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Kapitel 1.

»Xander! Steh endlich auf, du Versager, es ist schon halb acht!«, erklingt die schrille Stimme meines großen Bruders nach oben in mein Zimmer.

Montagmorgen, Sommerferien sind vorbei und es ist der scheiß-erste Schultag, an diesem Tag fällt es mir schwer so früh aufzustehen, wie auch an allen anderen.

»Halt deine Fresse, Klugscheißer«, brülle ich unter meinem Kissen zurück.

Tay erwidert noch irgendetwas, sicher nichts Gutes, aber ich höre es nicht mehr, weil ich mein Kissen stärker herunterdrücke. Die Ruhe währt nicht lange. Schon zwei Minuten später spüre ich etwas flüssiges und warmes an meinem Fuß, der unter der Decke herauslugt. Sofort bin ich auf Alarmstufe und springe so schnell aus dem Bett, dass mir sogar etwas schwindelig wird.

Die ungute Ahnung wird bestätigt: Mein Bruder schließt mit einem hinterhältigen, zahnspangenreichen Grinsen seinen Reißverschluss und will sich gerade umdrehen und flüchten, zu seinem Unglück bin ich schneller.

Ich reiß an seiner spießigen Krawatte und stoße ihn zu Boden.

»Du kleiner Dreckskerl! Du hast mich mit deiner stinkenden Pisse bespritzt. Scheiße«

Daraufhin versetze ich ihm einen harten und professionellen Kinnhaken – schließlich sind die Hunderten von absolvierten Boxstunden nicht umsonst gewesen.

Tay hat überhaupt keine Chance gegen mich, er ist ein verweichlichtes Muttersöhnchen. Ich spüre wie seine Zahnspange sich verbiegt, aber hole trotzdem erneut aus. Als meine Faust nur noch ein paar Zentimeter von seiner Stupsnase entfernt ist, reißt jemand die Tür auf und ich schaue überrascht auf – Gott verdammt, es ist meine Mutter.

»Alexander! Lass ihn los, lass ihn los.«, wimmert sie weinerlich und zerrt an meinen Armen.

Normalerweise liegt sie zu dieser Zeit im Bett und hört klassische Musik gegen ihre Depressionen, aber heute anscheinend nicht. Der Tag fängt ja blendend an.

Auf so was habe ich nun wirklich keine Lust, ich lass von meinem Bruder ab und stehe seelenruhig auf, Prima zieht immer noch an mir, was ziemlich nervig ist.

»Prima, nimm deine Finger von mir, ich tue ihm ja nichts mehr«, sage ich zu ihr, streife ihre zierlichen und schwachen Hände ab und banne mir einen Weg ins Badezimmer – was leicht klingt, ist eine beschwerliche Arbeit.

Mein Zimmer ist das reinste Chaos, überall liegen dreckige Sachen, Bücher, Essensreste und Verpackungen, ein Jungenzimmer eben. Schnell dusche ich, meinen angepissten Fuß schrubbe ich ganz besonders gründlich, und putze hastig die Zähne, während der heiße Strahl meine Wut gänzlich weg spült.

Ausgerechnet in dem unpassendsten Moment musste meine Mutter aus ihrer dunklen Kammer heraus kriechen, das erste Mal seit mehreren Monaten.

Unsere Haushälterin kümmert sich um sie, hilft ihr beim waschen, füttert sie, wenn meine Mutter tagelang nichts selber isst und räumt alles auf, nach dem sie das Gegessene wieder herausgekotzt hat. Doch den Geruch nach Tod, bleibt an ihr kleben. Er ist seit dem Tag vorhanden, an dem sie sich versucht hat umzubringen, also seid der Fehlgeburt vor fünf Jahren.

Diese beschissenen Gedanken verderben meine Laune noch mehr, ich versuche mich auf etwas anderes zu konzentrieren, zum Beispiel auf das neue Schuljahr.

Nach dem ich fertig bin, steige ich nackt aus der dampfenden Duschkabine und betrachte mich eine Weile im großen Spiegel, der gegenüber hängt.

In dem Sommer bin ich gewachsen sowie auch meine blonde Mähne, die ich nie unter Kontrolle kriege wegen der Knoten darin und deswegen immer ganz kurz schneide, doch zur Zeit reichen sie mir bis zu den Schultern. Das Gesicht ist älter geworden, nicht mehr so rund wie früher. Mein strahlendes Lächeln habe ich jedoch behalten, sowie den durchtrainierten Körper, den ich schon seit jeher ohne große Mühe halten kann.

Ganz nackt gehe ich wieder in mein Zimmer, hab schon vollkommen vergessen, dass ich nicht allein bin dort und greife fix nach einem Handtuch, welches ich mir um die Hüften schlinge.

Tay liegt immer noch wie ein Häufchen Elend da und Prima streichelt sein Gesicht, wie bei einem Baby und wiederholt immer dieselben Worte:

»Alles ist gut, mein Kleiner.«

Was für ein verfluchtes Theater wegen eines einzigen Schlags und der ist, nebenbei bemerkt, nicht mit voller Kraft gewesen.

Vorsichtig und doch entschlossen helfe ich meiner Mutter auf und stelle sie vor die Tür, dasselbe mache ich auch mit Tay, beide leisten keinen Widerstand. Wobei Tay herzzerreißend vor sich hin schluchzt. Vielleicht habe ich doch stärker verletzt als beabsichtigt? Verneinend schüttele ich den Kopf – er übertreibt bloß um mich weich zu kriegen.

Daraufhin ziehe ich ein paar abgenutzte Jeans und ein einigermaßen sauber riechendes T-Shirt an, nichts Besonderes.

Dann bin ich endlich fertig und hetze die gewundene, hohe Treppe runter. Ein Brötchen mit flüssigem Käse bestrichen, hm, und einen Becher frisch gepressten Orangensaft stürze ich so schnell wie möglich herunter und schnappe mir anschließend meine Schultasche.

»Guten Morgen, Xander. Kommst du wieder zu spät zur Schule?«, fragt Britta, die Haushälterin im Haus und mein altes Kindermädchen, mit einem gutmütigem Lächeln auf dem von Falten gezeichneten Gesicht.

Ich gebe ihr einen flüchtigen Kuss auf die weiche Wange während ich vorbei rase, sie ist die einzige hier im Haus, der ich unbegrenzt vertraue.

»Wie kommst du denn darauf, Britta? Ich kann es nur kaum erwarten heute in der Schule zu sein«, rufe ich noch, bevor ich die riesige, vergoldete Haustür hinter mir zuknalle.

Tief atme ich die schöne frische Luft ein – es ist jederzeit eine Erleichterung, aus dieser Scheiß Villa raus zu kommen. Ja, eine Scheißerleichterung.

Den Weg zur Bushaltestelle schaffe ich in fünfzehn Minuten, was mein bisheriger Rekord ist, und erwische ganz knapp den Bus. Schweißüberströmt und völlig außer Puste lasse ich mich auf meinen üblichen Platz fallen und grüße alle zurück, die mir winken.

»Hm, hast du' s auch rechtzeitig geschafft«

Michael neben mir, redet wie üblich mit gelangweilter Stimme.

»Ja«, stoße ich hervor und krame in meiner Tasche nach einer Wasserflasche. Natürlich habe ich vergessen eine einzupacken. Fluchend kicke ich meine Sachen durch den Busgang.

»Hat jemand etwas zu trinken für mich?«

Im nächsten Augenblick taucht eine Flasche rechts vor mir auf und noch ein paar andere recken welche in meine Richtung. Ich entscheide mich zufällig für die Flasche von Clarisse, der Schulschönheit, die laut Gerüchten in mich verknallt sein soll. Das Gerücht stimmt, dass habe ich selbst überprüft - wir knutschen gelegentlich miteinander, nichts weiter.

Meine Hand streift versehentlich ihre, was sie zum erröten bringt, sie wird schnell rot, und ein paar Jungs fangen an anzüglich zu pfeifen. Das alles beachte ich nicht, ich trinke einen Schluck und gebe ihr die Wasserflasche zurück, wobei ich peinlich sorgfältig darauf achte, sie nicht schon wieder zu berühren. Ich muss aufpassen, was ich in Zukunft zu ihr sage und wie ich mit ihr umgehe. Unsere paar Treffen nimmt sie, wie ich glaube, viel zu ernst und ich will ihre Hoffnungen ja nicht auch noch mehr schüren.

»He, weis' was? Ich hab von Bobby gehört, dass wir' n Neuen kriegen«, meint Michael auf einmal und ich drehe mich verwundert zu ihm um.

Schon seit langem haben wir keinen neuen Schüler mehr bekommen, in unserer Schule ist es schwer einen Platz zu ergattern, schließlich gehe ich auf eine unnötig teure Privatschule.

Man könnte sich wundern, warum so reiche Kids mit solchen stinknormalen Bussen fahren. Tja, zum größten Teil ist dieser Bus, so eine Art Strafe von den Eltern für ihre verzogenen Nachwuchs. Doch ich fahre gerne mit dem Bus, vor allem weil ich selber keinen Führerschein besitze.

»Achja, und wer ist es?«, erkundige ich mich, als mir klar wird, dass Michael nicht weiter sprechen wird.

Unterbelichtet blinzelt er mich an. »Wer ist was?«

Genervt verdrehe ich die Augen und frag mich bestimmt zum tausendsten Mal, warum ich, zum Henker, mit ihm befreundet bin. Wahrscheinlich weil er der einzige Typ auf meiner Schule ist, deren Welt sich nicht nur um Geld und Spaß dreht, außer mir natürlich.

»Wer der Scheiß-Neue ist«, sage ich und spreche jedes Wort betont langsam aus.

Er kratzt sich an seinem unregelmäßigen Bartwuchs und überlegt angestrengt.

Würde ich ihn nicht kennen, hätte ich locker geglaubt, dass ein Penner mein Busnachbar ist. Und wenn seine Eltern nicht im Geld baden würden, dann wäre er schon lange aus der Schule geflogen, er kifft dort und verkauft auch noch nebenbei was an Mitschüler. Man nennt ihn nur der Kiffer und ich bin höchstwahrscheinlich sein einziger Freund dort. Seine Kunden nicht eingerechnet, die eh ständig high sind.

»Ich weiß nicht genau, wer der is, aber Bobby sagt, dass seine Alten arme Lutscher warn.« Hat ja nur gefüllte fünf Minuten gedauert bis er antwortet.

Bobby, Bobby, wer ist das, denke ich, doch dann runzle ich die Stirn »Waren?«

»Ja, sin' tot, die armen Schweine. Angeblich war der Kerl in 'ner Anstalt, und sein Onkel hat ihn dann nach draußen geholt. Der Käsemann, du weiß schon, der Dicke auf den Plakaten überall.«

Ich weiß genau wen er meint – der erfolgreichste Käsemacher im Land, er hat seinen Namen angeblich sogar in Mr. Cheese ändern lassen. Einfach lächerlich.

  

***

 

Der Bus kommt an der Persiasschule an, und nach einem gewaltigen Drängeln an der engen Bustür steigen alle raus und kommen auf den vollkommen runden Pausenhof, der aus großen bunten Steinquadern besteht.

Für einen Schulpausenhof ist alles ungewöhnlich sauber, weil es hier vier ausgebildete Hausmeister, Rasenmähermänner, wie ich sie nenne, und noch viele andere Leute, die sich jeden Tag den Arsch abrackern um alles sauber zu halten, gibt.

Die Persiasschule ist eine Mischung aus Altbau und Neubau, sie wurde jedes Jahrzehnt restauriert aber man sieht die älteren Teile des Gebäudes immer noch. Wie die Hohen Säulen, die Treppen außen und innen und die Bogendecken, die an eine Kirche erinnern sind noch aus der Bauzeit. Die Raumgestaltung ist natürlich topmodern und neu, die Fenster auch. Es ist ein schönes Gebäude und ich interessiere mich schon länger für Architektur. Es langfristig als Arbeit zu machen wird aber eher schwer werden, weil ich nicht die nötigen Noten dafür habe.

Mit der Gruppe schreiten wir durch die Schule und verstreuen uns dann in den Schulgängen.

Michael will noch Eine rauchen und ich begleite ihn, weil ich es nicht eilig habe in die Klasse zu kommen. Die Schulglocke ertönt und wir rennen noch schnell ins Klassenzimmer, bevor Mrs. Garn, meine Mathelehrerin, die Tür schließen kann. Böse funkelt sie uns an.

»Ihr seid unverbesserlich. Kommt rein, ihr seid eine Minute zu spät! Das ist euer letztes Jahr an dieser Schule, also seid gefälligst nicht so faul um früher aufzustehen«, kläfft sie uns mit lauter Spucktröpfchen an, ich stehe ihr so nah, dass ich ihre gelben, pelzigen Zähne sehe und auch noch eine ganze Portion ihres fauligen Atems in mein Gesicht kriege - es haut mich förmlich um und ich weiche hektisch handwedelnd zu meinem Platz. Alle fangen an schallend zu lachen.

»Alexander Rayn, sofort zum Schuldirektor!«, bellt meine Lehrerin durch die ganze Klasse.

Na toll, das hat mir gerade noch gefehlt. Schon am ersten Schultag Ärger.

»Aber was habe ich denn getan?«, frage ich ehrlich verwirrt, wieder lachen alle.

Mrs. Garn kocht, zittert vor Wut und sieht aus, als wird sie gleich hochgehen wie ein Vulkan.

Ich hebe meine Arme, als ob ich zeigen will, dass ich mich ergebe und dass ich unbewaffnet bin. Als ich raus gehe, höre ich, wie meine Klassenkameraden wieder anfangen zu kichern. Wie im Kindergarten.

Den Flur herunter gelange ich bei der Schulsekretärin an. Es ist eine Frau Mitte dreißig. Sie heißt Ms. Sarsa.

»Wieder was angestellt, Xander? Warte, ich sage dem Direktor bescheid« Sie lacht und ich sehe ihren verschmierten roten Lippenstift, den sie versucht hat wegzuwischen - es hat scheinbar nicht geklappt. Dass sie eine Affäre mit dem Schuldirektor hat, habe ich schon an meinem allerersten Tag an dieser Schule bemerkt, aber ich kann es immer noch nicht ganz verstehen, warum sie sich das antut. Der Direktor, Mr. Pross, ist fett, alt, kahl und nicht einmal reich, was es zumindest ein bisschen erklären würde.

Ohne Ms. Sarsas um Erlaubnis zu fragen, klopfe ich an und trete daraufhin ein. Ein starker Geruch nach Desinfektionsmittel gemischt mit etwas anderem schlägt mir entgegen. Aus Gewohnheit will ich mich direkt auf den rechten Stuhl vor dem Pult setzen – er ist bereits besetzt. Verdutzt schaue ich zum Schuldigen. Dort sitzt ein Typ mit einer feschen Nerd-Brille, die heutzutage alle ohne richtige Gläser tragen, bei ihm sind sie aber offensichtlich echt und alles an ihm ist rabenschwarz, die kurzen zurückgegelten Haare wie bei einem Mafiosi, die Augenbrauen, die Augen und seine gesamte Kleidung.

Seit jeher habe ich mir angewöhnt alle Menschen genauestens zu betrachten und mir jede Einzelheit zu merken, warum, weiß ich nicht mehr.

Unsere Blicke begegnen sich und seine stechenden Murmelaugen durchbohren mich praktisch, wie elektrisiert bleibe ich stocksteif stehen und wir starren uns komischerweise weiter an. Wer zum Teufel ist das den?

Die Antwort kommt in Form vom Direktor. »Xander, Xander, du ungezogener Bengel, schon hier. Das ist dein neuer Mitschüler, Casper« Es klingt, als ob er mit einem Kleinkind redet, so wie sonst auch.

Ich glaube, er hält mich für zurückgeblieben oder so etwas. Angestrengt sehe ich weg und es fällt mir schwer den Augen von diesem Casper auszuweichen, der macht mich echt nervös. Plötzlich grinse ich und erwidere diesmal unbeschwert seinen Blick, er hebt dezent eine Augenbraue.

»Casper Cheese nehme ich an?«

Seine Reaktion ist unglaublich, zuerst kommt ein leichtes Grinsen, dann wird seine Miene düster, dann traurig, dann gequält und dann einfach emotionslos, alles in nur höchstens Fünf Sekunden. Ungläubig blinzle ich und will etwas witziges sagen, allerdings kommt er mir zuvor.

»Nein, mein Nachnahme ist nicht Cheese, sondern Kolec.«, erwidert er mit kristallklarer und kalter Stimme.

»Okay...« Das Wort ziehe ich extra lang und setzte mich somit ungetrübt auf den anderen Stuhl.

»Casper. Ist ja ein komischer Name«, murmele ich noch unüberhörbar und sehe zu meinem Erstaunen, dass die Lederarmlehne des Stuhls, auf dem er sitzt, knirscht, er drückt sie fest zusammen. Der Typ hat wohl ein Scheiß-Aggressionsproblem.

»War doch nur ein Witz, zum Teufel« Dabei ignoriere ich den Direktor absichtlich, der uns mit seinen Kuhaugen aufmerksam beäugt. Casper lockert den Griff um die zerdrückte Armlehne und schaut geradeaus, ich tue es ihm gleich.

»Wollt ihr euch nicht die Hand schütteln, Jungs? Na kommt, Jungs, nicht so schüchtern«, befiehlt Pross und führt es uns mit seinen beiden fleischigen Händen vor.

Widerwillig strecke ich meine Rechte aus, doch Casper nicht, er bleibt bewegungslos sitzen und beachtet meine dargebotene Hand gar nicht erst.

Noch kennt er unseren lieben Direktor nicht.

Wie aufs Stichwort wird dieser so rot wie eine Tomate und dann blau, zudem blähen seine Nasenflügel sich extrem auf, sodass ich bestimmt meinen Daumen rein bekommen hätte, ohne seine Nase auch nur zu berühren. Bei der ekligen Vorstellung schüttele ich mich.

»Ich sagte: Schüttelt euch die Hand«, presst er zwischen seinen wulstigen Lippen hervor. Unauffällig trete ich Casper unter dem Pult gegen das Bein und er lässt sich endlich dazu herab meine Hand zu nehmen.

Huch, das war ja knapp gewesen, noch einen Moment und er wäre durchgedreht – er wird zu einem Stier, wenn man seine Befehle nicht befolgt. Ich muss es ja wissen, bin nicht das erste Mal hier. Ein zufriedenes Lächeln lässt das Gesicht von Pross noch breiter werden und er sieht der, meiner Meinung nach, gruseligen, Grinsekatze verdächtig ähnlich. Manchmal stelle ich ihn mir auch als einen wahnsinnigen Puppenspieler vor.

»War doch gar nicht so schwer, oder Jungs?«

Eine Antwort wartet er gar nicht ab sondern fährt fort. »Was du wieder angestellt hast, kümmert mich nicht, Xander«

Das zaubert mir ein erfreutes Grinsen ins Gesicht, welches sofort wieder verschwindet – der Direktor hat seinen schweren Zeigefinger gehoben. Jetzt kommt sicher das große Wenn und ich werde nicht enttäuscht.

»Wenn du unserem Neuen hier, unsere wunderschöne Schule zeigst und ihn mit anderen Schülern bekannt machst. Am besten in der Mittagspause, bis dahin lässt du ihn nicht allein«

Den Kopf voll mit Protestargumenten reiße ich den Mund auf und verstumme gleich darauf. Er hat seinen fetten Leib vom Stuhl gehoben und bohrt mir seinen Finger in die Brust, das ist noch nie vorgekommen.

»Wenn nicht, dann wird dein heutiges Vergehen und die Folgenden schlimmer bestraft als bei jedem anderen deiner Mitschüler«, droht er.

Das wird es doch eh schon, rutscht es mir fast aus. Ich werfe Casper einen bitterbösen Blick zu, als wäre er Schuld an allem.

Und seit wann weist Pross einen anderen Schüler an, einem Neuen die Schule zu zeigen? Er lässt doch keine Gelegenheit aus, sie jedem anzupreisen und zu Spenden zu überreden. Achja, dieser hier ist angeblich ein Psycho. Hat Pross etwa Angst vor ihm, oder täusche ich mich und er will mich so bestrafen? Egal, das Ergebnis bleibt dasselbe.

Resigniert seufzend nicke ich. Herr Schuldirektor plumpst atemlos auf seinen überteuerten, maßgefertigten Monstersessel zurück, fast als hätte er einen Marathon hinter sich und Casper und ich erheben uns nahezu gleichzeitig.

Hastig verlasse ich das stickige Kabinett, bevor Pross mir noch etwas anderes aufhalsen kann und vergewissere mich kurz ob Casper mir folgt – was er ganz artig tut. Zusammen gehen wir zurück zum Klassenraum. Ich gehe schnellen Schrittes, damit der Neue ein bisschen außer Atem kommt, er ist jedoch nicht weniger sportlich als ich. Außerdem merke ich, dass er größer ist, dabei bin ich fast 1,80 Meter groß.

Mit voller Wucht stoße ich die Klassentür sperrangelweit auf, sie fliegt fast aus den Angeln und kracht auf der anderen Seite laut gegen die Wand, und lasse den Neuen mit theatralischem Gehabe den Vortritt. Er wirft mir einen mörderischen Blick zu und verbeugt sich dann ebenso theatralisch vor mir, bevor er reingeht. Ich muss unwillkürlich glucksen – vielleicht ist er doch nicht so übel wie gedacht.

Drinnen sehe ich, dass es keine freien Plätze mehr gibt, außer zwei ganz hinten. Was für ein Glückspilz ich doch bin. Mit hängenden Schultern schlurfe ich dorthin. Es gibt keine schlechteren Sitzplätze, weil man sich dort zwangsläufig in der Nähe des stinkenden Rory befindet. Er riecht noch schlimmer als Mr. Pross, der gerade vom Sport kommt und sich in seiner desinfektionsmittelverseuchten Toilette zum kacken setzt.

Interessiert beobachte ich Casper, der gerade mit einer Blockschrift seinen Vollständigen Namen auf die Tafel schreibt, während ich es mir auf meinem neuen Sitzplatz so bequem wie möglich mache. Rory grinst mich schief an und entblößt damit seine faulenden Zähne.

Er ist einer der wenigen an dieser Schule, die so aussehen, als kommen sie direkt nach einem Fotoshooting hierher, denn er ist ein Gastschüler, deren Vater darauf bestanden hat, ihn hier zu Unterrichten. Rorys Vater ist ein Lottogewinner, keiner weiß mehr genau, wie viel er gewonnen hat, aber das muss reichen um Pross dazu zu bewegen, ihn als Gastschüler aufzunehmen.

»Ich heiße nicht Cheese, wie alle hier sicher annehmen«, sagt Casper laut in die Stille hinein und verzieht sein Gesicht dabei. »Und ja, ich war in einer der berüchtigsten Psychiatrie, aus der mein Onkel mich erst vor kurzem rausgeholt hat, obwohl die Ärzte nicht fanden, dass ich schon bereit für den normalen Umgang mit Menschen bin, ohne ihnen etwas anzutun.«

Die Kreide zerquetscht er in der Faust und geht auf seinen neuen Platz - neben mich. Eine oscarreife Vorstellung und deshalb klatsche ich hingerissen, aber die anderen sehen eher schockiert aus. Was für Warmduscher, denke ich augenverdrehend und lächele anerkennend zu Casper hinüber.

»Das war ernst gemeint«, sagt er düster zu mir, seine zuckenden Mundwinkel sehe ich trotzdem und lache schallend auf.

»Das weiß ich doch, Mann, und ich glaube wir werden noch gute Freunde«

Kapitel 2.

Ein paar Unterrichtsstunden später steht die halbstündige Mittagspause kurz bevor und in Geschichte schlafe ich so sabbernd und fest wie ein Säugling. Da träume ich gerade von leckeren Käsesandwichs mit sauren, saftigen Gürckchen und höre deutlich, wie ein Sandwich meinen Namen sagt.

»Xander, Xander!«, säuselt es fordernd.

Jäh fühle ich einen ziependen Schmerz im Oberarm und schrecke auf, wobei mein Speichelfaden mir feucht ins Gesicht fliegt.

»Ich stehe ja schon auf, du...«

Eine Kopfnuss von Casper holt mich wieder in die Wirklichkeit und ich halte noch rechtzeitig die Klappe. Peinlich berührt sehe ich in die Runde und erblicke eine befangene Geschichtslehrerin.

»Ich sagte gerade: Alexander, du macht das schriftliche Referat mit Casper zusammen. Hat einer von euch beiden eine Idee worüber?«

Ihre leise unsichere Stimme kann ich kaum verstehen. Verwirrt linse ich zu meinem Sitznachbarn, der die Hand gehoben hat.

»Ich werde ein Referat über Fred Wasling schreiben, auch bekannt unter "Dealer Killer"«, lässt er unaufgefordert alle wissen.

Darauf folgt ein beklommenes Raunen, ich dagegen verstehe nicht von wem er da eigentlich spricht.

»Hä?«, lautet mein geistreicher Beitrag zur Unterhaltung. Entnervt, wie mir scheint, wendet der Angesprochene sich an mich.

»Wer kennt den berühmtesten Serienmörder der Welt bitte nicht?«

Stirnrunzelnd deute ich auf mich. »Ich zum Beispiel«

Die Geschichtslehrerin räuspert sich vornehm. »Regelt das lieber nicht im Unterricht.« Mit einem letzten ängstlichen Blick zu Casper spricht sie wieder an die ganze Klasse.

»Jeder von euch hat drei Wochen Zeit dafür und die nächsten Unterrichtsstunden bei mir fallen aus, damit ihr mehr Zeit für eure Referate-«

Den Rest kriegen wir nicht mehr mit, weil die Mittagspausenglocke losgeht und alle herausstürmen, ich an der Spitze mit dem Neuen an meiner Seite.

Schweigend gehen wir durch die Menge und alle tuscheln hinter vorgehaltener Hand und mit Zeigefingern, die deutlich auf Casper zeigen, aber so wie es aussieht geht es ihm wohl am Arsch vorbei.

»Wer ist dieser Dealer denn nun?«

»Der "Dealer Killer" ist der erfolgreichste Serienmörder in der Geschichte. Man hat ihn nie erwischt, oder ihm irgendwas nachweisen können. Die perfekten Morde, also«, erzählt er beinahe ehrfurchtsvoll.

»Bist du etwa ein abgefuckter Groupie? Was zum Henker ist verkehrt mir dir?«, lache ich und beobachte amüsiert, wie er mich folglich verärgert mustert, aber als er an meinem Grinsen ankommt, wird seine Miene weicher.

»Ich wollte damit nur erreichen, dass deine Mitschüler sich mir nicht nähern. Aber du bist ganz okay«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Eigentlich müsste er mich doch ebenfalls abschrecken, doch das Gegenteil ist der Fall – seine Art fasziniert mich irgendwie.

Verblüfft über meine eigenen Gedanken - das Wort "faszinierend" habe ich bis jetzt noch nie in Verbindung mit einem Kerl gebraucht - führe ich ihn durch die Gänge, zu den Toiletten, zu der gigantischen Mensa und all dem anderen Sehenswerten.

»So, und hier befinden wir uns in dem schrecklichen Todeskeller der Persiasschule. Hier wurden Hunderte von kleinen Fünftklässlern zerstückelt und schlampig in die Wände eingemauert, deswegen stinkt es hier überall auch so nach diesem Desinfektionszeug – der Rektor will den Leichengeruch verdecken, der sich durch die Jahre eingenistet hat. Was erzähle ich dir das überhaupt, du verstehst bestimmt am Besten wovon ich rede«, setze ich meine Tour fort und unvermittelt fängt mein Begleiter an zu lachen. Es klingt rauchig, wie bei einem Kettenraucher und doch ansteckend.

»Du bist gar nicht so arrogant wie du auf den ersten Blick wirkst«, meine ich - er sieht mich nur mit seinem durchdringenden Bohrblick an.

»Du kennst mich nicht, Alexander«

Das stimmt allerdings, aber ich würde es gern, bin ich kurz davor zu sagen.

Seine auffälligen, schwarzen Augenbrauen sind fast unmöglich hoch in die Stirn gezogen. »Aber wir werden uns kennenlernen, nehme ich an«

Kann er etwa meine Gedanken lesen? Kopfschüttelnd gehe ich weiter.

»Ich stelle dich jemandem vor«

Wir trotten zum Pausenhof und in einer dichten Rauchwolke, hinter dem Gerätehäuschen entdecke ich Michael – kiffend, was sonst.

»Hey Michael, hier ist mein neuer Lover, ist er nicht bezaubernd?«, scherze ich in guter Laune, ziehe Casper an den Hüften zu mir heran, er prustet laut los, als hätte ich den Witz des Jahrhunderts gerissen und hört gar nicht mehr auf. So witzig ist das nun auch wieder nicht, denke ich, aber egal.

Michael dagegen pustet Rauchringe in die Luft und betrachtet dann mit halb geschlossenen Augen Casper von oben bis unten. Er nimmt einen weiteren tiefen Zug, hebt schwerfällig zwei Finger seiner nicht beschäftigten Hand und macht das Ich-habe-dich-im-Blick-Zeichen.

Was soll dass denn bedeuten?

»Hab's gewusst«, sagt er auch, nicht an mich gerichtet.

Wenn er high ist, schrumpft sein Wortschaft auf die grundlegenden Wörter.

Die Belustigung auf Caspers Gesicht ist unübersehbar, sie gilt aber nicht Michael, sondern mir.

»Das ist also dein bester Freund? Ist er der Einzige?«, fragt er grinsend, mir dagegen ist das Grinsen vergangen. Ein bisschen beleidigt bin ich schon.

»Nein, die ganze Schule ist mein verfickter Freundeskreis, ich beweise es dir«, erwidere ich aufgebrachter als ich will und marschiere auf das erstbeste Grüppchen zu.

Überschwänglich lege ich einen Arm um die Schultern von einem kleinen unterbesetzten Typen, den ich nicht kenne, der mich aber selbstverständlich kennt – er sagt: »Hi, Xander«, und ich meine zuckersüß, während ich in die Runde gucke: »Hallihallo, meine Freunde«

Aufgerissene Augen, missbilligend verzogene Münder etc. und alle schweigen – da macht der Mutigste, der Anführer nehme ich an, einen Schritt nach vorn.

Er ist dünn, ich würde meinen fast magersüchtig und er trägt teure Designerklamotten, die seine nicht gute Figur unnötig betonen. Mindestens drei Silber- und Goldketten hängen ihm um den bleistiftartigen Hals. Von seinem orangefarbenen Unterlippenbärtchen will ich erst gar nicht anfangen.

»Xander, was machst du mit diesem Psycho hier, halte ihn von meinen Leuten fern!«

Ein Mädchen grinst gefällig, als er sein dünnes sommersprossiges Ärmchen um sie legt, ihr dabei an den Po grabscht, und mir liegt eine Menge nicht jugendfreier, böser Wörter auf der Zunge, doch Casper fasst mich an der Schulter und wirft mir einen Halt-dich-da-raus-Blick zu, bevor er sich ungerührt wieder der Gruppe zuwendet.

Scheiße! Alles meine Schuld! Was bin ich auch für ein Depp und schleppe ihn ausgerechnet zu denen hier? Aber es ist schon zu spät, kann man nichts mehr machen.

»Was ist Casper überhaupt für ein Name? Waren deine Eltern geisteskrank, oder warum haben sie dich so bescheuert benannt?«

Kaum hat er den Satz zu Ende gesprochen, liegt er auch schon zusammengekrümmt auf dem bunten Steinpflaster. Damit hat er augenscheinlich Caspers wunden Punkt getroffen, denn dieser hat ihn niedergeschlagen und zwar so schnell, dass ich lediglich sein Schemen gesehen habe.

Einen Augenblick steht jedermann bewegungslos da und dann geht die Hölle los.

Ich finde mich in einem Haufen von Armen und Beinen wieder und kann beim besten Willen nicht heraus. Spitze Ellenbogen bohren sich mir in alle erdenklichen Stellen, scharfe Nägel reißen an meiner Kleidung und zerkratzen mir die Haut. Jemand zieht sogar an meinen Haaren!

Wo bin ich hier – etwa bei einem Bitchfight?

Mit aller Kraft schiebe, drücke ich, um mich zu befreien und entdecke schließlich eine kleine Lücke, aus der ich mich mit großer Anstrengung herausquetschen kann.

Tief durchatmend rücke ich meine Kleidung zurecht, die ganzen Schüler in der näheren Umgebung kommen hinzu, filmen mit ihren schicken Handys und feuern das Gerangel kollektiv an.

Das hat ja noch gefehlt! Morgen tauchen sicher Videos auf, auf denen ich zu sehen bin und Casper sich an seinem ersten Schultag hier prügelt. Ein perfekter Anfang an der neuen Schule.

In der Menge versuche ich ihn auszumachen, was nicht sehr schwer ist – inmitten von Körperteilen ist er mit dem Jungen am Boden verkeilt, der den ganzen Mist verursacht hat. Seine Brille sitzt erstaunlicherweise immer noch auf der geraden Nase und und umklammert mit einem Mordblick den Kragen des Typen. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass der, auf dem Casper gerade sitzt offensichtlich der Schwächere ist – dessen Nase blutet, er hat eine aufgeplatzte Lippe und neben ihm auf dem Pflaster prangt sein verdammter Zahn, kann allerdings auch von jemand anderem sein.

Lachend – ja, ich kann's mir einfach nicht verkneifen - wühle ich mich gewaltsam erneut in die Masse. Zu guter Letzt bekomme ich Casper zu fassen - wobei er mir zuerst eine reinhauen will bevor er mich erkennt. Nach einigen Ohrfeigen meinerseits - welche zwar nicht sehr männlich sind, aber recht wirksam um die Leute zu verscheuchen ohne sie wirklich zu verletzen - können wir da raus quetschen. Und so was auf einer Privatschule!

Etwas benommen stolpert er hinter mir her und ich schleife ihn einfach weiter wie ein ungehorsames Kleinkind mit mir.

»Beeile dich, wir müssen hier weg. Gleich rücken die verfluchten Lehrer an und dann sind wir im Arsch, mein Freund«

Ein paar Schritte weiter fangen wir an zu rennen, bis die Meute nicht mehr zu sehen ist und wir in Sicherheit sind.

Casper fängt unvermittelt an zu kichern und ich falle nach einem erstaunten Moment sogleich mit ein – hätte wirklich nie gedacht, dass der Casper, den ich bis jetzt kennen gelernt habe, anfängt zu kichern. Aus dem Kichern wird ein schallendes Gelächter und wir können uns einfach nicht mehr einkriegen.

»Das Gesicht des Kerls, dem du eine rein gehauen hast war schlichtweg genial!«, brülle ich, muss mir vor lauter Schmerzen den Bauch halten. Mit tränennassen Augen nickt er und wiehert: »Sein abgebrochener Zahn lag neben ihm. Hast du es gesehen?«

Es dauert noch eine gefüllte Ewigkeit bis wir aufhören können und ich wieder normal sprechen kann.

»Hast du nicht auch Lust was essen zu gehen, Mann?«

Casper nickt erneut und ich sehe keinen geringsten Schaden in seinem Gesicht oder sonst irgendwo, nur seine Kleidung ist etwas zerknittert und staubig.

Ich boxe ihm freundschaftlich in die Schulter und er boxt zurück und wir joggen grinsend bis zum Tor an der Hinterseite, welches ich mit meinem eigenen Schlüssel aufschließe, den ich mit zwölf Jahren heimlich nachmachen ließ. Es muss alles leise vonstatten gehen, weil sich hier unweit der älteste, aber boshafteste, Hausmeister befinden muss. Dieser alte Knacker hat mir schon öfters Ärger bereitet. Ständig schleicht er hier herum und lauert auf eine Gelegenheit, mich bei etwas Verbotenem zu erwischen, was natürlich noch nie passiert ist.

Mit einem Blick nach rechts und links husche ich flink durch das schwarze metallene Tor und schließe es wieder ab nachdem Casper ebenfalls hindurch gegangen ist.

»Wohin gehst du?«, erkundigt er sich drängend, als ich ihm nach einiger Zeit beharrlich nichts verraten habe.

»Wir gehen dahin, wo man dich hoffentlich noch nicht kennt«

»Da mach dir keine großen Hoffnungen – denn falls du es noch nicht nicht bemerkt hast - ich bin eine Berühmtheit«

Ja, gut, er ist wirklich ganz okay. 

Ich schlendere heiter auf dem schnellsten Wege zur Bushaltestelle, doch Casper hält mich abrupt am Arm fest.

»Ich bin mit meinem Auto da«

Skeptisch schürze ich die Lippen. »Kannst du auch damit fahren?«, frage ich, mache jedoch kehrt in die andere Richtung.

Als wir beim Parkplatz angelangen, höre ich ein Autopiepsen und sehe die Lichter eines alten, roten Ford Fiestas blinken, der eingekeilt zwischen einem schicken Mercedes und einem neuen BMW parkt. Zufall ist es sicher nicht.

»Und wie willst du den rauskriegen? Das würde nicht einmal mein 30- jähriger Cousin, Norman, auf seiner PlayStation schaffen – und der hat es richtig drauf, glaub mir«

Er erwidert nichts, sondern öffnet schelmisch grinsend den Kofferraum des Autos, klettert hinein und verschwindet kurz aus meiner Sicht. Als Nächstes sehe ich ihn vorm Steuer sitzend. Fast mit Leichtigkeit monövriert er den kleinen Ford aus der winzigen Parklücke und stößt die Beifahrertür für mich auf. Ich kann ihn nur staunend beobachten. Sollte ich ihn fragen ob er mir Fahrunterricht gibt? Autofahren kann ich überhaupt nicht, bin eine volle Niete darin.

»Tada!«, ruft er leise und lenkt aus der Einfahrt der Schule. »Ich sollte mich mal mit deinem Cousin zum Spielen treffen«

Ich steige ein und fange an ihm den Weg zu beschreiben, unser Ziel ist nicht weit. Nachdem Casper allerdings vom Schulgelände gefahren ist, legt er richtig los, drückt aufs Gas bis zum Gehtnichtmehr und fährt wie ein Irrer durch die Gegend, dass die Reifen quietschen.

»Verdammt, willst du Doppelmord begehen?«, schreie ich ihn an, kralle mich am Sitz fest und versuche mich hektisch anzuschnallen, was sich als ziemlich schwierig gestaltet - zuallererst weil ich hin und her geschüttelt werde.

Der verrückte Fahrer neben mir dagegen scheint es richtig zu genießen – ein gewisser Glanz in den Augen - und drückt weiterhin aufs Gas. Seine Zähne hat er auch noch gebleckt wie ein tollwütiger Hund.

Der ist ja absolut durchgeknallt!

»Casper!«, kreische ich wie ein Mädchen im Gruselkabinett, als er gezwungen wird einen scharfen Schlenker zu machen um ein LKW zu überholen und umgreife nach einem Impuls heraus sein Oberschenkel.

Erst jetzt scheint es, als würde er bemerken, dass ich auch in diesem scheiß Auto sitze.

»Sorry«, entschuldigt er sich kurz und fährt zu meiner großen Erleichterung wieder langsamer.

»Bist du etwa auf einem Selbstmordtrip, du Irrer?«

»Ich sagte sorry! Ich...ich wollte dich nicht erschrecken«

Er sieht wirklich schuldbewusst aus, so richtig zerknirscht. Ich funkle ihn an, doch im Prinzip kann ich ihn gut verstehen. Jedem das Seine, oder nicht?.

»Schon gut. Ich verstehe ja, dass du einen Kick brauchtest, glaub mir, ich kann das ganz und gar nachvollziehen, aber beim nächsten Mal sagst du mir vorher Bescheid, damit ich mich mental und körperlich darauf vorbereiten kann«, murre ich, meine verkrampften Finger lösen sich vorsichtig vom Sitz. »Und mich anschnallen«

»Abgemacht. Und du kannst mich jetzt los lassen«, erwidert er mit einem komischen Blick auf mich.

Was loslassen, will ich grad fragen?

Da bemerke ich meine andere Hand, die immer noch auf seinem Schenkel ruht und ziehe sie hastig weg.

Ich hatte es nur vergessen! Was denkt Casper jetzt von mir?

Als er sich nichts Ungewöhnliches anmerken lässt, bin ich etwas entspannter, werkele nun am Radio herum, doch das blöde Ding will einfach keinen Sender einfangen, weswegen ich die Autofächer durchkämme und einen Stapel CDs finde. Eine Bestimmte fällt mir sofort auf.

»Du hörst die Beatles. Im Ernst?«

Casper reißt mir die CD so heftig aus der Hand, dass das Auto wackelt. Perplex starre ich ihn an.

»Fass es nicht an«, zischt er mir zu und legt sie so behutsam in ein Fach auf seiner Seite, als wäre es etwas ungemein Kostbares.

Noch ein wunder Punkt bei ihm, mach ich mir eine imaginäre Notiz in meinem Gehirn, während er sich wieder auf die Straße konzentriert. Schulterzuckend stopfe ich die restlichen Disks zurück in die Schublade und bohre nicht weiter nach.

Schließlich will ich nicht einen Baum umarmend sterben.

 

***

 

Wir halten vor einem unscheinbaren Bistro an, das halb unsichtbar hinter großen Bürogebäuden steht. Die Außenfarbe ist fast vollständig abgeblättert, doch sieht es ursprünglich nach einem fröhlichen Limettengrün aus. Egal wie es ausschaut – es ist und bleibt mein Lieblingsort, wo ich in Ruhe essen kann, ohne die lauten Jugendlichen im Hintergrund oder sonst irgendwelche Störungen.

Casper sieht nicht sehr freudig erregt aus, aber ich ignoriere ihn, steige aus und betrete das kleine Lokal.

»Xander, mein Lieblingskunde, schön dich zu sehen! Das Übliche?«, begrüßt mich der Besitzer herzlich, der auch gleichzeitig als Koch und Kellner agiert.

