Es war um zehn. Ich hatte halb elf meine Sprechstunde. Ich sprang also aus meinem Bett, zog mir schon im Zimmer frische Klamotten an, da ja niemand mehr hier war, und dackelte mit meiner Kosmetik hinaus ins Bad. Als wäre nichts gewesen. Dort standen auch zwei andere Mädchen um sich fertig zu machen. Ich beachtete sie nicht weiter und verschwand in einen der Toiletten. Danach putzte ich mir schnell die Zähne, flocht meine etwas fettigen Haare zu einem einfachen, seitlichen Zopf zusammen und schminkte mich. Und das als Mädchen, innerhalb von zwanzig Minuten. Als die anderen Mädchen hinaus gingen, betrachtete ich mich richtig im Spiegel. Ich mochte mich ungeschminkt nicht, doch dann fiel mir auf, dass ich gestern Luca ungeschminkt begegnet bin und er nichts gesagt hat. Das verwunderte mich, denn sonst trete ich ihm immer nur geschminkt gegenüber. Doch ich zuckte nur mit den Schultern und freute mich insgeheim darüber dass es ihm vielleicht gar nicht aufgefallen war, packte mein Zeug zusammen und verließ das Badezimmer.

Als ich meine Kosmetik wieder im Zimmer verstaut hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten, um meinen Verband von gestern wechseln zu lassen.

Punkt halb elf stand ich dann endlich vor dem Therapiezimmer von Frau Seerein, klopfte, und wurde auch schon mit einem freundlichen ,,Herein!“, empfangen. Ich öffnete die Tür und setzte mich auf den Sessel. ,,Hallo.“, sagte ich, ließ mein Gesicht dabei jedoch ausdruckslos. ,,Hallo, wie geht es dir heute?“, fragte sie mich und lächelte mich wie immer an. Ich zuckte mit den Schultern. ,,Die Verbände an deinem Arm verheißen nichts gutes. Was ist passiert?“, fragte sie erneut nach. Ich seufzte und begann zu erzählen:,,Annabell, meine Zimmergenossin, wurde gestern entlassen. Um den Schmerz im Inneren zu übertünchen verletzte ich mich mit meinen Fingernägeln, weil ich keine Klingen mehr habe. Leider hab ich nicht bemerkt wie sehr ich mich verletzt hab, weil meine Gedanken alles taub gemacht haben.“ Es fiel mir immer noch etwas schwer das alles so zu erzählen, doch ich bemühte mich jedes Mal nicht zu lügen. Frau Seerein schrieb sich etwas auf, und fragte dann, was davor und danach passiert ist. ,,Davor hab ich mich mit meinem Freund gestritten... als ich mich verletzt habe bin ich in Ohnmacht gefallen und wollte danach zu meinem Freund, der aber schon auf dem Weg zu mir war. Danach... danach war es vorbei.“ Zum Glück fragte sie nicht nach, warum wir uns gestritten hatten. ,,Oh... Ich glaube dir, dass es schwer für dich war, Streit mit deinem Freund zu haben, obwohl du erstmals wieder jemanden vertrauen konntest. Und der Verlust deiner Zimmergenossin hat es natürlich auch nicht besser gemacht. Aber ich habe eine Frage. Wir haben nie versucht über deinen Selbstmordversuch zu reden, aber ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen. Was hast du gefühlt, als du dich umbringen wolltest? Was war dein Antrieb?“, fragte sie. Mir stockte der Atem. Stimmt, wir hatten noch nie darüber geredet, und doch träumte ich noch jede Nacht von ihm und der Nacht darauf. Ich atmete tief ein und aus und begann dann, es ihr zu erklären:,,Ich habe mich frei gefühlt. Erlöst von all dem Schmerz in meiner Seele, weil ich wusste dass es gleich vorbei sein wird.“ Sie schrieb wieder etwas. ,,Und mein Antrieb? Ich hatte eine Beziehung mit jemanden, der an diesem Tag mit mir Schluss gemacht hat. Ich hatte mich ja schon davor verletzt, damit er sich endlich um mich kümmert, was er aber nie getan hat. Im Gegenteil – nach der Trennung sagte er, dass ich mich doch umbringen soll. Es war eine Kurzschlussreaktion. Einfach so.“ Es baute sich ein ungeheurer Schmerz in mir auf, als ich das wieder erzählte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Selbstmordversuches und verkrampfte meine Hände. ,,Sagen wir es so, es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre.“, fügte ich noch hinzu. Frau Seerein sah mich erschrocken an und räusperte sich:,,Es wäre nicht besser gewesen. Sieh es doch mal so – du hast Annabell damals geholfen, und hilfst jetzt Luca. Ihm geht es wegen dir schon viel besser. Weißt du das nicht?“ Ich antwortete nicht. Ich wurde leicht sauer, weil sie nicht auf unsere Trennung eingegangen war. Wahrscheinlich hatte sie es gar nicht verstanden. ,,Warst du vor der Beziehung mit deinem Exfreund anders? Und wie bist du jetzt?“ Mein Kopf wurde von schlechten Eigenschaften überflutet, die ich jetzt hatte. An mein damaliges Ich konnte ich mich fast nicht mehr erinnern. ,,Früher war ich lebensfroh, hatte mir keine Sorgen über nichts gemacht. Ich habe einfach mein Leben gelebt. Heute bin ich ein Wrack. Ich werde schnell aggressiv und kann meine Stimmungen nicht unter Kontrolle halten. Ich bin immer noch leer.“ Ich schaute auf die Tischkante und hörte ihren Kuli über das Papier flitzen. ,,Füllt dich Liebe wieder auf? Oder macht sie dich eher Stück für Stück wieder kaputt?“, fragte sie mich. Dann wurde ich sauer. Richtig sauer. Wie konnte sie sich erlauben mich so etwas zu fragen?! ,,Natürlich macht mich Liebe wieder ganz. Seine Liebe erfüllt mich sogar, wenn Sie es genau wissen wollen.“, sagte ich ironisch und ließ mich in den Sessel zurück fallen. ,,Es ist ok, ich habe nur gefragt. Du hättest die Frage nicht beantworten müssen.“, entschuldigte sie sich und wollte weiter im Programm machen. ,,Moment. Haben Sie mich vorhin nicht verstanden?! Es ist vorbei. Wir haben uns getrennt!“, schrie ich fast und sie schaute mich mit weit geöffneten Augen an. ,,Das habe ich nicht mitbekommen... tut mir leid. Warum das denn?“, fragte sie nach. Dann erklärte ich ihr doch alles und fügte noch hinzu, dass es mir ohne ihn jetzt besser gehen würde, ohne jegliche Liebe. ,,Ich glaube ein Mensch muss erst eiskalt werden, bis ihm nichts mehr anhaben kann.“, sagte ich. ,,Nicht ganz eiskalt, aber du hast es verstanden. Du hast sehr große Fortschritte gemacht, Luna.“, erklärte sie und strahlte übers ganze Gesicht. Als nächstes erzählte ich ihr meine Gedanken von der vergangenen Nacht, und sie schrieb sich wieder allerhand mit. Danach ging es aber weiter im Programm. Ich sollte meine innere Stimmung aufmalen, sollte ihr ein Lied nennen was mein Leben beschreibt und dann war die Sitzung auch schon beendet.

Halb 12 wollte ich gerade das Zimmer verlassen, doch wurde noch kurz aufgehalten. Frau Seerein stand auf und kam auf mich zu. ,,Ich freue mich dass es dir schon besser geht. Diese Gedanken, die du letzte Nacht hattest, finde ich wirklich toll. Es zeigt dass du schon ein Stück weit mit der Sache angeschlossen hast und dich auf dein ,neues Leben' freust. Wenn das weiter so mit dir geht, kannst du in zwei Wochen entlassen werden.“ Bei dieser Nachricht machte mein Herz einen Satz. Vor lauter Freude fiel ich ihr um den Hals und sagte:,,Danke, herzlichen Dank für Ihre Hilfe!“ Dann verabschiedeten wir uns und ich verschwand in meinem Zimmer. Gedankenversunken nahm ich in meinem Zimmer mein Handy in die Hand um zu schauen ob es etwas Neues gab, und erschrak als ich sah, wie oft mich Marissa angerufen hatte. Ich ignorierte vorerst die Anrufe von Annabell, weil es noch lange nicht so viele waren als die von Marissa. Ich rief sie also zurück.
,,Hallo, Marissa? Was war denn los?“
,,Oh gut, es geht dir gut.“, hörte ich am anderen Ende.
Ich stutzte.,,Warum sollte es mir denn nicht gut gehen?“
,,Ich weiß nicht. Es ist drei Wochen her, als wir das letzte Mal telefoniert haben.“, das glaubte ich ihr nicht.
,,Ja. Aber was ist der wirkliche Grund?“
,,Ich habe mich an deinen Exfreund erinnert... ich habe daran gedacht wie deine Kumpels ihn für dich verprügelt haben und hatte Angst dass er Rache suchen würde.“
,,Ist schon ok... hier kriegt er mich nicht. Ich bin hier sicher.“, versicherte ich ihr.
Ich hörte ein erleichtertes Atmen am Ende der Leitung.,,Stimmt ja. Tut mir leid dass ich solche Panik geschoben habe. Ich muss wieder zurück an die Arbeit. Wir hören uns!“
,,Ok. Bis dann.“, sagte ich und legte auf.
Tolle Panikmache, und ich dachte es wäre sonst was. Ich schüttelte die Gedanken ab, fragte Annabell per SMS was los war, warf mein Handy in meine Handtasche und machte mich noch eine halbe Stunde auf in die Stadt, bevor es Mittagsessen gab.