»Ben, wie geht’s wie steht's? Ja, und für ihn hier das Selbe«

Gleich darauf hocke ich mich auf mein Stammplatz. Es dauert nicht lange bis mein neuer Kumpel sich neben mich niederlässt und sich dann diskret umschaut.

Die Raumgestaltung ist im 50er Jahre Stil gehalten, das gefällt mir am Meisten. Der Schachbrettboden, veilchenblaue Sitze und Stühle mit quadratischen roten Tischen davor, eine Musikbox und viele grünen Pflanzen. An den Wänden hängen Bilder alter Autos und Leuten, die ich nicht kenne.

In Vorfreude den Bauch streichelnd, plaudere ich gelassen: »Hier wirst du das Beste, Größte und Schmackhafteste deines Lebens probieren«

»Das werden wir noch sehen«

Wir warten. Nach einer Weile kann ich die Stille nicht ertragen – ich bin es nicht gewohnt leise zu sein - und breche diese letztlich.

»Hat es einen Grund warum du diese Nerd-Brille trägst?«

Casper richtet sich unvermittelt kerzengerade auf. »Warum tragen Menschen denn eine Brille?«, will er lauernd von mir wissen.

Unschuldig zucke ich mit den Schultern und sehe ihm in die schwarzen Augen. »Tja, ich nehme an, weil sie nicht gut sehen können. Aber ich habe dich die ganze Zeit beobachtet.«

Selbstzufrieden kreuze ich die Arme vor der Brust und er wird vor meinen Augen unruhiger.

»Im Unterricht hast du ständig über deine Brille gesehen, um zu lesen oder zu schreiben. Deswegen frage ich dich: Warum trägst du diese Brille, obwohl du sie überhaupt nicht brauchst?«

»Du magst solche Spielchen, nicht wahr?«, ist das Einzige was er sagt, dann wird unser Essen von Mia, der Teilzeitbedienung, polternd auf den Tisch abgestellt. Die Besagte funkelt mich, mit in die Hüften, gestemmten Armen, zornig an.

»Na, Xander? Lange nicht gesehen, hast du zufällig dein Handy verloren? Oder bist du plötzlich taub geworden?«, fragt sie ganz unschuldig und Caspers Mund umspielt ein spöttisches Lächeln, welches aber zu meiner Verwunderung nicht mir gilt.

»Ja, ich habe mein Handy verloren, sonst hätte ich dich doch zurückgerufen«, antworte ich so ehrlich klingend wie es mir möglich ist, weiß ich doch genau worauf sie anspielt.

»Ach, wirklich? Kann doch sein, dass du es hier verloren hast und es liegt jetzt unter irgendeinem Stuhl oder Tisch. Lass es uns doch ausprobieren«, meint sie, holt ihr Handy heraus und tippt mit flinken Fingern etwas ein.

Shite!

Schon hören wir überdeutlich "Another One Bites The Dust" von Queen durch das Dinner plärren und die Vibration kitzelt mich am Bein, sodass ich an mich halte, um nicht los zu kichern.

»Ha! Was höre ich denn da? Ist das nicht dein Klingelton, welcher von deinem Handy ausgeht in deiner Jeans?«

Casper verdreht bloß die Augen und ich seufze reuevoll.

Warum ich so dumm war damals, und ihr meine Handynummer gegeben habe nachdem wir im Bett waren, weiß ich immernocht nicht. Bescheuert. Nun ist Schlichten angesagt.

»Muss das jetzt echt sein, Mia? Ich dachte dir war klar, dass das nur eine einmalige Angelegenheit war. Wir waren beide neben der Spur und wussten nicht, was wir tun«

»Da hast du mir aber was anderes gesagt, als dein Schwanz tief in–«, fängt sie an zu keifen, wie eine Wildgewordene und will bereits mit ihren scharf aussehenden Fingernägeln auf mich stürzen – doch bevor sie mein Gesicht und was weiß ich noch alles zerkratzen und ihren nicht allzu freundlichen Satz beenden kann, wird sie von Ben zurückgehalten, der sie sich kurzerhand über die Schulter wirft, so sehr wehrt sich Mia gegen ihn.

Er murmelt ihr beruhigende Worte zu und Casper und mich lächelt er nur entschuldigend an, mit Schamröte im Gesicht.

»Du hast gesagt, du liebst mich!«

Schockiert starre ich in Caspers Augen, die mich anklagen ansehen.

»Was ist?«, sage ich frech – ich weiß auch selber, dass ich Scheiße gebaut habe. Mia war doch so ein liebes und freundliche Mädchen, die ich hier kennengelernt habe und jetzt – tja jetzt will sie mich sicher tot sehen.

Unerwartet prustet Casper los und schüttelt den Kopf.

»Nichts. Wir sollten lieber essen, sonst wird es noch kalt«

Ich nicke zustimmend, froh darüber, dass er mir keine Predigt oder so was vorhält und beiße sofort in den saftigen Burger. Er dagegen beißt zaghaft ein kleines Stück ab und kaut langsam, forschend daran herum.

»Und?«, forsche ich nach – die Geschichte mit Mia längst vergessen.

»Ganz okay«

Ich reiße die Augen auf und schnaube mit vollem Mund – keine gute Idee - Fleisch- und Brötchenstückchen verstreuen sich auf der rot-weiß karierten Tischplatte und er lacht wieder sein rauchiges Lachen.

»Ganz okay?!«, rufe ich empört. »Das ist der beste Burger, den du je gegessen hast, gib es wenigstens zu!«

»Na gut, das ist der Beste, den ich je gekostet habe«

Unerwartet wird die Eingangstür aufgeschlagen und wer kommt zu meinem Entsetzen hinein? Clarisse und ihre kichernden Freundinnen. Ich verschlucke mich, ersticke fast an meinen leckeren Burger und mir steigen die Tränen hoch. Verdammt, schreie ich gedanklich, was machen die denn hier?

»Fuck!«

Hier wieder was zu essen, kann ich mir wohl abschminken, Clarisse wird nach mir Ausschau halten.

Ist ja toll! Diese nervige, kleine…

Casper scheint meine Gereiztheit zu bemerken, dreht sich neugierig um und lächelt sogleich die Mädchen gemeingefährlich an – mit seinen spitzen Eckzähnen und des schwarzen Augen gelingt ihm das bestens – die vier bleiben sofort stehen. Alle außer Clarisse, sie stolziert unverändert lächelnd zu unserem Tisch.

Warum nur habe ich mich auf ihren Kuss damals eingelassen, das ist ein großer Fehler gewesen.

»Xan! Was machst du hier?« Ihre gespielte Überraschung geht mir auf den Keks – was ich, augenverdrehend, nicht scheue zu zeigen und Caspers Blick wechselt zwischen Clarisse und mir. Wartet er auf etwas Bestimmtes?

»Clarisse!«, rufe ich ebenso gespielt. »Hast du mich etwa verfolgt?«

Sie wird knallrot bis zum Haaransatz und mein Sitznachbar gluckst leise vor sich hin. Unschlüssig steht sie vor mir und es ist mir klar, dass sie nicht so weit überlegt hat, bevor sie auf Verfolgungsjagd gegangen ist.

Zu meiner Überraschung fasst Casper mich an der Hand, als sie Anstalten macht sich neben mich zu setzen und zerrt mich an den Mädchen vorbei. Ich hatte schon überlegt, wie ich sie nicht allzu unfreundlich abwimmeln könnte.

»Tut mir wirklich Leid, aber wir haben noch etwas sehr Wichtiges vor. Und wir müssen noch an unserem Referat arbeiten. Außerdem sind wir nicht scharf auf eure Gesellschft. Also...«, erzählt er mit fast bedauernder Stimme und reißt mich praktisch mit nach draußen.

Clarisse folgt uns, auf ihren Highheels, aber bevor sie uns irgendwie aufhalten kann, sind wir bereits ins Auto gestiegen und Casper startet es, nachdem er meine Hand kurz davor wieder freigibt, was ein bedauerndes Gefühl hinterlässt. Kopfschüttelnd rüttle ich es ab.

»Alter, du rettest mir das Leben«

»Ich hatte keine Lust mir ihre Anschmachterei anzusehen. Ich kann solche Barbies nicht ausstehen. Aber hast du gegen diese Clarisse, findest du sie etwa nicht heiß genug?«

Mit einem gequälten Seufzen fange ich wieder an den Radiotasten herumzudrücken um meine Hände zu beschäftigen.

»Ich will einfach nichts von ihr«, antworte ich nach einer Weile ausweichend, weil er nicht lockerlässt und mich von der Seite aus ansieht.

Ich weiß doch auch nicht genau, warum ich nicht auf sie stehe! Sie hat eine Traumfigur – üppige Brüste, schmale Taille und lange Beine. Dazu ihre rotbraunen langen Haaren und die Porzellanhaut. Welcher Junge träumt nicht davon – ich!

Aber wieso hat sie sich ausgerechnet in mich verknallt, ich hab schließlich nichts Außergewöhnliches aufzuweisen, sie könnte jeden haben, doch mir stellt sie nach. Mich will sie. Unbegreiflich.

Unvermittelt drückt Casper auf einen kleinen Knopf an der Seite des Radios, den ich gar nicht registriert habe und es geht an. Wie konnte ich den Knopf übersehen? Er ist doch extra rot. Ein klassisches Lied plätschert da raus, ich schalte sogleich weiter - klassische Musik kann ich nicht ausstehen - nach einem guten Sender suchend - meine Mühe wird leider nicht belohnt.

»Mann, nächstes Mal nehme ich ein paar eigene CDs mit!«

Casper grinst mich an, ich aber stutzte plötzlich und glotzte auf ein gigantisches Schloss, das am Ende der geraden, von Bäumen gesäumten Straße steht.

»Wo hast du mich hingefahren, zu dem Schloss der Queen?! Das ist ja -«

Mir fehlen nicht oft die Worte, doch wie ich dieses monströse Gebäude beschreiben soll, weiß ich nicht. Naja, vielleicht doch: Gewaltig.

»Hier wohne ich. Willkommen im Cheese Schloss«, er klingt grimmig und tretet viel härter als nötig auf die Bremse – ich bin zu meinem Pech wieder nicht angeschnallt und knalle mit der Stirn voran mächtig gegen das Armaturenbrett. Aus voller Kehle jaulend ziehe ich meinen pochenden Schädel zurück, ich glaube Blut zu spüren, im selben Moment werde ich bewusstlos.

Kapitel 3.

Beim Aufwachen sind meine Augenlider zentnerschwer, ich kriege sie nur mit viel Mühe auf. Zuallererst erblicke ich eine erstaunlich hohe Gewölbedecke, die total unprofessionell und lieblos mit schwarzer Farbe überstrichen wurde.

»Wer hat das gemacht? Ich bringe denjenigen qualvoll um«, spreche ich mit undeutlicher Stimme, weil meine Lippen mir noch nicht richtig gehorchen wollen. Behutsam versuche ich aufzustehen, was dadurch erschwert wird, dass sich der ganze Raum um mich dreht wie verrückt, doch ich schaffe es trotzdem.

»Endlich bist du wach«, höre ich Casper, er klingt besorgt.

»Wie lange war ich abgeschaltet?«

Er setzt sich neben mich auf das Bett, auf welchem ich mich befinde, wie mir gerade auffällt. Obendrein spüre ich, wie aus heiterem Himmel, etwas Brennendes auf der Schläfe. Ich zucke zusammen und schlage barsch Caspers Handgelenk mit etwas Weißem darin von mir weg. Als wäre er eine Krankenschwester, rückt er näher, um meine Stirn mit dem weichen Wattebausch zu betupfen, der sich beinahe augenblicklich mit Blut vollsaugt und klärt mich auf:

»So ungefähr zehn Minuten. Beweg dich nicht, sonst tut es noch mehr weh, es blutet. Ich desinfiziere es nur, die Wunde ist nicht schlimm und muss nicht genäht werden«

»Hast du mich etwa hineingetragen, oh mein Ritter in glänzender Rüstung?«, grinse ich und zucke wieder zusammen – nicht nur weil es weh tut, sondern weil er sich auch noch dichter zu mir setzt.

Was ist denn aufeinmal in mich gefahren? Nicht daran denken, sage ich mir.

Im Grunde bin ich ja nicht sehr empfindlich, aber kleine Plagen, wie zum Beispiel Zahnschmerzen, diese kleinen nervigen Bläschen auf der Zunge, blutende Fingernägel, wenn ich sie mal wieder zu sehr abgekaut habe und so weiter, kann ich einfach nicht ertragen.

Ja, meine Finger sehen echt schrecklich aus.

»Einer von den Securityleuten meines Onkels hat mir beim Tragen geholfen«, lautet seine Antwort, bei der er auf meine Bemerkung gar nicht eingeht und sich unerklärlicherweise vor Unwohlsein windet. Ehe ich nachforschen kann, warum, stürmt ein korpulenter Mann im rubinrotem Anzug in den Raum, mit dem längsten weißen Bart, den ich je gesehen habe und einer Knollennase.

Huch, macht hier jemand dem Weihnachtsmann nach? Fehlt nur noch ein Geschenkesack und eine Mütze.

»Einer meiner Jungs hat mir berichtet, dass ein bewusstloser junger Mann in mein Haus getragen wurde«, schnauft er schweratmig. Sein Blick fällt auf mich und er entspannt sich sichtlich, erleichtert aufatmend.

Casper dagegen wirkt überreizt und faucht: »Mir geht es gut. Du kannst gehen.«

»Gut«, spricht Mr Cheese, wie ich mittlerweile erkannt habe, in seinen Bart, der so flauschig aussieht – am Liebsten würde ich da reingreifen. »Gut«

Nach einem letzten Blick zu Casper schwingt er seinen beleibten Körper aus der Tür, wobei er sich regelrecht herausquetschen muss.

Hundert Fragen liegen mir auf der Zunge, die ich bei einer anderen Person ohne nachzudenken ausgesprochen hätte, doch bei Casper schlucke ich sie lieber herunter. Ungewöhnlich für mich. Er klebt mir derweil zwei dünne kleine Pflaster quer über die Wunde.

»Tut mir Leid wegen dem, was im Auto geschehen ist, war total dumm von mir.«, entschuldigt er sich reumütig und ich stehe auf, weil ich mich gründlich umsehen möchte.

Caspers Schlafzimmer ist nahezu ganz schwarz, mit nur wenigen farbigen Tupfern, die aus Büchern bestehen, welche auf einem hohen, breiten Regal aufgereiht stehen. Es ist so spartanisch gehalten, geradezu karg, dass es aussieht, als ob man hier nur vorübergehend eingezogen ist. Dass der Raum so groß wie eine durchschnittliche Sporthalle ist, verstärkt den Eindruck noch mehr.

Nirgendwo entdecke ich Fotos oder Bilder an den Wänden und auch sonst keine persönlichen Gegenstände – die Bücher ausgenommen – nur ein schwarzer Teppich, ein Doppelbett und daneben ein Nachttisch, ein kleiner Schreibtisch und ein robuster Kleiderschrank aus lackiertem Ebenholz. Sonst befindet sich nichts mehr hier und ich bin sicher, es ist mit Absicht so anonym eingerichtet.

Ich mache die schwere Schranktür auf und spicke hinein. »Seit wann wohnst du hier eigentlich?«

Na bitte, doch noch irgendetwas, was zeigt, dass Casper in diesem Zimmer wohnt, außer der Vorliebe für Schwarz. Auf den ersten Blick sehe ich, dass die Lieblingsfarbe von ihm in Puncto Klamotten „Hauptsache dunkel“ sein muss. Geht es eigentlich noch klischeehafter? 

Die Kleidung besteht überwiegend aus einfachen schwarzen oder in verschiedenen dunklen Farbtönen gehaltenen Jeans, Hemden und T-Shirts und einem einzigen Anzug.

»Seit zwei Monaten und sieben Tagen«

»Bist du ein Grufti oder so was? Ich sehe hier überall nur Schwarz«, meine ich mit kritisch gehobenen Augenbrauen.

»Sehe ich ernsthaft so aus?«

Plötzlich entdecke ich eine minimal dünne Linie in der Wand, leicht zu übersehen, gleich hinter dem Schrank und als ich nach unten blicke, die verräterischen Kratzspuren – von etwas Schwerem, dass häufig hin und her bewegt wird. Ich bin kurz davor zu fragen, wozu Casper, um alles in der Welt, einen Geheimraum braucht, doch ich überlege es mir im letzten Moment anders. Da er es versteckt hält, muss es einen triftigen Grund haben. Er wird es entweder leugnen oder mich herausjagen, deswegen sage ich vorsichtshalber nichts.

Er holt währenddessen die Beatles-CD aus seiner Tasche, anscheinend hat er diese aus dem Auto mitgenommen, und greift dann unters Bett, wobei eine kompakte Anlage zum Vorschein kommt, in die er die Disk hineinlegt. Ein Lied erklingt, dass ich sogar verwunderlicherweise kenne.

»Das macht ja richtig depressiv. Wenn meine Mutter dieses Lied hören könnte, würde sie definitiv ein Jahr lang nicht aus ihrem Bett kommen«

Erst als ich es ausgesprochen habe, geht mir auf, wie viel Verachtung und Wut in dieser Bemerkung mitgeklungen hat. Ich muss mich räuspern um den Kloß, der in meiner Kehle entstanden ist, und sich anfühlt wie ein großes Stück trockenem Brot, herunter zu bekommen.

Fuck, ich dachte, ich hätte das lange hinter mir. Aber wenn ich recht überlege – wenn ich es hinter mit hätte, dann wäre Casper bestimmt nicht der Erste, dem ich von den Depressionen meiner Mutter erzähle.

»Es war die Lieblingsband meines Vaters, er hat sie immerzu angehört«, würgt Casper unvorhergesehen, wie unter heftigen körperlichen Schmerzen hervor und lässt meine eigenen Probleme unwichtig erscheinen. Aber dennoch, warum erzählt er es gerade mir?

»Wieso erzählst du mir das? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Stunden«

Zugegeben, das erweckt den Anschein als wäre ich äußerst unsensibel, aber anders kann ich nun mal nicht und er bemerkt es anscheinend nicht, sieht stattdessen nur verwirrt aus – als verstünde er sich selbst nicht.

»Ich hab das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann und als ob ich dich schon seit Jahren kenne. Du wirkst halt vertrauenswürdig auf mich«

Seine Handballen drückt er fest auf die Augen. »Das klingst bescheuert, ich weiß, aber es ist eine Tatsache, verstehst du?«

»Soll ich ehrlich sein?: Nein«, bekräftigend schüttele ich den Kopf und setzte mich wieder neben ihn aufs Bett, welches unangenehm weich ist - es verschluckt mich fast.

»Ist ja auch egal. Jedenfalls bist du der Einzige«

Jetzt nicke ich, wobei ich die ganze Zeit über versuche, eine bequeme Sitzposition zu finden. Es will einfach nicht klappen.

»Okay. Worauf wartest du dann? Vertraue mir etwas an«

»Du hast überhaupt kein Taktgefühl, aber das ist dir wahrscheinlich selber nicht entgangen«

»Wozu braucht man es?«, kontere ich und lege mich einfach auf den Rücken, mit gekreuzten Armen als Kissen, weil ich es mittlerweile aufgegeben habe, zu versuchen normal zu sitzen.

»Im Übrigen, stimmt das nicht ganz: Ich habe im Auto nicht nachgefragt«

»Richtig, das war aber nur gesunder Menschenverstand. Den Fahrer reizt man nicht, wenn man selbst im Auto mitfährt«

»Ja, insbesondere wenn dieser Fahrer ein Abgedrehter ist, so wie du einer bist«

Casper breitet sich ebenso auf seinem Bett aus und nimmt seine Brille ab, gleich darauf fokussieren sich seine vollkommen schwarzen Murmelaugen auf mich.

»Ich werde die Brille nicht mehr tragen, du hattest Recht, ich kann damit nicht gut sehen«

»Gut. Ohne sie siehst du sowieso besser aus«

Er lacht auf und sieht mich danach komisch von der Seite aus an.

»Danke. Du sieht auch nicht schlecht aus«, erwidert er und ich erröte unabsichtlich, räuspere mich aber und lenke von diesem, für mich unangenehmen, Thema ab:

»Hab ich erwähnt, dass ich dein Sehorgan mega gruselig finde?«, sage ich und deute auf diese.

»Ich bin sicher, dass viele Leute das schon gedacht haben, bis jetzt hat es mir aber noch niemand gesagt«, schmunzelt Casper.

»Vermutlich weil du ein Psycho bist«, rutscht es mir aus Versehen heraus, umgehend klappe ich mein voreiliges Mundwerk zu.

Scheiße, was wenn er mich jetzt rauswirft? Ich stelle gleichzeitig fest, dass ich hier nicht weg will. Es ist mir wohler hier, als bei mir zu Hause. Zu meiner Verblüffung geht er nicht auf mich los oder wirft mich gar raus, wie ich angenommen habe. Meine Beleidigung entlockt ihm allein ein abwesendes Grinsen.

»Das ist gut so, dann nervt mich nämlich keiner oder stellt diese blöden Fragen«, erklärt er mir ruhig und schaut zur Decke.

»Seitdem meine Eltern gestorben sind, meinen alle, sie müssen fragen, wie es mir geht, wie ich damit klarkomme und der ganze Mist und darauf habe ich überhaupt keine Lust«

»Verstehe«, antworte ich knapp – was im Übrigen gar nicht stimmt. Ich kann nicht nachvollziehen, wie es ist, so seine Eltern zu verlieren.

Doch wie hat er überhaupt seine Eltern verloren? Das weiß ich ja noch gar nicht.

Bevor ich danach frage, kommt mir eine andere Frage in den Sinn.

»Aber stimmt was davon? Ich meine, bist du in einer Anstalt gewesen oder nicht?«

Casper stemmt sich auf die Ellenbogen und denkt offensichtlich darüber nach, was er mir anvertrauen soll und was nicht.

»Ich war in einem besonderen Kinderheim und es war der blanke Horror«, knurrt er endlich zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück und erschauert angeekelt am ganzen Körper. »Die schlimmsten sechs Monate meines Lebens. Angeblich hatte ich eine Störung des Sozialverhaltens« Er schnaubt verächtlich und ich sehe ihn dümmlich an, weil ich keine Ahnung habe, worüber er da spricht.

»Störung des Sozialverhaltens, was ist das für ein Kack?«

»Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche, deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder dem Tyrannisieren und so ein Zeug«, zählt er an den Fingern ab und verdreht ausdrucksvoll die Augen.

Mit mehr Begeisterung, als in dieser Situation angebracht ist, will ich wissen: »Also bist du wirklich gestört?«

»Ich hatte schon schlimme Wutausbrüche, und habe mich oft geprügelt, dabei habe ich den Sohn des Bürgermeisters ins Krankenhaus geschickt.«

Mit vor Vergnügen geweiteten Augen, schnappe ich nach Luft. »So dumm kann doch niemand sein!«

Casper ignoriert mich glatt und führt seine Erzählung ohne zu unterbrechen fort.

»Deswegen habe ich mal im Internet recherchiert und nach einer Störung gesucht, die solche Symptome hat, und bin so auf meine gestoßen. Um es glaubwürdig hinzukriegen hab ich gestohlen, Schule geschwänzt und häufig gelogen. Die Psychologen haben letztendlich Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert und mich in dieses spezielle Kinderheim für Freaks, wie ich angeblich einer bin, geschickt.«, endet er..

Ich glotze ihn fassungslos an. »Du hast eine psychische Krankheit simuliert? Wow«

So was muss erstmal verdaut werden, aber bei mir dauert es nicht lange.

»He, können wir einen kleinen Rundgang durch dein Schloss machen?«, bettele ich lebhaft, springe vom Bett und sehe erwartungsvoll auf ihn herunter.

»Nicht mein Schloss. Es ist das Schloss meines Onkels, klar?«, fährt er mich gereizt an, gewissermaßen aber auch irgendwie erleichtert, über etwas anderes zu sprechen. Im nächsten Moment erhebt er sich und geht mir voraus aus dem Zimmer.

Wir betreten einen geräumigen Eingangsflur an dessen roten Mahagoni-Holzwänden hunderte, wie mir scheint, Gemälde hängen. Die ganz oben sind alt und vergilbt, doch weiter unten gibt es auch welche, die neuer aussehen. Die Rahmen bestehen anscheinend aus Gold - oder zumindest sind sie mit Gold besprüht - und unten ist das Jahr eingeprägt.

Auf einem davon entdecke ich Casper, sein Portrait hängt in einer von den unteren Reihen, welche möglicherweise die Generationen darstellen sollen, neben anderen. Da sieht er strahlend und breit grinsend geradeaus.

Nein, stimmt nicht, das ist ein aufgesetztes Lächeln, ganz klar. Mich lächelt er anders an, viel wärmer.

Auf dem Linken ist ein schlanker Junge um die achtzehn, der Casper wie aus dem Gesicht geschnitten ist, nur eine etwas andere Nasenform, breiter, und eine, um ein paar Töne, hellere Haarfarbe. Weiter rechts hängt ein Bild mit einem Mädchen, ungefähr so alt wie der Junge. Sie ist sehr hübsch, mit langen orangefarbenen Haaren und sehr intelligentem Blick.

»Wer ist der Kerl vom Portrait nebenan, dein Zwillingsbruder?«, frage ich halb im Scherz nach.

»Das ist mein Dad, da war er so alt wie ich zurzeit. Sie sind hier alle achtzehn - Vorfahren und Verwandte väterlicherseits«

Er zeigt auf eine Abbildung ganz oben - es stellt einen Mann dar, der viel älter ist, als all die anderen. Mit rabenschwarzer Mähne, so wie die meisten, die hier hängen, und einem prächtigen Schnauzer. Muss wohl in der Familie liegen.

»Das ist der Erbauer dieses Schlosses und er hat auch das Geheimrezept für Käse erfunden, welches heute immer noch benutzt wird. Das Geschäft ist gewachsen und wurde in der Familie, meistens von Vater zu Sohn, weitergegeben, mit dem Rezept zusammen. Top secret und so«, das alles betont er so, als würde er eine Rede über Fäkalien halten.

»Was hast du eigentlich für ein Problem?«, sage ich und mustere sein Gesicht, welches vielen Menschen, die ich hier sehe, sehr ähnelt.

Casper wendet nicht den Blick von dem Bild des älteren Mannes ab. »Keins, ich habe nichts gegen Käse einzuwenden«

Kritisch hebe ich die Brauen. »Okay, ich hab es falsch formuliert. Hier genauer: Was hast du für ein Problem mit deinem Onkel?«

Augenblicklich fährt er zu mir herum und funkelt mich aufgebracht an, will was sagen, doch ich bin schneller. »Leugne es erst gar nicht, ich bin nicht hirnlos«, unterbreche ich ihn, ehe er ein Wort herausbringt.

»Und. Was. Geht. Dich. Das. An?«, brüllt er plötzlich aus vollem Hals – aber ich lass mich davon bestimmt nicht beeindrucken, zucke nicht mal mit der Wimper.

»Du hast im Grunde Recht. Nur, wieso hast du mir das alles erzählt? Von deinem Vater und deiner angeblichen psychischen Krankheit, hä? Wozu das Ganze, wenn ich nicht einmal eine Frage stellen darf, die mich wirklich interessiert? Und wenn wir schon dabei sind: Was wirst du ständig so aggressiv, das geht mir auf den Senkel! Ich glaube deine Therapie ist noch lange nicht abgeschlossen, du musst einen Aggressionsbewältigungskurs machen, oder wie auch immer dieser Scheiß heißt«

Während ich mich mächtig in Rage rede, mit den Händen fuchtele, obwohl ich vorgehabt hatte, ruhig zu bleiben, wird Casper dagegen gelassener.

»Ich verrate dir nur das, was ich dir verraten möchte«, sagt er mit vor der Brust verschränkten Armen.

»Ach wirklich, du arroganter Sack? Dann verschone mich in Zukunft mit-«

»Casper? Macht der Probleme?«, redet eine grobe Stimme dazwischen, viel zu nah hinter mir. Prompt vollführe ich eine 180° Drehung und derweil stiert Casper mit einer verkniffenen Miene nach drüben zu dem Kerl, der gerade aus dem Schatten tretet.

Ein mindestens zwei Meter großer Kerl, so breit wie ein Schrank und, wer hätte das gedacht, kahlgeschoren, wie ein waschechter Soldat.

»Oh, du hast dich wohl verlaufen. Hier ist nicht das Militär.«, informiere ich ihn ganz unschuldig, aber die beiden ignorieren mich und wechseln überdies durchgehend unerklärliche Blicke miteinander.

»Nein, Navid, er macht keine Probleme. Das ist ein Freund aus der Schule und wir wollten gerade gehen, nicht wahr Xander?«

Er packt mich fest bei den Schultern und schiebt mich vor sich her, den Flur entlang.

»Absolut Wahr«

Ich salutiere hochgestochen – absichtlich mit der falschen Hand. »Guten Tag noch, Herr Soldat«

Dieser Navid knurrt, als würde er einen auf Löwe machen und Casper boxt mich umso schneller weiter, allerdings höre ich ihn etwas gezwungen auflachen. Beinahe stolpere ich über einen antiken Teppich, der auf dem Natursteinboden liegt und er lässt mich danach los.

»War das nicht zufällig der Securitykerl, der dir heute beim Tragen geholfen hat? Ist er dein persönlicher Bodyguard?«

Sicher bin ich mir nicht, aber ich könnte schwören, dass ich ihn kurz erröten gesehen habe und den Streit von vorhin lasse ich aus meinem Kopf verschwinden. Nachtragend bin ich keineswegs.

Zögernd nuschelt er: »Ja, er hat mir geholfen und, nein, er ist nur irgendein unbedeutender Angestellter meines Onkels.«

»Verarsche mich nicht, ich hab euren kleinen Blickwechsel genau gesehen. Navid. Ist er ein Araber?«

Meine Neugier ist geweckt, aber Casper scheint es nicht zu passen, er wirkt ziemlich unwillig.

»Woher soll ich das wissen? Und deine Riesenklappe könnte dich irgendwann in Schwierigkeiten bringen. Dieser "Araber" hat den dritten Dan und kennt diverse Möglichkeiten dich mit nur einem Finger umzulegen«

Ich weiß nicht, ob er es gemerkt hat, aber mit dieser Aussage widerspricht er sich selbst.

Ausnahmsweise füge ich keinen Kommentar hinzu, mein Gefühl sagt mir, dass Casper mir nicht mehr über das Thema „Navid“ sagen wird - welchen Grund das auch immer haben mag.

Naja, jeder hat seine Geheimnisse und er hat eine Menge davon, wie mir scheint.

»Hast du nicht auch Hunger? Ich habe Riesenhunger, nachdem ich meinen Burger nicht zu Ende essen durfte. Zeig mir die Küche, und ich erwarte eine königliche Speisekammer – bloß damit das geklärt ist«

Wie aufs Stichwort knurrt mein Magen lautstark los. »Schon gut, mein Freund, gleich gibt’s ein Leckerli«, rede ich mit ihm.

»Du sprichst mit deinem Magen als wäre es ein Hund - und da sagt du, ich wäre der Psycho«, schmunzelt Casper und schüttelt den Kopf. »Komm«

Während er mich führt, schaue ich mich weiter um und entdecke viel mittelalterliches Zeug, wie in einem Museum. Ein ramponierter alter Kupferkessel in einem Glaskasten, komische Tongefäße mit Löchern darin, verschiedene Schneid- und Rührwerkzeuge und massenhaft anderen solchen Kram, was mich nicht im Entferntesten fesselt – aber es ist schließlich Geschmackssache. Außerdem erneut Gemälde, diesmal mit Mönchen, die wohl Käse herstellen und Kühe, die von beleibten Frauen gemolken werden.

»Jetzt unterhalten wir uns über dich. Ich weiß noch gar nichts«, unterbricht Casper die Stille.

Ich betrachte ihn aus den Augenwinkeln und hätte am Liebsten erwidert, dass ich ihn ebenso gut nicht kannte, wie er mich, schlucke es jedoch herunter.

»Was gibt’s da großartig zu wissen. Ich heiße Alexander Ryan, bin sechzehneinhalb Jahre alt, Single, jedoch keine Jungfrau, und meine Eltern sind reicher als es ihnen gut tut – wie scheinbar die Mehrzahl der Eltern, die ihre Kinder auf die Persiasschule schicken«

Er lacht kurz auf und biegt zum, was weiß ich wievielten Mal, ab – so stelle ich mir wahrlich ein Labyrinth vor.

»Du stichst heraus, das habe ich sofort bemerkt. Du bist anders als die ganzen verzogenen, wohlhabenden Bengel, die ich dort kennengelernt habe, außer Michael, der ist auch anders. Aber du bist das schwarze Schaf«

»Das schwarze Schaf, hm? Von dir könnte ich das Gleiche behaupten, Cas«, sage ich und mir fällt gar nicht auf, wie ich ihn genannt habe, bis er, wie vom Donner gerührt stehen bleibt und mich mit seinen Augen anschaut, als wären es Laser.

»Wie hast du mich genannt?« Er sieht aus, als ob er um Fassung ringen würde.

»Cas«, antworte ich wahrhaft aufgewühlt.

Lange bleiben wir so, bewegungslos wie Statuen, ich werde aus seinem Verhalten nicht schlau. Erst als Casper sich von mir abwendet und weitergeht, kann ich mich bewegen. Als ob er mich solange unter einem Bann gehalten hätte.

Eine Frage liegt mir nagend auf der Zunge, aber ich traue mich nicht sie auszusprechen. Was war nur los mit mir? Liegt es an ihm oder habe ich heute einfach einen schlechten Tag? Nein, es liegt an ihm – er ist ein eigenartiger Typ, mehr als eigenartig.

Erleichterung gelangen wir in eine, in Anbetracht dieses monströsen Schlosses, ziemlich kleine Küche. Dafür ist sie umso luxuriöser.

Meine Eltern, besser gesagt mein Vater, verdient zwar auch Geld im Überfluss, aber Goldwasserhähne und Küchenhenkel haben wir nicht.

»Die Küche gehört mir persönlich, mein Onkel hat seine eigene. Mir gehört die halbe östliche Seite mit zwei Schlafzimmern. Eines davon ist das, welches du gesehen hast und das andere ist unbenutzt. Außerdem ein Wohnzimmer, Bad und Toilette, ein Garten mit Pool und eine Trainingshalle mit Sportgeräten inklusive«

»Du hast doch nichts dagegen einzuwenden, wenn ich hierher umziehe? Die übrige östliche Hälfte reicht mir schon, ich will ja nicht übertreiben«, sage ich, um hauptsächlich die Unbefangenheit zurück zu gewinnen und glücklicherweise geht Casper darauf ein.

»Ach was, du kannst gleich morgen die ganze westliche Seite für dich haben, ich bin nicht geizig«

Innerlich atme ich auf und steuere automatisch auf den goldglänzenden Kühlschrank zu – was ich da vorfinde überrascht mich nicht sehr. »Du stehst nicht zufällig auf Käse?«

Casper erscheint neben mir und verzieht das Gesicht. »Die Haushälterin füllt den Kühlschrank ständig mit diesem Zeug auf, egal was ich ihr sage. Dazu kommt, dass sie nur türkisch spricht und mich wahrscheinlich nicht versteht – versucht habe ich es trotzdem oft«, erklärt er und öffnet die zweite Tür des Kühlschranks.

Er holt eine Packung Fertigsandwichs heraus, eine Flasche Mineralwasser mit einem Glasbecher und stellt alles auf die Frühstückstheke aus weißem Marmor.

Sieht teuer aus.

»Ich hoffe du hast nichts gegen Sandwichs mit Schinken«

»Wenn du Sprühkäse hast, dann nicht«

Mit einem breiten Grinsen greift Casper nach drei unterschiedlichen Sorten von Sprühkäse im Kühlschrank und drückt sie mir in die Hände.

»Such dir was aus«

Ich sprühe auf mein Sandwich den üblichen Käse, den ich auch zu Hause häufig nehme und Casper holt sich nur eine große Trinkflasche Kirschwasser.

Nachdem ich fertig gegessen habe, zeigt er mir sein Wohnzimmer, welches genauso karg und unpersönlich eingerichtet ist, wie sein Schlafzimmer.

Ein wuchtiges, dunkelrotes Sofa mit zwei Sesseln in der gleichen Farbe an den Seiten, ein Beistelltisch mit Schnittblumen in einer Vase darauf, die so gar nicht in den Raum zu passen scheinen und ein breiter Plasma-Fernseher an der holzvertäfelten Wand gegenüber. Alles nagelneu und unbenutzt.

Vorsichtig setzte ich mich aufs Sofa, habe beinahe Angst, eine Falte darin zu verursachen.

»Ist echt...nett hier«.

»Du kannst dir aussuchen, was du sehen möchtest, ich gucke nicht so oft Fern«

»Eine weitere Bestätigung dafür, dass du einen Schuss hast«, lache ich und zappe wild durch die Kanäle auf der Suche nach etwas Interessantem. Ich werde fündig – eine Dokuserie über Architektur läuft, die ich mir immer ansehe, diesmal über die ältesten Bauten, die heute noch immer erhalten sind.

»Ach, nein! Mit du kannst dir aussuchen, was du sehen möchtest, meinte ich keine Dokuserie über Architektur!«, stöhnt Casper, fletzt sich auf den anderen Rand des Sofas und sieht demonstrativ gelangweilt den Plasmabildschirm an, bei dieser Aktion verrutscht sein Oberteil und ich erspähe eine schwarze Schnur um seinen Hals, an dem ein robuster Schlüssel hängt - hoffentlich der Schlüssel für das Geheimnis in seinem Schlafzimmer.

Außerdem wird dazu auch noch ein Stück seiner Bauchmuskeln sichtbar und der Stoff spannt sich eng um seinen Körper. Obwohl er auf mich nicht so wirkt, als würde er groß Muskeltraining betreiben, ist er doch athletisch gebaut. Und nicht nur blass im Gesicht, sondern am ganzen Körper wie es den Anschein macht. Ob er überhaupt in die Sonne geht?

Casper bemerkt, wohin ich starre und zupft sein Oberteil zurecht. Ich allerdings werde rot wie eine Tomate und sehe hastig zum Fernseher. Meine Güte, wieso zum Teufel werde ich rot, als hätte er mich bei etwas Verbotenem ertappt?!

Nicht denken, fernsehen.

Nach maximal zehn Minuten penne ich ungewollt ein und wache etwas später auf, weil ich das Gefühl habe, intensiv beobachtet zu werden. Ich spähe durch einen Augenschlitz, kann jedoch nichts ausmachen, da es schon Nacht ist und der Bildschirm ausgeschaltet, so dass es im Raum stockdunkel ist, außer dem leisen Flimmern, welches von draußen durch das große Fenster links fällt.

Sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkenne ich Casper, das schwache Licht beleuchtet ihn ein wenig.

Er sitzt zu mir gewandt und mustert mich eingehend mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht einordnen kann und glänzenden Augen. Zwischen fiebriger Erwartung und etwas anderem, das nicht da sein dürfte. Ein unangenehmes Gefühl steigt in mir auf, als wenn gleich was passieren wird, was ich gar nicht will. Eine Art Vorahnung?

Langsam erhebe ich mich, den Blick unverwandt auf Casper gerichtet.

»Ich muss jetzt nach Hause, sonst werden meine Eltern austicken«, lüge ich und schlucke hart.

Meine Eltern würden es nicht einmal merken, wenn ich eine ganze Woche verschwunden wäre. 

Als ich aus dem Raum bin, fällt mir ein, dass ich überhaupt nicht weiß wo sich der Ausgang befindet, aber ich verzichte lieber darauf zurückzugehen und entscheide mich dafür, die erstbeste Person zu fragen, die ich finde. Nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkommt, kommt mir ein Mann in Securityuniform entgegen und ich gehe erfreut auf diesen zu. Er entpuppt sich als Navid.

Na, wenigstens habe ich ja mal wieder Glück.

»He Soldat! Ich dachte schon, ich gehe hier für immer verloren. Kannst du mir den Weg zum Ausgang zeigen? Bitte«, füge ich noch höflicherweise hinzu.

Netterweise ändert er seinen Kurs und führt mich, ohne ein Wort zu sagen, irgendwohin, aber ich folge ihm geradewegs. Ein elendlanger Gang folgt, eine breite Tür, eine Halle, noch ein Gang und dann endlich so was wie ein Haustor.

Navid schließt das Tor mit einem Code auf und macht sich nur notdürftig die Mühe, es vor mir zu verdecken. Traut er es mir nicht zu, dass ich mir diesen merken kann oder ist er so unprofessionell?

Das nutze ich willkürlich aus. Pff, ein Kinderspiel, habe mir bereits schwierigere Passwörter gemerkt. Er knallt die Tür hinter mir zu, doch das stört mich nicht, weil mir nämlich der Zugangscode im Kopf herumschwirrt. Dieser ist gewiss nicht einer der Kürzesten, doch ich zwinge mich, es mir einzuprägen.

873046191g.o.u.d.a. Ja genau, Gouda!

Es ist sowas wie meine persönliche Macke, so etwas wie ein Drang, dem ich immer von Neuem widerstehen muss und der dauernd an mir saugt, wie ein elender Blutegel.

Nein, widerspreche ich mir selbst, nicht dieses Haus, es ist zu schwer bewacht und Casper ist schon fast mein Freund. Doch meine innerlichen Proteste bringen nicht das Geringste. Ein neues Haus, eine neue Herausforderung und den Geheimraum hinter Caspers Schrank habe ich nicht vergessen. Aber es muss ja nicht unbedingt in nächster Zeit geschehen, vielleicht kann ich auch warten, es unterdrücken.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder?