Ich meldete mich bei der Frau hinter dem Glas für eine halbe Stunde ab und schritt dann durch das Haupttor, hinaus auf die Straße. Ich war schon zwei Wochen nicht mehr draußen gewesen, um der Versuchung zu widerstehen mir Klingen zu kaufen. Ich lief nach rechts den Fußweg entlang, und merkte die Blicke der Leute auf meinen Armen, wo ich die zwei Verbände trug. Was die sich wundern, die sehen doch dass ich aus der Klinik komme. Doch ich ließ mich nicht beirren und lief einfach weiter. Nach ungefähr 10 Minuten bog ich wieder auf den Feldweg ab, auf dem ich letztens erst Lucas Klingen weggeworfen habe. Doch ich lief nicht weiter, denn ich bemerkte Schritte hinter mir. Schlagartig drehte ich mich um und rechnete mit dem Schlimmsten, doch ich sah niemanden. Ich hatte mich wahrscheinlich nur verhört. Nach ein paar Minuten sah ich eine Bank, die mich an die erinnerte, die ich auch „zu Hause“ hatte. Es war nur ein paar Wochen her als ich auf dieser Bank lag und versuchte mit dem unerträglichen Gedanken der Trennung klar zu kommen. Ich erinnerte mich noch genau an das Bild das ich verbrannte, und an das Telefonat mit ihm, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Ich setzte mich auf die Bank, und starrte in den Himmel. Es war wieder einmal wunderschönes Wetter, so wie immer, wenn ich raus ging. Ich dachte an diesem Tag als ich dort lag an viele Sachen. Ich dachte an meinen Aufenthalt hier, was ich danach machen werde, wo ich hingehen werde, was meine alten Freunde wohl machen würden, was meine Klasse jetzt wohl von mir denkt, Casper, Annabell, Pascal und an Luca. Ich nahm mir vor nicht mehr an ihn zu denken, doch in den ersten Tagen wird es wohl schwer werden. Es zog mich alles ziemlich runter, doch ich stand nach ein paar Minuten wieder auf und rannte wieder zurück in die Klinik. Ich fühlte mich frei als ich den Weg lang rannte, als ich den Wind auf meinem Körper spürte, wie er mir die Haare zerzauste.

 

Beim Mittagessen saß ich allein. Sonst saß ich immer mit Leon (Ja, mit Leon), Luca und Annabell an einem Tisch. Doch Annabell war nicht mehr da, Luca sollte sich von mir fern halten und Leon war irgendwie noch nicht da. Doch ich versuchte mich nicht von der ganzen Sache runter ziehen zu lassen und fing an meinen Nudelauflauf zu essen. Ich muss erwähnen, dass das Essen in der Klinik nicht schlecht war, es war vielleicht mit das Beste im ganzen Haus. Ich saß an der Fensterreihe des Essensaals, auf der anderen Seite lag die Essensausgabe. Und gerade als ich zu ihr rüber schaute, sah ich Luca und Leon hinter ihm. Spannung packte mich. Sein Anblick versetzte mir einen Stromschlag. Zu wem würde sich Leon setzen? Es war wahrscheinlicher, dass er sich zu Luca setzte anstatt zu mir, doch eine kleine Hoffnung hatte ich noch. Als sie sich ihr Essen geholt hatten, lief Luca auf die linke, hintere Seite des Saals zu. Weit genug weg, aber dennoch auf meiner Seite. Leon durchsuchte mit seinem kalten Blick noch kurz den Raum, bis er mich erblickte, und er sah natürlich, dass ich ihn schon anstarrte. Doch sobald er sich in meine Richtung bewegte, stand ich ruckartig auf und lief auf Luca zu. Ich weiß nicht was mich gepackt hat, ich hab es einfach getan. Ich rief seinen Namen und sah wie er leicht zusammenzuckte. Er hatte ein T-Shirt an, wie immer, deshalb drehte ich ihn an seiner Schulter zu mir herum und begutachtete seine Arme. Nichts. Keine neuen Wunden. Er schaute mich entsetzt an und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, weil ich einfach ohne nachzudenken gehandelt hab. Doch anstatt mich dumm anzumachen, stellte Luca sein Tablett auf dem Tisch ab, an den er anscheinend wollte, und schaute sich meine Arme an. Danach schaute er mir zaghaft in meine Augen und sagte:,,Ich bin ok. Ich werde mir nichts wegen dir an tun, solange du dir nichts mehr an tust.“ Und somit setzte er sich mit dem Rücken zu mir an den Tisch und fing an zu essen. Völlig perplex stolperte ich zurück, drehte mich herum und fiel fast hin, doch Leon fing mich gerade so noch auf. Ich grinste ihn an, setzte mich mit ihm zusammen an meinen Tisch und aß weiter.

,,Weißt du, Luca hat mir erzählt was zwischen euch vorgefallen ist, und falls du denkst ich laber dich jetzt damit zu, oder stell dir 10000 Fragen, dann kannst du ganz beruhigt sein. Mich interessiert das nämlich einen Scheißdreck.“ Und aus irgendeinem Grund musste ich lachen.

Wir unterhielten uns noch ein paar Stunden über Gott und die Welt. Es viel kein einziges Wort über die Therapie, oder unsere Familie, über Selbstverletzung oder über Drogen. Es war wie ein ganz normales Gespräch zwischen zwei ganz normalen Jugendlichen, die sich über Musik, Filme, Bücher, Urlaube, Zukunftspläne und Partys unterhielten, und wir vereinbarten, dass wir nach diesem ganzen Theater mal zusammen feiern gehen würden.

Und es war ein unglaublich entspannendes Gefühl sich wie ein normaler Jugendlicher zu fühlen, denn kurz darauf ging ich in die Stadt, weil Leon keinen freien Austritt hatte, besorgte uns mit Leons gefälschtem Ausweis Zigaretten, traf mich mit Leon hinter der Klinik (in dem Hauseigenem Garten) und rauchte meine erste Zigarette. Und ihr glaubt es vielleicht nicht, aber es war wirklich meine erste und vorletzte Zigarette, und es hat sich unglaublich gut angefühlt, denn zum ersten Mal seit einem halben Jahr fühlte ich mich wie eine normale Jugendliche, die mit ihren Freunden ihre ersten zwei Zigaretten raucht und über alles redet was ihr in den Sinn kommt. Und das bedeutete unglaublich viel für mich.

 

Und das war der Tag, der nur noch zwei Wochen von meiner Entlassung entfernt war.

 

 

Tagebucheintrag 13

Liebes Tagebuch,

es sind noch eineinhalb Wochen bis zu meiner Entlassung, und mir geht es immer besser. Ich träume immer noch jede Nacht von meinem Exfreund und schrecke jede Nacht mindestens 2 Mal auf, doch es geht mir besser.

Die Wunden an meinen Armen sind fast verheilt, doch die anderen Narben sind noch längst nicht verblasst. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ich noch in mein Tagebuch schreiben soll. Ich habe mich von Luca getrennt, und bin mir gar nicht mehr so sicher ob es mir tatsächlich ohne ihn besser geht. Ich weiß natürlich, dass ich ihn erst ein paar Wochen kenne und meine Zeit von 12 Wochen verkürzt wurde, doch ich habe ihn in mein Herz geschlossen. Mehr als ich eigentlich dachte.

Seit Annabell weg ist, kommt jeden Tag mindestens zwei Mal eine Krankenschwester oder eine Therapeutin bei mir vorbei, um nach mir zu sehen. Ob alles „okay“ sei. Natürlich war nichts „okay“. Man kann nicht innerhalb von ein paar Wochen von einem Selbstmordversuch „geheilt“ werden. Man kann aber innerhalb von ein paar Wochen versuchen sich selbst nichts mehr anzutun. Den Suizidversuch werde ich nie vergessen, und erst recht nicht meine Selbstverletzung, doch man kann abgelenkt werden. Man kann lernen sich selbst ein Stück mehr zu mögen.

Geheilt werden kann man nie richtig. Ich habe keine Ahnung was mein Exfreund im Moment macht, und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Es wird ihm total egal sein wo ich bin oder was ich mache. Es würde ihm wahrscheinlich am Arsch vorbei gehen, wenn ich jetzt tot wäre.

Manchmal denke ich immer noch darüber nach, was wohl wäre, wenn ich nicht mehr existieren würde. Ob meine Bekannten und Freunde traurig sein würden? Ob die, die mich beleidigten, ein schlechtes Gewissen hätten? Ich hätte mich so leicht auslöschen können. Es wäre so einfach gewesen, doch ich war immer noch hier. Ich könnte mich selbst jetzt, nachdem ich diesen Eintrag geschrieben habe, töten. Einfach so.

Doch ich hätte wahrscheinlich nicht solch guten Gründe wie jemand der seine Eltern verloren hat oder Krebs hat und nicht kämpfen will. Dagegen waren meine Gründe ein Scheißdreck. Doch trotzdem wollte ich den Tod so sehr – oder der Tod mich.

Doch es geht mir besser, weil ich die Klinge nicht mehr meine Haut durchtrennen lasse. Meine Klinge existiert nicht mehr – ich schon. Ich habe also gewonnen.

 

Doch bis jetzt kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als die wunderschöne rote Farbe des Blutes, wie es aus der Wunde fließt; als den Schmerz, der mich meine Gedanken nicht mehr hören lässt; oder als die Klinge, wie sie alles und jeden in den Schatten stellt.

Starkes Mädchen

Eine Woche später.

Noch eine Woche bis zur Entlassung.

 

Ich setzte die Zigarette an meinen Mund, atmete tief ein, setzte sie ab, hielt die Luft für ein paar Sekunden an und atmete dann den Rauch wieder aus. Meine letzte Zigarette.

Es war drei Uhr nachts als ich mit Leon im Garten hinter der Anstalt stand und über alles Mögliche mit ihm redete. Auch er rauchte, doch es war nicht seine erste und nicht seine letzte Zigarette.

,,Luca liebt dich immer noch, weißt du?“, sagte er plötzlich. ,,Okay...“, antwortete ich, weil ich nicht wusste was ich sonst sagen sollte. ,,Hat er dich damit beauftragt oder was?“, fragte ich noch, und lachte etwas dabei. Er schüttelte amüsiert den Kopf. ,,Er versteht dich und ist glücklich wenn du es bist, ich wollte es nur mal gesagt haben.“, sagte er und zog an seiner Zigarette. Ich machte es ihm nach und lächelte. Ich fand es wirklich sehr erwachsen von Luca, dass er so handelte, doch ich verfluchte mich insgeheim immer noch, dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte. ,,Mal um auf ein anderes Thema zu kommen, wann wirst du denn entlassen, weißt du das schon?“, fragte ich ihn neugierig. Er hatte mir schon erzählt, dass er keine Drogen mehr nahm, doch trotzdem immer noch ein Verlangen nach ihnen spürte. Er zuckte mit den Schultern und blies den Rauch in die Nacht hinaus. ,,Ich bin froh, dass ich so schnell wieder gesund werde.“, erklärte er noch und lehnte sich dann gegen einen Baumstamm. Ich blickte in den Nachthimmel hinaus und wunderte mich, dass ich mit Leon eine so gute Freundschaft aufgebaut hatte, denn seit meiner ersten Zigarette vor genau einer Woche haben wir uns jede Nacht getroffen und über alles und jeden geredet, stundenlang. Ich dachte an unser erstes Treffen und musste in mich hinein grinsen, als ich daran dachte wie er da auf dem Stuhl in der Mitte des Raumes gesessen hatte, obwohl es ihm jetzt schon wieder so gut ging. Plötzlich erschien am Nachthimmel eine Sternschnuppe. ,,Eine Sternschnuppe.“, bemerkte auch Leon und sah mich an. ,,Ja. Aber bei mir bringen die nie was.“, erwiderte ich und grinste. ,,Bei mir weiß ich es nicht. Ich hab noch nie eine gesehen.“, sagte er gespielt traurig. ,,Was?! Echt nicht? Wow.“, lachte ich und sah in fragend an. ,,Also was wünscht du dir?“, fragte ich ihn. ,,Mmh... ich glaube das wird nicht in Erfüllung gehen.“, murmelte er und sah mich weiter an. Seine kühlen blauen Augen funkelten durch das Mondlicht und seine braunen, kurzen Haare wehten leicht im Wind. Er hatte wieder etwas Muskeln aufgebaut, die er durch den Drogenkonsum leider abgebaut hatte. Er sah gut aus. Nichts im Vergleich zu Luca, aber er sah gut aus. ,,Wieso, was wünscht du dir denn?“, hauchte ich in die kühle Nachtluft hinein. Ich hatte da schon so eine Ahnung. Er seufzte. ,,Ich habe schon lange kein Mädchen mehr geküsst... könntest du...?“, fragte er zaghaft, ja, fast etwas schüchtern. Ich grinste, war mir aber unsicher. Würde ich nicht wieder wie eine Schlampe da stehen? Aber dennoch war ich Single und es war eine gute Ablenkung gegenüber den anderen Dingen in meinem Leben. Gegenüber Luca. In mir fand ein Kampf zwischen Verstand und Leidenschaft statt, und wie immer gewann meine Leidenschaft, wenn auch nur knapp. ,,Okay.“, flüsterte ich und lächelte ihn an. Was kann schon passieren? Es ist mein Leben. Ich nahm den letzten Zug von meiner Zigarette und warf sie auf den Boden. Leon kam mir etwas näher, legte seine Hand sanft um meine Hüfte und beugte sich ein wenig zu mir vor. ,,Keine Sorge, du kannst mir vertrauen.“, flüsterte er, und ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem verrücktem Grund glaubte ich ihm das sogar. Jetzt legte er beide Hände um meine Hüfte und zog mich noch näher an ihn heran. Aus den Augenwinkeln heraus blickte ich mich noch einmal um, sah ihm dann in die Augen, legte meinen Kopf leicht schief und küsste ihn. Als unsere Lippen aufeinander trafen bekam ich Gänsehaut. Aber keine schlimme Gänsehaut, sondern so eine die man bekommt, wenn man etwas echt Schönes erlebt. An diesem Abend dachte ich mir, dass auch wenn eh nichts aus uns beiden wird, ich mir diesen Spaß in dieser Nacht erlauben durfte. Einfach nur so.

Erst waren seine Küsse zaghaft und leicht, doch dann, als ich meine Arme um seinen Hals schlang, merkte er, dass es mir gefiel und wurde leidenschaftlicher. Er zog mein Becken näher an seines und ließ seine Hände meinen Rücken streicheln. Dann öffnete er leicht seinen Mund und tastete sich mit seiner Zunge schüchtern voran. Ich musste leicht grinsen und eckte mit meiner Zunge an seine. Es war ein wunderschönes Gefühl, weil er erstaunlicher Weise noch etwas besser küssen konnte als Luca. Nach einigen Sekunden zog er langsam seine Zunge zurück und löste den Kuss, als er fragte:,,Was wird das hier?“ Ich sagte:,,Ich weiß es nicht. Gefällt es dir nicht?“, und gab ihm einen leichten Kuss. ,,Oh doch.“, hauchte er und setzte erneut zu einem Zungenkuss an. Doch dann bekam ich ein Stich in mein Herz. Ich erinnerte mich an den Traum im Zug und dachte an Luca, was er denken würde, wenn er uns jetzt so sehen würde. Es würde ihm wahrscheinlich das Herz brechen. Ich löste meine Hände von seinem Hals und drückte mich an seiner Brust von ihm ab. Er hatte immer noch seine Hände um meiner Hüfte. ,,Was?“, fragte er und schaute mich erschrocken an. ,,Hab ich was falsch gemacht?“, fragte er erneut. Ich schüttelte leicht meinen Kopf. ,,Ich hab dir deinen Wunsch erfüllt, oder?“, erkundigte ich mich und er nahm seine Hände von meiner Hüfte. Er lächelte und nickte. ,,Weißt du, Luca existiert nach deinem Aufenthalt weiter.“, sagte er und sah mir direkt in meine Augen. Er verzog keine Miene und in seinen Augen konnte ich irgendeine Art von Verständnis sehen. Ich nickte bloß. ,,Es war trotzdem ein echt schöner Abend. Ich glaube ich geh jetzt ins Bett.“, wisperte ich und nahm ihn in den Arm. Ich drückte ihn an mich und musste mir eine Träne verdrücken. ,,Es ist bald alles zu Ende und ich weiß nicht wo ich hin soll.“, flüsterte ich und spürte wie er mich bei meinen Worten noch etwas mehr an sich drückte. ,,Du wirst es schon wissen, wenn es so weit ist.“, erwiderte er, befreite sich aus meiner Umarmung, hielt mich aber noch fest und sah mich an. ,,Und danke, für alles. Du küsst echt super.“ Ich lachte. ,,Danke.“ Dann, es war ungefähr drei Uhr morgens, liefen wir zurück ins Haus. Wir schlichen uns durch die Hintertür hinein und huschten die Stufen zu den Zimmern hoch. Ich bog schon in Richtung Mädchentrackt ab, da wurde ich noch kurz von Leons Stimme aufgehalten. ,,Das Leben ist schön, Luna Wielforst. Okay?“ Ich lächelte, doch antwortete noch nicht. Ich drehte mich einfach wieder um und lief auf mein Zimmer zu, während ich hinter mir Leons Schritte immer leiser werden hörte. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, schnappte ich mir mein Abschminkzeug und meine Schlafsachen und machte mich auf ins Badezimmer. Ich schminkte mich ab, ging auf Toilette, putzte meine Zähne und zog mich um. Während des ganzen Prozesses dachte ich an überhaupt nichts. Ein einziges Mal dachte ich an das Rauchen, weil meine Klamotten nach Rauch stanken, doch an mehr auch nicht.