Ich halte Ausschau nach weiteren Securityleuten, entdecke glücklicherweise keine. An der Tür lausche ich nach Schritten oder anderen Geräuschen - nichts. Mit kribbligen Fingern drücke ich die gemerkten Zahlen und Buchstaben auf die kleine Tastatur – ein grünes Lämpchen leuchtet auf und ich kann den Knauf mühelos drehen und damit auch die Tür öffnen.

Soll das wirklich so einfach sein? Das Einzige, was ich noch brauche, ist eine Kopie von Caspers Schlüssel.

Mit einem wohligen Gefühl der Zufriedenheit mache ich mich auf den Weg nach Hause.     

Kapitel 4.

Nächsten Morgen erwache ich ohne Probleme von selbst und habe sogar gute Laune, was noch nie vorgekommen ist, soweit ich mich erinnern kann. Und ich weiß auch nicht warum es heute anders ist.

Eigentlich bin ich ein Morgenmuffel durch und durch.

In unserer geräumigen Küche, die größtenteils aus weißen, glänzenden Geräten und auf Hochglanz polierten Schränken besteht, ist mein Bruder Tay gerade am frühstücken. Er sitzt in der Mitte der Kücheninsel, ein Buch in der einen knochigen Hand und ein abgebissener, praller, roter Apfel in der anderen.

Kommt es mir nur so vor, oder ist er noch magerer geworden?

Tay ist ein verfluchter Veganer und meint es sehr ernst damit. Mit sechs Jahren habe ich ihn in einem Kuhstall eingesperrt, wo er gezwungenermaßen eine Nacht verbracht hat, weil ich vergesse habe, ihn herauszulassen. Kinder sind nun mal vergesslich, kann doch jedem passieren!

Naja, seitdem rührt er nichts an, was nur im entferntesten mit Tieren zu tun hat. Eier, Fleisch, Milch, Käse, also alles was lecker ist, isst er nicht. Was auch immer er dort erlebt hat, muss überaus prägend gewesen sein.

Kleidung aus Schafwolle trägt er nicht und hat es sogar mit zwölf Jahren gewagt, meine Sachen in einer Tonne, hinten im Garten, zu verbrennen. Und das Zeug muss höchstens zu zwei Prozent aus Schafwolle bestanden haben – hat den Geräteschuppen völlig abgefackelt. Ärger hat er aber nicht bekommen. Natürlich nicht. Nicht auszudenken, was meine Eltern mit mir angestellt hätten, wäre ich an seiner Stelle gewesen.

Wir haben eine strenge Politik in unserer Familie: Wenn ich Tay nicht unglücklich mache und mir alles von ihm gefallen lasse, ist er zufrieden. Wenn er zufrieden ist, dann ist auch meine Mutter „glücklich“ – so weit es bei ihr eben noch geht – und wenn sie es ist, muss auch mein Vater nicht eingreifen.

Ganz simpel!

Aber zurzeit quält mich eine Frage – warum habe ich noch kein Anschiss von meinem Dad bekommen, wegen dem, was ich mit Tays Gesicht angestellt habe. Das ist echt komisch. Entweder mein Bruder hat mich nicht verpetzt und hat sich stattdessen seine eigene Rache für mich überlegt, was schon öfters vorgekommen ist, oder aber mein Vater ist einfach zu beschäftigt um mich zur Rede zu stellen. Beide nicht gerade schön.

»Störe mich nicht«, faucht Tay, obwohl ich keinen Mucks gemacht habe und Britta begrüßt mich mit einem „Guten Morgen, mein Lieber“ und einem Teller mit Essen darauf.

»Dir auch«, entgegne ich und führe stumm meine mit Rührei beladene Gabel in den Mund, ohne meinem Bruder eines weiteren Blickes zu würdigen, während Britta Geschirr abwäscht und fröhlich vor sich hin summt. Sie ist nonstop zufrieden und heiter, fast nichts kann ihr die Laune verderben, dafür mag ich sie sehr.

»Alle in der Schule fragen sich, warum du dich mit diesem Psycho namens Casper abgibst«, beginnt Tay und schaut minimal über sein Buch hinaus, um meine Reaktion darauf zu sehen.

Sofort fahre ich auf und fege ihm unbedacht sein Buch aus der Hand - es klatscht gegen sein Glas Orangensaft und beides landet mit einem lauten Krachen auf den Küchenfliesen. Mist, verdammter!

»Was hast du getan?! Wie soll ich jetzt für meine Prüfung lernen?«, kreischt er hysterisch los und fischt mit spitzen Fingern sein triefendes Lehrbuch aus der Orangensaftpfütze.

Unsere Haushälterin ist sofort zur Stelle und lässt die Pfütze gekonnt verschwinden, als wäre sie nie da gewesen. Als ich sie so dabei sehe und sie mir einen leicht tadelnden Blick entgegenbringt, tut es mir so gut wie Leid. Entschuldigen würde ich mich aber auf keinen Fall. Mir ist momentan egal, ob Tay mich verpetzt oder nicht.

»Ist mir doch egal, wie du lernst, Nerd. Und schaue mal in den Kalender! Die Prüfungen sind am Schuljahresende und nicht am -anfang!«

Ich bin selbst etwas über das Getane überrascht – ich habe ganz automatisch gehandelt – denke aber nicht weiter darüber nach, sondern schlendere seelenruhig und nicht gehetzt, wie sonst immer, zur Bushaltestelle.

Michael ist nicht da, also geselle ich mich zu einer Jungengruppe, die dort herumsteht. Richtig am Gespräch beteilige ich mich nicht, sie reden hauptsächlich über die Autos, die ihre Eltern ihnen versprochen haben, und mich interessiert auch nicht die Bohne, wer mit wem gepoppt hat in den Sommerferien. Jeder denkt immer, das Mädchen viel tratschen, aber sie sollten versuchsweise eine Stunde mit diesen Typen hier verbringen. Gruselig.

Diese Tratschmäuler von Jungs haben mich schon fast zu Tode gelangweilt, da fährt endlich der Bus in die Buseinfahrt. Direkt nachdem ich mich gesetzt habe und mich auf ein kleines Nickerchen freue, bemerke ich Clarisse, wie sie strahlend auf mich zugeht!

Shit, ich habe vergessen meine Tasche auf den Nachbarsitz zu legen, damit sie nicht auf die Idee kommt, sich neben mich zu setzten. Jetzt ist es zu spät!

Da geht ein Raunen durch die Reihen. Die Bustür öffnet sich erneut und Casper steigt ein, drängelt sich grob an meiner kleinen Stalkerin vorbei und fletzt sich breit grinsend auf den freien Platz neben mir.

Ich lächle, glücklich darüber, nicht die nächsten fünfzehn Minuten damit zu verbringen, Clarisse Annäherungsversuche, so gut ich eben kann, abzuweisen, ohne sie zu erdrosseln.

Doch da fällt mir der gestrige Abend ein und mein Lächeln schwindet.

»Mein Auto ist nicht angesprungen. Schätze wegen gestern«, klärt er mich unverlangt auf, blendet die Blicke aus, die auf ihn gerichtet sind. Der Bus setzt sich von Neuem in Bewegung. Clarisse muss sich wohl oder übel einen anderen Platz suchen, sie wirft Casper vorher einen vernichtenden Blick zu und mir einen enttäuschten.

»Okay«, sage ich kurz angebunden, worauf er mir unsicherer erscheint, als vorher.

Wie er mich gestern angesehen hat – mit diesem Etwas in den Augen – ist mir seitdem nicht aus dem Kopf gegangen, beinahe den kompletten Abend habe ich vergebens darüber gegrübelt, was sein Gesichtsausdruck möglicherweise zu bedeuten hatte. Und ich kann einfach nicht begreifen, warum mich das so dermaßen beschäftigt.

Die Busfahrt vergeht, ohne das wir eine Minute still sitzen können, wir lachen und Casper lässt sich sogar dazu hinreißen, ein paar Witze über Verrückte zu erzählen. Die Leute um uns herum schauen uns entfremdet an, als wären vom anderen Planeten.

Der Unterricht verläuft ganz normal, keine Zwischenfälle oder sonst was interessantes, aber in der Mittagspause ist er jäh verschwunden. Aus ihm kriege ich nichts heraus, als er nach der Pause wieder da ist, egal wie oft ich ihn ausquetsche. Das kriege ich noch irgendwie hin.

 

***

 

Es folgen Schultage in denen Casper und ich einfach reden, über alles Mögliche, über Gott und die Welt, und in denen immer weniger Menschen vor ihm zurückweichen oder ihn anglotzen. Sie gewöhnen sich langsam an ihn, das heißt allerdings nicht, dass sie ihn akzeptieren. Die seltsamen Blicke, die er mir dauernd zuwirft, lasse ich aus meinem Gedächtnis verschwinden, ignoriere sie, genauso wie meine wachsende Berührungsangst, die ich nicht wieder abzuschütteln kann.

Jedes Mal, wenn Casper neben mir hockt, liegt oder dergleichen, dann werde ich hibbelig und meine Hände zucken nervös. Womöglich habe ich irgendeine Nervenkrankheit oder er macht meinem Körper genauso Angst, wie den anderen Leuten – was, ehrlich gesagt, ziemlich lächerlich klingt, doch noch eine andere Erklärung finde ich dafür nicht. Also stopfe ich es in den hintersten Winkel meines Gehirns – geradewegs zu den weiteren Dingen, die ich nicht verstehe und deswegen verdränge. Ach ja, ist das Verdrängen nicht eine wunderbare Sache, um friedlich zu leben?

Was mich aber noch stört, ist, dass Casper hartnäckig ein Außenseiter bleibt, ungeachtet dessen, wie ich nach allen Kräften versuche, ihn für Andere sympathischer zu machen, stelle ihm haufenweise Leute vor und noch vieles mehr, doch es nützt nichts – er macht ihnen Angst, so bald er in ihre Nähe kommt. Eine besondere Aura umhüllt ihn – wobei ich nicht an diesen Quatsch glaube – die anscheinend alle als unangenehm empfinden, auf mich aber genau anders herum wirkt.

Dass er auch noch jedem erzählt, wieso er für psychisch labil erklärt wurde, hilft da nicht unbedingt.

»Du machst das extra, du Arsch! Verschreckst die Menschen absichtlich. Willst du denn überhaupt keine Freunde finden?«, werfe ich ihm vor, während wir bei ihm im Zimmer alte Musik hören und dazu Käsechips essen.

»Ich habe doch dich«

Seine Worte verursachen ein wärmendes Gefühl in meiner Magengrube, welches ich postwendend verschließe, in letzter Zeit wird es immer schwerer, ich muss mir unbedingt noch was einfallen lassen.

Angesäuert schnaube ich: »Gut, dann mache ich mir keine Mühe mehr, dich zu integrieren«

»Darum habe ich auch nicht gebeten«, erwidert er schmunzelnd und schließt seine Augen, um mit einem entrückten Ausdruck im Gesicht, der Musik weiter zu zuhören.

Die Meisten wollen nur nichts mit ihm zu tun haben, auch wenn es manche nicht zugeben würden, doch natürlich gibt es auch welche, die nicht ganz so einfach einzuschüchtern sind. Die sind eher darauf aus, selbst einzuschüchtern – was bei Casper keine leichte Aufgabe ist.

Er ignoriert sie einfach und irgendwann wird es ihnen zu langweilig und sie hören auf. Denn gewalttätig werden, können sie ja recht schlecht – die Lehrer schleichen nach der kleinen Streiterei mit Casper und dem Ziegenbärtchen-Typen überall herum, genauso wie das neue Personal, das vor Kurzem extra eingestellt wurde, um darauf zu achten, dass keiner handgreiflich wird.

"Schlichter" nennen sie sich selbst und sind total nervig und aufdringlich. Keine Ahnung was das soll.

Eine gute Nachricht ist, dass Casper und ich nicht zum Direktor geschleift werden – keiner hat uns bei ihm angeschwärzt, auch der Ziegenbärtchen-Typ nicht, ihm ist es vermutlich zu peinlich seine Niederlage einzugestehen und Video sind auch keine aufgetaucht, wahrscheinlich hat er alle dazu gezwungen, sie nicht online zu stellen. Auch gut.

 

Wochen fliegen dahin und Casper und ich lernen uns immer besser kennen. Ich weiß jetzt, dass er Schinken und Tunfischpizza liebt. Er ist vollkommen verrückt nach diesem Wasser mit  Kischengeschmack – in den Mittagspausen, wenn er da ist, oder bei ihm zu Hause, hat er beinahe ständig eine solche Flasche in den Händen. Er steht auf Horrorfilme und -bücher und trainiert jeden Tag allerlei Sportarten, manchmal machen wir es zu zweit bei ihm. Früher hat er das mit seinem Dad gemacht und hat auch niemals damit aufgehört sich gut in Form zu halten.

Außerdem, hatte er vor dem Tod seiner Eltern Freunde, die er seit seinen Kindergartentagen kennt und er war sogar mehrere Jahre mit einem Mädchen von dort zusammen, die Katrin heißt. Mehr redet er nicht über sie, es scheint ihm zwar gleichgültig, doch ich sehe kleine Anzeichen bei ihm, die das Gegenteil beweisen – wie den traurigen Glanz in seinen Augen oder die Art, wie er sich durch die Haare fährt.

Über mich erfährt er natürlich auch etwas, wie beispielsweise meine Vorlieben in Sachen Mädchen, Musik und Essen. Oder dass ich knapp vor den Sommerferien aufgehört habe, den Boxclub zu besuchen, dem ich eigentlich nur beigetreten bin, weil mein Dad es so wollte etc.

Ja, man kann ruhig behaupten, wir freunden uns bestens an.

Michael kommt gar nicht mehr zur Schule – seine Eltern haben seine Vorräte an Marihuana entdeckt und ihn schwubs in eine Entzugsklinik in Europa verfrachtet. Das arme Schwein. Doch wie sie es vorher nie bemerkt haben, dass ihr Sohn dauer-high herumläuft, ist mir ein Rätsel.

In der Schule nennt man Casper und mich nur noch "die Unzertrennlichen", ob es als Beleidigung gemeint ist oder nicht, bin ich mir nicht sicher – es ist mir im Prinzip egal.

Sein Onkel sehe ich so gut wie nie, das Schloss ist ja schließlich groß genug um sich monatelang aus dem Weg zu gehen und er scheint oft unterwegs zu sein.

Navid dagegen begegne ich öfter als es mir lieb ist, er wird zu einer regelmäßigen Klette. Hängt an Casper und ist dauernd entweder mit uns im Raum oder steht stocksteif im und vor dem Eingang herum.

»Wieso verfolgt er uns, verdammt, hat er keine Hobbys?«, frage ich Casper ungehalten an einem der wenigen Tage, in denen Navid nicht da ist und mich böse anstiert, als wäre ich der Staatsfeind Nr. 1 persönlich.

Mein Freund zuckt nichtssagend mit den Schultern.

»Frag ihn selbst«

Und das habe ich bereits, doch er antwortet mir nie, wenn ich ihn anrede und das weiß Casper ganz genau. 

Mir fällt schnell auf, dass Casper einmal in jeder Woche sehr bedrückt und zugleich wütend zur Schule kommt, doch als ich mich danach erkundige, weicht er mir aus und lenkt einfach vom Thema ab. Wie häufig – er versteht sich darauf mich abzulenken.

Etwas stimmt da zweifellos nicht, aber ich hab mich schon fast damit abgefunden, dass er so mysteriös bleiben will und es stört mich fast nicht, aber eben nur fast.

Bei mir zu Hause ist er bis jetzt noch nicht gewesen, mir graut es regelrecht davor, was passiert, wenn er und Tay aufeinander treffen.

Wenn das mal kein Feuerwerk geben wird.

In unserem kleinen Städtchen verbreiten sich Neuigkeiten blitzschnell und ich bin sicher, dass mein Vater längst weiß, dass ich mit dem bekanntesten Psycho befreundet bin, so nenne ich ihn scherzeshalber – er sieht es nicht als Beschimpfung. Allerdings hat mein Erzeuger sich seit mehr als einem Monat nicht im Haus blicken lassen. Und da bin ich froh drüber.

»Was hältst du davon, wenn ich mir ein Sidecut verpassen lasse?«, flüstere ich während des sterbenslangweiligen Chemieunterrichts um nicht einzudösen. Casper verdreht bloß die Augen und macht sich weiterhin Notizen zu dem Chemiegelaber unseres Lehrers, das anscheinend keiner außer ihm versteht – er ist gut in allen Fächern, dieser miese Scheißkerl, und er scheint damit keine Mühe zu haben.

»Xander, beantwortest du bitte meine Frage«, bellt Mr. Hale mich an und fuchtelt dabei fuchsteufelswild mit den Armen vor seiner Brust. So verschafft er sich die Aufmerksamkeit seiner Schüler, wenn ihm keiner zuhören will – sein Markenzeichen übrigens.

»Welche Frage?«

»Duroplaste sind Kunststoffe, die nicht verformbar sind und sich bei hohen Temperaturen zersetzen, ohne zu erweichen«, beantwortet Casper die Frage, die ich nicht gehört habe, für mich, und es klingt wie aus einem Lehrbuch abgelesen. Das lässt den Lehrer zufrieden brummen, aber wieder bei mir, verzieht er sein bartüberwuchertes Gesicht, bevor er weiterfaselt und ihm immer noch keiner zuhört, außer meinem Tischnachbarn.

Ich mache den Mund auf, um diesem erneut etwas zuzuflüstern, doch er bringt mich mit einem „Sch“ zum Verstummen. Mit einem Schnauben schnappe ich mir sein Block und kritzele blitzschnell eine kurze Notiz quer über die seinigen, er knurrt empört auf und versucht es mir zu entreißen noch während ich schreibe.

Du musst mir Chemienachhilfe geben, steht da in großen Buchstaben drauf.

 

***

 

So ergibt es sich, dass er mir fast jeden Tag Nachhilfe gibt und zwar nicht nur in Chemie, sondern auch in all den anderen Fächern, bei denen ich hinterher hinke.

Das heißt für mich pauken, pauken und pauken, denn bald kommen die ganzen Halbjahrestests- und -arbeiten und wenn ich nicht sitzen bleiben will, muss ich mich anstrengen. Zu meinem eigenen Erstaunen werde ich mit jedem Tag sichtlich besser. Casper ist richtig gut im Erklären, besser als die Lehrer selbst. Als ich ihm das eröffne, grinst er breit und erzählt, etwas melancholisch im Gesicht:

»Meine Mutter war Lehrerin an meiner früheren Schule, vielleicht liegt es mir im Blut«

»Ich hoffe wirklich, dass ich keine Eigenschaften von meinen Eltern im Blut habe«

»Wenn doch, dann sind sie vielleicht gar nicht so schlimm«

Süß.

Erschrocken reiße ich die Augen auf. Das gibt’s doch nicht – ich habe Casper als süß bezeichnet – mit mir muss definitiv etwas nicht in Ordnung sein. Etwas anderes denken, schnell!!

Navid kreuzt nicht mehr so oft auf und benimmt sich sichtlich diskreter als vorher. Eine große Erleichterung für mich, so muss ich nicht seinen brennenden Blick in meinem Nacken ertragen.

»Hast du ihm endlich die Illusion zerstört, bei der er geglaubt hat, dein Leibwächter zu sein?«, will ich wissen und ich höre mich regelrecht verächtlich an – unbeabsichtigt.

»So etwas ähnliches«, nuschelt Casper nur und ich spüre, wie er grimmig die Arme vor der Brust verschränkt, was ziemlich ungemütlich wird, weil wir gerade Schulter an Schulter auf der Couch im Wohnzimmer lümmeln und sinnfrei an die Decke schauen.

Beiden kleben die Sportsachen am Körper – wir kommen gerade aus seinem Fitnessraum im Untergeschoss, wo wir diesmal um die Wette Gewichte gestemmt haben und ich habe gewonnen, aber auch nur haarscharf. Es fehlt nicht viel und er ist so gut wie ich.

Ich liege wie auf heißen Kohlen, seit er sich vor ein paar Minuten zu mir gelegt hat. Wegzurücken bringe ich auch nicht über mich. Will ich nicht wirklich.

»Clarisse hat uns zu einer ihrer allmonatlichen Partys eingeladen. Hast du Lust?«

Wieso muss ich nur so angespannt und zittrig klingen? Hoffentlich hat er es nicht bemerkt.

Casper stützt sich auf die Ellenbogen und mustert aufmerksam mein Gesicht mit seinen Bohraugen, als würde nach etwas Bestimmten suchen, grinst dann aber amüsiert – was mir das Atmen um einiges leichter macht. Wenn er mich so anstiert, scheint der Sauerstoff um mich herum zu verschwinden. Lästig.

»Ich glaube nicht, dass sie gesagt hat: Bring doch deinen Kumpel Casper gleich mit«, meint er und imitiert Clarisse Stimme exakt nach, sodass ich nicht umhin kann zu lachen.

»Na schön, vielleicht nicht ganz so, aber wenn sie mich einlädt, dann weiß sie doch sicher, dass ich dich mitnehmen werde – wir sind doch die Unzertrennlichen«

Wieder sein komischer Ausdruck, mit dem er mich ständig nervös macht. Könnte er nicht endlich aufhören damit? So, stelle ich mir manchmal scherzhaft vor, würde ein Serienkiller auf seine Opfer herunter sehen.

Haha.

»Also, was meinst du? Kommst du mit?«

Eine Weile sagt er nichts, doch dann, nach reichlicher Überlegung, stimmt er zu.

»Wann steigt die Party?«

»Morgen Abend. Du holst mich ab«

»Du brauchst dringend einen Führerschein und ein eigenes Auto – ich werde nicht allezeit da sein, um dich zu chauffieren«, sagt er und erhebt sich, geht auf seinen Schreibtisch zu, wo haufenweise Lehrbücher gestapelt sind.

Ich richte mich bestürzt auf und sehe ihm hinterher, die Muskeln seines Rückens bewegen sich, als er sich nach oben streckt um sie zu lockern. Er hat ein bisschen breitere Schultern als ich, aber seine Statur wirkt trotzdem insgesamt schlanker.

Was meint er bloß damit, dass er nicht allezeit da sein wird? Will er etwa weg? Nein, er würde mir gewiss vorher Bescheid geben, da bin ich mir todsicher.

»Komm schon her, lass uns jetzt lernen, du hinkst in Mathe ganz schön nach. Wie hast du es eigentlich geschafft letztes Jahr nicht sitzen zu bleiben?«, lenkt er mich ab und ich folge ihm zum Tisch.

»Wenn ich es weiß, gebe ich dir Bescheid. Ach ja und ich hab ein Paar meiner Hausaufgaben bei einem Genie aus der Klasse über mir machen lassen – er nimmt Geld dafür, ist aber sonst ziemlich nett«

 

***

 

Nach einer halben Stunde kann ich es nicht mehr aushalten, erstens, weil es unerträglich anstrengend ist, mehr Informationen passen mir schier nicht ins Gehirn, und zweitens, weil Casper mir viel zu nah auf die Pelle rückt.

Während er dieses und jenes erklärt, beugt er sich zu mir und ich nehme sogar seinen Atem wahr, der nach dem Kirschwasser riecht, das er erst vor Kurzem getrunken hat. Ich verstehe mich selbst nicht in letzter Zeit. Wieso nur reagiere ich so extrem auf ihn? Vielleicht sollte ich das zu Hause googeln.

Als ich unaufmerksam werde und Casper aufhört, mir irgendwelche Gleichungen einzubläuen, hocken wir im Stillen da. Nach einer Weile meint er leise:

»Mein Vater ist mit mir Angeln gegangen, da war ich noch ein kleines Kind. Oft saßen wir stundenlang am gleichen Platz und haben geschwiegen, nichts weiter, nur geschwiegen und auf einen See hinab gesehen«

Mit einem traurigen Glanz in den Augen starrt er mich an. »Das ist eins meiner schönsten Erinnerung an ihn«

Vorsichtig lege ich ihm tröstend meine Hand auf seinen Arm, unter meinen Fingern bildet sich langsam eine Gänsehaut, weswegen ich mich wieder zurück sinken lasse. Ich nehme meine Hand weg und tue so, als hätte ich nichts bemerkt. Was sollte ich auch sonst tun?

»Meiner hat nie etwas mit mir gemacht, soweit ich weiß«, meine ich schulterzuckend und mir gelingt ein schiefes Lächeln. »Das habe ich auch nicht nötig, ich habe kein so gutes Verhältnis mit ihm. Dieser Saftsack geht mir auf die Nerven, da bin ich froh, mit ihm nicht so viel Zeit zu verschwenden«

Casper hebt verwirrt seine Augenbrauen und runzelt die Stirn, sein Mathebuch schließt er ganz, aber nicht ohne vorher eine Serviette zwischen die Seiten zu legen – als Lesezeichen.

»Du hast mir doch erzählt, dass dein Bruder Taylor oft mit deinem Vater unterwegs ist, da dachte ich, dass er auch-«

»Nein, nur mit Tay. Er ist der Erstgeborene, er kriegt das ganze Vermögen meiner Eltern und übernimmt auch die Firma, blablabla, ich bin nur der Zweitgeborene – wozu soll er sich mit mir beschäftigen, wenn ich nicht so wichtig bin?«

Nochmal beugt er sich vor, mit ernster Miene.

Viel zu nah, viel zu nah, pocht es in meinem Schädel.

»Du bist wichtig«, behauptet er leise, aber mit Entschlossenheit.

Erst spüre ich einen einzigen Finger, der bedächtig, forschend über meinen Arm streicht, der locker auf dem Tisch platziert ist, und unwillkürlich halte ich den Atem an. Seine Augen halten meine fest, ich sitze wie hypnotisiert auf dem Stuhl und kann mich nicht mehr bewegen. Sein Finger streichelt weiter und weiter, genau wie mein Blut mir immer weiter in den Kopf steigt. Er malt sowas wie kleine Muster und ich kann spüren, wie sich meine kleinen Härchen auf dem Arm aufrichten, mir wird mulmig zumute. Wirre Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum, bringen mich völlig durcheinander.

What the fuck?!

Ein Klingelton lenkt mich von seiner hypnotisierenden Berührung ab und ich greife eilig nach meinem Handy.

»Xan! Kommst du nun zu meiner Party? Oh, bitte, bitte. Hier ist Clarisse«, trällert sie unnötigerweise – als hätte ich das nicht schon bei der Begrüßung gecheckt – und ich kann förmlich sehen, wie sie einen Schmollmund aufsetzt, den alle sicherlich unwiderstehlich finden, mich aber kalt lässt. Doch zum ersten Mal bin ich sogar froh, ihre Stimme zu hören, sie hat mich sowas wie gerettet vor...ja wovor eigentlich?

»Ja, ich komme«, antwortete ich ihr, stehe auf und drehe meinem Beobachter den Rücken zu, damit er nicht sieht, wie ich Clarisse unauffällig wegdrücke – seinen Blick kann ich förmlich in meinem Rücken brennen spüren. »Ich bin sofort da, Mom«, sage ich nach einem abwartenden Augenblick zu meinem nicht vorhandenen Ansprechpartner am Telefon.

Bevor ich mich wieder umdrehe, atme ich tief ein, versuche gar nicht erst zu begreifen, was auf einmal mit mir los ist und erkläre ihm schließlich gespielt bedauernd: »Ich muss jetzt nach Hause«

Ob er mir glaubt, kann ich aus seiner Miene nicht herauslesen, doch ich klaube trotzdem schnell meine Schulsachen auf und will hinausmarschieren, komme aber nicht so weit, bis Caspers tiefe Stimme mich zum Innehalten und wieder Umdrehen zwingt.

»Meintest du nicht vor ein paar Tagen, dass deine Mutter schon seit Längerem im Bett liegt und Depressionen hat?«

Shit, hätte ich ihm nur nichts von meiner Mutter erzählt!

»Sie ist wieder aufgestanden und braucht mich jetzt. Sonst noch was?« Eine schlechtere Lüge gibt es nicht – als ob meine Mutter mich anrufen würde, nie im Leben!

Er schüttelt den Kopf und ich kann nicht umhin schuldbewusst wegzusehen. Jetzt bloß nicht erröten, das wäre die Höhe!

»Dann bis morgen Abend. Tschüss. Und ruf an, bevor du da bist«

Sogleich stürme ich weg und stolpere dabei fast in Navid hinein, der heimlich und leise neben Caspers Zimmer an der Wand gelehnt hat, ohne dass ich ihn bemerkt habe. Der hat mir noch gefehlt! Wie schafft er es bloß, sich so leise zu bewegen?

»Verflucht, was schleichst du hier herum und lauscht wie ein neugieriges Weib? Hast du nichts anderes zu tun, als Casper auf die Pelle zu rücken, du Stalker«

Kurz sieht es so aus, als würde die stumme Gestalt vor mir etwas erwidern wollen, doch dann wendet er sich mit schadenfrohem Gesicht von mir ab, tretet in Caspers Zimmer ein und schließt hinter sich die Tür. Kurz darauf kann ich Stimmen dahinter vernehmen und ein leises Lachen.

Worüber können sie sich da unterhalten? Machen sie sich möglicherweise über mich lustig?

Meine Hand streckt sich, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, nach der Türklinke aus, ich kann mich noch knapp davon abhalten, in den Raum hineinzuplatzen. Ein unbestimmtes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus und ich presse, vor lauter Verwirrtheit darüber, die Zähne fest zusammen, sodass ich sie knirschen höre. Ich muss mich schleunigst vom Acker machen und es aus meinem Gedächtnis verschwinden lassen. Sich Gedanken über das vorhin Geschehene oder über Caspers und Navids Gespräch zu machen, bringt eh nichts außer Kopfschmerzen.

Und außerdem war es ja auch nichts – nur ein unbedeutender Finger auf meiner Haut, nur Caspers Finger, ist ja nichts weltbewegendes. Weg von hier und ab an die frische Luft, das wird garantiert helfen.

Kapitel 5.

Am nächsten Abend stehe ich vor dem Badspiegel und betrachte mich zweifelnd. Schon seit zwei Stunden versuche ich das perfekte Outfit zu finden. Probiere dies und das an und nichts stellt mich richtig zufrieden. Ich komme mir mittlerweile vor, wie ein Teeniemädchen vor ihrem ersten Date.

Total sonderbar für meine Verhältnisse – in der Regel ziehe ich das an, was gerade halbwegs sauber irgendwo in meinem Zimmer herumliegt.

Und die Frage, warum ich mich so hibbelig fühle, lasse ich im hintersten Winkel meines Gehirns verschwinden, wo es auch hingehört.

Diesmal ist es eine dunkle, enge Jeans, die ich von meiner Tante zum Geburtstag bekommen, aber früher noch nie angezogen habe. Vor allem weil sie zu eng ist und im Schritt zwickt, ist jedoch auszuhalten, da ich darin ganz gut aussehe. Allerdings ist es schon ein Unterschied zu den üblichen Hosen, die ich so anhabe.

Heute habe ich aber richtig Lust sie anzuziehen, sowie ein weißes T-shirt dazu, welches ganz schön durchsichtig ist. Gut das ich keine Titten habe, denke ich und muss vor mich hin grinsen.

Was Casper wohl anzieht? Wieder seine Gruftisachen? Sie stehen ihm zwar, das gebe ich sogar zu, aber darin wirkt er noch unnahbarer als er ist.

Meine Haare müssen irgendwann in nächster Zukunft wieder geschnitten werden. Nur mit viel Mühe und Ausdauer kriege ich die Knoten endlich raus, die ich während meines Mittagsschläfchens bekommen habe, und binde sie mir am Hinterkopf zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. 

Im nächsten Moment höre ich die Türklingel, die wie eine Kirchenglocke klingt, durchs Haus schallen und bleibe unbeweglich stehen.

Scheiße, das gibts doch nicht, ich habe Casper ausdrücklich gesagt, er soll vorher anrufen. Ich bringe ihn um!

Rasend schnell laufe ich die Treppe herunter und stolpere fast, weil die Hosen so verdammt eng sind, doch es ist sowieso zu spät, jemand hat ihm bereits die Tür geöffnet.

»Sie müssen Britta sein, ich bin Casper, Xander hat mir über Sie erzählt. Es ist schön, Sie kennen zu lernen«, höre ich auch schon Caspers freundliche und tiefe Stimme. So höflich habe ich ihn ja noch nie erlebt, wusste nicht einmal, dass er so sein kann.

Erleichtert atme ich auf – gut, dass Britta aufgemacht hat und nicht sonst jemand, wie zum Beispiel mein all zu neugieriger Bruder.

»Also Xander hat mir noch nicht über Sie erzählt, aber es ist mir ebenfalls eine Freude Sie kennenzulernen, Casper«

Sie umarmt ihn auf ihre warmherzige Weise und er ist sichtlich überrumpelt von dieser Geste. Mit raschen Schritten gehe ich auf die beiden zu.

»Hi, Britta«, ich nicke ihr zu und werfe Casper einen bitterbösen Blick zu, nach dem Motto: "Ich hab dir doch gesagt, du sollst vorher anrufen".

»Hallo, Casper«

Ruckartig fasse ich Casper an den Schultern, nachdem Britta ihn loslässt und schiebe ihn direkt aus der Schwelle.

»Bis später, Britta. Wir gehen auf eine Party und kommen wahrscheinlich etwas später«

»Viel Spaß, meine Lieben, trinkt bitte nicht zu viel oder fährt angetrunken Auto, verstanden?«, ruft sie und ich versichere ihr mehrmals, dass einer von uns nüchtern bleibt. Sie winkt zum Abschied.

»Bin ich dir etwa peinlich?«, sagt Casper plötzlich in die Stille, die im Auto bis jetzt geherrscht hat.

Verwundert schaue ich zu ihm rüber, bin nicht sicher ob er es ernst meint. Tut er offenbar, denn er hat seine Augenbrauen grimmig zusammengezogen und hält den Lenkrad umklammert.

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Du hast mich noch kein einziges mal zu dir nach Hause eingeladen, geschweige denn, reingelassen. Das ist wirklich ein Zeichen dafür, dass ich dir peinlich bin – zumindest deiner Familie gegenüber«

Er sieht starr geradeaus auf die Straße, der Navigator, den wir erst vor kurzem zusammen in der nächsten Stadt gekauft haben, weist ihm mit einer monotonen, männlichen Stimme den Weg zu Clarisse Haus. Seufzend streiche ich mir die Haare glatt und betrachte anschließend meine vom Haargel beschmierte Hand, der nötig war, um sie glatt zu kriegen.

»Nein, du bist mir nicht peinlich«, antworte ich zögernd und sehe angestrengt aus dem Fenster.

»Ich möchte nur nicht, dass du meinen Bruder kennenlernst, er ist mir peinlich«

Nachdenklich nickt er und scheint zu überlegen. »Okay, ich verstehe, aber du sagst nicht die ganze Wahrheit«

Was bildet der sich ein? Ungläubig sehe ich ihn an und will ich anfahren, aber er spricht weiter.

»Du willst auch nicht, dass ich deine Mutter sehe, stimmt's?«, fährt er sanft fort und legt seine warme und ruhige Hand auf meinen bloßen Arm. Nicht schon wieder!, stöhne ich innerlich. Das seine Berührung ein Gänsehaut verursacht, übersehe ich gekonnt.

»Du kennst mich langsam viel zu gut«

Ist es nicht normal, wenn ein Freund dich so anfasst wie Casper es gerade bei mir tut? Aber wie ich darauf reagiere ist definitiv nicht normal!

Diesmal kommt die Erlösung dadurch, dass wir an unserem Ziel angelangen. Gott sei Dank! Obwohl, an Gott glaube ich gar nicht.

Ich steige schleunigst aus, warte nicht auf Casper, und schon im nächsten Moment werde ich in eine stürmische Umarmung gezogen, die sich eher wie ein Schraubstockangriff anfühlt.

Unbehaglich winde ich mich, während sie überschwänglich meine Wangen abküsst und dabei Spucke hinterlässt.

Ist ja widerlich! Ich frage mich, wie ich früher mit ihr rummachen konnte. Jedenfalls scheint es mir jetzt unmöglich.

»Xan, du bist für mich gekommen! Oh danke!«

Sobald ich sie von mir losreißen kann, wische ich ihre Spuren mit dem Handrücken weg. Casper sieht meine angeekelte Miene und prustet los, wobei Clarisse sich postwendend umdreht und ihn nicht beachtet, als wäre er es gar nicht wert.

Darauf wird Caspers Lachen nur noch lauter und ich sehe ihn gereizt an, damit er aufhört mich auszulachen.

»Komm Xan, ich hole dir etwas pinke Bowle. Habe ich selber gemacht, extra für dich. Ich weiß nämlich, dass du Bowle magst, du trinkst immer welche auf Partys. Uh, und warte erst, bis du meine selbstgemachten Snacks probierst...«, plappert sie und zerrt an meiner Hand.

Casper und ich tauschen einen vielsagenden Blick aus und ich sehe, dass seine Mundwinkel nach oben zucken.

Das macht er, wenn er sich still über mich amüsiert.

Angestrengt nehme ich meine mittlerweile zerquetschte Hand aus ihren Klammerfingern heraus und lasse sie mit enttäuschtem Gesicht stehen.

»Ehm, nein danke, wir verzichten lieber«

Ich habe in der letzten Zeit gemerkt, dass ich angefangen habe, immer von "wir" zu sprechen, als gäbe es Casper und mich nur im Doppelpack.

»Wieso sind wir nochmal hier?«, fragt dieser.

Schulterzuckend steuere ich auf das Gartentor zu und höre bereits Stimmengewirr und laute Pop-Musik bis hierher tönen.

»Nur so, vielleicht werden wir ja Spaß haben – vorausgesetzt wir schaffen es, Clarisse zu entgehen«

Da! Wieder das „Wir“! Ich sollte wirklich aufhören damit.

Wir gehen weiter in den Garten hinein und viele Blicke treffen uns. Scharenweise Mädchen und Jungen, die nicht aus der Stadt kommen, dass sehe ich an ihrer Kleidung, mustern und betrachten uns von allen Seiten. Unmittelbar greife ich, wie von selbst, nach Caspers Hand und zucke erschrocken zurück, als ich erkenne, was ich kurz davor war zu tun.

Erst jetzt sehe ich, was er da anhat – fast das Gleiche wie ich. Ein weißes, etwas durchsichtiges, T-Shirt und dunkelblaue, enge Jeans, die seinen Körper gut betonen.

»Alter, Partnerlook ist gar nicht cool«, sage ich, grinse ihn angespannt an und boxe in seine Schulter, um wieder lockerer zu wirken. Casper sieht, Himmel sei Dank, nicht so aus, als ob er etwas gemerkt hat und ich bin bemüht, das selbst zu verdauen.

Dafür aber mustert er mich genauestens, ich winde mich verlegen, es kommt mir vor, als würde er mich röntgen.

 Hat er doch gemerkt, dass ich seine Hand nehmen wollte? Hoffentlich nicht.

»Starren sie uns deswegen so an? Oder eher weil wir ein gutes Pärchen abgeben?«

»Pärchen?!«, echot meine zittriger Stimme, ich räuspere mich kräftig und gucke ihn entsetzt an, doch er grinst spitzbübisch.

Huch, also war das doch nur ein Scherz. Was sonst, du Idiot, schalte ich mich selbst. Er soll nicht solche Witze mehr machen!

Ich schlängele mich zwischen den Leuten auf den langen Tisch zu, wo Chips, allerlei Snacks, Getränke und leichte Drinks aufgereiht sind, nichts Starkes also.

»Willst du Wein?«

Casper begutachtet die Auswahl und runzelt verständnislos die Stirn. »Hier ist kein Wein«

»Habe einfach keine Lust auf "pinke Bowle" zurzeit. Und ich weiß, wo welcher ist«, antworte ich ihm und deute grinsend auf die riesige Backsteinvilla.

»Clarisse hat so eine Angewohnheit – jedes Mal bevor wir bei ihr zu Hause knutschen, geht sie für mindestens fünfzehn Minuten ins Bad. Echt nervig ehrlich gesagt. Wegen der Langeweile hatte ich aber genug Zeit, um mich heimlich bei ihr umzusehen und den Weinkeller habe ich dabei zufällig entdeckt«

Sein Gesicht verdüstert sich für einen Moment, als ich ihm vom Knutschen erzähle, aber es geht so schnell wieder weg, dass es auch Einbildung gewesen sein könnte.

Kurz nickt er mir zu und schaut weg, weicht meinem Blick aus, was ungewöhnlich für ihn ist, denn meistens bin ich derjenige, der das tut.

Verwirrt wende ich mich ab und erkläre noch vorher kleinlaut: »Dann hole ich mal den Wein«

 

***

 

Die Hintertür der Villa mache ich mit einem Schlüssel auf, den ich auch nachmachen ließ. Dieser Schlüssel hängt neben den vielen anderen an einem Schlüsselring, den ich fast ständig dabei habe und der mit einem Kettchen an meinen Hosen befestigt ist. Über die Jahre ist der Schlüsselring immer schwerer geworden, ich bringe es aber nicht über mich, welche weg zu werfen, obwohl ich viele schon lange nicht mehr gebrauchen kann.

Mühelos gleitet die breite Tür auf und ich stehle mich nach einem gründlich Umschauen hinein.

Das Licht schalte ich nicht ein – es soll bloß keiner merken, dass ich hier drin bin - doch ich kenne den Weg zu meinem sowieso Ziel auswendig.

Ein Mal nach links abbiegen und einen langen und breiten Flur entlang, dort hinter einer schmalen Tür befindet sich der Weinkeller, dafür brauche ich auch noch einen weiteren Schlüssel, der an meinem Ring hängt. Ich nehme die erstbeste Weinflasche, die mir am nächsten im Regal liegt und trete fröstelnd wieder hinaus. Brrr. Hier ist es so kalt! Schnell raus hier.

Sobald ich alles hinter mir wieder verschlossen habe, gehe ich geradewegs auf Casper zu – und bleibe abrupt stehen.