In meinem Zimmer angekommen verstaute ich noch meine restlichen Sachen und schaute auf mein Handy. Annabell würde wieder zur Schule gehen, ihr Abitur nach holen. 'Super, freut mich. Ich hatte einen schönen Abend heute.' Doch sonst hatte mir niemand geschrieben. Wer denn auch.

Ich kuschelte mich in meine Bettdecke ein, knipste das Licht aus und dachte an diese Nacht. Ich dachte an diesen wunderschönen Kuss, und ob das mit Luca vielleicht zu übertrieben war. Doch ich fühlte mich besser, deshalb war es vielleicht doch die richtige Entscheidung gewesen.

Dann fiel mir Leons Satz ein. Das Leben ist schön, Luna Wielforst. Okay? Dies hatte auch Augustus Waters gesagt, in dem Film „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, bloß mit dem Namen „Hazel Grace“. Ich habe diesen Film geliebt, weil er mir so viel Mut gemacht hatte. Und genau dieser Satz gab mir wieder unglaublich viel Mut.

Er hatte Recht gehabt. Das Leben ist schön, denn das Leben ist für jeden Menschen einzigartig, und man sollte das beste draus machen. Ich wollte Partys machen, reisen, saufen, rauchen, lachen, Filme sehen, Leute kennenlernen, Lieben und Erfahrungen sammeln. Es stand mir die ganze Welt bevor und ich lag in einer Decke eingekuschelt in einer Psychiatrie. Am ersten Abend noch konnte ich kaum schlafen vor Sucht, doch in dieser verspürte ich keinen so großen Drang mehr meine Haut aufzuschneiden. Es gab viel schlimmere Dinge im Leben und mir wurde bewusst, wie froh ich eigentlich sein konnte. Doch ich war es nicht. Zumindest nicht wirklich. Doch dann, kurz bevor ich einschlief, gab ich Leon eine Antwort.

,,Okay.“

 

Gerade als ich ungefähr eine Stunde geschlafen hatte, klopfte jemand an meine Tür. Ich schreckte hoch und die Angst stieg in mir hoch. ,,Wer ist da?“, fragte ich laut und schnappte mir die erstbeste Waffe die ich noch da hatte – meine Fernbedienung.,,Luca.“, hörte ich ihn durch die Tür sagen. Mein Herz zog sich für einen Moment schmerzhaft zusammen, doch auf der einen Seite freute ich mich irgendwie. Warum auch immer. Ich legte die Fernbedienung wieder weg und öffnete die Tür. Und dort stand er. Luca. So wie ich ihn kennengelernt hatte. Er trug ein schwarzes T-Shirt, eine graue Jeans und dunkle Armbänder schmückten sein Handgelenk. Seine Haare waren wieder schwarz gefärbt und fielen ihm ins Gesicht. Seine Augen hatte er sich auch wieder schwarz geschminkt. Er erinnerte mich irgendwie an Berti aus der Serie Schloss Einstein. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Wie wunderschön er aussieht. ,,Was willst du?“, fragte ich dennoch kaltherzig. ,,Ich will mit dir reden, Luna.“, antwortete er mir und ich sah wie seine Augen leicht glänzten. Ich hoffte in diesem Moment inständig dass er nicht anfangen würde zu weinen.

Ich stimmte mit einem komischem Gefühl im Bauch zu und wir setzten uns auf mein Bett, nachdem ich die Tür geschlossen hatte. ,,Also es ist so... ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte. Hör mir bitte bis zum Schluss zu, ok?“, fragte er mich. Ich nickte bloß. ,,Dann fang ich mal an. Im Februar letzten Jahres, waren die Straßen sehr glatt. Meine Eltern wollten von einem Wochenendausflug zu zweit wieder nach Hause fahren, doch leider fuhren sie zu schnell und die Glätte überraschte sie. Sie starben schon an der Unfallstelle, am 17.2.2012. Und weißt du warum sie so schnell gefahren sind? Weil sie unbedingt nach Hause wollten, zu mir. Unser Nachbar hatte meine Schnitte am Handgelenk gesehen als ich ihm ein Paket rüber brachte, und rief dann sofort meine Eltern an. Von da an wusste ich, dass ich an ihrem Tod schuld war und wurde zum Emo. Ich verletzte mich stärker und fing kurzzeitig an Drogen zu nehmen, aber das war nichts für mich. Ich zog zu meiner Oma, die mich sehr unterstützte, aber den eigentlichen Grund für die Selbstverletzung konnte sie nicht auslöschen. Ich kannte mal ein Mädchen und es war Liebe auf den ersten Blick – bei mir zumindest. Sie verabredete sich lieber mit Arschlöchern, und als sie dann meine erste Narbe sah, erfuhren das einfach alle. Ich hatte ja noch nie eine Freundin und war deshalb der schwule Psychopath. Natürlich war es dumm deswegen anzufangen, wegen einem Mädchen. Doch es hat mich am Ende durch die ganzen Geschehnisse bis hier her getrieben. Zu dir. Du hast alles besser gemacht, du warst das Gegenstück zu dem Mädchen, welches ich davor kannte. Als du vor ein paar Wochen vor Leon standest sahst du so hilflos aus. Ich hätte natürlich nie gedacht, dass du auf so etwas wie mich stehen würdest, doch du hattest so ein Glitzern in den Augen. Ich weiß, dass kommt jetzt sehr kitschig, doch bei dir fühlte sich alles richtig an... Und ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen – für mein Verhalten, als ich dich zu etwas drängen wollte, was du überhaupt nicht wolltest. Ich weiß, dass du mir nicht verzeihen kannst, dass erwarte ich auch gar nicht. Doch du solltest es wissen. Hier vor dir sitzt der Luca in den du dich verliebt hast, und der, der dich immer noch liebt. Tja... das solltest du nur wissen. Tut mir leid, dass ich dich wach gemacht hab.“, erzählte er, stand auf und ging. Ich hielt ihn nicht auf, denn mein Herz und mein Kopf waren voller Bilder und Gedanken. Ich schaltete das kleine Nachtlicht wieder aus, legte mich hin und versuchte einzuschlafen.

 

Am nächsten Morgen wachte ich zum Glück rechtzeitig auf. Es war Samstag, da hatte ich zum Glück mal keine Therapie und keine Kurse. Es waren nur noch 6 Tage bis ich die Klinik verlassen würde. Ich machte mich also fertig und ging mit einem festen Entschluss runter zum Frühstück. Ich holte mir kein Essen, sondern suchte den Saal nach Luca ab. Ich entdeckte schwarze, kurze Haare und erkannte ihn dann ganz. Mit schnellen, aber dennoch etwas schleppenden Schritten lief ich auf ihn zu. Ich musste es einfach tun. Es schien mir die einzig richtige Lösung. Ich hatte in der letzten Nacht sehr viel nachgedacht.

Er stand mit dem Rücken zu mir, denn er stand am Fenster und sah hinaus.

,,Ja, vielleicht habe ich Angst wieder verlassen zu werden. Doch du bist der wunderschönste und tollste Junge der mir jemals begegnet ist. Ich kann froh sein dich zu haben. Ich sollte es einfach genießen, doch stattdessen mache ich alles kaputt. Ich habe gestern Nacht Leon geküsst, weil ich ihm einen Wunsch erfüllen wollte, und fand es schön. Doch als ich an dich dachte – dass es dir wahrscheinlich das Herz brechen würde, habe ich aufgehört. Ich habe mit dir Schluss gemacht, weil ich nicht wusste wer ich bin und weil ich dachte ich hätte keine Kraft mehr für eine Beziehung. Ich dachte es wäre für mich ein Neuanfang. Doch das war falsch. Ich komme nicht aus Mitleid, sondern weil du der einzige bist den ich wirklich liebe. Doch das habe ich in dieser Nacht erst erkannt, als du zu mir gekommen bist, und so aussahst wie früher, als ich dich kennengelernt habe. Du hättest dich nicht verändern dürfen, denn ich liebe dich so wie du bist. Ich mag deine geschminkten Augen, deine schwarzen Haare und deine Lebenseinstellung. Und wenn du mir wegen der Sache mit Leon nicht verzeihen kannst, ist das ok.“, sagte ich und wartete auf eine Antwort. Ich wartete und wartete. Und auf einmal kam ich mir total dumm vor hier so eine schnulzige Show abzuziehen. Das Atmen fiel mir schwer und mir wurde bewusst, dass die Sache mit Leon falsch war. Dass sie mir alles versaut hatte. Dass ICH mir alles versaut hatte. Schweren Herzens drehte ich mich also um und ging.