Er steht dort nicht allein, sondern ein fremdes Mädchen klebt regelrecht an ihm. Eine Brünette in einem glitzernden, goldenen Kleidchen mit einem tiefen Ausschnitt am Rücken. Gerade beugt sie sich zu Casper und flüstert ihm etwas ins Ohr, ich werde aus irgendeinem Grund ein bisschen wütend und schüttele gleichzeitig den Kopf über mich selbst. Verscheuche das Gefühl.

Ohne Eile setzte ich meinen Weg zum Tisch fort, als ob nicht gewesen wäre und schnappe mir unterwegs den Arm eines anderen, hübschen Mädchens, welche allein in der Gegend herumsteht und sich offensichtlich langweilt. Sie lässt sich bereitwillig mitziehen.

Beim Vorbeigehen rempelt diese aus Versehen leicht die Brünette an und entschuldigt sich sogleich, aber diese schenkt ihr keinerlei Beachtung und nutzt stattdessen den Stoß aus, um mit einem gekünstelten „Oh“ in Caspers Arme zu fallen, als könnte sie nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen. Dieser hält sie auch noch fest!

Gott, was finden andere Jungen bloß an solchen Mädchen wie diesem? Die sind alle nicht auszuhalten – so dramatisch und unecht wie die immer drauf sind. Aber dann denke ich: Was geht mich das an, wenn mein Kumpel auf solche steht? Dann soll er ruhig seinen Spaß haben, mir doch egal!

Trotzdem etwas zu heftig stelle ich die Weinflasche auf den Tisch ab und lasse das Mädchen los, um in drei Gläser, die da leer herumstehen, den roten Wein einzugießen. Eins reiche ich Casper und sehe dabei, dass er mit zusammengezogenen Brauen das Mädchen an meiner Seite betrachtet und sich dann weiterhin mit seiner beschäftigt, seine Hände liegen schon auf ihrem Hintern, wobei sie laufend am kichern ist.

Total übertrieben. Ich wunder mich, warum sie noch keinen über Casper aufgeklärt hat – er ist ja angeblich labil – aber vielleicht will sie gerade deswegen etwas von ihm. Es gibt immer solche.

Derweil wende ich mich an die Unbekannte neben mir und reiche ihr das andere Glas, welches sie mit einem dankbaren Lächeln annimmt.

»Xander, und du bist…?«

»Alessia«, erwidert sie erstaunlich schüchtern und lächelt süß, dabei offenbaren sich zwei Grübchen in ihren Wangen. Sie ist ganz nach meinem Geschmack: Klein, zierlich, mit Rehaugen.

»Woher kommst du, Alessia? Ich habe dich noch nie hier gesehen, wenn doch, hätte ich es mir bestimmt gemerkt«

»Ich bin eher neu in dieser Gegend, erst vor kurzem hier in die Nähe gezogen. Clarisse hat mich heute hierher zitiert, wir sind sowas wie Stiefcusinen – meine Mum hat ihren Onkel geheiratet, weiß du«, erwidert sie gequält und wickelt permanent eine Strähne ihres strohblonden Haares um ihren schlanken Zeigefinger.

Ich nehme ihr diese Strähne ab und wickle sie mir selbst um den Finger, beuge mich zu ihr herab.

»Du tust mir wirklich Leid, das muss ja die Hölle für dich sein, so wie ich Clarisse kenne«

Apropos Clarisse – echt komisch, dass sie nicht schon hier aufgetaucht ist, um sich wie eine eifersüchtige Ehefrau auf uns beide zu stürzen. Vielleicht habe ich heute ja Glück.

»Ja, ist ziemlich anstrengend mit ihr«

Wieder lächelt sie mit Grübchen und ihre Wangen färben sich zart rosa. Sie ist so gar nicht wie die anderen Mädchen hier, glaube ich zu wissen. Alessia sieht so unschuldig aus.

Allerdings wird auch das nicht lange halten, wenn sie weiterhin mit Clarisse abhängt.

»Du bist der Erste, dem ich begegne und der nicht auf ihre Masche reinfällt«

»Naja, zuerst schon, aber mittlerweile kann ich sie nicht ausstehen«

Mit großen Augen atmet sie aus und neigt sich zögernd mir entgegen, ich spüre ihre kleine Hand auf meiner Schulter und ihre Brüste, die mir leicht gegen die Brust drücken.

Bevor ich sie küsse, drehe ich unwillkürlich den Kopf zur Seite um, nicht das Clarisse doch noch überraschend aufkreuzt und alles versaut. Ich begegne aber nur den unvergleichlichen Augen von Casper, sie funkeln kohlenschwarz und wütend - die Tussi, die bei ihm war, ist nicht mehr zu sehen.

Wieso guckt er mich so an, habe ich irgendetwas falsch gemacht? Will er möglicherweise nach Hause und ist wütend, weil ich beschäftigt bin? Noch eine weitere Ahnung drängt sich mir auf, doch das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Casper ist nicht...? Oder doch?

Nein, nein.

Alessia drückt sich fester an mich und ich kann mich endlich von seinen bannenden Augen lösen.

Sanft kommen meine Lippen auf ihren an, sie schmecken lecker nach Erdbeeren und drängelnd streicht ihre vorwitzige Zunge an meinen Lippen, bis ich sie ihr bereitwillig öffne. Daraufhin fühle ich, wie ihre andere Hand vorsichtig unter mein T-Shirt wandert, um dann verlangend über meine Bauchmuskeln zu streichen.

Ich dachte sie ist schüchtern, und jetzt das. Sie ist womöglich nicht so unschuldig wie zuerst angenommen. Egal, soll mir recht sein.

Unser Kuss wird stets wilder.

Meine Hände sind derweil auch fleißig – ich umfasse ihre Oberschenkel, streiche über ihre freie Haut, setzte sie leicht auf den Tisch hinter ihr und schiebe mich zwischen ihre Beine, was sie in meinen Mund Stöhnen lässt.

»Lass uns in mein Auto gehen, dort ist viel Platz«, flüstert sie mir atemlos ins Ohr und knabbert murrend, wie ein Kätzchen, an meinem Ohrläppchen.

Ihrem Auto? Dann muss sie ja mindestens achtzehn sein – das verwundert mich, weil ich sie auf höchstens sechzehn geschätzt habe. Aber auch wenn sie über dreißig wäre, wäre ich ihr jetzt widerstandslos gefolgt.

Sobald ich zustimmend nicke, ergreift sie einen Zipfel meines T-Shirts und springt vom Tisch herunter zieht mich mit sich zu ihrem Auto, welches nahe der Einfahrt der Villa steht. Es ist ein roter Range Rover, und als ich hinter Alessia einsteige, sehe ich, dass die hinteren Sitze bereits herunter geklappt sind, sodass es viel Platz da drinnen gibt. Eine plüschige Decke ist darauf ausgebreitet.

Hat sie etwa geplant, heute Abend jemanden abzuschleppen, frage ich mich irritiert.

Aber viel Zeit bleibt mir nicht zum Nachdenken – sie legt sich hin und verfrachtet mich mit ihren Armen auf sie drauf. Ich beginne ihren Hals zu küssen und zart daran zu beißen, was ihr nochmals ein leises Stöhnen entlockt – begleitend mache ich den Reißverschluss ihres Kleidchens an der Seite auf und sie streift es hastig ab. Dasselbe machen wir mit meinem Shirt. Ihre Fingernägel kratzen spielend an meiner Brust und meinem Rücken, hinterlassen rote Striemen und ich küsse mich den Hals zu ihren Brüsten entlang, ziehe ihr den BH gekonnt mit einem Handgriff aus. Die Beine schlingt sie um meine Mitte.

Noch eine Weile geht dieses Spielchen, bei welchem ich immer wieder meine Finger zwischen ihre Oberschenkel gleiten lasse – sie liegt längst völlig nackt vor mir und stöhnt vor Genuss, doch bei mir hat sich in der Hose beharrlich noch nichts geregt. Ich bin schon geradezu verzweifelt bemüht meinen kleinen Freund zum Leben zu erwecken.

Oh, Shit, ich bin doch nicht plötzlich potent geworden, oder?

Normalerweise habe ich keine geringsten Probleme damit. Ich lasse mir sowas doch niemals entgehen – naja, außer bei Clarisse. Mit ihr kann und will ich einfach nicht schlafen, obwohl sie es bei unseren früheren Knutschereien dauernd probiert hat.

Sie ist nicht so mein Typ. Aber diese Alessia ist doch mein Typ, wieso geht es dann bei ihr nicht? Verdammt! Ich kann es selbst nicht erklären.

Naja, vielleicht doch ein bisschen – sie hat angefangen, sich die Seele aus dem Leid zu stöhnen und zu keuchen, es klingt einfach nur unnatürlich. Außerdem sind wir nicht mal zur eigentlichen Sache angelangt. Ich bin kurz davor laut los zu lachen, kann es mir kaum noch verkneifen, so lachhaft wie sich Alessia anhört und die Augen dabei verdreht. So was ist mit ja noch nie untergekommen!

Will sie mich so beeindrucken oder mehr anmachen? Auch möglich, dass sie schlicht zu empfindlich ist, keine Ahnung, aber damit erreicht sie eher das Gegenteil.

Als Alessias Hand sich ungeduldig um meinen schlafen Schwanz legt, erstarren wir beide – sie, weil ich nicht hart bin und ich, weil es mir unangenehm wird. Grob schleudert sie mich von sich herunter und sieht mich zornig an, bedeckt sich mit ihrem Kleid, als hätte ich nicht bereits alles von ihrem Körper gesehen und angefasst.

»Was stimmt nicht mit dir?«, keift sie mich wütend an, sie zittert wie Espenlaub und sieht mich an, als würde sie mir am Liebsten den Hals umdrehen ich kann es ihr nicht verübeln.

Fortwährend blinzelnd knie ich ihr gegenüber und werde rot, weiß nicht, was ich tun soll, schließlich passiert es mir das erste Mal!

Aus so einem netten und schüchternen Mädchen ist so eine Furie geworden, und zwar wegen mir.

»Ich…ich weiß nicht was mit mir-«, stammele ich los, sie unterbricht mich aber gleich.

»Bist du schwul, ist es das? Ich hab's doch geahnt, als ich dich mit deinem schwarzhaarigen Freund gesehen habe! Welche Blicke ihr euch zugeworfen habt. Doch da du mich angemacht hast, dachte ich, ich hätte es nur falsch verstanden! Ich bin ja so eine Idiotin! Und jetzt verschwinde hier«

Ihre Augen glänzen verdächtig feucht.

Mir klappt der Mund weit auf. Was redet sie da? Schwul? Niemals! Und welche Blicke meint sie, verflucht? Die muss ja vollkommen irre sein. Oder sie ist einfach verletzt und will sich bloß an mir rächen. Ja, bestimmt denkt sie sich das alles nur aus.

»Raus!«, kreischt sie laut und ich setzte mich rasch in Bewegung – nicht, dass sie mir hier anfängt zu heulen oder so. Damit kann ich überhaupt nicht umgehen – wenn ein Mädchen vor mir anfängt zu weinen.

Beim Hinausklettern bekomme ich knapp mein T-Shirt zu fassen, bevor sie die Autotür kräftig zuknallt, dass der ganze Wagen zittert.

Noch aufgewühlt und verwirrt über das Geschehene, ziehe ich es über, damit nicht jeder sofort sieht, was passiert ist und mache mich auf, zurück zu Casper zugehen. Keine Lust mehr auf diese scheiß Party, ich hätte ihn überhaupt nicht überreden sollen!

Aus dem Augenwinkel nehme ich aufeinmal zwei Personen wahr, die rechts um die Hausecke einbiegen und sehe auch kurz Caspers weißes T-Shirt aufblitzen. Mit wem er wohl…? Doch nicht wieder mit diesem Weib von vorhin?

Verstohlen und geduckt schleiche ich näher an die Hausecke, wo ich ihn zuletzt gesehen habe, bemüht im Schatten zu bleiben, falls Casper unvermutet auftaucht, oder jemand anderer.

Mir ist natürlich klar, dass es mich im Prinzip einen Dreck angeht, was er dort mit der Person macht, aber ich kann mich nicht mehr aufhalten, meine Neugier treibt mich an.

Als ich vorsichtig um die Ecke linse, erkenne ich die vermummte Gestalt neben Casper erst auf den zweiten Blick – es ist ein Schmuggler, bei dem man alles kaufen kann, was es nicht auf dem legalen Markt gibt, wie Drogen und gefälschte Papiere etc..

Sein Name ist Rex. Ich habe ihn vor EIN paar Jahren kennengelernt, als ich bei ihm einen gefälschten Ausweis gekauft habe, einzig um es zu besitzen. Für Notfälle.

Hinter einem großen Rhododendronbusch bleiben sie stehen, ich kann lediglich ihre Schemen dahinter ausmachen, sie sind tief zu einander gebeugt und flüstern hektisch, was mir einen seltsamen Stich in die Brust gibt.

Was will Casper wohl bei dem? Doch keine Drogen? Oder vielleicht treffen sie sich auch aus einem ganz anderen Grund?

Die Beleuchtung ist hier nicht so gut, wie da auf der eigentlichen Party, aber ich kann trotzdem fast alles gut sehen sobald meine Augen sich darauf eingestellt haben. Zuerst schnappe ich alleinig ein paar Satzfetzen von Casper auf, weil er lauter flüstert, doch mit jedem Schritt, höre ich besser und besser, was die beiden sprechen.

Wenn Casper jetzt doch bei ihm Drogen beschafft? Dann muss ich ihn davon abbringen – das macht man doch unter Freunden, oder etwa nicht? Naja, wenn man es so sieht, dann hätte ich Michael auch vor dem Kiffen abhalten sollen.

»Nein ist nein. Du hast so viel gekriegt, wie du wolltest und mehr gibt’s nicht, alles klar? Und wenn du mich noch einmal belästigst,«, er beugt sich tiefer zu Rex und senkt seine Stimme um eine Oktave, sodass ich mich weiter vorpirschen muss. »dann wirst du es bereuen«

Infolgedessen dreht er sich um und geht weg. Rex macht auch einen Schritt nach vorn und damit habe ich freie Sicht auf ihn, bevor er sich eilig aus dem Staub macht.

Wegen seiner Miene, eine Mischung aus Unglaube und Angst - so hart wie er tut, ist er eben nicht - muss ich unwillkürlich glucksen.

Ein großer Fehler.

Wie erwartet entdeckt Casper mich augenblicklich. Wie ich, mit einem in sich zusammengefallenen Grinsen im Gesicht, in gebeugter Haltung, dastehe, im Schatten von einem weiteren, etwas kleinerem Busch.

Sein Kopf wird aschfahl und danach feuerrot. So bleich wie er eigentlich sonst ist, sieht es verdammt komisch aus. Doch sein enttäuschter und zugleich wütender Blick, lässt mich heftig zusammenzucken. Und dann stapft er einfach weiter und lässt mich mit offenem Mund da stehen.

Damit, dass Casper sich so verhält, habe ich nicht gerechnet, eher dass er mich ausschimpfen würde oder angepisst wäre – doch mit sowas nicht.

Fuck, ich fühle mich sogar schuldig! Vielleicht hätte ich ihn nicht belauschen dürfen. Andererseits – was ist so schlimm daran, ich habe ja nicht viel gehört. Fast gar nichts.

Was ist, wenn er nichts mehr von mir wissen will, fällt mir siedend heiß ein. Dieser Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht, weswegen ich ihm doch hinterher renne und mir dabei vorkomme, wie in einer dieser schnulzigen Filmszenen, in denen der Eine seiner Liebsten nachläuft um alles zu klären.

So tief bin ich also schon gesunken. Unfassbar. Und nur er ist daran Schuld.

»Casper, warte doch mal…«, rufe ich seinem Rücken entgegen und greife nach seiner Schulter.

Mit verzerrtem Gesicht schüttelt er meine Hand ab und dreht sich dann aufgebracht vollends zu mir um.

»Als ob es nicht genug wäre, dass du mit dieser Tusse abhaust, nein, jetzt belauschst du mich auch noch. Das war was Privates!«

Was hat Alessia damit zu tun? Gott, verstehe ich das jetzt richtig? Nein, nein, nein. 

»Es tut…«

»Deine Entschuldigungen kannst du dir sonst wohin stecken, Alexander. Lausche ich etwa bei deinen privaten Gesprächen oder spioniere dir nach? Nein! Also mach du das auch nicht und lass mich in Ruhe«

Oh oh, wenn er mich mit meinem vollen Namen nennt, dann ist er richtig sauer.

»Mann, übertreibe nicht, was ist dabei? Ich habe fast gar nichts gehört, außer ein paar sinnlosen Worten, ich wollte doch nur-«

Zu Ende sprechen kann ich nicht mehr, Casper drückt mich rüde an die Wand, sodass mir die Luft schmerzhaft aus der Lunge gepresst wird.

Was zum...?

»Nichts dabei!? Du hast doch keine Ahnung! Du weißt nichts! Du hättest dieses Gespräch nicht mitkriegen dürfen«

Ebenso ruckartig wie er mich an die Wand gepresst hat, lässt er mich wieder los und ich falle beinahe aufs Gras.

Verflucht, wieso habe ich mich nicht gegen ihn gewehrt, ich bin doch sicher stärker als er!

Seine Miene ist nun so gleichgültig, wie sie sonst immer nur bei anderen Menschen ist. Nicht bei mir. Mir wird das Herz schwer, ich weiß wieder nicht was ich sagen soll.

»Zum nach Hause fahren, findest du wohl ein anderes Flittchen«, sagt er, geht gemächlichen Schrittes zu seinem Auto und braust danach, ohne zu mir zurück zusehen, davon, lässt mich heute zum zweiten Mal sprachlos zurück.

Scheiße! Dieser dumme Esel, der hat doch getrunken und darf nicht Auto fahren, fluche ich innerlich und klatsche mit der flachen Hand und einem verzweifelten Knurren auf die Villafassade auf, sodass meine Handfläche danach schmerzhaft zu brennen beginnt.

Noch eine ganze Weile harre ich aus, sehe auf die Einfahrt, in der dämlichen Hoffnung einen roten Fort Fiesta zu erblicken und werde natürlich enttäuscht.

Dieser blöde Casper! Eine weitere Entschuldigung kann er sich abschminken. Nicht mit mir!

Mit neu gewonnener Wut im Bauch, gehe ich in den Garten zur Party zurück. Ich muss schließlich einen, möglichst nüchternen, Fahrer auftreiben, der mich nach Hause fährt.

 

Kapitel 6.

Die nächste Woche über ignoriert er mich hartnäckig – langsam glaube ich, das ist sein verstecktes Talent – ich bin jedoch bei der Entscheidung geblieben, mich nicht zu entschuldigen. Zumindest vorerst, ob diese Einstellung auch die nächste Woche übersteht, bezweifle ich, aber man kann es ja wenigstens hoffen.

Soll er doch kommen und um Verzeihung bitten – er war derjenige, der mich sitzen gelassen hat und wegen ihm musste ich Clarisse fragen, ob sie mich Heim fährt.

Die Fahrt war fast unerträglich, wie kann ein Mensch nur so schwer von Begriff sein?

Ich hatte ihr tausend Mal erklärt, dass ich nichts von ihr will und sie hat sich mir trotz Allem am Schluss aufgedrängt. Hatte sich auf mich gestürzt wie ein Blutsauger und wollte mich nicht mehr freigeben, bis ich meine ganze Kraft aufwenden musste, um von ihr weg zu kommen. Nie wieder steige ich freiwillig in ihr Auto ein, nie wieder!

In den Pausen ist Casper wieder mal wie vom Erdboden verschluckt und nach dieser ist er anwesend, als wäre er die ganze Zeit da gewesen.

Wie kommt er überhaupt vom Schulgelände, ohne aufzufliegen? Sogar ich konnte es nicht, bis ich einen eigenen Schlüssel gemacht habe.

Entweder er hat, wie ich, einen machen lassen oder ich habe einen Weg übersehen und er schleicht sich über diesen raus.

Das macht mir sehr zu schaffen, ich frage mich unaufhörlich, ob er sich vielleicht mit jemandem trifft, zum Beispiel wieder mit Rex oder gefährlicheren Typen. Es kann alles sein, Casper ist für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln – mega fetten super-Siegeln. Das habe ich schon lange begriffen, wenn auch widerstrebend.

Einen anderen Sitzplatz hat er sich zu allem Übel auch noch ausgesucht, so weit wie möglich von mir entfernt – auf der anderen Seite des Klassenzimmers – und ich muss jetzt alleine ganz hinten sitzen.

Rory lässt mich keine Minute in Ruhe und quatscht mich pausenlos an, egal wie unfreundlich ich zu ihm bin. Ich habe vorher nicht geahnt, dass nur Caspers Gegenwart mich vor seinem Mundgeruch bewahrt hat – tja, jetzt nicht mehr.

Als wäre das alles nicht genug, stellt Clarisse mir seit der Party, wenn möglich, noch mehr nach als davor, ich muss mich manchmal irgendwo verstecken oder extra Umwege machen, um ihr nicht zu begegnen. Ihr schrilles, hyperaktives Gekicher begleitet mich, wohin ich auch gehe.

Casper versucht mir genauso aus dem Weg zu gehen, wie ich Clarisse, und das löst bei mir Wut und Enttäuschung zugleich aus. Was hat er mit Rex nur beredet, dass er sich nun mir gegenüber so benimmt?

Offensichtlich ist es wohl vorbei mit unserer Freundschaft, hat ja nicht lange gedauert.

Da wir nicht miteinander sprechen, beobachte ich ihn stattdessen ständig im Unterricht und finde seine kleinen Angewohnheiten heraus.

Zum Beispiel, dass er immerzu an seinen Stiften herumkaut und in sein Notizbuch kritzelt, während es für alle anderen aussieht, als würde er aufpassen und sich zum Unterricht Notizen machen. Er zwirbelt nachdenklich an seinen Haaren im Nacken herum, um sie sich jedoch anschließend wieder glatt zu streichen. Da kommen noch einige andere.

Dazu lerne ich zu erkennen, wann er nervös ist, etwa wenn ihm auffällt, dass ich ihn pausenlos ansehe oder wenn ich zu nah an ihm vorbeigehe. In solchen Situationen beißt er sich kaum merklich auf die Unterlippe, um danach wieder seine undurchsichtige Gleichgültigkeit aufzusetzen.

Das heißt doch, es ist ihm nicht völlig egal, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben.

Mir selbst wird nicht klar, warum ich dauernd das Bedürfnis verspüre ihn zu beobachten. Doch eins ist mir klar – ich vermisse diesen Psycho irgendwie, auch wenn wir uns noch nicht allzu lange kennen.

Erst jetzt wird mir richtig klar, dass ich im Grunde schon die ganzen Jahre über ein Einzelgänger gewesen bin und das nicht gemerkt habe – bis Casper gekommen ist, dann sind wir nämlich zu zwei befreundeten Einzelgängern geworden, aber dennoch gemeinsam.

Ich frage mich, wie ich es früher alleine überstanden habe zwischen meinen distanzierten Eltern, die nie für mich da waren oder sind, und diesen selbstverliebten, verwöhnten Menschen, die sich meine Mitschüler schimpfen.

Nun, jedenfalls, ist es verdammt schwierig und es zerrt an meinem, eh schon am Ende stehenden, Nervenkostüm.

»Oh weißt du, ich wollte Rihanna doch nicht, deswegen hat mein Daddy mir David Guetta zu meinem Geburtstag versprochen. Blablabla «

»Hast du die neue Handtasche von CHLOÉ gesehen? Total heiß, sag ich dir. Aus schwarzem und weißem Kalbs- und Rindsleder, fühlt sich himmlisch an, sag ich dir. Und stell dir vor, ich habe sie für nur 1.450,00€ ergattert, ein Schnäppchen!« Und nochmals doppelt blablabla.

Die einzige Abwechslung bietet Michael, denn er versucht zumindest nicht herauszufinden, warum ich nicht mehr mit Casper abhänge und zieht auch nicht über ihn her, wie die meisten anderen, mit denen ich zu tun habe. Vor allem aber prallt er nicht herum und das tut einfach gut.

Seit er aus seinem kleinen Zwangsurlaub zurück ist, raucht er keine Joints mehr, soweit ich weiß, und man kann sich daher sogar normal mit ihm unterhalten.

Ich fühle mich etwas schuldig, weil ich nie auch nur einen Versuch gestartet habe, ihm bei seiner Sucht zu helfen. Aber er hat es auch ohne mich geschafft und es freut mich ehrlich für ihn.

Michael ist einfach da, wie er es schon immer war, stellt keine blöden Fragen und heitert mich mit seiner dämlichen Art auf, wenn ich mal wieder missmutig drauf bin, wegen Caspers Ignoranz mir gegenüber.

»Ach, un' Xander?«, spricht er mich unvermittelt an, während er ein neues Kaugummi – das Dritte in fünfzehn Minuten – aus seiner Verpackung puhlt und sich in den Mund steckt. Jetzt hat er wenigstens einen nicht so schadenden Ersatz für seine frühere Abhängigkeit gefunden.

»Was gibt’s?«

»Es geht mich zwar nix an, aba du un' Casper – ihr solltet wirklich quatsch'n mit'nander. Das kann nich so weita geh'n, ihr seid doch die Unzertrennbaren oda so ein ähnlicher Bockmist. Also geh hin und rede irgendwas von Verzeihung und so, du weißt schon, was ich sagn will«

Überrascht sehe ich ihm mit hochgezogener Braue hinterher, während er sich aus dem Schultor schleicht – Sport macht er niemals mit, sieht man auch an seinem dürren Körperbau, wo nicht ansatzweise Muskeln vorhanden sind.

Das war der längste Satz, den ich je aus seinem Mund gehört habe, obwohl seine Sprache immer noch ziemlicher "Bockmist" ist.

Er hat sich bis heute noch nie in meine Probleme eingemischt – ich wusste nicht einmal, dass er eine eigene Meinung zu dieser Sache mit Casper und mir hat, oder sich über sowas einen Kopf macht.

Ding, ding, dong, läutet die Schulglocke und beendet damit mein sinnloses Herumstehen. Mich beeilend hebe ich meine Sporttasche auf und eile zu unseren drei Sporthallen, denke über Michaels Worte nach, indessen meine Klassenkameraden aus der Schul-Cafeteria kommen, wo sie immer vor dem Sport zwangsweise zu Mittag essen müssen, um nicht zu spät zu kommen.

Michael hat ja eigentlich Recht, nur wie soll ich das anstellen, wenn er kein einziges Wort mit mir wechseln will?

Es hat angefangen zu nieseln, deswegen ziehe ich mir meine Kapuze über den Kopf und versuche herauszufinden, wie oder ob ich mich überhaupt bei Casper entschuldigen soll. Diese Entscheidung wird mir vorerst abgenommen, denn er geht mir die zwei Stunden Sportunterricht aus dem Weg und wir werden auch in verschiedene Fußballteams eingeteilt, wobei ich nicht schaffe, ihn einzuholen.

Durchgehend beobachte ich ihn, wie es mir mittlerweile zur gut gepflegten Gewohnheit geworden ist und stelle wie immer aufs Neue fasziniert fest, wie schnell Casper rennen kann. Er überholt jeden mit Hilfe seiner langen Beine, mit oder ohne den Ball, und meine Teamkameraden murren schon genervt vor sich hin.

Vergnügt grinse ich. Casper ist entweder ein Naturtalent oder er hat dafür hart trainiert. Ich weiß es nicht – sowie vieles von ihm, um ehrlich zu sein. Aber wundern würde es mich nicht, denn seine Beinmuskeln sprechen Bände. Insgesamt ist er sehr gut in Form, nicht zu viel, was durch sein verschwitztes T-Shirt und die Shorts gut zur Geltung kommt.

Komisch, mir ist das vorher nie groß aufgefallen, außer dem einen Mal, als ich den Ansatz seiner Bauchmuskeln gesehen hatte. Wie viele Übungen macht er wohl am Tag?

Blitzartig geht mir auf, dass ich mitten auf dem Spielfeld stehe und ihn mit runden Augen anglotze.

Mir wird heiß.

Verdammt, warum ist es hier auf einmal so heiß? Hat jemand die luxuriösen Lüftungsanlagen ausgeschaltet, damit ich mich hier zu Tode schwitze? Ich ziehe mich gleich aus, wenn es nicht in nächster Sekunde besser wird.

Als hätte Casper meine Gedanken gelesen, zieht er wie aus heiterem Himmel sein Shirt aus und jeder, nicht mehr nur ich, sondern jeder, bleibt mitten im Spiel stehen und starrt ihn an. Finden ihn alle so gut aussehend wie ich gerade, frage ich mich ganz kurz, dann werden einige Kommentare laut, so wie:

»Ist er unter einen Rasenmäher gekommen?«, und solche in dieser Art, doch einer erregt besonders meine Aufmerksamkeit:

»Meine Fresse, hat er sie sich selber in die Haut geschnitzt, dieser abartige Psycho? Wahrscheinlich sitzt er bei sich zu Hause mit 'nem Messer rum und kriegt 'nen Steifen, wenn er sich aufschlitzt«, erklingt hinter mir die näselnde, jedoch laute Stimme von Markus, der Typ, mit dem sich Casper am ersten Tag geprügelt hat, und reißt mich von Caspers muskulösen Oberkörper los - erst jetzt bemerke ich die länglichen Narben, die darauf verstreut sind.

Einen Moment wundere ich mich, wie mir das entgehen konnte, doch dann erinnere ich mich daran, dass er immer zu Hause duscht, also nicht nach Sport, wie die andern und ich. Ich schäme mich, dass es mir nie verdächtig erschienen ist und ich es nie als seltsam empfunden habe.

Wieso macht er sowas überhaupt? Was hat ihn nur dazu geführt, sich so etwas schreckliches anzutun?

Und, vor allem, warum, zum Teufel, zieht er sich vor all den sensationslüsternen Gaffern aus, als würde er es darauf anlegen, so angestarrt zu werden. Das verstehe ich nicht.

Ich muss ihn später fragen, weil Markus nun das kriegt, was er sich durch seine Beleidigungen verdient hat.

Meine geballte Hand kracht mit meiner ganzen Kraft gegen seine Nase und er fällt glatt um, wie ein Toter.

»Er ist kein Psycho, verfickte Scheiße!«, brülle ich ihn von oben herab an und drehe mich dann im Kreis, damit mich auch alle gut hören und sehen, wie ernst ich es meine. Nur ich darf ihn so nennen, wäre mir beinahe herausgerutscht, doch ich fange mich noch rechtzeitig.

»Haben das alle so weit kapiert?«

Nun sind alle Blicke auf mich gerichtet, Caspers ebenfalls. Wir zucken alle zusammen als ein ohrenbetäubendes Pfeifen uns unterbricht.

»Das reicht für heute. Ab zum Umziehen. Hop, hop. Sofort, sage ich, na hört ihr schlecht?«, erklingt die Stimme unseres Sportlehrers ebenso laut wie seine Pfeife und er liest den Kerl am Boden wortlos auf, als wäre es das normalste der Welt, dass ich diesem eine reingehauen habe. Unser Sportlehrer ist eigentlich ganz okay, zumindest im Gegensatz zu den anderen Lehrern, und ich bin zudem einer seiner Lieblingsschüler, wegen meiner guten Noten in seinem Fach. Also kriege ich anscheinend kein Ärger wegen dieser Sache, er wirft mir lediglich kurz einen wissenden Blick zu, um dann eindringlich auf Markus einzureden.

Aufgeregt murmelnd folgen alle außer mir seinem Befehl, wobei Casper als Erster in der Tür verschwunden ist. Während in der Jungskabine alle unter der Duschen stehen, sitze ich auf der Bank in der Umkleidekabine und warte, bis alle fertig sind Offenbar ist Casper bereits lange verschwunden, seine Sachen sind nicht mehr da. In gewisser Weise bin ich traurig darüber – wenigstens ein "Danke" habe ich erwartet. Als schließlich jeder meiner Mitschüler mit dem Lehrer die Kabine verlassen haben, ziehe ich mich seufzend aus und stelle mich unter den angenehm warmen Wasserstrahl.

Gedankenverloren spüle ich nach einiger Zeit das Shampoo aus meinen Haaren und den restliche Schaum von meinem Körper, als ich ein Geräusch hinter mir wahrnehme und eilends das Wasser abstelle, um so besser hören zu können. Es ist dämmrig, nur die Lampen in der Umkleide erhellen alles.

Ich drehe mich vollends um, komme mir schon vor, wie in einem dieser Horrorfilme, und erblicke direkt Caspers Augen. Ein erschrockenes Keuchen entweicht mir, ich halte mir die heftig schlagende Brust.

»Alter, erschrecke mich doch nicht so. Verdammt!«

Er sagt nichts, sieht mich nur an, sein Blick wandert von meinem Gesicht stets weiter nach unten und mir wird schlagartig bewusst, dass ich im Adamskostüm vor ihm stehe. Nichts ungewöhnliches bei Jungs, aber die Intensität beschleunigt meinen Atem um das Doppelte.

»Casper, alles okay bei uns?«, frage ich, in der Hoffnung mich nicht entschuldigen zu müssen und auch in erster Linie, um ihn von meiner Mitte abzulenken, wohin er schon ein bisschen zu lange guckt, für meinen Geschmack.

Es funktioniert – er schaut mir wieder in die Augen und was ich da sehe, lässt mein Herz förmlich stillstehen.

Endlich, endlich, kann ich seinen eigenartigen Gesichtsausdruck deuten, mit dem er mich so oft angesehen hat – es ist Begierde. Eindeutig ist es das. So lange habe ich das übersehen, vielleicht mit Absicht, doch nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er will mich.

Von dieser Erkenntnis schockiert und pikiert zugleich, bedecke ich mich schnell mit beiden Händen, so gut es eben geht, und mache ein Schritt zurück, doch weit komme ich nicht.

Mit zwei großen Schritten ist Casper bei mir und ehe ich mich versehen kann, fühle ich seine weichen Lippen auf meinen, seine Hände, die meine Hüften umfassen und mich gegen die nasse Wand drücken, wie er es ähnlich vor einer Woche auf der Party getan hat – nur hat das jetzt nichts wütendes an sich, sondern eher gieriges.

Zuerst bin ich ganz starr, weiß keinen anderen Ausweg, als einfach stehen zu bleiben und es über mich ergehen zu lassen, aber ich entspanne mich wie von selbst, ziehe ihn zögerlich fester an mich und erwidere seinen immer leidenschaftlicher werdenden Kuss.

Es gefällt mir nämlich, er ist ein unglaublicher Küsser – seine Lippen sind so weich und gut schmeckend, ich kann sogar sein geliebtes Kirschwasser heraus schmecken.

Casper stöhnt leise in meinen Mund, was mir einen Schauer über den Rücken jagt, unsere Zungen umtanzen einander und keiner bekommt die Oberhand. Er presst mich, wenn es überhaupt geht, noch fester an die Wand, fährt mit seinen Fingern durch meine pitschnassen, blonden Strähnen, die mir in die Stirn fallen, und meine Seite entlang.

Den Knauf, der mir in meine linke Schulter pikt, beachte ich nicht. Ich lege einen Arm um seinen Nacken und meine andere Hand rutscht mutig unter sein mittlerweile feuchtes Hemd.

Lust steigt in mir auf und eine Hitze, die unserem Kuss entspringt und sich in jeder Zelle meines ganzen Körpers ausbreitet, besonders in der Lendengegend. An allen Stellen, wo er mich berührt, entstehen kleine Feuer.

Mein Kopf ist wie leer gefegt, ich kann an nichts anderes mehr denken, als ihm sein lästiges Oberteil auszuziehen, um ihn richtig an meiner Haut spüren zu können, was ich auch schleunigst in Angriff nehme. Unsere Lippen trennen sich dabei für Sekunden, wir können beide hastig nach Luft schnappen, um dann noch wilder aufeinander zu treffen. Es ist schon ein wenig ungewohnt dabei Bartstoppeln auf meiner Wange zu spüren, aber Haut fühlt sich wundervoll an meiner an, es kribbelt einfach überall angenehm und die Narben stören nicht.

Ein kehliges Stöhnen kann ich nicht mehr zurückhalten, während er meinen Rücken herunter wandert und anfängt, meinen Po zu massieren und seine dicke Beule an meiner eigenen Härte reibt.

Er beschnuppert mich genüsslich, küsst sich meinem Hals entlang, ich hebe mein Kinn, um ihm mehr Fläche zu bieten und dann flüstert er plötzlich rau, ganz nah an meinem Ohr: »Xander«

Dieser gehauchte Name, mein Name, voller Hingabe und wie mir klar wird, Hunger nach mir, schleudert mich in die unbequeme Realität zurück, in der ich gerade einen Kerl küsse. Und nicht nur irgendeinen Kerl, sondern meinen besten Freund!!

Ich reiße die Augen weit auf, entsetzt darüber, was wir hier machen und stoße ihn unwirsch von mir. Fast rutsch er auf dem vom Wasser nassen Boden aus, kann sich gerade noch an der Wand abstützen und so genug Halt finden.

Oh, heilige Schieße, das ist jetzt nicht wirklich passiert!

Casper erwidert traurig meinen panisch werdenden Blick und macht keinerlei Anstalten mir wieder näher zu rücken. Am Liebsten würde ich in diesem Zeitpunkt im Erdboden versinken und nicht wieder aufsteigen.

Meine Erektion scheint mich zu verspotten, so wie sie sich ihm entgegenstreckt. Hektisch atme ich ein und aus, versuche mich mühsam unter Kontrolle zu kriegen. Hundert Fragen kreisen in meinem Gehirn, liefern sich gegenseitig einen Kampf, wer zuerst in den Vordergrund rücken darf.

Wie konnte es nur so weit kommen?

Bin ich etwa schwul oder wieso sonst habe ich zugelassen, dass er das mit mir macht?

Ist Casper schwul?

Wenn ja, warum hat er es mir nicht erzählt? 

Kann es sein, dass es nur ein blöder Scherz ist, eine Art Strafe dafür, dass ich ihn belauscht habe?

Ich muss hier schleunigst raus, vor ihm flüchten. Habe Angst davor, was sonst passiert, wenn ich hier stehen bleibe. Allein mit ihm.

Hals über Kopf verlasse ich die Gemeinschaftsdusche, rutsche ebenfalls beinahe aus, und ziehe mir gewaltsam mein Sweatshirt über den Kopf, egal wie nass ich noch bin. Danach schlüpfe ich in meine Jogginghose, die ich vorher beim Sport getragen habe und stülpe anschließen Schuhe auf meine feuchten Füße.

Immerzu fliegt mein Blick zum Eingang der Gemeindedusche – Casper ist nicht zu sehen. Womöglich gibt es ja doch einen Gott da oben und er ist zurzeit gut auf mich zu sprechen. An der frischen Luft geht es mir gleich beträchtlich besser, es hilft mir jederzeit tief durchzuatmen.

Zutiefst durcheinander und verwirrt spaziere ich nach Hause, obwohl es ziemlich weit weg ist und ich nahezu platze vor unterdrückten Gefühlen und laut schreienden Gedanken.

 

***

 

Ich bin im Bett ausgebreitet und kann mich nicht aufraffen aufzustehen, die schöne Sicherheit versprechende Wärme zu verlassen, die unter der Bettdecke herrscht. Außerdem bin ich todmüde, weil ich die halbe Nacht kein Auge zumachen konnte, genauso wie die letzten paar Wochen auch.

Ja, mehr als zwei Wochen ist es her, dass Casper und ich uns in der Gemeinschaftsdusche geküsst haben – etwas mehr als geküsst – und diese Zeit ist echt die Hölle gewesen.

Als ich damals am nächsten Morgen aus dem Bus stieg, wartete Casper auf mich vor dem Eingang der Schule. Ich konnte nicht umhin geradewegs an ihm vorbeizugehen, so war ich gezwungen, mit ihm zu sprechen, ob ich nun wollte oder nicht. Das war ein unangenehmes und peinliches Gespräch.

»Hi«, begrüßte er mich mit heiserer Stimme, die mir einen Schauer einjagte, und schaute auf eine Stelle über meiner Schulter.

»Hallo«, erwiderte ich und blickte überall hin außer in seine Augen, ich weiß nicht, was sonst passiert wäre.

»Entschuldige, dass ich gestern so über dich hergefallen bin. Als du mich verteidigt hast, habe ich es wohl falsch interpretiert, aber ich möchte nicht, dass diese Sache unsere Freundschaft zerstört.«

Sache? Kann er es nicht beim Namen nennen? Wir haben heftig und heiß rumgemacht, Kumpel!

Endlich zwang ich mich dazu, ihn anzugucken. Er sah so müde und angespannt aus, wie ich mich in dem Moment fühlte. Und zudem erkannte ich, dass ich unsere Freundschaft auch nicht einfach so aufgeben wollte, deswegen nickte ich. Obwohl, konnte man es noch Freundschaft nennen? Egal, ich wollte dafür keine Gedanken verschwenden.

»Ja, du hast Recht. Wir können es simpel vergessen, nicht wahr? Zum Teufel, wir waren nur etwas überspannt und so. Da kann so etwas doch leicht passieren, nicht Wahr?«, brachte ich gezwungen heraus, habe aufmunternd aufgelacht – wobei ich nicht genau wusste, wen ich damit aufmuntern wollte, mich selbst oder ihn – und ihm so freundschaftlich, wie möglich auf den Rücken geklopft.

Und wirklich, ich habe versucht es zu vergessen und zu verdrängen, wie ich es vorher hingekriegt habe, aber so leicht wie gedacht ist es nun doch nicht. Es ist nicht so leicht zu vergessen, wie sich seine Lippen angefühlt haben und seine unmittelbare Nähe dort in der Dusche, wenn ich dabei eine unerträgliche Hitze spüre und dieses Scheiß-Kribbeln in mir aufsteigt.

Ich höre mich schon an wie ein Weichei, aber ich kann nichts dagegen tun, außer es so gut wie möglich zu ignorieren, was habe ich noch für eine Wahl? Denn ihn abschreiben will ich auch nicht. Zu sehr habe ich mich an ihn gewöhnt, rede ich mir stets ein.

Wir können uns nur noch verkrampft unterhalten und neben ihm sitzen kann ich überhaupt nicht, er ist zu präsent. Casper scheint es auch nicht recht zu gelingen, ich fange immer wieder verstohlene Blicke seinerseits auf und erwidere sie ebenso verstohlen. Trotz unserer Bemühungen entfremden wir uns immer weiter voneinander und ich überlege ernsthaft alles fallen zu lassen und ihn nicht mehr zu treffen.

Es wäre viel leichter. Aber jedes Mal, wenn ich es mir vornehme, verwerfe ich diese Idee wieder, sobald ich ihn auch nur ansehen.

Und nun liege ich hier im Bett, grübele über diesen Mist nach.

Ich meine, zu behaupten der Kuss hätte mir nicht gefallen, wäre glatt gelogen, aber das ist absurd. Soweit ich zurückdenken kann, haben mir Mädchen gefallen, obwohl, verliebt habe ich mich auch noch nie, aber es muss nicht unbedingt sein, finde ich.

Es geht auch ohne das Verliebtsein und dem anderen anstrengendem Zeug. Man kann Spaß haben und fertig. Wieso kann ich das dann nicht, ohne an ihn zu denken?

In diesen Wochen habe ich oft genug ausprobiert, mit Mädchen zu schlafen, doch sie haben mich uneingeschränkt angeekelt. So was habe ich noch nie erlebt, außer das mit Alessia, – dass ein nacktes Mädchen, völlig benebelt von unseren Küssen, mich nicht mal ansatzweise anmacht. Null Regung in der unteren Zone.

Aber kaum schließe ich meine Augen, tauchen Bilder auf – ich, knutschend mit Casper in der Dusche, seine Hände auf mir und ich werde sofort hart. Genauso wie heute Morgen.

Heute findet ein Jahrmarkt statt, in einer größeren Stadt nebenan und Casper und ich haben uns verabredet gemeinsam dahin zu fahren.

Die Nacht über konnte ich nicht schlafen vor lauter Aufregung und Angst, bis ich zu meiner Mutter ins Zimmer schlich und mir eine ihrer Schlaftabletten holte. Danach glitt ich in einen traumreichen Schlaf und jetzt strecke ich mich mit einer mächtigen Latte im Bett aus und mir ist peinlich gut bewusst, was für Träume ich hatte – genauer gesagt, über wen ich geträumt hatte.

Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal, schiebe meine Hand unter die Boxershorts und fange an, mir einen runterzuholen, während ich lustlos an die weiße Decke starre.

Wie von selbst erscheint Caspers Gesicht vor mir, als ich zum Ende komme und mit einem frustrierten Knurren zerre ich die Decke von mir herunter und stapfe ins Bad, um zu duschen.

Das ist doch nicht auszuhalten! Langsam fange ich an, zu glauben, ich werde verrückt oder Casper hat mich umgepolt, doch die Vorstellung verursacht bei mir pures Entsetzen. Ich kann das nicht akzeptieren, verdammte Kacke! Verdammter Casper! Grrr, es ist zum Verzweifeln.

Meine Familie ist auch keine Hilfe, nicht das sie es je wäre – meine Mutter geht es immerzu schlechter und mein Vater überlegt, sie in ein Heim zu schicken. Ich weiß nicht so recht, wie ich das finden soll. Einerseits wäre es eine Erleichterung für alle beteiligten, aber andererseits ist und bleibt sie auch meine Mutter.

Es haute mich fast um, als Dad plötzlich vor mir stand, in meinem Zimmer. Ich hatte gerade die Musik voll aufgedreht und war fertig geworden, Hand auf mir selbst anzulegen und diese mit einem Taschentuch abzuwischen, da drehte er die Musikanlage auf lautlos und sah mich regungslos an.

Ob er etwas gesehen hat oder nicht, weiß ich nicht – meine Augen waren dabei geschlossen gewesen und ich hatte an eine gewisse Person gedacht.

Alarmiert sprang ich aus dem Bett und warf das Taschentuch einfach irgendwohin – ich würde es natürlich später verschwinden lassen.

»Sohn«, sagte er ernst und hat seinen perfekt sitzenden, schwarzen Tom Ford-Anzug von nicht vorhandenen Fusseln befreit. Er wirkte regelrecht fehl am Platz in meinem chaotischen Zimmer.

Mein Vater ist ein großer und schlanker Mann Mitte vierzig, mit steifer Haltung, ernster Miene und kahlgeschorenem Schädel. Nicht mal Stoppeln konnte man sehen – er ließ sie sich einmal in der Woche in einem Salon rasieren.

»Vater«

Ohne um den heißen Brei zu reden, kam er direkt zur Sache und meinte mit gleichgültiger Stimme, als würde es ihn nichts angehen: »Ich möchte deine Mutter in ein Pflegeheim schicken, dort kriegt sie die gemäße Behandlung und Unterstützung, die sie unbedingt braucht«

Wie vor den Kopf gestoßen, starrte ich ihn an.

Erstens, weil er mir seine Entscheidungen nie vorher mitgeteilt hat und zweitens, weil er bis dahin noch nie mein Zimmer betreten hat. Was ist denn in den gefahren?

Das ist wie ein kleines Weltwunder. Soll nicht heißen, dass es für mich etwas Gutes ist.

Sonst bestellt er mich immer in sein Büro, wenn er mich sprechen will, deswegen wusste ich auch nicht, was ich erwidern sollte. Noch dazu habe ich keine Ahnung, wie ich zu dem Thema Pflegeheim für meine Mutter stehe. Erstmal musste ich mich zusammenreißen, denn mein Vater kann es so gar nicht ausstehen, wenn ich stottere.

»Ich finde, es ist keine schlechte Idee, dann muss Britta wenigstens nicht ständig hinter ihr her putzen. Und Mum geht es vielleicht auch besser dort«, fügte ich noch hastig hinzu, weil ich selber bemerkte wie kaltherzig das klang.

Er nickte und machte Anstalten wieder aus meinem Zimmer rauszugehen. In der Tür wendete er sich jedoch nochmal an mich und meinte trocken: »Denke nicht, ich habe nicht mitbekommen, dass du nicht mehr zu den Boxstunden gehst. In Zukunft kriegst du keinen Cent mehr von meinem Geld, also stell dich darauf ein, auf Jobsuche zu gehen, wenn du nicht vorhast wieder Unterrichtsstunden zu nehmen«

Sobald er weg war, kickte ich wütend nach meiner Sporttasche, die vor meinen Füßen herumlag.

Ich hasse diese verdammten Boxstunden, es macht mir keinen Spaß und deswegen habe ich aufgehört. Naja, und auch weil ich wenigstens ein bisschen gegen meinen Vater protestieren wollte. Die kann er sich schön in den Arsch schieben, ich gehe da nicht mehr hin und fertig. Falls er gedacht hat, mich so einschüchtern zu können, hat er sich geschnitten – einen Job werde ich sicher finden.

Er hat schon seit meiner Kindheit darauf bestanden, dass ich Boxunterricht nehme und ich weiß immer noch nicht, warum er mich eigentlich dazu zwingt.

Es ist unlogisch, weil er sich anderweitig einen Dreck darum schert, was ich sonst mache, solange ich Tay in Frieden lasse und unsere Familie nicht blamiere.

Während mein Bruder Unterricht in hoher Mathematik, Wirtschaft und den ganzen Scheiß bekommen hat, musste ich mit gepolsterten Handschuhen auf einen schweren Boxsack einprügeln. Ich habe es nie kapiert und während ich jetzt dusche, zwinge ich mich, nicht mehr darüber zu grübeln. Mit Casper habe ich genug Kopfschmerzen, mein Vater muss nicht auch noch dazu beisteuern.

Nachdem ich frische Sachen aus dem Korb anziehe, den Britta mir freundlicherweise vor die Tür gestellt hat, versuche ich meine Haare zu bändigen, aber dann lenkt mich ein leises Klopfen ab, welches von meinem Schlafzimmereingang zu kommen scheint.

»Ja?«, rufe ich in diese Richtung und erwarte Britta, aber wer da diesmal in mein Zimmer platz, lässt mir fast die Augen aus den Augenhöhlen herausfallen.

Meine Mutter.

Das Unfassbare daran ist aber, dass sie vollkommen angezogen ist. In den letzten Jahren habe ich mich so daran gewöhnt, sie in ihrem Pyjama oder ihrem Nachthemd zu sehen, dass ich ganz vergessen habe, wie sie in normaler Kleidung aussieht.

»Alexander?«, sagt sie leise, ich kann sie kaum verstehen. Sie ist eine der wenigen Personen, die mich mit meinen ganzen Vornamen ansprechen.

Prima bewegt sich auf mich zu und bleibt auf Armeslänge vor mir stehen, ich sehe, dass sogar ein Hauch Make-up auf ihrem Gesicht ist. Wow. Sie ist ja noch so hübsch, wie ich sie als Kind gekannt habe.

Wie soll ich mich denn jetzt verhalten? Unangenehm, wenn sie mich so anguckt ohne zu blinzeln. Was will sie bloß von mir?

»Alexander«, wiederholt sie und fasst mich an der Schulter. »bitte, überrede deinen Vater mich nicht in ein Pflegeheim zu schicken, das halte ich nicht aus, bitte, Alexander, bitte. Er glaubt mir nicht«

Fassungslos beobachte ich meine Mutter, ihr laufen stumm Tränen die Wangen herunter, flehend sieht sie mich an und schafft es gerade noch, nicht laut aufzuschluchzen. Zuerst sprachlos, dann wütend schlage ich ziemlich unwirsch ihren dünnen Arm weg.

Sie soll mich nur nicht anpacken. Warum zum Teufel bittet sie ausgerechnet mich darum? Nach all der Zeit, in der sie sich einen Scheiß um mich geschert hat, mich völlig ignoriert hat, will sie Hilfe von mir. Wer glaubt sie, ist sie für mich?

Denkt sie, das war für mich einfach? Denkt sie, nur ihr wäre das alles schwer gefallen?

Ich musste zusehen wie sie jeden Tag aufs neue in Heulkrämpfe und Panikattacken ausgebrochen ist, sich nicht einmal für ihre Kinder zusammenreißen konnte, und damals konnte ich noch nicht damit umgehen, war ich doch zu jung dafür.

Mit elf Jahren seine Mutter zu verlieren, obwohl sie doch noch da ist, neben dir, im gleichen Haus wohnt, ist nicht einfach. Zusehen zu müssen, wie sie langsam den Verstand einbüßt und sich nur noch auf meinen Bruder konzentriert und mich, aus welchem Grund auch immer, nicht beachtet.

Unzählige Male habe ich mich gefragt, warum sie sich für meinen Bruder entschieden hat und nicht für mich. Denn ich war schließlich der, der am Anfang, nach der Fehlgeburt, nach dem Tod der lang ersehnten Tochter, für sie da war und nicht Tay. Ich. Und doch hat sie immer ihn bevorzugt, genauso wie auch mein Vater, nur auf eine andere Art.

Nun möchte sie also, dass ich für sie ein gutes Wörtchen bei Dad hinterlege. Spinnt die total? Das glaubt sie doch wohl nicht im Ernst?

Ihr das alles an den Kopf zu schmeißen, schaffe ich nicht mehr – Tay stürmt in den Raum, erblickt Prima und wirkt erleichtert, das ändert sich aber schnell, als er ihre laufenden Tränen sieht.

»Was hast du mir ihr gemacht, sie weint ja schon wieder«, wirft er mir entgegen und nimmt sie in den Arm.

Man, wo bin ich denn hier gelandet?

»Sie hat ohne Grund angefangen zu heulen. Und jetzt raus hier. Alle beide. Was wollen plötzlich alle in meinem Zimmer, verdammt?«, meine ich abfällig und verschränke die Arme vor der Brust, während Prima sich an Tay klammert, als wäre er ein Rettungsanker, der mich vorwurfsvoll anfunkelt.

»Sie ist unsere Mutter!«

»Sie ist deine verfickte Mutter und nicht meine, kapiert? Ich hab nichts mit ihr zu tun! Und seit wann, bitte, bist du der perfekte Sohn? Du gibst dich doch bloß mit ihr ab, weil du auf ihr ganzes Erbe hoffst«

Mit großen Augen schnappt mein Bruder nach Luft wie ein Fisch an Land, um mich dann giftig anzusehen.

Wie gerne würde ich seine selbstgefällige Visage mit meiner Faust bearbeiten.

»Wie kannst du nur sowas sagen? Sie ist unsere Mutter. Das erzähle ich Dad und du wirst dann sehen, was du davon hast, uns so herablassend zu behandeln. Und ich brauche nicht zu hoffen, dass ich das Erbe kriege, Mom hat schon längst ihr Testament unterschrieben und ich sorge schon dafür, dass sie sich nicht umentscheidet! Du kleiner Versager wirst mit nichts dastehen!«

Schnaubend verdrehe ich die Augen und schiebe sie aus meinem Reich. Wer ist hier klein, ich bin viel größer als er.

»Mach was du willst, du Arschkriecher«

Ist mir scheißegal, was er unserem Dad erzählt, Taschengeld kriege ich eh schon nicht mehr und auf Primas Erbe habe ich es nie abgezielt, also was habe ich zu verlieren?

Kapitel 7.

Casper holt mich pünktlich ab und wir fahren in einer beklemmenden Stille in die nächste große Stadt, wo der Jahrmarkt stattfindet. Er rast lange nicht so, wie das erste Mal und es ist für mich trotzdem nur schwer auszuhalten – ich bin ihm zu nah.

»Xander?«

»Ja?«

»Ich habe es echt satt, dass wir so verkrampft sind«

Mit einem tiefen Seufzen sinke ich tiefer in den Sitz, während Caspers Hände sich ums Lenkrad krallen. Bis jetzt haben wir dieses Thema nicht angeschnitten, aber nun kann er offenbar nicht mehr.

»Und was können wir dagegen tun?«

»Ich habe keine Ahnung. Wir gucken, ob es heute einigermaßen läuft, wenn nicht, dann denke ich, lassen wir das Ganze einfach. Oder wie siehst du das?« Von der Seite aus schaut er mich forschend und…hoffnungsvoll an. Meine Brust wird eng.

Shit, muss er alles verderben? Ich habe mich schon auf den Jahrmarkt gefreut. Und was soll ich überhaupt darauf antworten?

Ja, Casper, wir müssen es lassen, zu versuchen, wie normale Freunde miteinander umzugehen. Oder: Niemals, ich will, dass wir es weiter versuchen, bis es klappt. 

Was ich schließlich antworte ist eher unspektakulär:

»Okay«

Offensichtlich enttäuscht über meine scheinbare Gleichgültigkeit, parkt er sein Auto am Straßenrand, in Ermangelung an freien Parkplätzen. Es stehen Hunderte von Autos hier, denn alle wollen auf den alljährlichen Markt, sonst passiert ja nicht sehr viel hier in der Gegend. Wir schreiten zur Kasse am Tor und kaufen uns Eintrittskarten. Ganz schön teuer, ich bringe es fast nicht übers Herz mein letztes Geld auszugeben.

»Mein Dad hat mir mitgeteilt, dass er meine Mutter in ein Pflegeheim geben will«

Überrascht blickt Casper mich an und stoppt mitten im Schritt auf unserem Weg zur ersten Attraktion. Mehrere Leute beschweren sich lautstark, als sie uns zwangsläufig umgehen müssen.

Länger für mich behalten konnte ich es nicht, ich habe ihm bisher immer alle Neuigkeiten erzählt. Nur nach dem Vorfall, wie ich es mittlerweile nenne, habe ich damit aufgehört. Aber jetzt kann ich es nicht mehr für mich behalten, habe irgendwie das Bedürfnis es ihm zu erzählen. Ich weiß, dass es ganz schön komisch klingt.

»Und was hast du dazu gesagt?«, fragt er und lächelt mich offen an, wie schon seit Langem nicht.

»Was soll ich dazu sagen? Ist mir eigentlich relativ egal«

»Wirklich, oder willst du, dass es so ist?«

Seufzend boxe ich ihm gegen den Oberarm, wobei er ausweicht, und wir gehen weiter.

»Lass nicht den Psychiater raushängen, Casper. Es ist mir wirklich Schnuppe. Was kümmert es mich, dass sie weg ist? Für mich ist sie schon lange wie tot, also macht es keinen Unterschied – außer dass Britta keine Überstunden mehr schieben muss wegen ihr«

Abrupt bleibt Casper wieder stehen und greift nach meinem Arm, ich zucke erschrocken zurück, er lässt seine Hand fallen und beißt sich nervös auf die Unterlippe. Nicht schon wieder! Gerade lief es doch so gut!

»Du würdest es mir nicht erzählen, wenn es dich nicht beschäftigt. Sei froh, dass du überhaupt eine Mutter hast, Xander. Eine Familie«, sagt er niedergeschlagen und rauft sich die Haare, sodass seine Frisur zerstört wird und die Haare jetzt trotz des ganzen Gels niedlich vom Kopf abstehen, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen.

Nein, keiner ist niedlich hier, verdammt!

Scheiße, ich habe schon fast vergessen, dass Casper seine Eltern verloren hat. Ich zwinge den Drang nieder, ihn tröstend zu berühren.

Schnell nehme ich mir ein paar kleine Bälle, die der Typ am Stand mir gibt und schieße auf die Pyramide aus Flaschen. Beim ersten Versuch fällt die Hälfte in sich zusammen und beim zweiten der Rest.

Ich bekomme einen Plüschhund als Belohnung.

»Fuck. Ich kriege ein dummes Plüschtier? Was soll ich damit anfangen?«, maule ich den Typen an, der mich böse mustert.

Rotbraune Locken, schwarzes Muskelshirt und mit schräg stehenden, grünen Augen.

»Auswählen gibt’s hier nicht«, knurrt er zurück.

Casper schnaubt belustigt auf und nimmt sich auch einen kleinen Spielball aus der Schale, die auf der Theke steht.

»Kannst den ja deinem großen Lover hier schenken«, fährt er unverschämt fort und grinst mich dann wissend an. Casper dagegen hört augenblicklich auf zu glucksen und wartet stumm, wie ich reagiere.

»Er ist nicht mein Lover«, entgegne ich und meine Stimme hört sich, zu meinem Glück, nicht so schwach an, wie ich mich gerade fühle.

Der Typ beugt sich über seinen Tresen und ein freches Lächeln liegt auf seinem, etwas androgyn wirkenden Gesicht.

»Willst du gerne einen haben, ich stehe noch zur Verfügung«

Eine Sekunde bin ich aus der Fassung – Casper reagiert vor mir, packt ihn am Kragen und zieht ihn über die Theke zu sich herunter.

»Weißt du, was ich mit Typen mache, die meinen-«

Ich werfe den Plüschhund achtlos hinter den Tresen und greife sofort ein, ziehe ihn weg, was nicht so einfach ist – er ist ganz schön stark.

»Casper, hör auf, der macht doch nur Scherze«

Endlich lässt er von seinem Opfer ab und sieht mir in die Augen. Wenn Blicke töten könnten.

»Was ist, Xander, dachtest du, ich lass mir das gefallen?«

»Dir das gefallen lassen? Er hat mit mir geredet und nicht mit dir, du Schwachkopf. Du muss ihm nicht gleich an die Gurgel springen«

Muss er sich ständig so schnell aufregen, vor allem grundlos? Mir fällt erst auf, dass ich ihn immer noch umklammere, als er sich etwas an mich lehnt und ich lasse augenblicklich von ihm ab.

»Wenn du nicht auf deinen Freund hier stehst, Xander, dann bin ich die Kaiserin von China«, mischt sich unser Beobachter ein.

Hat er nicht genug, oder warum provoziert er ständig?

»Ich hab Sie mir nicht so arg mädchenhaft vorgestellt«, kontere ich und latsche los. Bloß weg von diesem vorlautem Kerl, damit er mich nicht noch mehr voll labert.

»Mein Angebot steht noch! Wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo du mich findest«, ruft dieser noch, bevor wir außer Hörweite sind.

Casper folgt einen Schritt hinter mir, kommt mir nicht zu nah und das ist auch gut so.

»Sorry okay?«

»Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, Casper, nur flippe nicht so schnell aus. Irgendwann triffst du jemanden, der stärker ist als du«, sage ich so dahin, ohne mir über die Worte richtig klar zu sein.

»Du machst dir Sorgen um mich?«

Was soll ich nun schon wieder antworten? Ja, Casper, stell dir vor, ich mach mir Sorgen.

Aber so was binde ich ihm nicht auf die Nase, er könnte es ja anders interpretieren, als ich es eigentlich meine.

 

***

 

Unsere Laune wird nicht besser, auch nicht als wir bereits ein paar Achterbahnen gefahren sind, doch die waren alle nicht sonderlich atemberaubend. Meine letzte Hoffnung ruht auf der neuesten Achterbahn – sie ist viel höher als die übrigen und deswegen beliebter. Casper und ich stehen bereits seit einer halben Stunde in der sich nur langsam fortbewegenden Warteschlange.

»Wenn es hier nicht bald voran geht, verzichte ich lieber darauf und verschwinde«, brummt er und sieht demonstrativ auf seine nicht vorhandene Armbanduhr.

Ärgerlich beiße ich in mein Softeis, was mir daraufhin Zahnschmerzen verschafft.

»Willst mich wohl wieder allein stehen lassen, was? Mach es nicht zu deinem neuen Hobby«

Casper setzt eine finstere Miene auf und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Ich habe mich dafür zigmal entschuldigt!«

Die Schlange setzt sich in Bewegung und wir können mehrere Schritte vorwärts gehen.

»Das macht es trotzdem nicht besser. Wegen dir muss ich mich dauernd vor der Nervensäge namens Clarisse verstecken«

»Ja ja, ich weiß! Aber ich bin ja nicht Schuld daran, dass du dich von dieser Barbie hast küssen lassen«, verteidigt er sich, dabei bleibt sein Blick auf meinem Mund kleben – ich lecke genüsslich mein Eis und mir schießt das Blut in den Kopf, als ich den Ausdruck darin sehe. Diesmal kann ich es leicht deuten. Wieder dieses Verlangen. Ein heftiger Schauder durchläuft meinen ganzen Körper und ich erinnere mich wieder an seine Lippen. Kurzerhand werfe ich das Eis in den Mülleimer nebenan, Casper wendet sich mit einem verärgertem Gesicht von mir ab, ganz so, als würde er sauer auf sich selbst sein.

Nach ungefähr einer Viertelstunde sitzen wir endlich im zweisitzigen Wagen und müssen uns anschnallen, eine Frau kontrolliert noch eilends die Gurte bei jedem und dann geht es los. Unser Achterbahnwagen bewegt sich langsam steil nach oben. Von dieser Höhe kann man über den weitläufigen Platz blicken, mit den ganzen glücklich lächelnden Menschen, den bunten Attraktionen, Ständen und Karussells, jedoch ist es für mich nicht so prickelnd – es ist mir nicht hoch genug. Einem Zwölfjährigen würde es bestimmt gefallen, aber für mich ist es ziemlich lahm, ich habe mehr erwartet.

Einen Moment bleiben wir in der Schwebe stehen und jetzt macht sich doch eine leise Spannung in mir breit. Kurz bevor es schräg nach unten geht und manche Leute vor uns anfangen zu kreischen – wir sitzen am Ende – sehe ich aus den Augenwinkel Casper an seinem Gurt herumfummeln. Verwundert drehe ich meinen Kopf und es passieren mehrere Sachen gleichzeitig: Der Wagen fällt förmlich in den Abgrund, Casper erhebt sich aus dem Sitz, legt seine Hände um die Haltestange, schließt mit einem irren Lächeln die Augen und ich schreie gellend „ANHALTEN!“.

Aber zum Anhalten ist es schon zu spät – wir machen einen Looping und keiner scheint zu bemerken, was er momentan tut. In wilder Panik schlinge ich meine Arme so fest ich kann um Caspers Unterleib und er erwacht wie aus einer Trance, schaut mit wehenden Haaren zu mir herunter, dabei sieht er einem Engel verdammt ähnlich. Unsere Augen begegnen sich für einen Augenblick. Ich glaube pure Verzweiflung darin zusehen, doch viel Zeit zum Nachdenken bleibt mir nicht – wir stehen kurz vor einem weiteren Looping. Kräftig zerre ich an ihm und schaffe es letztendlich, ihn zurück auf seinen Platz zu hieven und mit zitternden Fingern seinen Gurt wieder zu befestigen, dann rücke ich so weit, wie nur möglich, von ihm ab und muss ein Schluchzen unterdrücken – er hat mich so verdammt erschreckt, ich hatte noch nie solche Angst um jemanden gehabt und komme einfach nicht mit so einer abgedrehten Situation klar, meine Nerven liegen blank.

Was denkt er sich bei diesem Scheiß, den er abzieht?

Nach einer gefühlten Ewigkeit, wie es mir vorkommt, halten wir an und steigen stumm, ich noch mit wackligen Knien, aus.

»Hey, Kleiner, war zu viel für dich, wa?«, ruft ein Mann, der inmitten einer kleinen Gruppe steht, spöttisch, ich beachte ihn nicht, sondern steuere schleunigst auf eine Sitzbank zu – ich muss mich dringend setzen – doch werde kurz davor herumgerissen.

»Das war-«, fängt Casper an, ich will aber nichts von ihm hören und schreie wütend dazwischen, die Leute um uns herum können denken, was sie wollen:

»Ich weiß nicht, was für einen Schuss du hast und es ist mir gleich, was das war – du kannst machen, was immer dein abgefucktes Hirn dir sagt, es ist dein Problem! Aber ich will nicht mit dir auf der Titelseite auftauchen, samt Überschrift „Selbstmord auf einer Achterbahn“! Das kannst du gern ohne mich machen, halt mich daraus, kapiert?«

Getroffen sieht er mich aus glitzernden, schwarzen Augen an und ich bin mir durchaus bewusst, dass ich ihm eine komplette Lüge auftische, doch die Wut auf ihn ist zu groß, um die Wahrheit zu sagen – nämlich, dass ich totale Angst davor hatte, dieser Trottel würde herunterstürzen. Er kann schön in dem Glauben schmoren, mich würde es nicht interessieren, was mit ihm geschieht. Hat er völlig verdient.

Den restlichen Tag über sprechen wir kein Wort mehr zueinander, und es ist mir durchaus recht. Ich versuche die Stimmung irgendwie zu lockern und Casper geht darauf ein – wir können uns normal unterhalten.

Am Abend, als wir schon auf dem Weg zum Auto sind, erblicke ich das mir sehr vertraute Plakat oberhalb eines dunkelblauen Zeltes und bin plötzlich Feuer und Flamme, zerre Casper in diese Richtung.

»Hey, lass uns in das Zelt der Wahrsagerin gehen! Jedes Jahr ist es eine andere. Die Letzte hat mir vorhergesagt, dass ich einen schrecklichen Tod durchs Ersticken erleide an meinem sechzehnten Geburtstag. Es ist jedes Mal der Brüller, was die alles für Geschichten wahrsagen«

»Ich glaube an diesen ganzen Kram nicht«, brummt er nur, wehrt sich aber nicht gegen mich, eher lässt er sich bereitwillig mitziehen.

»Warte ab, bis sie dir aus der Hand liest, das wird lustig«, grinse ich breit und wir treten in das abgedunkelte runde Zelt ein.

Ein Geruch nach Vanille schlägt uns entgegen und das Zelt ist innen nur mit ein paar dicken Kerzen beleuchtet, sonst ist es relativ düster hier.

Zusammen gehen wir weiter hinein und vor uns sitzt eine Frau, Ende fünfzig würde ich sagen, auf mehreren Kissen vor einem niedrigen Tischchen auf dem Karten, irgendwelche Kräuter und verschiedene Beutelchen verstreut sind.

Die Frau mit den rabenschwarzen, gewellten, langen Haaren mustert uns kurz und ihr huscht ein kleines Lächeln übers etwas faltige und doch sehr hübsche Gesicht, als sie uns rein kommen sieht. Auf der Stelle setze ich mich im Schneidersitz der Frau gegenüber auf eines der weichen Kissen, die ebenfalls davor platziert sind. Casper tut es mir gleich.

»Hallo, Xander«, fängt sie mit einer, für eine Frau, ziemlich tiefen Stimme an zu reden und nickt mir schelmisch zu – ich starre sie perplex an.

Woher weiß sie meinen Namen?

»Hallo, Casper. Wer will zuerst seine Hand hergeben und sehen was ihm die Zukunft bringt?«, fragt sie und sieht uns geduldig entgegen. Casper sieht ebenso erstaunt aus wie ich und rührt sich nicht von der Stelle. Mit einem unguten Gefühl im Bauch strecke ich der „Wahrsagerin“ die Hand entgegen, ihre fühlen sich rau und fest an, als sie sie um meine legt und die braun-grünen Augen schließt.

Schlagartig wirkt sie so, als befände sie sich in einer Art Dämmerzustand, langsam schaukelt sie vor und zurück. Ich bin baff, sowas ist mir hier noch nie begegnet – ich gehe jedes Jahr auf diesen Jahrmarkt und lasse mir aus Spaß die Zukunft voraussagen, aber das hier fühlt sich anders an, nicht wie bei all den anderen vor ihr.

»Xander, du musst bald eine schwere Entscheidung treffen, von der dein restliches Leben abhängt«

Ach nee, im Ernst, ich habe mehr erwartet. Enttäuscht will ich meine Hand zurückziehen, doch sie verharrt in der gleichen Position und lässt mich nicht los.

»Mach dir keine Sorgen um deine Mutter, es wird ihr besser gehen dort«, fährt sie fort und missachtet mein Aufkeuchen.

Scheiße, woher...? Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich hören will, was sie zu sagen hat. Wenn sie schon über meine Mutter bescheid weiß, dann weiß sie vielleicht auch etwas über mein Problem mit Casper.

Die ist echt gruselig. Ich fühle mich wie im falschen Film. Kurz werfe ich Casper einen Blick zu, aber er lächelt mir beruhigend zu, sieht aber auch überrascht aus und noch etwas skeptisch.

»Über deinen Stand und deine Zuneigungen, musst du dir erst klar werden, bevor du etwas Unbedachtes tust. Und nochmal zur deiner wichtigen Entscheidung: Wenn du zusagst, ist es nicht mehr rückgängig zu machen und wird dich für immer verändern. Wenn es soweit ist, zage nicht lange, deine Liebe wird an dem Zeitpunkt schon längst erwidert.

Lächelnd zieht sie sich zurück und öffnet ihre, mit Lachfältchen umrandeten Augen, blickt mir seelenruhig entgegen, während ich versuche zu begreifen, was sie mit der Entscheidung meint. Das mit den "Zuneigungen" ist ja nicht schwer zu erraten – sie meinte meine verwirrten Gefühle zu Casper, nicht, dass sie über das Freundschaftliche gehen würden – aber das mit dem "Unbedachten" habe ich auch nicht ganz verstanden, oder das alles mit der erwiderten Liebe.

Casper sieht grimmig drein, scheint selbst ganz in seinen düsteren Gedanken versunken zu sei.

Ich komme nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen – die Frau nimmt flink seine Hand in ihre und Casper verkrampft sich für einen Moment. Doch wird er wieder locker wird, als sie sanft hin und her schaukelt und dasselbe abzieht, wie vorher auch bei mir.

Es vergeht keine halbe Minute, bevor sich leicht zusammenzuckt und ihre Augen aufreist, entsetzt. Gleich darauf beherrscht sie sich schleunigst wieder und fängt an, weiter zu hin und zurück zu schwanken. Mich hat das alles veriwrrt gemacht und Casper scheint nicht anders zu fühlen. Wir werden abgelenkt, als sie loslegt:

»Eine schwere Last liegt auf deinen Schultern, mein Junge. Was du vorhast ist gefährlich genug, aber alleine schaffst du das nicht und dass muss ich dir nicht erst sagen. Vieles musst du dir eingestehen, deine Schwächen müssen von jemandem ausgeglichen werden–«, zum Aussprechen reicht ihr nicht die Zeit, Casper ist längst aus dem Zelt gestürmt und ich bin ihm hinterhergerannt.

Was hat er jetzt schon wieder? Es hat gerade erst angefangen interessant zu werden.

Er verheimlicht etwas vor mir. Etwas sehr großes. Das habe ich allerdings bereits am Anfang unserer Freundschaft gewusst und nichts untenommen. Hat die Frau etwas ausgesprochen, was er nicht hören konnte oder wollte?

»Casper!«, schreie ich und kann ihn einfach nicht einholen, er ist zu schnell für mich. 

Bevor ich bei ihm sein kann, erreicht er sein Auto und braust davon, lässt mich zum wiederholten Male stehen, ohne eine Fahrmöglichkeit nach Hause. Langsam wird es ihm zur Angewohnheit, mich so sitzen zu lassen. Morgen wird er das bitter bereuen, dafür werde ich sorgen.

Grummelnd und peinlich außer Atem schleife ich mich zurück, sehe mich inzwischen nach parkenden Taxi oder wenigstens Bushaltestellen um, aber es sind keine da.

Was meinte die Wahrsagerin nur damit, dass er etwas Gefährliches vorhat? Vielleicht ist Casper abgehauen, weil er sich nicht meine Fragen anhören wollte? Aber dann hätte ein Kopfschütteln für mich auch gereicht. Auf einmal fällt mir auch Caspers Geheimzimmer wieder ein und mich beschleicht der Verdacht, dass vielleicht alle Antworten da drin sind. Ich muss nur da rein gelangen und ich werde Klarheit bekommen.

Dieses Wochenende wäre eigentlich eine gute Gelegenheit seinem Schloss einen Besuch abzustatten, er hat doch kürzlich erwähnt, dass er und sein Onkel irgendwo hinfahren würden und um Navid brauche ich mir keine Sorgen zu machen – er hängt an Casper wie eine elender Egel, wenn dieser gerade nichts mit mir unternimmt.

Von dem Schlüssel habe ich ja bereits einen Abdruck gemacht mit meinem Kästchen voll Alginat, welches ich fast täglich bei mir trage, wie den Schlüsselring.

Jetzt muss ich nur noch Geld auftreiben, um ihn nachmachen zu lassen. Meinen Vater um Geld zu bitten, kommt nicht in Frage, dazu bin ich nicht verzweifelt genug. Bei Britta geht es nicht, sie verdient nicht viel und Michael hat, seitdem er aufgehört hat Gras zu verkaufen, kein eigenes Geld mehr – seine Eltern geben ihm nichts, aus der Angst, er würde wieder anfangen zu kiffen. Wer kommt denn noch in Frage, überlege ich angestrengt. Kein Mensch fällt mir ein. Da sieht man doch, wie viele Freunde ich habe – nur drei, wenn man mein früheres Kindermädchen mitzählt! Das ist wirklich traurig.

Hoffentlich fährt Casper nicht wieder wie ein Irrer durch die Gegend und baut einen Unfall oder so. Das wäre nicht so schön. Okay, ich mache mir Gedanken um sein Wohlbefinden, vorallem wenn er in so einer Laune Auto fährt, was ist daran so falsch? Ich bin schließlich sein Kumpel und Kumpel machen sich Sorgen um einander!

Da werde ich unvermittelt von zwei Armen von hinten umarmt und für eine Sekunde glaube ich, Casper wäre zurückgekommen, und lehne mich somit gegen ihn. Doch meine Hoffnung, die ich mir übrigens selbst nicht erklären kann, wird durch ein neckisches Flüstern zunichte gemacht, das eindeutig nicht zu Casper gehört:

»Hattest du Streit mit deinem Liebsten? So wie er dir davongerannt ist, muss du ein ganz böder Junge gewesen sein. Aber keine Angst, ich kann dich gerne trösten«

Wie ein aufgescheuchtes Huhn, springe ich weg von ihm und drehe mich mit wutverzerrter Grimasse zu dem Lockenkopf um, will ihm ordentlich zeigen, wohin er sich sein Trösten stecken kann, doch er macht mir auch diesmal einen Strich durch die Rechnung, indem er jetzt lachend von vorne seine Arme um mich schlingt und mich eng an sich drückt. Ich keuche. 

»Du bist süß, wenn du so wütend guckst, hat dir das schon jemand gesagt? Ich wette nein.«, nuschelt er und gibt mir einen hauchzarten Kuss auf den Mund, bevor er mich an die Hand nimmt und mich in die Richtung der Wohnmobile mit sich zieht.

Völlig durcheinander und schockiert lasse ich mich mitziehen und muss zu meinem größten Entsetzen sogar zugeben, dass ich gar nicht so abgeneigt bin. Von hinten sieht er nicht schlecht aus. STOPP! Was mache ich hier, zur Hölle? Ich bin nicht schwul. Das sage ich mir doch dauernd selbst! Aber hat die Wahrsagerin nicht gemeint, ich soll mir meinem Stand sicher werden? Hat sie damit meine Sexualität gemeint? Kann schon sein. Und wie findet man am besten heraus ob man schwul ist, als es zu testen? Schaden kann es doch nicht … Wenigstens kann ich danach beruhigt zu Casper gehen und ihm die Wahrheit eröffnen. Das klingt doch nach einem guten Plan.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich schwul bin, weißt du? Und das eben war übrigens nicht mein Freund, sondern ein guter Kumpel«, erkläre ich, weil ich mich dazu verpflichtet fühle und habe mich endlich gefangen, spreche mir selbst Mut zu. Ich schaffe das schon, das wird nur Sex sein. Nur mein erster Sex mit einem Mann, den ich gerade Mal ein paar Minuten kennte, was solls? Schüchtern kann man mich doch nun wirklich nicht nennen, nur bei Casper fühle ich mich manchmal so scheiß unsicher. Hier ist es nicht der Fall, mit jedem Schritt komme ich mir selbstsicherer vor. 

Wir gelangen zu einem langen, grauen Wohnmobil und er schiebt die schmale Tür auf.

»Kumpels mit gewissen Vorzügen, oder was? Sowas hätte ich auch gern«, lacht er, schubst mich auf das komisch aussehende Bett und zieht sein Shirt über den Kopf, ohne groß zu zögern.

»Nein, keine Vorzüge–«, will ich mich wieder rechtfertigen, doch berlege es mir anders und frage stattdessen: »Hast du Erfahrung?«

Ich stütze mich auf die Ellenbogen und beobachte ihn mit hochgezogener Braue dabei, wie er sich weiter auszieht, bis er in Retroshorts vor mir steht. Ein bisschen nervös werde ich, aber ich lasse es mir nicht anmerken.

»Du meinst mit Neueinsteigern? Was denkst du denn? Natürlich habe ich Erfahrung, eine Menge sogar, ich stehe auf unerfahrene Ärsche. Oder sehe ich nicht so aus?«

»Keine Ahnung, wie so jemand aussieht. Wie heißt du überhaupt? Schließlich will ich nicht mit einem namenlosen Fremden schlafen«

Grinsend kniet er sich neben mich aufs Bett und betrachtet mich.

»Finn. Und jetzt mach, dass deine Klamotten mir die Sicht nicht versperren. Soll ich dir behilflich sein?«

Kopfschüttelnd streife ich langsam meine Anziehsachen ab, nehme belustigt zur Kenntnis, wie sich seine Augen weiten und er unübersehbar schluckt, als sein Blick zu meiner entblößten Männlichkeit gelangt.

In Sachen Sex bin ich offen, schließlich habe auch ich genug Erfahrung mit Mädchen, um mich meiner nackten Haut nicht zu schämen und zu wissen, welchen Effekt das hat. Vielleicht ist es mit Jungs ja nicht so?

»Wow, du sieht geil aus«, sagt Finn mit glitzernden Augen und beeilt sich seine Shorts loszuwerden, um mich danach wieder ausgiebig zu bastaunen. Ich werde ungeduldig.

»Jetzt mach irgendwas und hör auf mich bloß so anzustarren, Finn!«

Kurz nickend, beugt er sich zu meinem Gesicht vor, aber ich drehe noch rechtzeitig meinen Kopf weg, will ihn nicht küssen. Ein Kuss erscheint mir viel zu intim für das hier.  Seine Hände, die sachte über meinen Schwanz streichen und die Innenseite meiner Oberschenkel entlang fahren sind dagegen was annehmbahres.

Er leistet keine schlechte Arbeit, doch erst als ich die Augen zusammenkneife und mir fest vorstelle, es wären Caspers schöne Hände, die mich so berühren, werde ich wirklich hart – was die ganzen Mädchen in den letzten Wochen nicht Mal ansatzweise erreicht haben.

Verhaltenes Stöhnen dringt aus meinem Mund und ich lächele genießerisch, denke nicht daran, warum jetzt ausgerechnet Casper in meinem Verstand ist, während ich meine rechte Hand damit beschäftige, Finns bereits ganz steifes Glied zu streicheln. Meine Linkegleitet immer wieder, fast instinktiv, in seine Spalte, bis auch er anfängt lustvoll zu stöhnen und sich mir entgegen zu bewegen.

Verletztheit spiegelt sich in seiner Miene, als ich ihm immer noch nicht erlaube, mich zu küssen, doch dann bearbeitet er meinen Hals mit den Lippen und seine gepiercte Zunge zieht eine Spur weiter hinab, bis sein Mund meine Erregung heiß und eng umschließt und ich laut aufkeuchen muss.

Plötzlich kommt mir eine Idee – ich schmeiße mich auf ihn und drehe ihn umständlich auf den Bauch, er lässt es sich gefallen. Ich will die Oberhand übernehmen und außerdem bringe ich es nicht fertig, dabei in sein Gesicht zu gucken, deswegen also diese Position.