,,Ich weiß von dir und Leon. Er kam heute, bevor ich zu dir kam, gleich zu mir und erzählte es mir. Deshalb bin ich zu dir rüber gegangen. Deshalb habe ich dir meine Geschichte erzählt, weil ich merkte dass du mir aus den Fingern rutscht. Ich merkte dass ich dich verlieren würde. Immer mehr und mehr.“ Ich blieb stehen und drehte mich um. Da stand er vor mir, mit seinen mitternachtsblauen Augen und sah mich an. ,,Ich habe dir verziehen, weil ich wusste dass du mir verzeihen würdest. Du bist ein starkes Mädchen, Luna, und das wusste ich schon immer. Deshalb konntest du auch meine Klingen wegwerfen. Deshalb konntest du Timo zurechtweisen. Deshalb bist du hier, und nicht tot.“, sagte er. Ich war absolut sprachlos. Das erste Mal seit langem. Auf einmal war das einzige was ich wollte, war mit Luca zusammen zu sein. Wie magisch von ihm angezogen legte ich meine Hand an seine Wange und zog ihn etwas zu mir herunter. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen, sah ihm in seine wunderschönen Augen und dann küsste er mich auf einmal. Ich hielt die Luft an und erwiderte seinen Kuss. Ich war wie in Trance als ich seine perfekten Lippen auf meinen spürte, und ließ es einfach geschehen. Und ich hatte mich getäuscht – Luca war ein besserer Küsser als Leon. Denn was bei Leon und mir fehlte war die Liebe, die bei Luca und mir reichlich vorhanden war.

Zum Glück würde dieser nicht unser letzter werden.

Danach nahm er mich in den Arm und drückte mich fest an sich. ,,Hast du denn keinen Hunger?“, fragte ich ihn leise und grinste. ,,Doch.“, nuschelte er und ließ mich los. ,,Wir sind echt krank.“, lachte er und nahm meine Hand. ,,Nicht mehr.“, antwortete ich und dachte eigentlich an das gleiche wie er, doch ich empfand es nicht mehr als krank. Ich hätte ihn überall treffen können – dass es gerade hier war, war reines Schicksal.

 

Luca

Ich blickte aus dem Fenster und hatte die Hände in den Hosentaschen.

Ich dachte daran, was passieren wird, wenn ich aus der Klinik entlassen werde. Ich wusste nicht wo ich hingehen sollte, oder was ich machen sollte. Ich würde wieder alleine sein. Doch ich würde wieder gesund sein. Nicht vollständig, aber gesund.

,,Ja, vielleicht habe ich Angst wieder verlassen zu werden. Doch du bist der wunderschönste und tollste Junge der mir jemals begegnet ist. Ich kann froh sein dich zu haben. Ich sollte es einfach genießen, doch stattdessen mache ich alles kaputt. Ich habe gestern Nacht Leon geküsst, weil ich ihm einen Wunsch erfüllen wollte, und fand es schön. Doch als ich an dich dachte – dass es dir wahrscheinlich das Herz brechen würde, habe ich aufgehört. Ich habe mit dir Schluss gemacht, weil ich nicht wusste wer ich bin und weil ich dachte ich hätte keine Kraft mehr für eine Beziehung. Ich dachte es wäre für mich ein Neuanfang. Doch das war falsch. Ich komme nicht aus Mitleid, sondern weil du der einzige bist den ich wirklich liebe. Doch das habe ich in dieser Nacht erst erkannt, als du zu mir gekommen bist, und so aussahst wie früher, als ich dich kennengelernt habe. Du hättest dich nicht verändern dürfen, denn ich liebe dich so wie du bist. Ich mag deine geschminkten Augen, deine schwarzen Haare und deine Lebenseinstellung. Und wenn du mir wegen der Sache mit Leon nicht verzeihen kannst, ist das ok.“, hörte ich Luna hinter mir. Ich musste tatsächlich grinsen. Mein Herz schlug schneller und ich atmete tief ein und aus. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Leon, wie er einfach mitten in der Nacht zu mir hinein kam und mir erzählte, dass er mit Luna rumgemacht hätte. Er hätte mir auch gleich mein Herz raus reißen können. Doch jetzt war sie hier, und ich wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich sie doch gehen lassen? Oder sollte ich sie aufhalten und versuchen alles zu klären? Eigentlich war es klar, dass ich ihr verzeihen würde, doch jetzt wo sie wieder ankam, fühlte sich alles irgendwie komisch an. Plötzlich erinnerte ich mich aber an unsere erste Begegnung. Ich, als „Andersartiger“ - als Emo, lief die Treppen hinunter und sah sie. Mit ihren wunderschönen braunen, langen Haaren, wie sie mit Leon redete. Ich bin auf sie zugelaufen und wollte den Beschützer spielen.

,,Hey lass sie in Ruhe!", sagte ich und stellte mich neben sie. Da sah ich ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Sie hatte wunderschöne blau-graue Augen, Sommersprossen und einen herzförmigen Mund. Ihr Gesicht verlief eher schmal und sie trug einen Verband um ihren Arm. Ich wusste sofort weswegen sie hier war. Dann merkte ich, wie sie mich von oben bis unten musterte. Auch meine Narben hatte sie bemerkt. ,,Hey chill mal 'ne Runde.", nuschelte Leon. Ich legte wie selbstverständlich meinen Arm um ihre Schulter und lief mit ihr zur Information. ,,Das war Leon, unser Dealer. Deal ja nicht mit ihm, wenn er jetzt nach zwei Wochen wieder Drogen bekommt, dreht er durch. Ich bin übrigens Luca. Du?", fragte ich sie. Sie hielt etwas Abstand von mir, und antwortete dann:,,Ich... ich bin Luna. Ich wollte gerade zur Information, mir meinen Plan abholen." Ich lächelte sie an, weil ich es süß fand, wie abgeneigt sie von mir wirkte. ,,Wegen was bist du hier?", fragte ich sie lächelnd. Sie hielt schnell ihre Hand vor ihre Armbänder. ,,Achso... Ich auch, wie du ja sicher sehen kannst.", erklärte ich und sofort wanderte ihr Blick zu meinen Armen. Sie betrachtete meine Schnitte und Narben, als wären es Kunstwerke. Bemitleidenswert sah sie mich an, und wendete sich ab. ,,Ich muss jetzt los. Danke für deine Hilfe.", sagte sie, mit dem Rücken zu mir gedreht. ,,Okay, bis irgendwann mal.", sprach ich und musste grinsen. Danach ging sie zu der Information und ich verschwand dahin, wo ich eigentlich hin wollte – nach draußen. Auf dem Weg dorthin musste ich die ganze Zeit grinsen, weil ich in ihrem Blick etwas glitzerndes gesehen hatte und ihre Schauspielkünste nicht die besten waren.

Plötzlich hörte ich wie sie sich hinter mir verschwand. Sofort, wie aus Reflex, drehte ich mich um und folgte ihr ein paar Meter.

,,Ich weiß von dir und Leon. Er kam heute, bevor ich zu dir kam, gleich zu mir und erzählte es mir. Deshalb bin ich zu dir rüber gegangen. Deshalb habe ich dir meine Geschichte erzählt, weil ich merkte dass du mir aus den Fingern rutscht. Ich merkte dass ich dich verlieren würde. Immer mehr und mehr.“, sagte ich und sie blieb abrupt stehen. Als sie sich umdrehte heftete sich ihr trauriger Blick sofort an meine Augen. Ich fuhr fort:,,Ich habe dir verziehen, weil ich wusste dass du mir verzeihen würdest. Du bist ein starkes Mädchen, Luna, und das wusste ich schon immer. Deshalb konntest du auch meine Klingen wegwerfen. Deshalb konntest du Timo zurechtweisen. Deshalb bist du hier, und nicht tot.“ Ein paar Sekunden sah sie mich sprachlos an, doch dann legte sie auf einmal ihre Hand sanft auf meine Wange. Sie kam etwas höher und ich nutzte meine Chance. Ich legte meine Hände sanft um ihre Hüften, kam näher und küsste sie. Ich war überglücklich, dass ich wieder ihre weichen, warmen Lippen küssen durfte. Sie erwiderte den Kuss leidenschaftlich und griff mit ihrer Hand in meine Haare.

Nach ein paar Sekunden ließ ich von ihr ab und umarmte sie einfach. Meine Arme hatten vielleicht Narben, doch trotzdem konnten sie so ein starkes Mädchen wie Luna festhalten. ,,Hast du denn keinen Hunger?“, fragte sie mich nach ungefähr einer Minute. ,,Doch“, murmelte ich und ließ sie los. ,,Wir sind echt krank.“, sagte ich lachend und griff nach ihrer warmen Hand. ,,Nicht mehr“, antwortete sie.

Sie hatte Recht. Ja, sie hatte Recht. Wir waren nicht mehr krank, doch ein Teil von uns wird es immer bleiben. Und er wird irgendwann wieder zum Vorschein kommen. Nicht heute, nicht morgen – aber irgendwann.

Und ich hoffte dass ich diesen Moment überleben würde.

 

Vor dem Knall

An diesem Tag, Freitag, war meine letzte Sprechstunde.

Nach dem Frühstück, dass ich alleine aß, wollte ich gleich zu Frau Seerein gehen, doch ich wurde aufgehalten.