»Braucht man dafür nicht so ein Gel oder sowas?«, frage ich, keine Unsicherheit in meiner Stimme, als würde ich das jeden Tag machen und nicht das erste Mal in meinem Leben.

Finn dreht sich wortlos zur Seite und steckt dann seinen Arm in ein Schränkchen daneben. Eine kleine Tube kommt zu Tage und ein Kondom, welches er mir reicht. Dann stellt er sich direkt vor mich auf die Knie hin, mit den Händen das Bettgestell umgreifend, und spreizt seine Beine weit und einladend.

Das Kondom bereitet mir zwar keine Probleme, doch jetzt bin etwas überfordert und weiß nicht wohin mit dem Gel oder wie damit umzugehen ist.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und versuche mich daran zu erinnern, was ich über Männersex je gehört und gelesen habe.

Hat mir nicht jemand mal erzählt, dass man den Hintereingang mit dem Gleitgel einschmieren muss? Hört sich auf jeden Fall richtig an, also tue ich mir etwas Gel auf die Fingerspitzen, streiche damit seine Rosette. Er zuckt und zischt ein "Kalt!". Ich murmele eine Entschuldigung und reibe nun meine Härte mit dem Zeug ein. Dann bin ich wieder unsicher und schaue zuerst auf meine glibrigen Finger und dann auf Finns Po. Ach, wenn schon, denn schon!

Probeweise führe ich einen Finger in ihn hinein, als er reizvoll aufstöhnt, nehme ich zwei Finger, betaste sein Innerstes neugierig und doch vorsichtig. Es ist warm, feucht und eng, nicht sehr viel anders als bei einem Mädchen, stelle ich fest, nur eben etwas enger. Ich mache weiter damit und stoße sie nun vor und zurück und immer tiefer hinein, bis Finn anfängt, sich mir entgegen zu pressen und zu wimmern.

»Was dauert da so lange, wird's bald, oder willst du bis morgen weiter machen? Steck deinen Schwanz sofort in mich rein!«, keucht Finn schließlich fordend und ich erwidere: »Hetz nicht so, ist für mich das erste Mal, okay?«

»Bist du sicher? Fühlt sich jedenfalls nicht so an, du quälst mich wie ein Profi«

Stolz grunsend und ein wenig beschwingt, umfasse ich seinen Penis und setze meinem eigenen an seinem Loch an.

Nach einem tiefen Atemzug gleite ich zögernd in ihn hinein – es ist ein … sehr gutes Gefühl, möglicheriwese doch besser als bei einem Mädchen. Finn scheint es auch zu gefallen, denn als er seine Position etwas verändert und ich einen Rhythmus finde, immer schneller und sicherer werde, lässt er seinen Kopf zurückfallen und hört gar nicht mehr auf, aus voller Kehle zu stöhnen. Er wird sogar noch lauter und verrückter, sobald ich so eine Art kleine Ausbeulung in ihm mit meiner Schwanzspitze treffe und er fleht mich darauf förmlich an, es zu wiederholen. "Oh, heiliger Sexgott im Himmel, da! Genau, da! Mach es bitte nochmal!", lautet seine genaue Wortwahl und ich befolge gerne seine Bitte. Seinen Schaft massiere ich derweil weiter, in dieser Zeit ist der Wohnwagen erfüllt von Lauten, die deutlich aussagen, was hier abläuft.

Es dauert verwunderlicherweise nicht lange, bevor er zuerst kommt und einen erlösten Schrei hervorbringt, das sich in ein Keuchen verwandelt. Ich bin ebenfalls nah dran, ich spüre, wie meine Hoden sich zusammenziehen und wie er enger um mich wird. Das Gefühl vernebelt anscheinend völlig mein Gehirn, denn als ich am Kommen bin und mich in dem Kondom ergieße, liegt Caspers Name schwer auf meiner Zunge und nur wegen meines eigenes Schnaufens, werde ich verhindert, ihn auszustöhnen. 

Erschöpft sinkt Finn aufs Bett, dreht sich auf den Rücken und ich schmeiße mich neben ihm. Doch da schlingt er seine Arme und Beine um mich und bettet seinen Kopf an meine Schulter, ich erstarre.

»Das war der absolute Hammer, obwohl ich diese Stellung nicht so sehr mag. Mit Augenkontakt ist es tausendmal intensiver, glaub mir. Tut mir Leid, dass ich so schnell abgefeuert habe, hatte schon lange keinen Sex, weißt du – hier in der Gegend trifft man zurzeit ja nicht auf viele süße Kerle, wie dich«

Okay, Sex geht zwar, aber kein Kuscheln! Dafür bin ich echt nicht der Typ – sind wir ein Paar? Nein, ich denke nicht.

Unangenehm berührt winde ich mich aus seiner Umklammerung und schiebe ihn von mir, beginne rasch meine Sachen wieder anzuziehen.

»Du haust schon ab?«, vernehme ich die Stimme hinter mir, die sich beleidigt anhört, obwohl er offenbar versucht es zu verbergen.

»Ja, ich muss los, habe noch was zu erledigen«, lüge ich halbherzig und stehe fertig angezogen vor dem nackten Kerl im Bett, der doch im Ernst eine Schnute zieht.

»Sehen wir uns wieder?«

Muss er jetzt so klammern, verflucht? Diese Situation ist schon peinlich genug für mich, nicht zuletzt, weil Caspers Gesicht vor meinem inneren Auge auftaucht, obwohl ich das jetzt überhaupt nicht will. Die Tatsache, dass ich nun sicher weiß, dass ich schwul bin, kommt noch zu den peinlichen Sachen hinzu. Ich bin einfach noch zu aufgewühlt.

Wieso verschwindet Casper nicht für einen Moment einfach aus meinem Kopf, ständig muss er darin herumspuken, als wäre es sein Zuhause. Hätte er sich nicht dort eingepflanzt, könnte ich wenigstens einmal wieder normal und in Ruhe nachdenken.

»Hör mal«, seufze ich und setze mich erneut aufs Bett. Das ganze hier überfordert mich gerade. »wir hatten unseren Spaß und das war es auch schon. Ich dachte, das wäre dir vollkommen klar, als du mich einfach mitgenommen hast«

Räkelnd grinst er mich an und setzt sich dann vor mich, beugt sich zu mir rüber und versucht wieder seine Lippen auf meine zu drücken.

Ablehnend stoße ich seinen Oberkörper von mir weg. Ist der Typ nur dumm oder warum kapiert er nicht, dass er seinen Mund von meinen fernhalten soll?

»Hör auf«

Wütend funkelt er mich an und schlägt genervt meinen Arm runter.

»Was ist dein Problem? Wieso darf ich dich nicht küssen? Du siehst lecker aus, verdammt«

»Weil…« Ich nur jemand anderen Küssen will. Oh Gott, ich muss aufhören mit diesen Gedanken. »Weil ich es nicht will und fertig. Akzeptier es einfach«

Blitzartig erinnere ich mich wieder daran, dass ich noch eine Fahrmöglichkeit nach Hause brauche, also rutsche ich versöhnlich zu Finn näher, nehme ihn widerwillig in den Arm und grabe meine Finger in seine braunen Locken. Er brummt zufrieden und streicht mit seinen gierigen Finger unter mein T-Shirt.

»Ich muss irgendwie nach Hause gelangen, hast du ein Auto?«, frage ich vorsichtig, damit er nicht denkt, dass ich nur deswegen noch hier herumsitze, was ja im Grunde stimmt – ich könnte mir weitaus Besseres vorstellen, als mit einem Halbfremden zu kuscheln.

»Ich bin steinreich, Süßer, ich habe sogar zwei, aber ich arbeite halt gern hier. Man kann viele geile Kerle abschleppen«

Bei dem Kosenamen zucke ich zusammen – das klingt sowas von falsch, wenn er es sagt, aber ich halte lieber den Mund, wenn ich meine Möglichkeit nicht verlieren möchte.

»Kannst du mich dann gleich fahren?«

»Wenn du unbedigt willst! Ich muss mich nur kurz erleichtern, komme gleich wieder«

Endlich ist der mal weg. Sobald er die Toilettentür hinter sich geschlossen hat, krame ich in seiner Jeans, die auf dem Boden liegt, nach dem Geldbeutel und nehme mir einen Hunderter raus – fällt gar nicht auf, dort sind etwas mehr als Tausend Euro drin – da brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben. Er hat doch selber gemeint, dass er steinreich ist.

Der Hunderter reicht völlig für das Nachmachen von Caspers Schlüssel. Hastig lege ich die Jeans wieder auf ihren Platz, als ich die Tür aufgehen sehe und pflanze mich ganz unschuldig hin.

Mit einem breiten Grinsen auf seinem lockenumrandeten Gesicht kommt Finn aus der Toilette geschlendert und kleidet sich fix wieder an.

»Willst du vielleicht noch eine Runde, oder soll ich dich jetzt nach Hause bringen?«, fragt er neckisch und fährt mir zärtlich durch die Haare – ich muss mich beherrschen, um nicht zurückzuzucken.

Der soll seine Finger lieber bei sich behalten, sonst überlege ich es mir noch anders und gehe zu Fuß. Dass wir gerade noch Sex hatten, spielt keine Rolle. Ich schnelle hoch und gehe voraus zur Tür, um schleunigst hier raus zu kommen.

Sein Auto ist ein protziger Maserati Granturismo S Cabrio, solchen hatte auch mein Vater früher mal in der Tiefgarage stehen. In diesen steigen wir also ein und ich muss ihm widerwillig meine Adresse verraten, damit er sie in den Navigator eingeben kann. Innen sieht es noch schlimmer aus, als in meinem Zimmer. Ich habe immer gedacht, Autos wären Männern das Wichtigste?

Schnell sind wir an mein Haus herangefahren, er parkt direkt vor der Einfahrt und sieht mich abwartend an.

»Kriege ich deine Handynummer?«

Seufzend gebe ich nach, nachdem er einen Flunsch zieht. Eigentlich ist er ja kein schlechter Kerl und da ich ihn nicht nur dafür benutzt habe, um meiner Sexualität sicher zu werden, sondern ihm auch noch Geld geklaut habe, bin ich ihm das schuldig. Doch dann überlege ich es mir anders und diktiere Finn meine alte, nicht mehr benutzte, Handynummer.

Nochmal den gleichen Fehler wie bei Mia mache ich nicht.

Danach beugt er sich vor, um mir einen Abschiedskuss zu geben, und wieder das Gleiche – ich weiche ihm aus.

»Nur ein Mal, komm schon, ich will wissen, wie deine Lippen schmecken«, flüstert er nah an meinem Gesicht und ich lasse mich nun doch zu einem flüchtigen Lippentreffen erweichen.

So schlecht fühlt es sich nicht an, aber mit Casper war es tausendmal besser. Bei dieser Feststellung nehme ich einen tiefen Atemzug und steige hastig aus dem Auto, winke dem verdutztem Finn noch zu, bevor ich mich in die Stille meines Heims begebe.

Kapitel 8.

Gott sei Dank, ist es jetzt Wochenende und ich muss Casper nicht gegenüber treten, das hätte ich eh nicht geschafft. Schon die Nacht konnte ich nicht richtig schlafen – ich habe doch im Ernst ein super schlechtes Gewissen wegen dem, was ich mit Finn alles so angestellt habe. Und dieses miese Gefühl, als hätte ich Casper betrogen, will einfach nicht verschwinden, nichtsdestotrotz ich versuche es von mir weg zu schieben, so weit wie möglich.

Ich muss mir von Neuem selbst sagen, dass ich ihn nicht hintergangen habe, weil ich ja im Grunde nicht mit ihm zusammen bin, wir sind kein Paar, verdammt! Wieso nur fühle ich mich so schäbig?

Heute Morgen war ich schon mit meinem Bike unterwegs und gab die Alginatform an meinen alten Freund Karl ab.

Karl kenne ich schon seit dem Teenie-Alter und er schuldet mir eine Menge. Deswegen macht er mir ständig Schlüssel und fragt auch nicht nach, wozu ich diese dann brauche oder wessen Schlüssel er für mich kopieren soll.

»Hi Karl, na wie geht’s, wie steht's?«, begrüßte ich ihn in seinem kleinen Schlüsseldienst-Büro in der Stadt, mit dem er eigentlich nicht viel verdient, aber er hat schon seit seiner Jugend davon geträumt, sowas eigenständig auf die Beine zu stellen und hat es auch einigermaßen geschafft. Seine kleine Firma war zur Stelle, wenn eine vergessliche Alte mal wieder ihren Schlüssel in der Wohnung verloren hat, sie wechseln Schlösser aus oder reparieren sie und alles Mögliche in dieser Richtung halt.

»Xander«, erwiderte er mit gequälter Miene, reichte mir seine raue Hand, und rückte seine runde Brille nervös zurecht, die ihm stets an seiner dünnen Nase runter rutschte – dafür hat er extra ein Kettchen um den Hals, die mit der Brille verbunden war und so dadran hing, falls sie doch mal ganz herunterfällt.

Lächelnd holte ich mein Kästchen heraus und stellte es vor ihm auf den Tisch. »Kumpel, ich will es morgen früh abholen, alles klar? Es ist eine wirklich dringende Angelegenheit, die-«

»Mehr brauche ich nicht zu wissen.«, unterbrach er mich hysterisch und drückte mir sogar seine Hand auf den Mund, damit ich nicht weiter sprechen konnte. »Gib mir einfach das Geld und komm morgen, bitte«

Karl nahm seine Pfote weg und prüfte mit einem unsicheren Blick in mein Gesicht, ob ich ihm das übel genommen hatte oder nicht. Natürlich habe ich das nicht – ich fühle mich schon ziemlich mies, dass ich ihn damit belaste. Wenn das herauskommt, kriegt er mindestens genauso viel Ärger wie ich oder sogar noch mehr, wer weiß? Aber was soll man tun?

»Sorry Karl, dass ich zu dir damit komme, aber ich kenne keinen Anderen, der das so gut macht, wie du. Hier, behalte den Rest«, sagte ich ihm mit einem Schulterklopfen und legte den Hunderter neben das Kästchen.

»Bis morgen dann, Tschüs«

»Auf Wiedersehen, Xander. Ich hoffe wirklich du kommst mal zu mir, um bloß dein Schloss zu wechseln oder zu reparieren«

Lachend schlendere ich aus dem Laden. Armer Karl.

Bestimmt wünscht er sich, er wäre nie als Aufpasser mit mir im Camp gewesen vor fünf Jahren.

Ich war erst elf gewesen - meine Eltern haben mich dahin geschoben kurz nachdem Mum die Fehlgeburt hatte und ich war echt dankbar dafür, aus dem Irrenhaus heraus zu kommen, dass sich mein Zuhause schimpfte.

Ja und da bin ich Karl das erste Mal begegnet. Ich war eine richtige kleine Nervensäge, die alle Kinder im Camp zu Sachen aufgestachelt hat, die nicht erlaubt waren. Karl und die anderen Aufpasser mussten sich ziemlich abquälen mit uns, aber vor allem mit mir. Rausschmeißen konnten sie mich nicht so leicht, denn mein Vater bezahlte für meinen Aufenthalt dort einen Batzen Kohle.

Ach, das war eine schöne, und kurze Zeit.

Was mir allerdings nicht so gefallen hat, war nämlich, dass eine Aufpasserin starb, oder sollte ich lieber sagen aus Versehen ermordet wurde?

Und jetzt kommt auch Karl ins Spiel. Er war mit diesem Mädchen zusammen und als sie im See rummachten, sah ich ihnen natürlich dabei zu. Sie waren beide etwas angetrunken und als es anfing richtig heiß zu werden, hat die blöde Tusse ihn von sich gestoßen.

Keine Ahnung ob das Mädel ihn nur ärgern oder ob sie wirklich nicht mit ihm schlafen wollte, aber es hat Karl extrem aufgeregt. So sauer habe ich ihn nie vor oder nach diesem Abend erlebt.

Dann ging das Chaos los – die haben sich gegenseitig angebrüllt, ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber eins weiß ich noch genau, was die junge Frau gesagt hat:

»Ich hab dich betrogen, du Muttersöhnchen«, hat sie Karl entgegen geschrien und verschiedene Namen an ihren Fingern abgezählt. »mit Paul, Ben, Gabriel, Toni und deinem Bruder!. HA! Was sagst du jetzt, du Weichei?!«

Das Weichei hat das keifende Flittchen zu sich gerissen und unter Wasser gedrückt, solange, bis sie aufgehört hat sich zu wehren und um sich zu schlagen.

Tot war Karls Freundin und ich habe alles mitangesehen und wie ein Verrückter angefangen zu heulen. Mein Aufpasser kam zu mir, die Leiche im Schlepptau und hat mich in den Arm genommen, nachdem er mich erst aus den Büschen entwirren musste.

»Sch...sch...Xander. Das bleibt unser Geheimnis, gut? Xander, hörst du? Das bleibt unser Geheimnis. Sag was du willst und ich werde es dir geben«

Plötzlich hatte ich aufgehört zu weinen und habe ihn mit großen Augen angesehen. Schniefend erschien ein kleines Lächeln auf meinem kindlichen Gesicht.

»Alles?«

Unsere Geschichte, die wir uns gemeinsam danach überlegt hatten war, dass seine Freundin getrunken hatte und dann besoffen und alleine schwimmen gegangen war. Ich hatte sie dort tot entdeckt. Karl hatte nach mir gesucht, weil ich angeblich vorher weggelaufen war, und mich dann heulend vorgefunden. So fischte er die Leiche aus dem See und hatte dann die Polizei verständigt.

Sein ein Glück für ihn, dass er nur wenig getrunken hatte, man hat gar nichts bemerkt und dass man ihn und seine Freundin nicht zusammen hat weggehen sehen – sie mussten ihre „Beziehung“ geheim halten, denn sowas war im Camp strengstens verboten.

Die Bullen kauften uns alles ab und wir wurden nur noch später noch einmal auf dem Revier vernommen. Ich habe für ihn gelogen, ich war sein Alibi.

Die restlichen Tage im Camp war er sowas wie mein persönliches Spielzeug. Die verrücktesten Aufgaben gab ich ihm, die er erledigen musste ohne sich zu beschweren. Wenn ich heute daran zurückdenke, schäme ich mich ihn so entwürdigend behandelt zu haben.

Mittlerweile sind wir beide erwachsen und ich weiß, dass es nicht nett war, ihn so auszunutzen, aber ich war damals ein einsamer Junge, der dringend Aufmerksamkeit brauchte, egal von wem oder mit welchen Mitteln.

Tja, nach dem Camp habe ich ihn eine Weile in Ruhe gelassen, doch dann fing ich an, diesen Drang zu verspüren. Ich musste ständig, einfach so, in Häuser einbrechen und Schlüssel nachmachen oder irgendwelche Codes auswendig lernen.

Wenn ich nur wüsste woher das so plötzlich gekommen ist!

Vor Casper war es auf jeden Fall so gewesen, doch seit er aufgetaucht ist, habe ich komischerweise dieses „Muss“ nicht mehr verspürt außer da, als ich das erste Mal in seinem Haus war. Seine Gegenwart hat mich so abgelenkt, dass ich nicht mehr in jedes Haus einbrechen wollte, will.

Und nun muss ich meinen Entzug unterbrechen, um herauszufinden, was er vor mir verbirgt. Alle seine Geheimnisse müssen in diesem geheimen Raum versteckt sein, da bin ich mir mittlerweile hundertprozentig sicher.

Morgen ist es soweit.

 

***

  

Morgen früh hole ich schnell meinen neuen Schlüssel bei Karl ab und hänge ihn aufgeregt zu den anderen an meinem Schlüsselring.

Danach fahre ich nochmal nach Hause, setze mich auf mein Bett und warte dort. Gucke Fern, spiele Spiele auf meinem Handy. Warte. Ich kann warten nicht ausstehen.

Was hatte Casper letztens noch erzählt? Dass sein Onkel für eine Weile irgendwohin fährt, auf eine längere Geschäftsreise oder so und dass er selbst seine alten Freunde besucht, wer auch immer diese sind.

Um die Mittagszeit wärme ich mir das Mittagessen in der Mikrowelle auf und verschlinge es lustlos.

»Hallo, mein Lieber. Was machst du denn für ein Gesicht?«, ertönt Brittas Stimme, mit einem Eimer und einem Tuch bewaffnet scheuert sie die Küchenschränke und bringt sie danach zum glänzen. Ich werde nie begreifen, wie sie es alleine hinkriegt das ganze Haus sauber zu halten – sie ist nicht mehr die Jüngste und hat dazu noch etwas Speck auf den Hüften.

»Britta? Was würdest du tun, wenn dein Freund Hilfe braucht, es aber nicht zugibt? Würdest du ihm trotzdem helfen?«, die Worte verlassen meinen Mund eher ich es verhindern kann.

Mein Kindermädchen hält inne und sieht mich mit ihrem besonderen Lächeln an, welches sie nur mir zeigt, seit ich klein bin.

»Manche Menschen brauchen eben einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, Xander. Du musst dich fragen, ob Casper das Gleiche an deiner Stelle gemacht hätte«

Ja, womöglich hat sie recht. Moment, Casper?

»Ich habe Casper doch gar nicht erwähnt«

»Ach, mein Lieber, man sieht es dir an«

Was meint sie denn bitte damit? Doch sie geht hinaus, ohne das ich nachfragen kann.

In Gedanken versunken gehe ich wieder nach oben und dusche ausgiebig. Casper hätte bestimmt auch so gehandelt, wenn er gesehen hätte, das ich Hilfe brauche, oder? Aber es ist eh zu spät für mich, um es mir anders zu überlegen – ich habe mich entschieden und dabei bleibt es.

Ein bisschen Gewissensbisse habe ich schon, schließlich ist es mein bester Freund, bei dem ich einbreche, aber die sind es mir wert, wenn ich dadurch erfahre, was er so hartnäckig versucht zu verbergen.

Man sieht es ihm doch an, dass er nicht allein damit klarkommt und die Wahrsagerin hat dasselbe gesagt, also muss ich es auf eigene Faust herausfinden.

Unten begegne ich erneut Britta, die fröhlich vor sich hin summend den Flurteppich saugt. Als ich an ihr vorbei gehen will, schaltet sie den Staubsauger aus, stemmt ihre Arme in die runden Hüften und verstellt mir so breitbeinig den Weg.

»Xander! Ich kriege deine Bettwäsche nicht sauber! Was soll das?«, zetert sie los – ich bleibe wie von Donner gerührt stehen und erröte bis zum Haaransatz.

Oh, mein, Gott! Sie meint bestimmt die Bettwäsche, die ich manchmal vollsaue, wenn ich mich…selbst befriedige. Peinlicher geht’s wohl kaum.

Stammelnd und mit hochrotem Kopf verlagere ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und weiß nicht, was ich tun soll.

»Ehm, Britta, ich…«

Sie wedelt ungeduldig vor meinem Gesicht mit den Händen herum und legt sie mir dann auf die Schultern – dabei muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen, weil ich um einiges größer bin.

»Mein Lieber, du musst dich nicht schämen. Ich habe doch selber zwei erwachsene Söhne und ich erinnere mich noch sehr gut, wie sie sich in ihrer Pubertät benommen haben. Nur, bitte, lass deine Bettwäsche nicht tagelang liegen, sonst kriege ich die nicht mehr so leicht sauber. Verstanden? Und jetzt, husch, husch, geh von dem Teppich herunter, ich muss hier weiter sauber machen. Bis später, mein Lieber«

Britta schaltet den Sauger an und macht weiter wie bisher, als hätten wir uns nicht gerade über meine spermabefleckte Wäsche unterhalten.

Kopfschüttelnd und mit einem dampfenden Tomatengesicht renne ich fast aus dem Haus und springe auf mein Rad.

Damit fahre ich die ganze Strecke zum Cheese-Schloss, obwohl es lange dauert bis ich dort bin und ich ganz verschwitzt ankomme.

Das ist wahrscheinlich die Rache dafür, dass ich nicht mehr boxe, sondern nur noch ab und zu Muskeltraining mache und jogge. Gut, dass heute die Sonne nicht scheint, langsam wird es schon Herbst – meine Lieblingsjahreszeit.

Am Schloss angekommen, stelle ich mein Fahrrad hinter einem Busch vor der breiten Einfahrt und bedecke es so gut wie möglich mit Zweigen, damit nicht sofort jedem, der hier vorbeigeht, auffällt, dass ich hier herumschleiche.

Ein bisschen Paranoia schadet ja nicht.

Bis zum Eingangstor gelange ich unbemerkt, entdecke auch kein Personal oder Securityleute, was mich schon etwas verwundert. Ins Haus komme ich auch ganz unbehelligt, muss mich nur einmal vor einem lustlosen Securitymann verstecken, der anscheinend patrouilliert und nicht ansatzweise aufmerksam dabei ist. Den Code, den ich mir gemerkt habe, als ich das erste Mal hier war, gebe ich unmittelbar ein. 873046191g.o.u.d.a

Was sind das denn für Sicherheitsleute? Wenn man diesen hier mit Navid vergleicht, dann fällt es nur noch mehr auf, wie übertrieben er immer drauf ist.

Ich bin enttäuscht sobald ich mich im Gang befinde – es war zu einfach, überhaupt keine Anstrengungen meinerseits. So macht es gleich weniger Spaß. Keinerlei Nervenkitzel – auch wenn ich gar nicht deswegen hier bin.

Innen herrscht Geistesstille, unwillkürlich sehe ich mich nach jemandem um, aber keiner ist da.

Man, ich hab es mir echt aufregender vorgestellt, allein in dieses große Schloss vorzudringen.

Andererseits sollte ich mich vielleicht nicht beschweren, dass es so simpel war – erwischt werden möchte ich ja keinesfalls.

Den Weg zu Caspers Zimmer kenne ich mittlerweile auswendig, seine Tür ist nicht verschlossen und deswegen stecke ich den Kopf herein und trete danach ein.

Das Zimmer ist abgedunkelt, das Bett gemacht, ansonsten ist alles so wie immer. Ich gehe sofort zum Kleiderschrank und schiebe ihn ächzend zur Seite. Es geht leichter als gedacht für so einen robusten und schwer aussehenden Schrank. Dahinter kommt eine schmale Tür zum Vorschein, die sich in Farbe und Material überhaupt nicht von der Wand unterscheidet. Nur die dünnen, fast unsichtbaren Linien lassen erahnen, dass sich dahinter noch ein Raum befindet. Die Fläche ist blank, keine Türklinke oder ein Griff.

Nach langem Zögern drücke ich die Tür nach innen, sie ruckt und es entsteht eine kleine Lücke in die ich mit wenigen Fingern eingreife und so weiter hinein schiebe. Kurz ein- und ausatmen und dann nichts wie rein.

Mir wird schlagartig schwindelig, als ich den Lichtschalter betätige, der sich rechts von der Tür befindet.

»Jesus, Maria und Josef!«, entfährt es smir ungewollt laut. Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Kriminalfilm.

Vorsicht sehe ich mich ausführlicher in dem fensterlosen, quadratischen Raum um und erschauere. Eine ganze Wand ist vollständig mit Bildern behängt – einige von einer Frau und einem Mann im mittleren Alter. Ein Schussloch ziert ihrer beiden Köpfe und sie liegen in grotesk verdrehten Haltungen auf einem dunklen Holzboden, um sie herum ist eine große Blutpfütze gebildet. Die Toten wurden in mehreren Blickwinkeln fotografiert, aber wegen dem vielen Blut kann man ihr Gesicht nicht gut genug erkennen. Daneben hängen andere Bilder von verschiedenen Waffen, Pistolen, und dann auch noch Fotos von Männern, die verdächtig nach Kriminellen aussehen mit ihren Tattoos und Narben. Außerdem sind da Papiere, Dokumente vielleicht, ich sehe sie mir nicht genauer an.

Ein Name, „John Piarze“, ist mit roter Farbe auf die weiß gekachelte Wand geschrieben und drumherum sind Fotos von wahrscheinlich genau diesem John. Er wirkt seriös, mit Anzug und Krawatte. Daneben hängt eine Landkarte mit mehreren Kreuzen drauf und noch ein anderes Dokument.

Was mich allerdings erstaunt, ist, dass auf dem Tisch, der mitten im Raum platziert ist, Familienfotos herumliegen. Auf ihnen ist auch Casper zu sehen und zwar mit seiner Familie. Sein Vater, dem er verdammt ähnelt, seine Mutter, er selbst und ein Mädchen. Seine Schwester? Kein Schimmer, auf jeden Fall ist es gruselig hier. Könnte das Zimmer eines Serienkillers sein, der sein nächstes Opfer heraussucht. Mir schwirrt der Kopf, ich schließe fest die Augen, um die Fotos nicht mehr sehen zu müssen.

Casper kann doch nicht...? Nein, das darf ich nicht mal glauben, ich muss ihn selbst fragen, denn aus diesen ganzen Kram hier kriege ich nichts gescheites heraus und ich bin durcheinander. Habe ich allen Ernstes gedacht, dass ich alle seine Geheimnisse mit diesem Raum durchschaue?

Plötzlich höre ich ein Geräusch, dass eindeutig nicht in ein leeres Haus gehört – ein kehliges, lautes Stöhnen, welches bis hierher durchdringt.

Ich dachte alle wären weg?! Oh, Shit! Wer ist das wohl? Die Stimme kommt mir bekannt vor.

Meine Neugier übertrifft die Angst hier erwischt zu werden und ich gehe direkt raus, zurück auf den Flur vor Caspers Zimmer, was mir ein erleichtertes Seufzen entlockt. Das eben Gesehene verdränge ich erstmal und konzentriere mich stattdessen auf das Hören.

Noch einmal vernehme ich ein Stöhnen, hier ist es wesentlich besser zu vernehmen und nicht zu überhören. Das ist wirklich Navid! Ich muss einfach sehen, mit wem er sich da vergnügt! Leicht grinsend, laufe ich auf leisen Sohlen dem Geräusch entgegen und komme schließlich an noch einer andern Tür an, nur drei von Caspers entfernt. Behutsam drücke ich mein Ohr an diese und lausche gespannt – auf alles gefasst. Lange brauche ich nicht zu warten, schon wieder dieses unverkennbare Geräusch, ich überlege, ob ich es wagen soll, nachzugucken mit welchem Opfer Navid sich dort drin amüsiert.

Da gellt ein Stöhnen von einem anderen Menschen. Nicht nur von einem anderen Menschen, sondern von einem anderen Mann! Ja, das ist eindeutig der Klang eines Mannes.

Ich will jetzt wissen, wer das ist! Wer hätte gedacht, dass Navid schwul ist, ich nämlich nicht.

Vorsichtig luge ich in das Zimmer, keuche auf und falle beinahe auf die Nase.

Heilige Scheiße!

Die Laute stoppen schlagartig und ich stehe wie zur Salzsäule gefroren im Eingang. Blut rauscht in meinen Ohren.

»Xander! Was machst du hier? Mist. Navid lass mich raus. Au!«

Ich stehe immer noch wie erfroren da und starre auf das menschliche und nackte Knäuel in dem Bett. Casper und Navid, Navid und Casper, kreist mir im Gehirn herum. Ein Blowjob vor meinen Augen. Navids verfluchter Mund um und seine Finger in Casper, der ausgestreckt da liegt.

In diesen Moment schaltet sich mein Verstand komplett aus und ich stürze mich auf diesen elenden Pseudo-Soldaten. Zuallererst reiße ich ihn von Casper weg und stoße ihn zu Boden. Er liegt unter mir da und dann hebe ich einfach meinen Fuß und lasse ihn mit aller Wucht, die ich aufbieten kann, in sein Gesicht, dass zu einer grinsenden Fratze verzogen ist, krachen. Sein Kopf fliegt heftig zur Seite und sein Kiefer knackt gefährlich, aber ich mache weiter und kann gar nicht mehr aufhören nun mit meinen Fäusten wie ein Wilder auf ihn einzuprügeln.

»Dämliche Missgeburt. Was bläst du hier durch die Gegend!? Ich bring dich um, du Kanake. Ich mache dein scheiß Leben zur Hölle«

Kniend hocke ich neben ihm und schlage mit der Rechten, mit der Linken, aber sein Lächeln will nicht verschwinden. Immer wieder, bis ich, wie aus heiterem Himmel, starke Arme um meinem Oberkörper spüre, die mich nach hinten wegreißen.

»Xander, hör auf, er wird sonst gleich zurückschlagen!«, brüllt Casper in mein Ohr.

Nach Atem ringend sitze ich an ihn gelehnt da und vergrabe meinen Kopf kurzweilig in den Armen. Er befürchtet, dass Navid mir wehtut, noch während ich diesen mit Fäusten bearbeite? Das sollte mich beleidigen.

Casper steht wieder auf, sammelt mehrere Klamotten auf, eine Boxershorts zieht er sich dabei hastig an, und hilft Navid hoch, indem er ihn stützt. Dieser ist noch hüllenlos, deswegen sieht es überaus lächerlich aus. Dabei murmelt Casper ihm irgendetwas zu, was ich nicht verstehen kann und bringt ihn zum Ausgang.

»Schatz, ich lasse dich nicht mit diesem Irren allein, wer weiß, was er noch tun wird«, nuschelt der Blutende und ich nehme an, das ist der längste Satz, den ich je von ihm gehört habe.

Aber er hat ihn „Schatz“ genannt! Das klingt total seltsam aus dem Mund dieses Riesen. Wie lange geht das eigentlich schon mit ihnen, verdammt?

Zornig springe ich auf und will schon wieder auf jemanden Bestimmtes einprügeln, zögere jedoch wegen Caspers nächsten, herrischen Worten: »Navid, nenne mich nicht so, wie oft soll ich dir das noch sagen? Wir sind kein Paar und das weißt du und jetzt gehe, sonst fliegst du hier ganz raus. Alles klar?«

»Aber-«

»Hast du nicht gehört, was dein Schatz befohlen hat, Navid? Verpiss dich«, zische ich mit zu Schlitzen verengten Augen und zittere vor unterdrückter Wut.

Er geht mir sowas von auf den Sack, wie er mich hämisch mustert, als wäre ich derjenige, der gerade fies rausgeworfen wird und nicht er. Jetzt ergibt es Sinn, warum er früher ständig so an Casper gehangen hat und ihn nur ungern mit mir alleine lassen wollte.

Blödes Arschloch.

»Was geht dich das an?«, fragt er bissig und wischt sein Blut mit einer groben Handbewegung weg, was es nicht unbedingt besser macht.

Ja, was geht es mich eigentlich an? Eine berechtigte Frage.

»Weil er mir gehört! Deswegen geht es mich was an«

Als ich das mit so viel Entschlossenheit sage, wird mir klar, das es stimmt oder zumindest hätte ich gerne, dass es so ist. Ich will, dass er nur mir gehört und das Navid seine Finger und seinen Mund bei sich behält.

Dieser lacht sich gerade halb tot über mich, ich brauche nochmal meine ganze Selbstbeherrschung, um nicht doch erneut auf ihn loszugehen. Wie kann man bloß mit diesem Ekelpaket was haben? Der ist doch nicht auszuhalten und seine Muskelberge sind schlicht übertrieben. Ich wage einen Blick zu Casper, der sieht mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit an, also ist er noch nicht sauer auf mich, aber sobald ich das festgestellt habe, wird sein Gesicht ausdruckslos und ich erschrecke.

»Casper wird nie jemandem gehören. Das wirst du noch merken«, meint Navid hämisch und schließt die Tür krachend hinter sich.

Aha. Was soll das denn bedeuten?

Eine Zeit lang ist es sehr still und keiner bewegt sich. Bis ich wagemutig, mit klopfenden Herzen und wackeligen Beinen auf Casper zulaufe. Stumm wartet er auf meine Handlungen.

Er ist schön, geht mir so schlagartig auf, dass ich glaube, ich zerspringe gleich vor Ungeduld. Und seine Narben entstellen ihn in keinster Weise, sie machen ihn lediglich einzigartiger und attraktiver in meiner Sicht. Nicht zu viele Muskeln und nicht zu wenige hat er, alles ist perfekt. Er ist perfekt. Ich habe das lange genug darüber hinweg gesehen, jetzt kann ich es auch wenigstens in Gedanken formulieren.

Endlich gelange ich zu ihm, lege meine leicht zitternde Hand auf seine Brust und fühle den pulsierendem Herzschlag unter der von Narben gezeichneten Haut. Ohne weitere Worte oder auch nur zu überlegen, bin ich im Begriff meine Lippen auf seine weichen und leckeren zu pressen, denn ich weiß genau, wie gut diese küssen können, doch er hält mich auf, noch bevor ich sie erreiche.

Ich kann nicht mehr gleichmäßig atmen – mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und so ein innerer Druck, den ich zuvor nie verspürt habe, entsteht in der Lungengegend. Es fühlt sich so verdammt unangenehm an, ich möchte es nicht fühlen.

Ist es wegen der Zurückweisung? Was habe ich falsch gemacht? Wenn ich dachte, dass das zwischen uns klar wäre, habe ich mich wohl getäuscht. Er will mich nicht mehr.

»Was–«, setze ich unsicher an, Casper senkt den Kopf, sodass die schwarzen, ungegelten Haare ihm ins Gesicht fallen und weicht meinem Blick aus, die Hand nimmt er herunter.

»Ich glaube, ich dusche und dann reden wir. Das ist längst überfällig«

Enttäuscht und auch verletzt trette einen Schritt zurück, um ihm damit Platz zu geben.

Sobald er aus dem Zimmer gegangen ist, tausche ich in Seines und verdränge die Vermutung, über was wir gleich sprechen werden. Ich sehe mir Caspers neuen CDs an, um etwas zu tun zu haben und reibe mir dabei immer wieder meine schmerzenden Fingerknöchel. Hatte Glück, dass sie nicht sehr aufgeplatzt sind.

Dieser Druck in der Brust verstärkt sich mit jeder Minute. Jetzt, wo ich mir beinahe eingestehen kann, dass ich auf Jungs stehe, macht es mich wahnsinnig, den Impuls widerstehen zu müssen, ihm in die Dusche zu folgen.

Was ist eigentlich mit Casper? Er war doch derjenige, der damals in der Gemeinschaftsdusche nicht aufhören wollte und jetzt hat er mich weggeschoben.

Möchte er doch mit Navid zusammen sein und hat sich bloß wegen mir nicht getraut es zuzugeben? Wie kann eine bloße Annahme, solche Schmerzen verursachen?

Genervt stöhnend bedecke ich mein erhitztes Gesicht mit den Händen. Ich hatte ja nie etwas gegen Schwule gehabt, aber zugeben zu müssen, dass ich auch einer bin, ist nicht so leicht! Auch nicht, nachdem ich Sex mit Finn hatte. Ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer ist mir geblieben – nämlich, dass das alles nur vorübergehend ist, so eine Art Phase. Es gibt bestimmt ein Begriff dafür, ich muss ihn nur finden.

Doch egal, was ich mir einzureden versuche – so, wie ich gerade reagiert habe, als ich sie zusammen sah, beweist weit mehr als das Gegenteil. Das war pure Eifersucht, ganz klar! Vielleicht sollte ich mir nicht weiter das Gehirn zermartern und es mir selbst eingestehen? So ist es doch einfacher. Casper hat mich, wie es scheint, ohne Vorwarnung, mit nur einem einzigen Kuss ans andere Ufer katapultiert. Jetzt sitze ich an dieser Seite fest und er will mich offenbar nicht hier, bei sich, haben.

Oder täusche ich mich und das ist durch die viele Zeit mit ihm entstanden? Keine Ahnung. All diese Fragen bringen mich auch nicht weiter.

Das Objekt meiner sich im Kreis drehenden Überlegungen kommt nach ungefähr zehn Minuten frisch geduscht und mit einem Handtuch um die Hüften. Seine Haare hängen verstrubbelt am Kopf und damit sieht er noch heißer aus als ohnehin schon. Ja, genau, ich finde diesen Typen heiß, na und?

Inzwischen habe ich mich dafür entschieden nicht mehr zu unterdrücken und gleich darauf ist ein riesiger Stein von mir gefallen. So bin ich nun mal – bedeutsame Entscheidungen treffe ich auf den letzten Drücker. Ich hätte es schon früher gemacht, wenn ich gewusst hätte, wie befreiend das ist. Sein erster Blick trifft den verschobenen Schrank. Hat er das Offensichtliche nicht schon auf dem Weg in sein Badezimmer gesehen?

Bleich wie ein Toter wendet er sich nach einem Augenblick wieder mir zu und scheint auf etwas zu warten. Die Bilder, die da im Geheimraum hängen, durchfluten wieder meinen Kopf und ich schüttle mich. Was hat Casper vor und wer sind die ganzen Menschen auf den Fotos?

»Casper?«, ich klinge unsicherer als ich möchte, während er den Kopf an die geschlossene Tür anlehnt und die Arme im Nacken verschränkt, wie es Häftlinge im Fernsehen tun müssen.

»Du hast es herausgefunden«, flüstert er heiser, schlägt heftig auf die nächste Wand ein und dreht sich haareraufend, mit blitzenden Augen, wieder um, das Blut, dass seine Fingerknöchel herunter läuft ignoriert er gänzlich.

»Ich habe nichts herausgefunden, sondern nur die Bilder gesehen und ich verstehe auch nicht, was sie bedeuten«

»Was hast du hier überhaupt verloren? Seit wann weißt du über den Raum? Bist du etwa deswegen gekommen? Du hättest nichts davon sehen dürfen, Xander!«, fängt er an mich anzuschreien und unruhig von einem Ende des Zimmers zum anderen zu laufen.

Ich erröte ertappt. Was erwidern? Dass ich, Vollidiot, unerlaubt in sein Haus gedrungen bin, um herauszufinden, was er vor mir verbirgt und zwar nur wegen meiner Vermutung, dass er es, was auch immer es ist, alleine nicht schafft? Wohl kaum.