,,Luna warte kurz!“, rief Leon. Ich drehte mich um und sah Luca und Leon wie sie auf mich zuliefen. Kurz vor mir blieben sie stehen. ,,Ja, was gibt’s?“, fragte ich nach. ,,Wir wollen dir nur Glück wünschen.“, erklärte Luca. ,,Warum?“, fragte ich. Leon räusperte sich und fing an zu reden:,,Weil es deine letzte Sprechstunde ist. Weißt du nicht, dass man das hier jedem wünscht? Bei Annabell und Noel haben wir das auch getan.“ Ich runzelte meine Stirn. ,,Warum wünscht man sich da Glück?“ Luca grinste. ,,Man wünscht sich nicht Glück für die Sprechstunde an sich, sondern dafür, dass alles klappt. Das man einen guten Platz zum wohnen findet und so weiter.“, erzählte er. ,,Okay...“, murmelte ich, ,,Danke.“ Damit drehte ich mich um und klopfte an der Tür des Sprechstundenzimmers. ,,Herein.“, hörte ich von drinnen und trat ein.,,Tja, das ist also deine letzte Sprechstunde.“, sagte Frau Seerein und lächelte mich an.,,Ja.“, nuschelte ich und schlug meine Beine übereinander. Irgendwie war ich traurig, dass meine Zeit hier bald vorbei sein wird.

Die nächste halbe Stunde sprachen wir organisatorisches ab. Ich würde in ein Wohnheim hier in Erfurt ziehen und eine Ausbildung anfangen und jeden Monat einmal in der Klinik vorbeischauen, bis Frau Seerein die Sache für 100% abgeschlossen hielt. Als wir das beendet hatten, fragte sie:,,Bist du bereit zu gehen?“ Einen Moment sagte ich nichts. ,,Ja. Ich schätze ich bin bereit. Mir geht es gut.“ Wieder schrieb sie etwas. ,,Und du denkst, dass du das Leben verdient hast?“ Ich brauchte eine Weile für meine Antwort, bis ich mir alle Wörter zurecht gelegt hatte. ,,Ja. Vielleicht ging es gar nicht wirklich um Liebe, Freundschaft oder Selbstverletzung. Am Ende des Tages ist es wichtig zu wissen was du willst, und wer du sein willst. Am Ende des Tages zählt nicht wie viele Freunde hinter dir stehen, ob dein Freund dich verwöhnt und wie tief du dich schon wieder geschnitten hast. Du musst selbst hinter dir stehen, und du musst immer wieder aufstehen, wenn dich das Leben zu Boden tritt. Denn du hast nur eins, und was du daraus machst ist wichtig, und nicht was Freunde, die Liebe oder die Klinge daraus macht.“, sagte ich. Bis heute weiß ich nicht wie ich auf all diese Sachen gekommen bin. Doch ich weiß dass es die pure Wahrheit ist. Frau Seerein sah mich erstaunt an. ,,Du hast vollkommen Recht, Luna. Ich bin sehr stolz auf dich, und du bist tatsächlich bereit zu gehen. Und ich verspreche dir, dass ich dafür sorgen werde, dass Luca in deine Nähe zieht. Denn ihr beiden könnt euch vor euch selbst beschützen.“, sprach sie und lächelte mich an.

Nachdem ich mich noch herzlich bei meiner Therapeutin bedankte, ging ich hinaus in den Flur und sah Luca, wie er an der Wand lehnte. Ich stellte mich neben ihn und betrachtete sein Gesicht. Seine helle Haut ließen das Schwarz seiner Haare und seiner Schminke viel besser raus kommen. Seine Nase war relativ normal und seine Wangenknochen standen leicht hinaus. Plötzlich, nach einer Weile des Schweigens, stellte er sich mir gegenüber, umfasste meine Hüften und kam mit seinem Gesicht näher an meines. ,,Ich weiß noch... vor einigen Wochen standen wir genauso da und du hast meinen Kuss abgelehnt.“, flüsterte er. Ich lächelte leicht und fixierte seine Augen. In einem wunderschönen, tief dunklem Blau funkelten sie mich an. ,,Also frage ich dich heute: Darf ich dich küssen?“, fragte er mich und verzog dabei keine Miene. Er starrte nur auf meine Lippen. ,,Ja.“, hauchte ich. Sofort kam er näher und lehnte seine Stirn gegen meine. Ich spürte seinen heißen Atem an meiner Wange und nahm seinen unglaublich guten Duft wahr. Dann kam ich ein paar Zentimeter näher und küsste ihn. Meine Haut vibrierte und mein Herz setzte einen Schlag aus. Es war genau wie vor ein paar Wochen. Als es mir noch schlecht ging. Er hatte mich sanft gegen die Wand gedrückt und wollte mich küssen. Doch diesmal war es nicht beim wollen geblieben.

,,Ich liebe dich.“, wisperte ich zwischen den Küssen.

,,Und ich liebe dich.“, flüsterte Luca.

 

 

 

 ,,Die leeren Gläser der Theke sind beste Lupen auf's Leben.“

Hinterland – Casper

 

Der Knall

 

Wir waren gerade in unser Wohnheim eingezogen und schrieben Bewerbungen, als ich es erfuhr.

 

Leon starb zwei Wochen nach meiner Entlassung. Frau Seerein rief mich an und erzählte mir, dass sie ihn tot in seinem Zimmer aufgefunden hätten. Irgendwoher hatte er Heroin. Zu viel Heroin. Sein Zimmergenosse ist panisch runter gerannt und es gleich gemeldet. Doch es war zu spät. Sie brachten ihn noch ins Krankenhaus, doch es nützte nichts. Er war weg, für immer. Niemand würde ihn jemals wieder sehen. Ich konnte mit ihm nie wieder über alltägliche Sachen reden, nie wieder mit ihm eine rauchen und ihm nie wieder einen Wunsch erfüllen. Ich wollte es aber einfach nicht wahr haben. Er war doch erst 18! Mit 18 stirbt man doch nicht einfach. Mit 18 geht man auf Partys, macht sein Abi oder seine Ausbildung, lungert nachts mit seinen Freunden in den dunklen Straßen der Nacht herum, findet die Liebe. Mit 18 stirbt man nicht – da hat man doch gerade erst angefangen zu leben! Und vor allem nicht Leon. Ihm ging es doch so gut, ihm ging es doch gut!

Ich fragte sie, ob es Selbstmord war, ob er irgendwas hinterlassen hätte. Natürlich war es Selbstmord. Sie sagte, dass er etwas geschrieben hatte, für ein paar Leute die er kannte. Für mich hatte er auch was geschrieben. Sie schickte mir ein Foto des Briefes per E-Mail, den richtigen würde sie mir per Post schicken. Und dann las ich mit zitternden Händen die letzten Wort meines Kumpels, wenn ich sie denn unter meinen Tränen erkennen konnte.

 

Liebste Luna,

ich weiß nicht, ob ich diese Dosis überleben werde.

Aber ich wollte dir trotz meines Unwissens ein paar Worte schreiben, weil du mir einen Wunsch erfüllt hast und so eine tolle Freundin warst.

Ich weiß, vielleicht sollte ich nicht so leichtfertig mit meinem Tod umgehen, doch im Endeffekt war meine Existenz sinnlos. Im Grunde genommen ist jede Existenz sinnlos. Nichts wird je irgendetwas bedeuten. Aber es muss ja nicht immer alles eine Bedeutung haben. Nicht alles muss immer einen bestimmten Wert haben.

Du wolltest dich umbringen, weil du dachtest dass dir dein Leben nichts nützt, nichts mehr wert ist. Doch wie eben formuliert, muss nicht immer alles einen Wert haben. Was zählt ist doch, dass du immer das Beste aus einer Situation machst. Ich weiß, das klingt sehr klischeehaft, und du fragst dich bestimmt, warum dir das ein vielleicht toter Junge schreibt, und ich kann dir sagen warum. Ich hätte aus meinem Leben gerne das Beste gemacht, ich hätte gerne weiter gelebt, weiter gekämpft. Doch irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr konnte. Ich war krank, Luna. Ich habe es gespürt. Irgendetwas hat mich von Innen aufgefressen, Tag für Tag ein Stück mehr. Und ich war selbst daran Schuld. Die Drogen waren Schuld. Ich weiß nicht was es ist, und ich will es auch nicht wissen. Mein Körper ist krank, ebenso wie meine Seele. Meine Mutter ist gestorben, Luna. Und ich habe nie das Beste aus mir und meiner Situation gemacht. Ich hoffe du machst das anders.

 

In Liebe, dein Leon

 

Ich las mir diesen Brief sehr oft durch, und bei jedem Mal weinte ich mehr. Vor Wut und weil ich es einfach nicht verstand. Es war für mich so unlogsich. So unreal. Als würde ich neben mir stehen und diesem verheultem Mädchen zusehen, dass zusammen gekauert auf ihrem Sofa sitzt, sich zig Tausend mal einen Brief durchliest und immer flüstert:,,Nein, nein, nein. Hör auf zu weinen.“

Irgendwann brach ich dann zusammen. Ich weinte, und konnte nicht mehr aufhören. Ich bekam kaum noch Luft und mein Kopf schien zu zerplatzen. Ich schrie die Wut und Trauer aus mir heraus, atmete nach einer Weile nur noch stoßweise und schloss verkrampft meine Augen damit sie endlich aufhören zu weinen.Irgendwann schloss ich die E-Mail und fuhr meinen Laptop runter. Ich nahm mit zitternden Händen mein Handy und wählte die Nummer der Klinik. Nach ein paar Sekunden hob die Frau hinter der Glaswand ab.

,,Hallo, Psychiatrie Erfurt, was kann ich für Sie tun?“

,,Hallo, hier spricht Luna Wielforst.“ Ich hörte wie sie im Hintergrund in den Akten nach meinem Namen suchte.

,,Ah, Luna. Was kann ich für dich tun?“

,,Könnten Sie mir Frau Seerein geben? Ich muss sie etwas fragen.“ Ich hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.

,,Natürlich, ich stelle dich durch.“ Dann klackte es in der Leitung und nach dem zweiten Klingeln nahm meine Therapeutin ab.

,,Frau Seerein, Psychiatrie Erfurt, mit wem spreche ich?“

,,Hier ist Luna. Ich habe eine Frage bezüglich Leon.“

,,Ach, Hallo Luna. Ja?“

,,Also erst einmal habe ich den Brief gelesen und...“ Eine kurze Pause entstand.

,,Ich habe mich nicht verletzt. Ich habe geweint bis ich hier angerufen habe. Aber um zu meiner Frage zurück zu kommen – Wann findet seine Beerdigung statt?“

,,Wir wissen es noch nicht wirklich, wahrscheinlich Ende nächster Woche.“

,,Okay... Wissen Sie, ich habe nicht ein einziges Bild von ihm, keine materielle Erinnerung. Es ist nur in meinem Kopf, und es tut weh sich an ihn zu erinnern.“

,,Das verstehe ich. Hast du schon mit Luca darüber geredet?“

,,Nein, er ist gerade Einkaufen. Er weiß es noch nicht.“

,,Ich kann dir nur eins sagen. Sein Tod hat uns alle sehr geschockt, weil er schon auf dem Weg war, clean zu werden. Wir wissen nicht was ihn wirklich dazu bewegt hat. Wir haben seine Briefe an euch nicht gelesen und wissen nur dass seine Mutter tot ist. Erinnere dich an ihn, wenn du soweit bist und es nicht mehr weh tut. Es ist egal wie lange es dauert, bloß erinnere dich an ihn, denn ich hörte von seiner Therapeutin, dass er ein toller Mensch war.“ Wieder stiegen die Tränen in mir auf.

,,Ich werde mich an ihn erinnern... denn er war ein unfassbar toller Mensch. Auf wieder hören.“

Und somit legte ich auf. Es war ein kaltes Gespräch meinerseits, doch sonst hätte ich wieder angefangen zu heulen.

Ich saß ungefähr eine viertel Stunde auf meinem Bett und dachte über das Rauchen nach. Und über unsere Gespräche und den Kuss. Doch dann wurden meine Gedanken unterbrochen. Ich hörte wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und die Klinke runter gedrückt wurde. Sofort stand ich auf und lief in den Flur hinaus. Luca zog gerade seine Schuhe aus, stellte seine Einkäufe ab und sah mich dann erschrocken an. ,,Was hast du denn?“, fragte er mich und lief auf mich zu. Meine roten Augen verrieten mich sofort. Ich hatte einen Klos im Hals und bat ihn mit einer Handbewegung ins Wohn- und Schlafzimmer. Wir setzten uns nebeneinander auf die Couch und er griff gleich nach meiner Hand. Ich hatte keine Ahnung wie ich es ihm hätte beibringen können. Wie sagt man seinem Freund, dass jemand den wir gut kannten, von uns gegangen ist? Ich atmete tief durch und schon wieder stiegen die Tränen in mir hoch und hinterließen ein raues Gefühl im Hals. ,,Weißt du, Leon hatte einen Rückfall.“, begann ich. Sofort verstärkte sich Lucas Griff etwas. Dann drehte ich kurz meinen Kopf von ihm weg, kniff vor lauter Schmerz die Augen zusammen, sah ihn dann in die Augen und wisperte: ,,Er hat ihn nicht überlebt.“

 

Luca bekam auch einen Brief von Leon, und niemand von uns beiden sah je den Brief des anderen. Wir haben das so beschlossen, weil es einfach Leons gutes Recht war, sich auf uns verlassen zu können, auch wenn er tot war.

Und an diesem Tag sah ich Luca das erste mal weinen. Als er neben mir saß und den Brief von Leon las, verkrampfte sich seine Hand immer mehr und langsam fing es an weh zu tun. ,,Du tust mir weh.“, flüsterte ich sachte und der Druck auf meiner Hand ließ nach. Er starrte zehn Minuten auf den Brief. Zehn Minuten sah ich ihn von der Seite an und wartete auf eine andere Reaktion außer Tränen. Dann endlich öffnete sich sein Mund, doch er konnte die Worte nicht herausbringen. Ich wartete geduldig auf etwas von ihm. Auf irgendetwas. Ich legte meine Arme um seinen Oberkörper und lehnte mich an ihn. Er nahm seinen Arm, legte ihn um mich und fing dann an zu reden:,,Ich kannte Leon schon seit der 5. Klasse. Er war in meiner Parallelklasse und der einzige der in meiner schweren Zeit noch zu mir gehalten hatte. Ich hab's dir nie erzählt...“ Ich drehte meinen Kopf und sah hoch in seine Augen. Sie waren genauso gerötet wie meine und glänzten. Seine Wimpern klebten zusammen und seine Schminke war leicht verschmiert. Ich sah einen verzweifelten Luca – so wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte seinen besten Freund verloren, und ich wusste nicht mal, dass es sein bester Freund war. Deswegen war ich auch nicht sauer auf ihn. ,,Warum hast du's mir nicht erzählt?“, wisperte ich und streichelte leicht seinen Rücken. Nach ein paar Sekunden fuhr er mit seiner Hand von meinen Schultern zu meiner Taille hinunter. ,,Weil ich dachte, dass du mich dann verabscheust.“, erklärte er, und ich sah dass er keine Miene verzog. Ich legte meinen Kopf wieder an seine Brust und erwiderte:,,Ich könnte dich niemals verabscheuen, Luca Wettner.“

 

Nachdem wir die Briefe verstaut hatten räumten wir noch die Einkäufe ein und setzten uns dann wieder auf unsere Couch. Frau Seerein hatte uns die Wohnung klar gemacht, und uns beauftragt Bewerbungen zu verschicken, damit wir so schnell wie möglich einen Ausbildungsplatz bekommen. Meine Eltern wurden über alles informiert und stimmten zu. Ich hatte sie seit meinen „Einzug“ in die Klinik nicht mehr gesehen. Wir wohnten zusammen in einer Einraumwohnung in Erfurt, damit wir jederzeit zur Klinik könnten.

Nach einer Weile, in der wir Fernsehen geschaut haben, oder eher mit glasigem Blick durch den Fernseher hindurch geschaut haben, während jeder von uns beiden mal anfing zu weinen, sagte ich:,,Ich glaube ich fände es echt scheiße jetzt tot zu sein. Ich meine, ich habe es versucht, wegen 'nem Scheißdreck. Einfach nur weil ich so in Selbstmitleid versunken war und dachte es ginge nicht anders. Wegen einem Typen, der meinte ich solle mich umbringen. Wie naiv muss man bitte sein?!“ Ich stöhnte und ließ mich nach hinten an die Lehne fallen. Schuldgefühle überfielen mich. Und schon wieder Selbstmitleid. Na toll.