»Erzähl es mir, Casper, ich will dir helfen«, versuche ich ihn zu beruhigen und fasse nach seinem Arm, damit er aufhört, hin und her zu rennen. Damit macht er mich noch nervöser.

»Mir helfen?«, lacht er irrsinnig, bleibt dicht vor mir stehen und sieht auf mich herunter, als würde er es ernsthaft in Erwägung ziehen, mich auf der Stelle zu erwürgen. »Du hast alles nur noch schlimmer gemacht, kapierst du das nicht?«

»Wenn du mir sagst, was ich schlimmer gemacht habe, dann womöglich schon«, werde ich nun ebenfalls lauter. Der soll mich nicht so anbrüllen, verdammt, ich bin keiner, der sich so was gefallen lässt – auch von ihm nicht.

»Aber nein, du musst ja hartnäckig auf geheimnisvoll tun. Schon von Anfang an! Du läufst nur weg und erzählt nicht was los ist. Wir sind doch Freunde, oder?«

Kopfschüttelnd wendet er sich ab, holt sich Klamotten aus dem Schrank, die er auch umgehend überzieht. Dabei komme ich nicht umhin, einen Blick auf seinen knackigen Hintern zu werfen – und es macht mich an.

Ich bin pervers, in dieser Situation daran zu denken, was wir alles machen könnten.

»Du hast keine Ahnung von nichts«, murmelt er vor sich hin.

Ich nähere mich ihm wieder, zögerlich, wegen seinem Ausbruch und der Angst, dass er mich erneut abweist.

Langsam aber sicher wird mir mulmig zumute, trotzdem meine ich:

»Casper, sag mir doch endlich was Sache ist und quäle uns nicht mehr. Du kannst mir vertrauen. Bitte!« 

Kapitel 9.

Schwer schlucke ich und versuche seinem brennendem Blick standzuhalten. Wenn er nicht so wütend wäre, wäre ich längst über ihn hergefallen. Ziemlich unpassend, dass muss selbst ich zugeben.

Mit einem Ruck umgreift er hart mein Handgelenk und zerrt mich förmlich in dieses von mir mehrfach verfluchte Zimmer hinein.

Muss er so grob sein? Bin ich etwa ein dummes Mädchen, dass er herumschubsen kann?

Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben und hätte ein bisschen trainiert oder so was, anstatt hier einzubrechen und meinen Kumpel mit einem anderen Kerl zu erwischen – obwohl, sind wir überhaupt noch Freunde? Nein, definitiv mehr als das? Hoffe ich doch stark.

In dem Raum setzt er sich auf das Sofa in der Ecke und bedeutet mir mit einer gereizten Handbewegung es ihm gleich zu tun, was ich brav mache.

»Also–«, fange ich an, doch werde sofort von ihm unterbrochen.

»Halt den Mund«, knurrt er mich an und fährt sich erneut durch die Haare, so dass sie jetzt endgültig in alle Himmelsrichtungen abstehen.

Also mir reicht's endgültig – geladen springe ich auf, die Kissen fliegen dabei herunter.

»Wenn du mir nichts sagen willst, dann kann ich auch verschwinden. Das hier geht mir echt auf den Keks. Verdammte Scheiße!«

Als ich gerade umdrehen und losrennen will, werde ich wieder am Handgelenk gepackt, diesmal noch stärker, und herumgeschleudert.

»Alter, hör auf damit!«

»Ich erzähle dir alles, du hast gewonnen, okay?! Eine andere Wahl habe ich eh nicht!«, schreit er mir direkt ins Gesicht, ich mache mich los und lass mich gespielt gelassen niederplumpsen, als ob nichts gewesen wäre. Er muss ja nicht unbedingt wissen, wie es in mir wirklich aussieht.

»Meine Ohren sind weit aufgesperrt. Leg los«

Ungläubig starrt er mich an, setzt sich wieder hin und faucht bissig:

»Das ist nicht lustig. Darüber macht man keine Witze, Xander. Es geht hier um Leben und Tod«

»Ich hab nicht gescherzt. Und du hast zu viele Filme gesehen, glaube ich«, sage ich belustigt und halte dann inne – Caspers mörderischer Gesichtsausdruck lässt mich kapieren, dass ich jetzt übertrieben habe. Okay, ich sollte meine Klappe halten, aber ich wollte die Stimmung ein bisschen auflockern.

»'Tschuldige, fahre fort«

Nach einem tiefen Seufzer lehnt Casper sich zurück und beißt sich auf die Unterlippe, offensichtlich nicht weiter wütend, sondern nervös.

»Mein Opa gehörte zu der Familie mit einem der größten Waffenhandel-Netzwerke im Staat und mein Dad wurde in dieses Geschäft hinein geboren – er hatte keine andere Möglichkeit als mitzumachen, er konnte seinem Vater nicht widersprechen. Auf der anderen Seite stand mein anderer Opa und mein Onkel, beide Käsehändler. Komisch oder? Käse- und Waffenhändler in ein und derselben Familie. Aber so ist es nun mal gelaufen, eher altmodisch: Der Erstgeborene kriegt das Käseimperium und der Zweitgeborene erbt dann nichts und muss irgendwo Geld verdienen oder natürlich in den Waffenhandel einsteigen– die meisten wählten den kriminellen Weg. Da verdient man doch mehr, als wenn sie einen einfachen Beruf erlernen würden, nicht? Das Problem dabei ist aber, dass man sich nicht mehr umentscheiden kann, wenn man erst einmal drin steckt. So lief es, bis mein Dad es wagte diesen Kreislauf zu unterbrechen und sich damit viele Feinde gemacht hat«, erzählt Casper und lacht freudlos, während ich die Stirn runzle.

»Heißt das, dein Vater war also kein Waffendealer?«, frage ich – die Geschichte erweckt mein Interesse sehr. Ich fühle mich wie im Kindergarten, in einer der Geschichtsstunden, die ich so mochte, aber das hier ist natürlich was Echtes und Ernstes.

»Doch, war er. Seit seiner Jugend sogar. Er hat da mitgemacht, aber je besser das Geschäft lief, desto grausamer wurden die Maßnahmen der Gang– sie haben Menschen gefoltert und getötet. Dass sie angefangen haben, noch dazu Menschenhandel zu betreiben, gab meinem Dad den Rest und er entschloss sich dort auszusteigen. Es war schrecklich für ihn, er war nicht damit einverstanden auf diese Weise Geld zu machen. Der Handel mit den Waffen war ihm auch nie richtig geheuer, doch er hatte, wie gesagt, keine Wahl. Er wollte mit seinem besten Freund Jo, der ebenfalls ein Mitglied war, zusammen austreten. Sie haben schon lange vorher Vorbereitungen getroffen – in ein anderes Bundesland umziehen, aber davor noch über das illegale Geschäft auszupacken, um danach in Zeugenschutz zu gehen. Meine Mutter wusste nichts von der ganzen Sache, mein Vater hat ihr nie etwas erzählt, nur ich wusste es. Und dann hat Jo–«, er bricht plötzlich zitternd ab, vergräbt sein Gesicht in den Händen und schüttelt unaufhörlich den Kopf. »Er hat...«

»Casper? Was hat dieser Jo gemacht?«

Mir gelingt es nicht zu verhindern, dass ich dabei ängstlich klinge und anzweifle, ob ich Casper wirklich dazu bringen soll weiter zu sprechen.

»Wieso willst du es wissen, Xander, was bringt dir das?«

Ja, was bringt mir das?

»Seit ich dich kenne, hast du Geheimnisse vor jedem, vor mir. Das mit Rex, als wir bei der Wahrsagerin waren und noch dazu dein scheiß unheimlicher Raum, der hinter deinem Kleiderschrank versteckt war! Und jetzt möchte ich…« Gestikulierend ringe ich nach Worten und seufze tief. »Ich möchte dich, verdammt noch mal, verstehen!«

Casper wendet sich von mir ab und läuft erneut ruhelos durch den Raum. Er hat anscheinend Hummeln im Arsch oder so.

»Hör damit auf«

»Womit aufhören?«

»Mich derart anzusehen«

»Wie sehe ich dich denn an?«

»So mitleidig«

»Oh, sorry, dass ich Mitleid mit meinem besten Freund habe«

»Wir sind schon lange keine Freunde mehr«, sagt er, als würde er mich durchschauen und wissen, dass ich mir genau diesen Satz gewünscht habe, aber andererseits könnte man es auch andersherum interpretieren – dass wir nicht mal mehr Freunde sind.

»Ich weiß. Seit du mich in der Dusche geküsst hast, hat sich einiges verändert«

Ein leicht schiefes Grinsen entsteht auf seinem Gesicht. »Du warst nackt – ich konnte nicht widerstehen«

Soll ich fragen? »Wieso hast du gerade eben widerstanden?«

Sein Ausdruck wird zusehends entschlossener, als er erwidert: »Weil wir das nicht dürfen«,

Erneut dieser Scheiß Druck, der nicht verschwindet. »Was heißt das jetzt?«

Casper fährt sich über die Augen und legt seinen Kopf in den Nacken.

»Das aus uns nie was werden wird«, erklärt er mit ruhiger Stimme. Es kostet mich zwar Überwindung, aber ich lasse seinen Satz unkommentiert und lenke ab: »Du weichst vom eigentlichen Thema ab. Erzähl, was Jo gemacht hat«

»Er hat meinen Dad an die Gang verraten, hat ihnen gesagt, dass mein Vater es allein durchziehen und die Händler bei der Polizei anschwärzen wollte. Als würden sie sich nicht schon seit dem Kindergarten kennen. Er hat nicht darüber nachgedacht oder war zu dumm dafür, um zu erkennen, was für Nachwirkungen sein Verrat haben wird«, rattert er monoton herunter wie ein Roboter.

»Und welche Nachwirkungen waren das?«

Mittlerweile versuche ich mich innerlich zu wappnen auf das, was ich vielleicht erfahren werde – in mir keimt eine ungute Ahnung und sie gefällt mir überhaupt nicht.

»Das möchtest du wissen? Bist du überhaupt bereit dafür?«

»Das werden wir erst herausfinden, wenn wir es darauf ankommen lassen, nicht?«

Eine längere Peuse entsteht, bei der er mich aus glänzenden Augen nur nachdenklich ansieht, dann geht so was wie ein Ruck durch seinen Körper und er scheint seine Bedenken über Bord zu werfen.

»Okay, du hast es herausgefordert, hebe deinen Hintern, wir werden jemanden besuchen«

 

***

  

Auf der endlosen Fahrt in Caspers Auto muss ich wohl eingenickt sein, denn als ich die Augen öffne ist es bereits dunkel draußen und wir parken vor einem beachtlich großen, weißen Landhaus mit mindestens drei Etagen und dunklen, niedrigem Dach. Mehrere weitreichende, grüne Hecken, innen ein Meer verschiedener Sorten von Blumen, umgeben das Grundstück, den Rest kann ich nicht ausmachen. Man kann es lediglich in der Dunkelheit erkennen, weil die Scheinwerfer des Wagens drauf scheinen. Deswegen wirkt es auch wie aus einem Horrorfilm, wo eine Familie einen Neuanfang plant und dazu gehört natürlich in ein Haus umziehen. Demzufolge geschehen dort merkwürdige und schreckliche Dinge, die sie sich nicht erklären können. Tja, am Ende sind entweder alle tot oder es gibt einen Überlebenden, der sowohl psychische und physische Schäden davongetragen hat. Ich kann solche dummen Streifen nicht ausstehen, sie sind mir zu vorhersehbar. Das hier ist jedoch kein blöder Film, sondern meine Realität – ich habe keinen blassen Schimmer, was mich dadrin erwartet.

»Willst du mich in diesem Haus umbringen, in kleine Stücke sägen und dann im Garten vergraben?«, scherze ich und drehe mich zu ihm.

Casper geht nicht darauf ein und schweigt über meinen schlechten Witz – er starrt bloß auf das Gebäude vor uns, seine Mimik kann ich auch nicht deuten. Ohne irgendetwas zu erklären steigt er aus dem Auto und ich tue es ihm hastig gleich, weil er keine Anstalten macht auf mich zu warten und sich schnellen Schrittes Richtung Treppe zur Eintrittstür bewegt. Bevor ich bei ihm angelangt bin, drückt er auf eine breite Klingel, worauf „Besucher“ geschrieben ist, und nach wenigen Sekunden erklingt eine verärgerte, verschlafene Frauenstimme aus dem Lautsprecher daneben: »Die Besucherzeit ist schon längst um, junger Mann«

»Woher–«, setze ich an, aber Casper deutet mit einem Finger nach oben. Ich folge seiner Deutung und erblicke in der Ecke oberhalb der Tür eine Kamera, die geradewegs auf uns gerichtet ist.

Wo sind wir hier verdammt?

»Ich habe die vierundzwanzig-Stunden-Erlaubnis! Überprüfen Sie das, mein Name ist Casper Kolec«, wendet er sich ungeduldig an die Frau.

Mir reicht es! Knurrend packe ich ihn mit festem Griff am Oberarm und zwinge mich anzusehen.

»Casper wärst du so nett und sagst mir bitte, wo du mich hingebracht hast? Was soll dieser Scheiß?«

Die Frauenstimme, diesmal bemüht freundlich, meldet sich wieder zu Wort: »Hallo? Entschuldigen Sie mich, dass ich Sie nicht erkannt habe, Mr. Kolec, aber es ist auch so dunkel draußen! Bleiben Sie, so lange bei ihrer Schwester wie Sie wollen, schönen Abend noch«

Ein Klicken ertönt und Casper kann die Tür öffnen. Das Licht springt automatisch an, sowie wir in eine Eingangshalle eintreten und danach in einen Flur abbiegen. Der Boden ist mit blauem Teppich ausgelegt und die Wände sind weiß gestrichen, aber neben jeder Tür ist eine Nummer aus Metall abgebracht und ein Kärtchen mit dem jeweiligen Namen.

»Casper?«, spreche ich ihn vorsichtig an, als er vor einer unscheinbaren Tür Nummer neun anhält.

Ich weite schockiert die Augen, als der letzte Satz der Frau einen Weg in meinen Verstand findet, und mir bleibt die Spucke vollkommen weg, sodass nur ein gekrächztes „Kolec“ herauskommt, das neben der Tür Nummer neun befestigt ist.

»Ist es das, was ich denke, was es ist? Denn wenn ja, dann bist du das verlogenste, gemeinste Schwein aller Zeiten«, flüstere ich und kriege meine zitternden Hände bis zum Verzweifeln nicht unter Kontrolle.

Das kann unmöglich wahr sein. Er hat mich doch nicht jeden Tag aufs Neue belogen? Mir schwirrt alles.

Suchend sehe ich in sein Gesicht, um zumindest Schuld darin zu entdecken, aber es ist nicht da außer der Gefasstheit. Dampfend vor Wut bin ich kurz davor umzukehren und ihn mal, ohne Fahrgelegenheit nach Hause, stehen zu lassen, jedoch entscheide ich mich dagegen. Ich bin nicht Casper.

»Xander, bitte, ich erkläre dir alles was du willst, nur, folge mir da hinein«, bettelt er und legt die Hand auf die Türklinke. Seinem flehenden Blick kann ich nicht widerstehen, was ich ihm mit einem resignierten Seufzen zu verstehen gebe. Sofort drückt er die Klinke herunter, schleift mich rasch an meinem Pullover mit sich rein – womöglich aus Angst, ich würde es mir wieder anders überlegen – und schließt ganz behutsam die Tür hinter uns zu.

Es ist dunkel, Casper lässt mich los und macht eine Lampe an, die neben einem Krankenbett auf einem Nachttisch platziert ist. Der Raum ist eher steril gehalten, in Pastellfarben, blitzblank sauber und doch angenehm. Im Bett liegt eine junge Frau mit orangen Haaren, ungefähr in unserem Alter und offensichtlich schlafend. Sie kommt mir seltsam bekannt vor. Dann fällt es mir schlagartig ein – von ihr hängt ein Portrait im Cheese Schloss, welches ich am allerersten Tag dort gesehen habe!

Ich mache den Mund auf, um die Fragen zu stellen, die auf meiner Zunge brennen, aber Casper kommt mir zuvor.

»Das ist meine Zwillingsschwester, Sara«

„WAS?!“, hätte ich am liebsten dramatisch gebrüllt.

»Du hast eine…Zwillingsschwester«, stelle ich unnötigerweise fest und es ist selbst für mich überraschend, dass ich so emotionslos klingen kann.

Er stützt sich am Bettgestell ab, streicht seiner Schwester eine Strähne aus dem schmalen Gesicht und streichelt dabei zärtlich ihre Wange. Dieser Augenblick ist so intim, dass ich mich kurzerhand abwende.

Aber plötzlich fängt er leise an zu reden und sein Augenpaar durchdringt mich in dem gedimmten Licht. »Nachdem Jo Dad verraten hat, hat jemand aus dem Geschäft meiner Familie drei besten Lakaien aufgetragen, meinem Vater eine deftige Lektion zu erteilen«

Noch immer lehne ich an der Tür und wage es nicht, mich von diesem Platz zu entfernen, ihm näher zu kommen, oder darüber nachzugrübeln, worauf seine Erzählung hinausläuft.

»Was für eine Lektion, Casper?«

»Es waren drei Männer«, sagt er im Flüsterton. »Sie sollten ihm zwar nur eine „Lektion“ erteilen, doch alles ist schief gelaufen. Ich ging von einer Party meines besten Freundes spät Nachts, angetrunken und zu Fuß nach Hause. Hinter dem Schuppen musste ich mich dringend übergeben und bemerkte deswegen erst beim ersten Schuss, dass ein fremdes Auto bei uns in der Einfahrt war. Dann noch ein Schuss und ich sah meinen Dad durch das Wohnzimmerfenster – er hat mich auch entdeckt und mir zu verstehen gegeben, dass ich wegrennen soll. So blau wie ich war, tat ich es und lief los. Aber als ich den dritten und letzten Schuss hörte, wusste ich trotz des ganzen Alkohols, wer damit erschossen wurde und habe aufgeschrien, ich war so dumm! So fanden sie mich auch, aber ich entwischte ihnen. Die Drei verfolgten mich lange, bis zum Morgen, dann wurden sie per Handy angerufen und hauten überstürzt ab. Ich war nicht mehr betrunken und mir war völlig klar, was ich tun musste, also rannte ich wieder nach Hause, nahm mir die Videoaufnahmen und schaute sie an. Mein Vater hatte schon immer ein leichtes Paranoia und installierte deswegen fast überall versteckte Kameras, die das Aufgenommene zu seinem persönlichen Computer sendeten. Diese Aufnahmen, auf denen ich detailliert sah, wie meine Eltern ermordet und meine Schwester lebensbedrohlich verletzt wurde, gab mir den Rest – ich drehte völlig durch und vernichtete die einzigen Beweise gegen diese Mörder, indem ich komplett und unwiderruflich die Videoaufzeichnungen löschte. Die Polizei fand mich mittags auf dem Boden liegend, neben meiner Schwester. Ihr hatte man in den Kopf geschossen, sie erlitt ein Schädelhirntrauma und überlebte nur knapp. Jetzt ist sie aber von der Hüfte abwärts gelähmt und stumm. Die Ärzte wissen nicht, ob sie einfach nicht sprechen möchte oder nicht kann. Und, hast du immer noch Lust mir zu helfen? Mit dir kann nämlich Ähnliches geschehen«

Stockend atme ich ein, schlucke einen übergroßen, schweren Kloß herunter, atme keuchend aus. Durch die Nase frische Luft zu tanken erscheint mir viel sicherer, ich könnte sonst anfangen zu schreien. Das ist alles so absurd, verrückt, unmöglich, sowas gibt es nur in Actionfilmen!

Ob ich immer noch vorhabe ihm zu helfen? Keinen Schimmer! Ich weiß nicht mal richtig wobei! Ich bin zu verwirrt, um gründlich zu überlegen. Wie kann er nur so ruhig bleiben? Unverändert sieht er mich an und hat sich kein Stück gerührt, wie eine Statue sieht er aus.

Ich kann durchaus verstehen, wieso er seine Zwillingsschwester vor mir geheim gehalten hat – ich hätte ihn ausgefragt und das hat er vermieden. Doch ich habe stets angenommen, seine Eltern wären bei einem Autounfall gestorben, das hat er ein einziges Mal erwähnt und ich war einmal so taktvoll und habe nicht weiter nachgebohrt.

»Casper…«, fange ich an, weiß im Grunde nicht, was ich nach dieser Geschichte sagen soll. Ich habe noch nicht alles realisiert, es fühlt sich an, als ob es eben nur eine ausgedachte Geschichte ist und nicht das, was Casper passiert ist. Nun ergeben die Fotos bei ihm im Geheimraum mehr Sinn – vorausgesetzt ich habe recht, plant er seine Rache gegen die Kerle, die das seiner Familie angetan haben oder zumindest forscht er über sie nach. Das sind die einzigen logischen Erklärungen für sein Verhalten und die vielen Fotos von den Kriminellen, die er aufgehängt hat.

»Ich bin noch nicht fertig. Wenn schon, denn schon, ist das nicht dein Motto? Du hast es darauf angelegt und ich habe noch einige Geheimnisse auf Lager –«

»Warte!«, stoppe ich ihn. »Macht du das nur, um mich abzuschrecken, oder weil du mir vertraust?«

Ein nichtssagendes Schulterzucken. »Ist das nicht egal?«

»Nein, ist es nicht, verdammt! Du machst mich echt fertig, Casper«, gebe ich etwas lauter zu und lass mich an der Tür nach unten gleiten, die Beine strecke ich zur voller Länge aus. »Du bist in der Schule aufgekreuzt, so übermäßig geheimnisvoll und machst mich seit dem total fertig!«

Er macht einen Schritt auf mich zu und noch einen, hält vor mir inne und seine Füße tippen gegen meine.

»Das hatte ich nicht vor. Es tut mir Leid, dass ich…das alles mit dir mache, aber wie konnte ich voraussehen dich zu treffen?«, meint er zum einen Teil entschuldigend und zum anderen anklagend.

»Was meintest du? Hattest du einen bestimmten Plan oder was?«

»Ich habe versucht, jeden von mir fernzuhalten, damit es nicht kompliziert wird«, seufzt er. »Aber du hast es mir so richtig schwer gemacht«

Ich soll es ihm schwer gemacht haben – eher umgekehrt!

Widerwillig entschlüpft mir ein Glucksen und meine Stimmung steigt um einen Grad, jedoch erinnere ich mich wieder wo wir sind und worüber wir noch vor einer Minute gesprochen haben. »Welche Geheimnisse hast du noch?«

»Du wirst mich hassen!«, weicht er unerwartet panisch aus, schiebt mich von der Tür weg und geht einfach raus.

Die Information, dass er erneut abgehauen ist, erreicht mein Gehirn erst, als ich durch die Stille des Hauses seine sich entfernenden Schritte höre. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und sprinte ihm hinterher.

Warum hat er weitere Geheimnisse überhaupt erwähnt obwohl er sie nicht preisgeben will? So ein Trottel!

Casper ist am Ende des Flures, da gelange ich zu ihm und wirbele ihn zu mir herum. Regelrechte Panik und Schuld ist in seinen Augen zu lesen und das erschreckt mich, ich habe ihn noch nie so gesehen. Er war ständig so unnahbar und hat mir seine Gefühle nicht so offen gezeigt. Gott, es rührt mich! Wegen diesem Typen werde ich weich und mein Zorn flaut ab.

Wieso hat er so Angst, dass ich ihn hassen werde, was kann so schlimm sein? Ich kann es mir nicht vorstellen.

Streng sage ich: »Diesmal läufst du nicht davon, klar?«

Artig nickt er und überbrückt wie selbstverständlich den Abstand zwischen uns. Er lässt mich nicht aus den Augen. Das letzte Mal waren wir uns in der Gemeinschaftsdusche so nah und die Erinnerung daran lässt mich tief Atem holen um seinen Duft in die Lungen saugen. Zeitlupenartig, wie ferngesteuert, hebt sich meine rechte Hand zu seinem Nacken, krallt sich dort in die Haare und zieht seinen Kopf zu meinem herunter. Durch den Stoff unserer Shirts kann ich sein pochendes Herz spüren – Casper ist genauso aufgeregt wie ich. Dann halte ich es nicht mehr aus und presse die Lippen hart auf seine, gierig bewegen sie sich aufeinander, dann greift er flink hinter mich und führt uns zusammen, noch küssend, in irgendein Zimmer, knallt die Tür hinterher zu. Zuerst drücke ich ihn heftig an die Wand, es kracht – ein Bild in einem Fotorahmen ist hinter ihm zerschellt, aber das beachten wir nicht – danach dreht er uns um und schiebt mich gegen einen Tisch, bis ich darauf sitze und die Beine spreize, damit er sich dazwischen stellen kann. Mir entgeht dabei nicht, wie diese Situation der mit Alessia ähnelt.

Seine Zunge erforscht stürmisch meine Mundhöhle und die Hände fahren unter dem T-Shirt meinen Rücken entlang, bis ich ich es ausziehe und er so mehr Fläche hat, während meine damit beschäftigt sind mit seinen Nippeln zu spielen, was ihn zum Stöhnen bringt.

Vergessen ist das Thema Caspers Familie und was er noch vor mir verbirgt, in diesem Moment hat nur noch unser Kontakt eine Bedeutung. Es ist mir vollkommen klar, was wir hier tun und ich will mehr davon, mehr von ihm, weshalb ich mich löse und ihn auf das schmale Krankenbett dränge.

»Xander«, flüstert er heiser, als ich mich breitbeinig auf seine Mitte gesetzt habe und mich fordernd dran reibe.

»Casper«, ahme ich ihm nach.

Grinsend zerre ich nun sein Shirt über den Kopf und schmeiße es zur Seite, bevor unsere Lippen wieder aufeinander treffen. Und, oh Himmel, wann hat es sich je so gut angefühlt – nicht im Mindesten falsch oder gar ekelhaft. Scheiß auf alle Vorurteile, ich habe mich um sie sowieso nie gekümmert und meine vorigen Bedenken erscheinen mir momentan lächerlich.

In Atemnot müssen wir von einander ablassen, Caspers Erhebung in der Jeans macht mich extrem an, was auch durch meine eigene Härte zum Ausdruck kommt.

»Du rennst also nicht vor mir weg, sobald ich deinen Namen stöhne?«, neckt er mich lächelnd – keine Panik oder Schuld in seiner Miene.

Ich nehme seine Hand und führe sie zu meiner Hose. »Bis das hier weg ist renne ich nirgends hin«

Er streicht mit der freien Hand über meine Brust und gelangt an den Hosenbund, knöpft sie konzentriert auf und wirft mir einen seiner undeutlichen Blicke zu. »Gut, ich auch nicht«

Gemächlich beuge ich mich vor und küsse ihn so kurz und wild, dass er gar nicht erwidern kann, um darauf seinen Hals zu erkunden und mich gleichzeitig umständlich aus meiner Hose und den Boxershorts zu befreien. Casper mustert mich und schluckt, ich reiße ihm die Jeans von den Beinen, knie mich vor seine Erregung, aber er hält mich auf: »Bist du sicher–«

»Jetzt fange nicht mit dieser „Bist du dir sicher, dass du das willst“ - Sache an. Ich weiß genau, was ich tue, okay?«

»Okay«, keucht er, weil meine Lippen mit viel Zungeneinsatz seine Oberschenkel liebkosen. Also wende ich mich mit einem nervösen Kribbeln dem aufrecht stehenden Schwanz, nehme ihn in die Hand, fahre einmal auf und ab und schließe meinen Mund um ihn, ehe ich es mir anders überlege. Es ist…ungewöhnlich und eigentlich nicht so angenehm wie ich gedacht habe, doch sobald ich Caspers Stöhnen vernehme und er sein Becken anhebt, um noch mehr abzukriegen, steigert sich sogar meine eigene Lust und ich gebe mir mehr Mühe – ich lecke seiner Länge nach, verweile kurz saugend an seiner Spitze, wiederhole es mehrere Male.

Vielleicht…?

»Casper? Äh…möchtest du vielleicht…richtigen Sex?«, stottere ich und wirke sicher wie ein unerfahrenes Mädchen. Scheiße! Bei Finn war ich doch fast gar nicht angespannt! Aber was wundere ich mich – bei Casper ist schließlich alles problematischer.

Dieser grinst wie ein Honigkuchenpferd, sammelt seine Jeans vom Boden auf und holt aus seinem Portmonee ein Gummi raus, welches er mir in die Hände legt. »Du darfst heute zuerst ran, ich schätze, du wurdest noch nie von hinten gefickt?«

Sprachlos starre ich ihn an – wo ist der verschlossene, wortkarge Casper geblieben? So redet er nicht!

»Das war nur Spaß, Xander. Guck nicht so bedeppert«, lächelt er, schlingt seine Arme um meinen Rücken und küsst mich zärtlich und unschuldig. »Dass du zuerst darfst, meinte ich aber ernst«, flüstert Casper mir ins Ohr und nimmt mir das Gummi wieder ab – ich habe es noch nicht benutzt – um es mir selbst überzustreifen. Ein überraschtes Keuchen entrinnt meiner Kehle als seine Finger mich berühren. Ich beuge mich erneut zu ihm herunter, sauge an seinen Nippeln, küsse jeden Fetzen seiner Haut, auch die feinen Narben, und führe begleitend einen Finger in ihn hinein, nach einem Zeitabstand auch den zweiten. Seine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig, die Augen sind aufmerksam auf mich gerichtet und der Mund steht leicht offen.

Es ist wie mit Finn und doch komplett anders, hier werde ich nicht satt davon, zu sehen, wie er sich bei jeder meiner Berührungen ruhelos windet.

Casper grabscht mit beiden Händen meinen Hintern, umschließt meine Körpermitte locker mit den Beinen, sodass ich meine Finger aus ihm nehmen und mich mit den Armen abstützen muss, um ihn nicht sofort aufzuspießen.

»Warum so ungeduldig?«, frage ich übers ganze Gesicht grinsend.

»Weil ich du mich verdammt noch mal durchficken sollst!«, antwortet er scherzend, lachend, bricht jedoch ab und ersetzt es erst durch einen beinahe unvernehmlichen Schrei und demzufolge durch leises, aber intensives Stöhnen, in das ich einstimme, sobald ich mich in ihm versenke. Pures Glücksgefühl durchströmt mich, es scheint, als ob ich niemals sowas empfunden hätte und als ob niemand außer Casper so etwas auslösen kann. Die überkreuzten Beine hinter meinen Rücken pressen mich fester an den erschauernden Körper und er ruckt mit dem Becken, das hilft einen perfeken Winkel zu finden. Außerdem beginnt er sich selbst zu befriedigen, was meine Erregung fast ins Unermessliche steigert. Wie in Trance werden unsere Bewegungen einstimmiger.

Umständlich küsse ich ihn und muss mich dabei etwas verrenken, doch dafür diese angefeuchteten Lippen zu schmecken, lohnt es sich allemal. Ein paar Haarsträhnen lösen sich mir aus dem Pferdeschwanz am Hinterkopf und er schiebt sie liebevoll hinters Ohr zurück, dadurch jagt eine Hitzewelle die nächste. Ich keuche angestrengt und kann beobachten, wie Casper eine Gänsehaut bedeckt, als ich auf seinem linken Arm Küsse austeile und dann einen von den Fingern in den Mund stecke. Der Gesichtsausdruck des unter mir liegenden verzerrt sich lustvoll. Sein Massieren wird abgehackter, wie auch mein Stoßen und er kommt vor mir, spritzt alles auf unsere Bäuche, begleitet durch ein noch geräuschvolleres Keuchen.

Auch ich kann es jetzt nicht mehr zurückhalten, nicht zuletzt weil es verdammt eng wird, die gesammelte Lust, die sich in unserer Vereinigung konzentriert, schwappt über. Mein Sichtfeld verengt sich bis auf den Punkt, wo sich seine ekstatische Mimik befindet und ich ergieße mich zum Schluss stöhnend. Diese tiefschwarzen Augen nehmen mich für einen Augenblick gefangen – dort glaube ich tatsächlich sowas wie Liebe zu lesen – bevor ich schwer atmend auf das Bett rolle, wobei er rücken muss, damit wir beide auf dem schmalen Krankenbett Platz finden.

Ich beseitige rasch alle Spuren, auch die Caspers, mit Hilfe von Papiertaschentüchern, die ich im Waschbecken anfeuchte. Sobald das erledigt ist, lege ich mich zu ihm zurück und er schlingt daraufhin ein Bein besitzergreifend um meinen Körper.

Wange an Wange schlummern wir ein.

»Für dein erstes Mal hast du dich ganz schön professionell verhalten«, murmelt er schon halb im Schlaf, worauf ich  zusammenzucke.

Ob ich ihm sagen soll, dass es nicht mein erstes Mal mit einem Kerl war? Nein, ich darf auch Geheimnisse haben, entscheide ich kopfschüttelnd und lasse müde die Lider herunterfallen.

Kapitel 10.

Warme Sonnenstrahlen, die durch die cremefarbenen Vorhänge hervor dringen, blenden mich, ich bin aber schon seit einer Weile wach und habe Casper beim Schlafen beobachtet und nicht fassen können, dass wir das wirklich getan haben. Wie wird es jetzt weiterlaufen? Sind wir nun zusammen und werden uns outen oder will er es vor Allen geheim halten? Möchte ich überhaupt eine Beziehung mit ihm – dem etwas verrückten, mysteriösen Casper, der so viel erleiden musste und sich wahrscheinlich niemals vollständig davon erholen wird. Beschreiben, was ich bei dem Anblick empfinde ist schwer, weil es ganz neu ist. Ich kann nicht genau sagen was es ist, aber kitschig ist es allemal und ich hasse Kitsch, deswegen lasse ich es.

»Ich weiß, dass du mich anstarrst«, stellt Casper im viel zu ernsten Tonfall klar und öffnet die Augen.

Aus einem kommenden Impuls heraus, verteile ich Küsse auf seiner Brust, was ihm eine Gänsehaut beschert, und streiche mit den Fingerspitzen über die einzelnen Narben. Es sind viele – viel zu viele – und ich frage mich, wer ihm das angetan hat, oder aber, weswegen er sich das angetan hat.

»Hast du sie dir selber…«, hart schlucke ich und verbanne die Vorstellung dieses Szenarios aus meinem Kopf, aber er scheint auch so verstanden zu haben, denn seine Muskeln spannen sich spürbar an.

»Später« Er erhebt sich, schiebt mich von sich herunter, und klaubt seine, auf dem Boden liegenden, Klamotten auf. »Wir müssen heute eigentlich noch zur Schule, also steh auf, Xander.«

Was ist denn wieder in ihn gefahren? Plötzlich ist er kalt, als wäre nichts gewesen letzte Nacht. Bereut er es?

»Kein Guten-Morgen-Kuss?«, frage ich bemüht scherzhaft und strecke mich lippenspitzend zu ihm aus dem Bett. Das war wohl unpassend – Casper wird wie aus dem Nichts total wütend und versetzt mir so einen kräftigen Schubs, dass ich herunterfalle und mir dabei den Hinterkopf kräftig anschlage.

Im nächsten Augenblick haben mich zwei Arme in einer Umklammerung, in der ich mich nicht mal bewegen kann, Casper ganz nah an meinem Ohr murmelt:

»Tut mir Leid, tut mir Leid«

Seine Lippen wühlen sich durch die Haare zwischen uns und streichen mit Einsatz der Zunge zärtlich über meine. Sofort vergesse ich den schmerzenden Schädel und konzentriere mich ganz auf dieses Gefühl, es kommt mir vor, als würde ich irgendwo an der Decke schweben. So doll wie mein Herz schlägt, könnte es platzen und die sogenannten Schmetterlinge toben in mir herum, wie verrückt geworden. Ja richtig, genau das, und es macht mir gerade nicht so viel aus wie sonst, dass ich wie ein verliebter Softie denke.

Er löst sich als Erster und setzt sich dann mit dem Rücken ans Bettgestell, wir beide atmen etwas schwer, aber er beruhigt sich schneller.

Durch die Kühle des Fußbodens bemerke ich, dass ich ja noch splitternackt bin, springe deswegen auf und ziehe eilig meine Sachen über. Danach setze ich mich wieder zu Casper und lege meine Hand auf seinen Oberschenkel, die er prompt wegschnipst, als wäre es eine lästige Fliege und sogar aufsteht, um so mehr Abstand zu schaffen.

»Was ist denn?«

»Ist dir entgangen, wo wir hier sind? Im Pflegeheim meiner Schwester! Ich kann nicht fassen, dass wir es hier getan haben, das ist...respektlos«

Dieser Grund ist lächerlich, den hat er sich doch eben ausgedacht! Es ist was anderes.

»Was wir getan haben, lässt sich nicht rückgängig machen, klar? Sag mir, was tatsächlich los ist. Ist es das, was du mir gestern nicht gesagt hast? Von wegen, ich würde dich dann hassen?«

»Wir müssen zur Schule. Ich gehe jetzt, ob du mitkommst oder nicht.«

Und das tut er auch. Natürlich folge ich ihm auf den Fuß.

»Seit wann machst du dir solche Sorgen um die Schule?«

Ich kann nicht verhindern, beleidigt und angepisst zugleich zu klingen. Nur seine Augen wenden sich kurz auf mich, der Rest bewegt sich weiterhin Richtung Ausgang und er antwortet nicht.

»Casper!«

Ich hechel ihm nach, wie ein dummer Köter und kriege ihn nicht zu fassen – er ist mir stets einen Länge voraus.

»Nein, lass es, Xander«

»Antworte mir, verdammt noch mal. Fall nicht wieder in dein altes Scheiß Schema und lauf vor mir weg. Gestern hast du mir doch vertraut, wieso heute nicht mehr?«

Ohne mich zu beachten, dreht er den Zündschlüssel um und ich steige hastig ebenfalls ein, falle beinahe auf den Sitz, falls er ohne mich losfahren sollte. Das würde ich ihm durchaus zutrauen. Der Weg nach Hause wird lang und sicher unangenehm.

Ich habe angenommen, dass er mir ab nun alles erzählen würde, keine Geheimnisse mehr vor mir haben würde, aber mir wird klar, dass ich ihn immer noch nicht verstehe – ich verstehe nicht, warum er sich zum Beispiel so benimmt oder was in ihm vorgeht, ich weiß fast nichts über ihn, weil er es nicht zulässt. Okay, er hat mir zwar das mit seiner Familie anvertraut, doch seine Gefühle hat er nicht wirklich preisgegeben. Wie steht er zu mir, zu dieser komplizierten „Beziehung“, wenn man es denn so nennen kann, und zu der Sache mit seiner Schwester. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für ihn sein muss, sie so zu sehen und ich kann nichts für ihn tun, wenn er es mir nicht erlaubt. Aber trotzdem will ich nicht aufgeben, zumindest weiter versuchen kann ich ja – wenn nicht ich, wer dann? Er braucht definitiv Hilfe, die Fotos an den Wänden seines Geheimzimmers sprechen Bände, das ist nicht gesund.

Nach einem tiefen Atemzug, der meine Wut auf ihn endgültig verschwinden lässt, frage ich vorsichtig, voller Unsicherheit, die ich verfluche:

»Was war es für dich?«,

»Das war ein Fehler, ich hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen.«

»Das hast du nicht gesagt! Halte an!«, platzt es aus mir heraus und mein Gehirn fängt an zu pochen, weil zu viel Blut aufeinmal nach oben steigt.

»Xander–«, versucht er mich noch zu beruhigen, aber ich ergreife schon das Lenkrad und reiße es ohne zu überlegen zur Seite. Mit quiwtschenden Reifen schlingert der Wagen nach rechts und Casper dreht brüllend den Lenker in die andere Richtung, tritt voller Wucht auf die Bremse. Die Vorderseite des Autos versinkt jedoch krachend in dem Graben am Straßenrand und keiner kann mehr was dagegen machen. Es hat sich nicht gut angehört – als wäre vorne etwas zerbrochen, wahrscheinlich die Scheinwerfer. 

»Bist du völlig durchgeknallt?«, schreit er, öffnet mühevoll die Fahrertür und schleift mich gleichfalls raus, wie ein widerspenstiges Tier schlage ich um mich und treffe doch nur die Luft. Obwohl ic doch angeschnallt war, Zhabe ich mir heute zum zweiten Mal den Kopf angeschlagen, vieleicht hat es Nachwirkungen? Beispielsweise, dass ich meine Treffsicherheit eingebüsst habe?

»Warum hast du das getan, Xander? Wir hätten draufgehen können, wenn hier Gegenverkehr gewesen wäre«, seine Stimme verliert nicht an Lautstärke, während er mich auf das Gras drückt und meine Hände fest im Griff hat, wobei ich mich heftig wehre. Möglicherweise liegt es an Adrenalin oder ich bin aus der Übung, doch im Moment ist er einfach stärker als ich.

»Arschloch! Du bist ein verdammtes Arschloch. Glaubst du, du kannst alles mit mir machen und ich nehme es hin? Dass du mich verwirren darfst, mich mehrmals stehen lassen darfst und alles vor mir verbergen willst? Dass wir den besten Sex meines Lebens haben und du es dann als Fehler bezeichnest und es geht mir am Arsch vorbei?«

Ich winde mich wie ein jämmerlicher Wurm unter seinem bohrendem Blick. Was labere ich bloß für ein Scheißdreck? Bester Sex meines Lebens? Habe ich das im Ernst ausgesprochen? Oh mein Gott, ich möchte sterben – oder besser das Gesagte zurücknehmen. So etwas sieht mir nicht ähnlich – der Xander, den ich bisher gekannt habe, zerbricht sich nicht den Kopf darüber, was andere Menschen denken. Wo ist dieser Xander hin? Hat Casper mich derartig beeinflusst, dass ich mich selbst nicht mehr erkenne? Das ist beängstigend.