Luca sah mich an, wie immer ausdruckslos, und fragte:,,Wie kommst du da drauf?“ Ich lehnte mich wieder nach vorne und sah ihm in die Augen. ,,Weil es bei Leon geklappt hat. Und er hatte bestimmt einen vernünftigeren Grund als ich. Uuuh, ich arme Luna Wielforst, wurde ja von meinem Arschloch von Freund verlassen und muss mich verletzen und umbringen. Ich hab mich in Anwesenheit meines damals besten Freundes umgebracht, und nicht mal eine Sekunde darüber nachgedacht, dass es so richtig scheiße von mir war. Um Gottes Willen, Selbsthass alias Selbstmitleid hört wohl nie auf.“, sagte ich und wurde so sauer auf mich, dass mir schon wieder die Tränen kamen. Ich stand auf und ging ans Fenster. Ich musste wieder runter kommen.Luca blieb sitzen und ich spürte seinen Blick auf mir. Im ersten Moment dachte ich, dass er mir zustimmen würde und deshalb nichts sagte. Und dann fing er an zu reden. ,,Natürlich war es egoistisch von dir, dich umbringen zu wollen und dich selbst zu verletzen. Natürlich schadest du damit nicht nur dir selbst. Aber Luna, du bist doch nicht die einzige abartig egoistische Person hier im Raum. Leon, Annabell, Pascal, selbst deine Krankenschwester Marissa und ich sind wohl abscheulich egoistische Leute, und in Selbstmitleid versunken. Und ja, wir denken nicht über andere Leute nach, die sich dadurch seelisch verletzt fühlen. Ja, verdammte Scheiße, wir sind unterste Schublade, weil wir den ganzen Tag mit uns und unseren „Problemen“ beschäftigt sind. Natürlich werden wir von den meisten Menschen deswegen auch gehasst und verteufelt. Aber weißt du was? Nicht umsonst gehen wir in die Psychiatrie um uns helfen zu lassen. Ja, wir sind wieder den ganzen Tag mit uns selbst beschäftigt, aber nur um am Ende wieder klaren Kopf zu haben. Wie du. Um Stärke zu gewinnen. Wie du. Jetzt sind wir keine nach Aufmerksamkeit, Selbsthass und Selbstmitleid stinkenden Leute mehr. Klar haben wir noch die gleichen Narben auf der Haut und die gleichen Erinnerungen, aber scheiß doch einfach mal darauf was damals war. Du lebst hier und jetzt und hast noch ein ganzes Leben vor dir. Leon hat seines... verschenkt, aber du bist hier. DU. BIST. HIER!“ Ich drehte mich mit dem Rücken zur Wand und ließ mich nach unten sinken. Es war das erste mal dass ich so (fast schon) poetische Worte von Luca gehört hatte. ,,Ich bin hier...“, flüsterte ich und schloss die Augen. Aber Leon war nicht hier. Leon war jetzt irgendwo anders. Und es machte mich fertig. Ich hörte wie Luca sich erhob, öffnete meine Augen und sah dann, dass er vor mir stand. Er ging in die Hocke und sagte:,,Und, Gott, ich liebe dich Luna. Weil wir beide uns für das Vergangene hassen, und weil du du bist. Es war mir egal ob du auch so in Selbstmitleid versunken warst wie ich. Und jetzt ist es vorbei und ich liebe dich immer noch.“, er legte eine kurze Pause ein, weil ihm die Tränen kamen. ,,Und es tut mir unfassbar weh, dass Leon tot ist, das kannst du dir nicht vorstellen. Aber morgen geht die Sonne auf und die Erde dreht sich weiter... auch ohne ihn... auch wenn es unvorstellbar ist.“ Dann reichte er mir die Hand und half mir hoch. Als ich stand nahm ich ihn in meine Arme, fing leise an zu weinen und flüsterte ganz sachte in sein Ohr:,,Es tut mir so leid.“

 

Ich muss sagen, ich konnte endlich verstehen, warum meine Eltern mich in die Klinik eingewiesen hatten. Sie hatten Recht, ich brauchte Hilfe. Dingend. Und es wäre auch alles gut gewesen, hätten sie mich nur einmal gefragt wie es mir geht. Doch das haben sie nicht, ich habe sie verloren, und sie haben mich verloren. Es ist nicht das beste was mir je passiert ist. Ob es das Schlimmste ist, weiß ich nicht. Es tat auf jeden Fall weh.

 

 

Am Freitag der darauf folgenden Woche fand Leons Beerdigung statt.

Der Prediger hielt draußen seine Rede, und ließ dann die Angehörigen und Familienmitglieder vortreten, damit sie auch ein paar Wort sagen konnten. Sein Vater war am Boden zerstört, und bewegte sich die ganze Zeit nicht vom Fleck. Seine Tante und sein Onkel hielten eine kleine Rede. Sie sprachen davon wie er doch gekämpft hatte. Seine Oma erzählte von seiner Kindheit, und dass sie schon immer stolz auf ihn war. Danach ging Luca nach vorne, an den provisorischen Rednerpult, mit Tränen in den Augen. Seine Hände umschlossen verkrampft seinen Blumenstrauß, und dann fing er an zu reden:,,Ich habe nicht vor eine lange Rede zu halten, um dass zu sagen was eh schon alle denken und wissen. Ich möchte nur eines sagen: Ich habe noch nie so einen ehrlichen und coolen Typen wie Leon gekannt. Klar hatte er Drogenprobleme und er war jetzt nicht der bravste Junge der Welt. Doch er war mein bester Freund und hat zu mir gehalten als es andere nicht konnten. Und Bro, falls du das irgendwie hörst oder dein Geist gerade hier herum schwebt, dann hoffe ich dass da wo bist noch ein Platz am Fenster frei ist. Gute Reise mein Freund.“ Man könnte meinen, dass es eine dumme Rede zur Beerdigung war, doch ich glaube dass alle Anwesenden den Sinn verstanden haben. Denn es applaudierten alle und umarmten ihn danach. Plötzlich kam ich mir mit meiner Rede ziemlich dumm vor.

Ich trat also hervor, mit den Blick auf den Sarg gerichtet, und begann mit zitternder Stimme mit meiner Rede:,,Ich wusste ehrlich gesagt nicht über was ich reden sollte, und mir ist nur eines eingefallen: Selbstmord ist eine ziemlich egoistische Sache. Dogen nehmen ist egoistisch. Selbstverletzung ist egoistisch. Selbstmitleid ist egoistisch. Das heißt also eigentlich, dass Leon ein ziemlich egoistischer Mensch war, doch ich vergebe ihm. Ich vergebe ihm, dass er sich umgebracht hat, weil ich es selbst wollte. Weil ich selbst sehr egoistisch war. Doch es geht hier nicht um mich, sondern um Leon. Ich vergebe ihm, weil er kein egoistischer Mensch war. Er hat mir soviel vom Leben beigebracht. Durch ihm hab ich mich endlich wieder wie eine richtige Jugendliche gefühlt, weil er mich abgelenkt hat. Er hat nie viel von sich preisgegeben, doch eines weiß ich: Er hätte es verdient, länger zu leben. Doch nur man selbst weiß was für einen selbst das richtige ist. Tief im Inneren. Natürlich ist Selbstmord scheiße – der Tod an sich auch. Der Tod ist immer scheiße. Doch wie gesagt, ich vergebe ihm, weil er mein bester Freund war... Und, Gott, ich hätte mir gern mehr Tage, oder Jahre, für Leon gewünscht.“, ich musste kurz innehalten, weil ich zu weinen anfing, ,,Leb wohl, Leon.“

Bis heute weiß ich nicht, ob alle meine Rede gut fanden, denn keiner hat applaudiert oder mich umarmt. Alle standen da und haben geweint. Luca ebenfalls. Ich habe meine Rose auf seinen Sarg getan, und habe zugesehen wie sie ihn in die Erde hinab gelassen haben und ihn zugeschüttet haben. Ich gab Luca einen Kuss auf die Wange und war froh, dass er noch da war und sich nicht getötet hat. Irgendwann, als alle weg waren, setzte ich mich mit ihm auf das Gras vor dem Grab.
Wir saßen noch da, bis die Sterne am Himmel standen.

 

 

Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross sagt: es gibt 5 Phasen der Trauer die man durchlebt, wenn man stirbt, oder nach einem schweren Verlust.
Die erste Phase ist die Verweigerung. Man will nicht wahrhaben, dass eine bestimmte Person auf einmal nicht mehr da ist, oder dass man in ein paar Tagen, Wochen, Monaten, Jahren stirbt. Man will nichts davon wissen, dass man den besten Freund oder die Eltern nie wieder sehen wird.
Dann wird man wütend – auf die Überlebenden, die Ärzte, sich selbst.
Danach kommt die Verhandlung. Man würde alles geben, um sich nur noch einen weiteren Tag zu gewähren oder um diese eine Person nur noch ein einziges Mal wieder zu sehen.
Wenn das alles nicht funktioniert, kommt die Depression. Man macht sich fertig, man schließt sich ein, um dem Tod vielleicht doch noch zu entkommen, oder weil man denkt, dass es dadurch besser wird.
Irgendwann muss man aber akzeptieren, dass man alles getan hat und muss los lassen. Man akzeptiert den Tod der einen bevor steht oder den man erlebt hat. Man lebt weiter, oder nicht. Doch man muss los lassen.

 

 

 

 

Es gibt 5 Phasen der Trauerbewältigung:

 

Luna:,,Verweigerung.“

Pascal:,,Wut.“

Annabell:,,Verhandlung.“

Marissa:,,Depression.“

Luca:,,Akzeptanz.“

 

 

Nachwort

Doch wenn man fällt,

muss man auch wieder aufstehen.

Denn auf dem Boden liegt nur Dreck,

und du bist keiner.

Du musst wieder aufstehen,

um davon laufen zu können.
Um jemanden näher zu treten,

um dich zu entfernen,

Um zu kämpfen und um wieder zu fallen.
Doch egal wie oft man fällt,

es lohnt sich wieder aufzustehen.
Es lohnt sich, sich aus dem Schmutz zu erheben.

Denn am Ende des Tages lohnt es sich.

Es lohnt sich immer.

 

- Laura Aßmann

Impressum

Texte: Die Rechte liegen bei mir, außer bei den erwähnten Zitaten.
Bildmaterialien: Das Cover ist nicht von mir (außer der Schriftzug), doch ich fand es sehr passend und habe es ausgewählt. Den Urheber konnte ich nicht auffinden, er möge sich bei mir melden.
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meinen Exfreunden.

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