Und dann küsst mich dieser Idiot unerwartet, so intensiv, wie noch nie zuvor und ich ergebe mich nach einer Sekunde, erschlaffe ganz und wehre mich nicht länger gegen seinen Schraubstockgriff.

Meine Vernunft befehlt mir hartnäckig, ihn weg zustoßen, es wäre leicht, da er abgelenkt ist, aber irgendwas hält mich dennoch auf, ich kann es nicht. Erst als er aufhört mich um den Verstand zu küssen, erhebe ich mich stolpernd und falle sogleich ins Gras, vergrabe mein Gesicht darin und knurre einmal wütend.

Es scheint doch wohl so, dass er alles mit mir machen kann!

»Was hast du mit mir angestellt, Casper Kolec?«

»Dasselbe muss ich dich fragen, Alexander Rayn«

»Ach, und warum das? Du bist derjenige, der einen überzeugten Hetero umgepolt hat und seine Spielchen mit ihm treibt«, erwidere ich bissig und drehe mich auf den Rücken, er gesellt sich zu mir.

»Übertreibe es nicht, Xander, ich treibe keine Spielchen mit dir und eigentlich bist du selbst Schuld – du bist schier unwiderstehlich«

Versucht er grad zu scherzen, so wie ich es in solchen Situationen pflege zu tun? Er sollte es lieber lassen, ihm gelingt es noch weniger als mir.

»Und du bist unausstehlich.«, entgegne ich, weil mir sonst nichts Besseres einfällt und verschränke im Liegen die Arme vor der Brust, denn die Hände können nicht allein durch meine Willenskraft davon abgehalten werden, den Kerl neben mir auf irgendeine Weise zu berühren. »Warum benutzt du meinen Namen so oft? Das nervt«

»Ich mag deinen Namen, er passt eben zu dir«, erklärt er und streicht mir eine Strähne hinters Ohr, was Erinnerungen an die vorige Nacht weckt und mir einen heißen Schauer verschafft, der sich mehr und mehr in ein Verlangen umwandelt. Ich unterdrücke es angestrengt und krächze:

»Aha…«

»Ich ruf den Abschleppdienst an«, sagt er und holt sein Handy aus der Hosentasche.

»Wecke mich, wenn es soweit ist« Damit schließe ich die Augen und tue so, als würde ich einschlafen, aber in Wahrheit bin ich total angespannt und horche auf jede seine Bewegung, nach einer Weile voller Langeweile jedoch, drifte ich unmerklich weg, in meine Träume, in denen es, wie jedes Mal, um Casper geht.

 

***

 

Der Abschlepper kommt und die lauten Geräusche wecken mich auf. Ich stütze mich auf die Ellenbogen und beobachte Casper dabei, wie er ein paar Scheine aus seinem Geldbeutel nimmt und dem Mann ihm gegenüber in die Hand drückt, das alles mit einer eher unzufriedenen Miene. Sie wechseln noch ein paar Worte, die ich aus dieser Entfernung nicht hören kann. Er scheint sauer zu werden und fuchtelt mit den Armen, der Mann dagegen schüttelt immer wieder entschieden den Kopf, bis Casper kehrtmacht und zu mir rüber stampft.

»Wir müssen ein Taxi rufen, weil das Auto nicht mehr anspringt, aber ich habe kein Geld mehr und meine Kreditkarte habe ich irgendwo verloren. Bei denen«, aufgebracht deutet er hinter sich, wo sie gerade dabei sind an dem Haken seinen Wagen aus der Grube zu heben. »können wir auch nicht mit«

Verwundert hebe ich die Augenbrauen, mir ist nicht klar, was das Problem ist. »Also ich habe keine Kohle mit, aber kannst du nicht deinen Onkel anrufen und der schickt einen Fahrer vorbei oder so?«

»Nein«, entfährt es ihm heftig und er stoppt sich selbst, spricht ruhiger weiter. »So weit kommt es noch, dass ich ihn um einen Gefallen bitte«

»Was hat er dir angetan, dass du ihn so sehr nicht ausstehen kannst?«, frage ich neugierig und bete innerlich, nicht wieder eine falsche Frage gestellt zu haben – bei ihm weiß man das ja nie, wie ich schmerzlich erfahren durfte.

Tief seufzend streckt er eine Hand nach mir aus und spielt mit meinen Haaren, dreht sie mal um den einen, dann um den anderen Finger, mit den Gedanken offenbar weit weg. Wie gern würde ich ihn noch einmal küssen. Derweil versuche ich mir jeden seiner Gesichtszüge einzuprägen, damit ich es nie wieder vergesse. Dieses Bedürfnis ist zwar ganz komisch, schließlich ist es nicht so, dass wir uns bald trennen, aber ich gebe dem nach.

Casper ist schön – wirklich schön. Seine Züge erscheinen einem Fremden vielleicht ein bisschen zu scharf, das spitze Kinn und vor allem die stechenden Augen. Ich jedoch habe ihn auch gesehen, als sie so weich wurden, wie Butter. Dieser Blick voller Gefühle, den er mir gestern beim Sex zugeworfen hat, hat sich mir ins Gehirn gebrannt und ich will es erneut spüren. Nach einer nicht allzu langen Zeitspanne gibt er sich einen Ruck und sieht mich resigniert an, entwirrt seine Hand aus meinen Haaren und lässt sie tatenlos an der Seite herunterhängen.

»Da du ja sowieso nicht lockerlassen wirst, wie ich dich kenne: Mein Onkel hat sich geweigert, Sara ins Schloss verlegen zu lassen. So hätte ich sie jeden Tag bei mir und müsste nicht zum Heim fahren um sie zu besuchen. Es ist genug Platz dafür und er ist steinreich, er könnte eigentlich die besten Pfleger und Geräte besorgen für Sara, damit sie im Schloss behandelt wird – aber er macht es nicht, sondern besteht darauf, dass man sie dort behält«

»Könntest du wirklich damit leben, sie jeden Tag so zu sehen? Das würde dich nur noch mehr belasten, als jetzt schon, oder habe ich unrecht?«, spreche ich meine spontane Überlegung aus und bereue es sofort. Was tue ich so auf überklug? Casper starrt mich an wie einen Alien, sagt nichts und winkt daraufhin Augenbrauen zusammenziehend ab.

»Du spinnst«

»Wenn du meinst«, beende ich das schwierige Thema. Da mische ich mich nicht ein, Casper kann da eigenständig beurteilen und entscheiden. Lieber möchte ich wissen, wie wir nun nach Hause gelangen sollen, ich habe nicht mal ein Handy oder Geld mitgebracht. Wenigstens kann er sich hier nicht vor mir verstecken oder mit seinem Auto abbrausen. Ich bin bekanntlich hartnäckig, diese Eigenschaft mag ich sogar an mir und ich lasse Casper nicht ohne Erklärung davon. »Da wir genügend Zeit haben, können wir doch gleich alles klären«

»Was gibt es da zu klären? Ich habe gesagt, dass es ein Fehler war. Ein Ausrutscher, Xander, akzeptiere es endlich.« Emotionslos und aufrecht steht er vor mir. Beobachtet er meine Reaktion? »Wir gehen die Straße hoch, bis zur Kreuzung vorne, dort fahren mehr Autos vorbei und es wird sich wohl einer finden, der uns mitnimmt«, setzt er hinzu, aber bleibt wo er ist.

Ich schließe die Augen und kämpfe gegen den Drang an, ihm ordentlich eine zu scheuern, meine Hände balle ich zu Fäusten. Wie ist es möglich, dass er mich so aufregt und ich ihn gleichzeitig so sehr mag? Nein, in diesem Augenblick regt er mich mehr auf als irgendwas sonst und ich kralle meine Finger in sein T-Shirt, ziehe Casper daran ziemlich grob zu mir näher, er leistet keinen Widerstand.

»Hör zu, ich verstehe nicht, wo dein verficktes Problem liegt, warum du versuchst mich ständig von dir fernzuhalten und glaubst, ich würde dich hassen nachdem du mir jegliche deiner Geheimnisse erzählst. Natürlich muss ich nicht alles über dich und deine Vergangenheit wissen, aber wenigstens das, was du gerade für Pläne hegst, absurde Racheaktionen oder was auch immer. Es betrifft mich nun auch und es ist zu spät, um mich da raus zu halten, okay?!«

Er umgreift meine Hände, die fest sein Shirt zusammenknüllen und lehnt seine Stirn gegen meine. Ich halte den Atem an, doch er macht keine Anstalten mich zu küssen.

»Xander, du hast nicht den Hauch einer Ahnung in was du dich da einmischst. Du hast dir den Großteil zusammengereimt, aber es gibt noch so viel, was du nicht–«

»Wir hatten geilen Sex und du kannst nicht leugnen, dass es dir gefallen hat. Also bezeichne es nicht als beschissenen Fehler! Ich lasse dich nicht in Ruhe, egal was du tust oder sagst, dir soll das in den Schädel gehen. Ich möchte dir helfen auch wenn es bedeutet, dass ich mich in Gefahr begebe, weihe mich in deine Pläne ein. Zusammen schaffen wir bestimmt viel mehr«, unterbreche ich ihn und bin gar nicht mehr aufzuhalten. Casper lächelt nachsichtig, wie es Erwachsene bei dummen Kindern tun und das bringt mich fast auf die Palme.

»Warum benimmst du dich so merkwürdig?«, knurre ich.

»Ich kann mich nicht entscheiden«, entgegnet er ehrlich klingend.

»Entscheiden?«

»Wenn ich dir meinen Plan verrate, wirst du möglicherweise darauf bestehen, mitzumachen, doch dann kannst du sterben und das darf nicht geschehen. Wenn ich dir dagegen alles über mich verrate, wirst du nix mit mir zu tun haben wollen und das ist beinahe ebenfalls so schlimm. Also was soll ich deiner Meinung nach tun?«

Zum Ende hin ist er immerzu leiser geworden bis er nur noch flüsterte. Ich bringe etwas Freiraum hinein, indem ich ihn an den Schultern zurück drücke, damit ich ihn besser einschätzen kann. Er sieht vollends verzweifelt aus. Vermutlich hat er oft über dieser Entscheidung gebrütet, mir allerdings fällt es leicht:

»Beides, du Egoist. Falls ich danach mitmachen will, lass es mich tun, du wirst mich nicht aufhalten können. Und falls ich nichts mehr von dir wissen will, dann hast du eben Pech! So simpel ist das«

Empört schnaubt Casper auf und setzt an, um zu widersprechen, aber ich komme ihm zuvor.

»Eine andere Möglichkeit hast du nicht, Casper«

Ich verschränke die Arme vor der Brust, um die Aussage zu unterstreichen, zu verdeutlichen, wie ernst es mir ist.

Ein leichtes Zucken geht über sein Gesicht und er kaut auf seiner Unterlippe, sodass ein Tröpfchen Blut hinaustritt. Gib auf, gib auf, wiederhole ich gedanklich wie ein Mantra. Dieses ständige hin und her geht mir auf die Nerven.

»Ich habe dich von Anfang an belogen, Xander«, sagt er letzten Endes.

»Das weiß ich doch, deine Eltern starben nicht bei einem Autounfall–«, beginne ich verwirrt.

»Nein, nicht das. Ich habe dich über mich belogen«

Er senkt den Blick. »Diese Störung des Sozialverhaltens, die ich angeblich vorgetäuscht habe und dass ich in dieses Heim für labile Jugendlich kam…das war gelogen«

»Was heißt das? Das du es nicht vortäuschen musstest, sondern–«

»Auch nein. Ich bin durchgedreht, als mich die Polizei fand, sie konnten mich nicht von ihr losreißen, ich habe rumgebrüllt und um mich geschlagen, habe dabei einen Polizisten verletzt und die haben mir Beruhigungsmittel verpasst. Mit keinem wollte ich sprechen, nicht mal eine Aussage konnte ich ihnen geben und jeder, der mir zu nahe kam, musste Schläge einstecken. Also zogen sie einen Psychiater hinzu und so kam ich zur Beobachtung in eine echte Anstalt, für psychisch gestörte Menschen. Ich weigerte mich etwas zu essen und das, was sie mir mit Gewalt einflößten, kotze ich wieder aus«

Er stößt Luft aus und seine Hände zittern unmerklich, während ich mir das Erzählte bildlich vorstelle und es sich anfühlt als ob sich mein Herz zusammenziehen würde. Casper ging es so dreckig und ich Idiot zwinge ihn nun das Erlebte auszusprechen und so muss er das theoretisch wiedererleben. Ich komme nicht auf die Idee, wütend zu sein, dass er mich solange verarscht hat, er tut mir nur unendlich  Leid.

»Antidepressiver waren an der Tagesordnung bei mir, aber die spuckte ich auch aus. Es sollte mir keiner den Schmerz nehmen, den ich verdiente. Eines Nachts habe ich mich in die Küche geschlichen und habe dort ein kleines Messer gestohlen. Ich fühlte mich so schuldig, dass ich nicht da war, als meine Familie mich gebraucht hat…« Casper fasst unwillkürlich an seine Brust und sofort verstehe ich. Mir steigen heiße Tränen hoch und mein Mund trocknet gleichzeitig aus. Irgendwie habe ich Angst weiter zuzuhören.

»Was hätte ein besoffener Jugendlicher gegen Profikiller machen können?« Er gibt sich doch nicht ernsthaft die Verantwortung für die Morde an seiner Familie?

»Nichts. Mittlerweile habe ich das kapiert, aber damals war ich verrückt vor Schuldgefühlen und den Erinnerungen an die schrecklichen Bilder. Ich musste mich selbst bestrafen, versank tiefer und tiefer in dem Loch. Ungefähr eineinhalb Jahre lang war ich nur eine leere Hülle, die mehrmals probierte sich umzubringen, auf die kreativsten Weisen, und nie bei den Psychiatern oder bei meinem Onkel, der mich besuchte, den Mund aufmachte. Sie spritzten mir ohne Ende etwas, damit ich die Pflegerinnen nicht verprügelte, sogar die Fingernägel machte man mir kürzer. An diesen Zeitraum kann ich mich verschwommen erinnern, nicht an die Einzelheiten. Ich fügte mir stets dünne und feine Schnitte zu, damit sie nicht allzu sehr bluteten und dadurch auffielen, denn duschen durfte ich eigenständig. Die Narben entstanden, weil ich sie wieder aufschlitzte, sobald sie verheilten. Die Ärzte brauchten nicht sehr lange, bis sie die Wunden entdeckten, aber da hatte ich bereits etliche. Sie waren schockiert und gaben mir noch mehr Tabletten. Einer der besten Psychiater des Landes kam in die Klinik und diagnostizierte die–«

»Hör auf, es reicht!«, fahre ich ihn an und bin kurz davor mir die Ohren zuzuhalten. Ist das jetzt etwa seine neue Strategie damit ich entgültig verschwinde oder sowas ähnliches? »Das ist doch Bullshit! Du versuchst mich bloß abzuschrecken!«

Er schüttelt den Kopf, hat sich jedoch unter Kontrolle im Gegensatz zu mir – ich atme unregelmäßig und würde ihm sehr gern den Mund zu halten, damit er schweigt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    »Das ist die volle Wahrheit, Xander, entschuldige. Ich hatte zwischendurch auch einigermaßen normale Phasen, in denen ich zwar übermäßig aggressiv und leichtsinnig war, jedoch trotzdem Herr meine Sinne. In diesen Phasen schlich ich mich raus und schlief mich durch die Weltgeschichte – da entdeckte ich auch meine Schwäche für Jungs – riskierte mein Leben, bevor ich in mein altes Loch fiel und freiwillig in die Anstalt zurückkehrte. Der gute Zustand hielt sowieso nie lange an, höchstens ein paar Tage. Als auch meine Spaziergänge entdeckt wurden, sperrten sie mich in die geschlossene Abteilung, aus der ich nicht raus konnte und es ging mir dadurch noch schlechter, das heißt, überhaupt keine „normalen Phasen“ mehr«

Kläglich fließen mir Tränen über die Wangen, ich wische sie mir schnell weg und umarme ihn fest. Verdammt, das hatte ich nicht erwartet, das ist mir zu viel! Womit hat er all diese Schicksalsschläge verdient? Die Tränen wollen nicht aufhören sich anzustauen, deswegen lasse ich Casper los und drehe ihm den Rücken zu. Wieso bin ich derjenige, der heult und nicht er? Plötzlich umschließen mich seine Arme von hinten und ich entspanne mich.

»Ich habe die Borderline-Störung, Xander, doch ich habe es in den Griff bekommen. Sie brachten meine Schwester einmal zu mir in die Klinik und seitdem ich sah, was diese Mörder mit ihr gemacht hatten, schwor ich Rache. Nur deshalb schaffte ich es wieder aus diesem schwarzen Abgrund aufzusteigen und hörte auf, mich selbst zu verletzen oder zu bemitleiden. Dieser Gedanke, Rache zu nehmen, half mir dermaßen, dass ich anfing, meine Tabletten zu nehmen und mich anzustrengen, wie eine gesunde Person zu wirken, bis ich den Psychiater überzeugen konnte, dass ich reif genug für eine Entlassung war«

Ich erschauere, als sein warmer Atem meine Haut streift und presse mich gegen ihn.

An jenem Tag, als er mit dem Auto so gerast ist und als er bei der Achterbahnfahrt aufgestanden ist, diese Ereignisse sind im Nachhinein schlüssig, wenngleich ich mir unter dem Borderline-Dingsda nichts Wirkliches vorstellen kann. Er hat mich angelogen und mir so vieles verheimlicht – trotzdem kann ich nicht ernsthaft wütend sein, nicht nach dem, was er erlebt hat und auch weil…ich ihn nicht gehen lassen will. Er trägt keine Schuld an seiner Krankheit, ich muss ihm hindurch helfen. Wenn ich jetzt kopflos und dramatisch wegrennen und auf beleidigte Leberwust tun würde, wie in gewissen, schnulzig-romantischen Filmen, wem würde das nützen? Ihm nicht und mir ganz sicher nicht. Zudem könnte ich ihm unmöglich fernbleiben, wir gehen auf ein und dieselbe Schule, er gehört schlicht zu meinem Leben und ist nicht mehr wegzudenken. Was würde ich ohne ihn anfangen, ohne seine gruseligen Witze und das ernst verzogene Gesicht, wenn er sich bemüht mir Schulzeug beizubringen? Dieser Freak hat mich erwischt, verfluchte Scheiße.

»Ich kann verstehen, warum du mir nicht sofort alles gesagt hast, ich hätte dich für verrückt gehalten und dich zum Teufel geschickt, weil ich mich ja früher nie für die Gelegenheiten anderer interessiert habe. Aber nachdem wir uns angefreundet haben, wäre es angebracht gewesen. Das nehme ich dir schon etwas übel, Casper. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich hassen werde, das tue ich nämlich nicht und werde es auch nie.«

Ich könnte mich erwürgen, weil ich so…rührselig rede. Etwas Flüssiges durchnässt mein T-Shirt an der Schulter und er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Er weint?!

»Xander, ich…« Die Stimme bricht ihm. »Gelegentlich kommt meine Krankheit noch hervor, das hast du miterlebt. Doch weißt du was?«, fragt er, dreht mich sanft zu sich herum und nimmt mein Gesicht in die Hände. »Das liegt hinter mir, denn du bist die wirksamste Medizin«, haucht er an meinen Lippen, bevor seine darauf aufkommen. 

Kapitel 11.

»Hey, wach auf, wir sind da«

Ein Finger, der kleine Muster auf meiner Wange zeichnet, lässt mich die Augen öffnen. Ich erblicke Casper, an dessen Schulter gelehnt ich im Auto eingeschlafen bin. 

»Du schläfst wohl überall und zu jeder Zeit ein, oder?«

»Schlafen zählt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, hast du das erst jetzt bemerkt?«, brumme ich verschlafen, reibe mir übers Gesicht und wische die feuchte Spur an meinem Mundwinkel ab.

»Ups, hab ich dich angesabbert?«

»Nicht schlimm, ich habe es gern ertragen«, schmunzelt er, als ich an seinem Shirt reibe. »Mir ist gerade erst eingefallen: Wieso hast du nicht deinen Vater oder einen seiner Bediensteten angerufen, um uns abzuholen?«

Ich strecke mich, soweit es in dieser Enge möglich ist, und gähne dazu ausgiebig. »Habe nicht daran gedacht – hätte dir auch früher einfallen können. Und außerdem, wieso hast du nicht jemand anderen als deinen Onkel angerufen?«

»Ich hätte ja Navid gerufen, aber–«

»Was?! Du rufst ihn überhaupt nicht mehr an, klar?«

Casper lacht, während ich ihn finster anfunkele. »Diesen Gorilla feuerst du doch, nicht wahr?«

Er hält inne und blinzelt verwundert. »Wieso?«

»Wieso?! Da fragst du noch so dumm? Er. Hatte. Deinen. Schwanz. Im. Mund!« Das ist nicht mehr lustig. Vom Fahrersitz her dringt ein hustendes Geräusch zu uns, ich ignoriere es aber.

»Seine Arbeit macht er trotzdem sehr gut, mein Onkel würde ihn nicht feuern und er hat eine große Familie zu ernähren.

Ist mir scheiß egal, hätte ich fast gebrüllt, bremse mich jedoch vorher – das wäre nun wirklich übertrieben.

»Wenn ich sehe, dass er dich mehr als nur anguckt, dann–«

Das laute Räuspern des Fahrers lenkt uns ab und ich fauche: »Was ist, verdammt? Sehen Sie nicht, dass Sie stören?«

»Sie müssen noch bezahlen«, er spricht zwar leise, die angewiderte Tonlage dagegen ist deutlich zu vernehmen.

»Achja, warten Sie, ich gehe kurz rein und hole das Geld«, erwidert Casper höflich und wendet sich dann an mich, als ich ihm folgen will.

»Du bleibst hier, bei mir kannst du nicht übernachten«

»Hey«, halte ich ihn auf indem ich zwei Finger in seine hinteren Hosentaschen hake und ihn reinzerre. »Ich lasse dich nicht mit dem Kanaken dort allein, du übernachtest heute bei mir. Hol dir Sachen, die du brauchst und wir fahren zu mir nach Hause«

Ein ungläubiges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. »Ich darf wirklich in dein Haus?«

»Ja, ich denke schon«, ich kratze mich verlegen am Hinterkopf und zucke unbestimmt mit den Schultern.

»Und du stellst mich deiner Familie vor?«

»Eh, ja…das auch, wenn es unbedingt sein muss«

Scheiße, wieso habe ich das gesagt?

Wieder so ein Geräusch, als ob sich jemand künstlich räuspern würde. Dieser Fahrer geht mir langsam auf den Keks. Dem zeig ich es. Ich werfe ihm, oder besser gesagt dem Augenpaar im Rückspiegel, einen vernichtenden Blick zu und packe Casper im Nacken.

Dieser hat keine Zeit sich zu widersetzen, da dringt bereits meine Zunge in seine Mundhöhle, verwickelt ihn in ein Spiel und er legt sich halb auf mich. Ich lasse den Kuss noch intensiver werden, beiße sachte in seine Lippe und vergrabe die Finger fest in seinen schwarzen Haaren, weil er anfängt, sich widerspenstig zu winden – daraufhin hört er auf.

»Unverschämtheit«, das Wort wird ungläubig gemurmelt und der Fahrer holt eine Zeitschrift aus dem Armaturenbrettfach, in die er seinen Kopf steckt.

Da scheint sich Casper wieder zu besinnen und reißt sich mit Schwung von mir los. Eine ganz zarte, leicht übersehbare Röte liegt auf seinen Wangen, die ihn unglaublich niedlich aussehen lässt.

»Xander«, sagt er, bemüht wütend zu wirken, aber es gelingt ihm nicht so recht, ich sehe, dass er sich auch freut. »Das regeln wir noch später, jetzt werde ich meine Sachen holen, benehme dich also«

»Ist ja gut, Papa«, scherze ich und zwinkere dem Rückspiegel zu, sobald Casper aus dem Auto gestiegen ist.

Eine unangenehme Stille herrscht hier drin. Ich schaue nach vorne, wo der Mann das Lenkrad umklammert hält und es krampfhaft vermeidet in meine Richtung oder in den Rückspiegel zu gucken. Der Typ hat vermutlich einen Schock oder so.

Unruhig trommle ich auf dem Sitz herum und auf den Knien, mein Fuß zuckt zusätzlich. Mir spuckt eine Frage im Kopf herum: Was ist, wenn Casper Navid begegnet? Das gefällt mir ganz und gar nicht. Wir haben immer noch nicht beredet, wie es mit uns weiterlaufen soll, ob wir zusammen sind oder nur sogenannte „Fickkumpel“ oder ob diese Nacht einfach nur einmalig war. Mir wird schlagartig schlecht. Ich muss ihm unbedingt eintrichtern, dass er sich gefälligst nicht von anderen Kerlen betatschen lassen soll – am besten ohne dabei wie eine eifersüchtige Ehefrau zu klingen.

Die Ziffernuhr zeigt erst neun Uhr früh. Dann sind wir ja circa um fünf oder sechs Uhr aufgestanden. Wie habe ich es geschafft in dieser Herrgottsfrühe aufzustehen? Das muss wieder Caspers Einfluss sein. Apropos: Warum braucht er bloß so lange? Soll ich nachsehen gehen? Die Aussicht, dass er auf Navid trifft, raubt mir die Nerven. Gott, ich muss damit aufhören!

Nach einer weiteren Minute des Wartens steigt er ins Auto, bepackt mit seiner vollbepackten Schultasche, aus der ein Hemdärmel herauslugt, und gibt dem Taxifahrer eine Adresse, die ich nicht mitkriege. Sogleich fahren wir los und ich maule säuerlich:

»Warum hat es so lange gedauert?«

»Bin noch zufällig Navid begegnet «, erwidert er locker und macht sich auf den unbequemen, kackbraunen Sitzen breit.

»Ach echt?« Ich beiße mir auf die Zunge. Wer hätte gedacht, dass ich so dermaßen eifersüchtig sein kann? Vor Casper kannte ich dieses Gefühl überhaupt nicht und wusste nicht, wie scheiße es ist.

»Ja, er ist direkt über mich hergefallen«, lacht er und wuschelt mir amüsiert durch die Haare. »Nein, wir haben uns bloß begrüßt«

»Ha-ha. Sehr lustig, Casper. Hör auf plötzlich so viele Witze zu reißen, das steht dir nicht«

»Und dir steht die Eifersucht nicht. Ich habe eben gute Laune, weil ich nicht mehr unter dem ständigen Druck stehe, etwas Falsches zu sagen. Ist das so unverständlich? Es war eine Anstrengung, ununterbrochen aufzupassen, was ich in deiner Nähe von mir gebe und jetzt muss ich das nicht mehr. Ob du es glaubst oder nicht: Es ist befreiend«

»Tja, das wäre im Prinzip überhaupt nicht nötig gewesen, wenn du mir sofort alles gesagt hättest«, nörgele ich weiter und Caspers Miene wird ernst.

»Ich dachte, das hätten wir endgültig geklärt. Habe ich mich geirrt?« Aufmerksam sieht er mir in die Augen und

ich bereue, was ich gesagt habe, denn eigentlich habe ich ihm ja versichert, dass ich deswegen nicht böse auf ihn bin.

»Sorry, ich war nur…«

»Eifersüchtig wegen Navid?«, rät er und trifft natürlich ins Schwarze.

»Was? Ja, klar. Hättest du wohl gern«, verneine ich vehemment und beobachte, wie sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet. Ein anderes Thema muss her, zum Glück erledigt sich das selbst – wir halten vor der Persiasschule an.

»Oh ne, ich dachte du meintest das mit der Schule als Scherz?«, stöhne ich genervt.

»Stell dich nicht so an«, winkt Casper ab, während er dem erleichtert wirkenden Taxifahrer Geld gibt und steigt, seine Tasche dabei, aus dem Wagen. Ich folge ihm unzufrieden schlurfend.

Die Klingel zum Anfang des Unterrichts läutet.

»Shit, jetzt kommen wir sogar zu spät und müssen es erklären, vielen Dank auch, Casper«

»Du kannst es dir nicht leisten, Stunden zu verpassen. In Geschichte hängst du weiterhin extrem nach.«

»Wen interessiert Geschichte? Die Vergangenheit liegt hinter uns, also wozu darüber diskutieren, ändern können wir ja sowieso nichts mehr, oder?«

»Manchmal verfolgt die Vergangenheit Einen«, murmelt Casper wie zu sich selbst, indessen wir schon die Halle durchquert haben und nun die Treppe in den zweiten Stock hinauf laufen. Ich sehe ihm förmlich an, dass er in seinen Erinnerungen versinkt – und zwar in den nicht sehr guten.

»Casper–«

»Hallöchen, Jungs! Könnt ihr mir bitte helfen? Ich muss wissen, wo sich das Sekretariat befindet«, unterbricht mich ein zierliches, rothaariges Mädchen, die wie aus dem Nichts im Flur aufgetaucht ist und strahlend zu uns beiden hochblickt, so dass wir gezwungen sind anzuhalten.

»Nein, wir müssen in den Unterricht«, antwortet Casper kühl und zugleich antworte ich: »Klar, ich hab eh kein Bock auf Unterricht« Er guckt mich warnend an, daraufhin zucke ich aufseufzend und ergeben die Schultern. Der soll mir nicht wieder eine Predigt über die Wichtigkeit des Lernens halten. Das Mädchen zieht ihre hellen Augenbrauen zusammen und ihre vielen Sommersprossen scheinen zu leuchten, genau wie die orange Wuschelfrisur.

»Also hilft keiner von euch einem armen, verirrten Mädchen? Das ist echt unsozial von euch«

»Wenn du die neue Schülerin bist, von der Garn neulich gesprochen hat, dann wirst du allem Anschein nach in unsere Klasse gesteckt. Dein Nachnahme ist Tirell, nicht wahr?«, erkundigt sich Casper, ungeduldig auf seine Armbanduhr schielend. Er kann Zuspätkommer nicht leiden und selbst zu spät zu sein, hasst er noch mehr. Das durfte ich am eigenem Leib erfahren, als ich einmal mit einer viertel Stunde Verspätung zu ihm kam.

»Ja, genau! Sina T. I. R. E. und doppelt L. Das ist ja total super, wenn ich ab jetzt in eure Klasse gehe! Ich hoffe, es gibt da nicht allzu viele eingebildete Ziegen, wie an meiner alten Schule, ich kann diese aufgestachelten, billigen Miststücke nicht ausstehen! Wir heißt ihr–«

»Ich bin Xander und das ist Casper«, stelle ich uns schnell vor und zwinkere Casper zu. »Und jetzt lass uns gehen, sonst flippt dieser Hübsche hier aus«

»Ehm, okay«, stottert die Kleine überrumpelt als ich sie kurzerhand mit uns schleife.

»Das ist nett von euch, ich werde mich sicher revanchieren! Ihr steht nicht zufällig auf Unterwäsche aus echtem Tigerfell?«

Gott, was haben wir da bloß aufgegabelt?

 

***

 

»…und deswegen bin ich nun hergezogen. Ihr müsst unbedingt meinen Cousin, Roman, kennenlernen! Er ist der süßeste und netteste Mensch den ich kenne, ihr werdet ihn liiieeeben! Und was die Unterwäsche angeht: Mein Dad hat da ein etwas illegales Hobby, er hat sich Tiere beschafft, weiß der Geier woher, und bearbeitet ihr Fell, was eigentlich total ekelhaft ist und eigentlich dürfte ich euch das gar nicht erzählen! Das könnte ihn hinter Gitter bringen und dort würde er es keinesfalls lange schaffen, er ist nicht der Stärkste oder Größte oder Hellste. Oh, Gott, man würde ihn bestimmt als Hure misbrauchen. Darüber lief vor Kurzem eine Sendung, die ich zusammen mit Roman angeguckt habe. Das war schrecklich! Die armen Männer! Aber manche von ihnen waren auch Mörder, deshalb sollten sie einem ja nicht Leid tun, oder? Doch mein Dad ist kein Mörder! Erzählt bitte keinem etwas davon, versprochen? Oh, jetzt bin ich vom Thema abgekommen. Ups!

Naja, keiner will so wirklich was bei ihm kaufen – er ist nicht besonders gut darin – und deshalb hat er entschieden, damit aufzuhören sobald seine beiden letzten Stücke verkauft sind. Was haltet ihr davon? Ihr könnt es euch noch überlegen«

Es ist Mittagspause und wir, das heißt Casper, der Kaugummi kauende Michael, die überdrehte Sina und ich lungern vor dem Gerätehäuschen. Die Kleine quasselt und quasselt ohne Punkt und Komma.

»Meine Genitalien werden nicht mit Tierhaut in Berührung kommen«, spricht Casper meine und wahrscheinlich auch Michaels Gedanken aus.

Ich lache und bin im Begriff ihn zu mir zu ziehen und zu küssen, doch er stemmt sich dagegen.

»Was hast du?«

Er schüttelt den Kopf und sieht zur Seite um mir nicht in die Augen zu gucken.

»Nicht jetzt«

»Und warum nicht?«

»Weil…«

»Weil es dann offiziell und ernst wird, Xander! Ist doch ganz verständlich, dass er Angst vor diesem Schritt hat«, klärt mich der orange Lockenkopf unvermutet auf.

»Misch dich nicht in unsere Angelegenheit ein, es geht dich überhaupt nichts an, du–«

»Casper«, stoppe ich ihn rechtzeitig. Schließlich meint sie es ja nicht böse, sie muss nicht unbedingt erleben, wie Casper den Psycho raus hängt und ihr einen Schrecken einjagt – denn genau das hatte er vor, inzwischen kenne ich dieses Gesicht, welches er gerade aufsetzt. Das „Psychogesicht“ mit dem er alle außer mir täuschen kann.

»Komm, Sina, ich glaub', ich zeig dir den Schulhof ma' genauer. Die hier brauchn 'bissle private Sphäre, du weißt schon, was ich mein'«, meldet sich nun Michael hilfreich zu Wort. Bisher war er damit beschäftigt, sein riesiges Stück Kaugummi im Mund zu behalten, aber das mehr schlecht als recht. Es fällt mir von Neuem auf, wie doll er sich verändert hat. Er ist zu einem anderen Menschen geworden, dem nicht alles am Arsch vorbeigeht und der langsam das Potenzial zu einem richtigen Kumpel entwickelt. Ist der Entzug für seinen Wandel verantwortlich oder steckt da was anderes dahinter?

»Oh, ich verstehe! Wir lassen euch Süßen mal allein. Ich habe von einem Keller gehört, in dessen Wände Knochen eingemauert sind! Stimmt das? Kannst du mir das zeigen?«, geht Sina sofort darauf ein, hakt sich überschwänglich bei Michael unter und zieht ihn quer durch die Menge über den Schulhof.

Ich wende mich wieder Casper zu, der eine Flasche seines Kirschwassers zum Mund führt und den restlichen Inhalt in sich hinein schüttet. »Warum magst du dieses Zeug so?«

»Das tu ich nicht. Ich misch meine Medizin da rein. Der Kirschgeschmack verdeckt den bitteren Geschmack, weil ich diese Pillen nicht mehr sehen kann«

Also deswegen hat er ständig eine Flasche dabei und nicht weil er es so sehr mag. Das macht mich irgendwie traurig. Ich habe seine Krankheit schon vergessen, ich muss bei der nächsten Gelegenheit zu Hause im Netz danach suchen und nachlesen, was genau das ist. Ist komisch, dass ich mich nicht traue, ihn persönlich zu fragen.

Die Schulglocke erklingt zum Ende der Mittagspause und Casper läuft, ohne auf mich zu warten, los. Die Leute weichen ihm aus, da er jeden rücksichtslos zur Seite schubst, der ihm im Weg steht. Daher habe ich ebenfalls freie Bahn um ihm hinterherzulatschen. Es nervt mich ungemein, dass er immer wieder vor mir weg läuft, muss das denn echt sein? Anscheinend kann er nicht anders.

»Also schämst du dich nicht für deine „Vorlieben“, sondern hast lediglich Angst, dass es eine richtige Beziehung wird, habe ich das richtig verstanden?«

»Kann sein«

Ich packe seine Hand und bringe ihn mittels Kraft dazu sich umzudrehen. Die Schüler umgehen uns, manche murrend, manche beachten uns gar nicht erst.

»Casper, man kann dich fast Risikojunkie nennen, bestimmt weiß ich nicht über alles Bescheid, was du anstellst, wenn ich nicht dabei bin und nun hast du Angst davor, dass es ernst wird? Ist das nicht unsinnig?«

»Ich bin auch nur ein Mensch!«, stellt er klar, doch ich rede weiter.

»Das müsste eigentlich anders herum sein – ich bin derjenige, der noch nie eine Beziehung hatte. Außerdem, wer hat gesagt, dass ich sowas mit dir anfangen will? Du bist ganz schön eingebildet«

Casper starrt mich erstaunt an und hebt seine tiefschwarzen Augenbrauen. »Willst du nicht?«

Ich seufze. »Naja, doch…vielleicht…ich weiß es nicht genau! Aber können wir es nicht ausprobieren? Was hältst du davon?«

»…«, nuschelt er irgendwas Undefinierbares.

Grinsend lege ich meine Hände auf seine Hüften und trete ganz nah an ihn heran. »Ja?«

»Ja«, sagt er klar und deutlich. »Ich hatte auch noch keine Beziehung – also nicht mit einem Jungen. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen mit meiner Anwesenheit«

»Wie könntest du mich in Gefahr bringen?«

»Wenn ich meine Medizin nicht nehme, bin ich unberechenbar–«

»Hast du nicht gesagt, ich wäre deine Medizin? Das heißt, ich muss einfach immer bei dir sein und dann ist alles in Ordnung«

»Super Logik«, grinst er ironisch.

»Ja, nicht? Deinen Racheplan wirst du mir noch verraten, davor läufst du nicht mehr weg. Sobald wir bei mir zu Hause sind, werden wir die Heimlichtuerei ein für alle Mal beenden. Aber bis dahin denken wir nicht darüber nach, ist das klar?«

Zögerlich nickt Casper und späht auf meine Lippen. »Ja«

»Na, wer sagt's denn, du kannst auch anders«

Alles und jeden um uns herum ausblendend schmiege ich mich an seinen Körper bevor ich die Augen schließe und ihn begierig küsse. Sein Geschmack hat mich süchtig gemacht. Diesmal ist er derjenige, der zuerst die Zungen zum Einsatz bringt und den Kuss vertieft, er greift sogar an mein Hintern. Ich höre anzügliche Pfiffe und Würgegeräusche, die ich ebenfalls ausblende.

Da wird Casper plötzlich weggerissen – ich stolpere überrumpelt und fliege beinahe hin, halte mich im letzten Moment an der Jacke eines Mädchen neben mir fest. Als ich mich umschaue, entdecke zahlreiche aufgerissene Augen, die auf mich gerichtet sind, einige fangen sogar sofort an miteinander zu tuscheln und besessen auf ihren Handys zu tippen. Worte wie „Oh, mein, Gott“ „Homos“, „schwul“, „Igitt“ und „Bah“ fallen. Das ist mir herzlichst egal, aber was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist eine tollwütig aussehende und herumbrüllende Clarisse, die mit ihren kleinen Fäusten und Schaum vor dem Mund auf Casper einprügelt.

Shit!

Meine Sicht wird durch die angesammelte, jubelnde Menge verdeckt und deswegen wühle ich mich hektisch hindurch, haufenweise kunstvolle Frisuren gehen zu Grunde und Handtaschen fallen auf den bunten Steinboden. Dann erreiche ich mein Ziel: Clarisse lange Haare fliegen in alle Richtungen, so dass sie einem Racheengel gleichkommt und sie benutzt ihre Fingernägel wie messerscharfe Krallen, verschont auch Caspers Gesicht nicht.

»Er gehört mir! Du nimmst ihn mir nicht weg! Er liebt mich und nicht dich!«, schreit die Irre, unterdessen er sie so gut es geht von sich fernhält, ohne sie zu schlagen.

»Clarisse! Hey, hör auf! Was ist verkehrt mit dir?«

Sie hört nicht auf – ich packe sie an den Armen und schleife sie fort, somit kann sie ihn nicht mehr erreichen.

»Warum verteidigst du ihn? Er zerstört unsere Beziehung! Dieser Freak hat dich geküsst und das lasse ich nicht zu!«, kreischt sie wie bekloppt, versucht sich noch heftiger loszureißen, was ich nicht zulasse, und beißt mir überdies ziemlich tief in den Arm. Verdammte Kacke! Wo sind die verfluchten Schlichter, wenn man sie braucht?

»Du bist verrückt, Clarisse, wir waren nie zusammen und werden es auch nie sein! Ich bin schwul, okay? Falls du keinen Schwanz besitzt, hast du keine Chance«, schreie ich ihr nun ins Ohr und beobachte, wie Casper seine zerknitterte Kleidung glatt streicht und einen sicheren Abstand zwischen sich und der zappelnden Clarisse bringt.

»Die hat eine Schraube locker, ist von hinten auf meinen Rücken gesprungen, ich konnte sie nicht loswerden!«

»Nimm deine Griffel von ihr weg, du Schwuchtel!«, erklingt die näselnde Stimme, die ich dem Magersucht-Kerl namens Markus einordne, der schon früher Stress geschoben hat. Er stellt sich breitbeinig vor uns und seine hunderte, sehr dünnen und feinen Goldkettchen schwingen hin und her.

Ich stöhne super genervt und schubse das mittlerweile hemmungslos heulende Mädchen in die Arme von Markus, der sie schwankend entgegennimmt. Die ständigen Kamerablitze blenden mich und lassen mich helle Sternchen sehen, ich schirme meine Augen deshalb mit der Hand ab. Die Menge wird von den sich in den inneren Kreis bahnenden Schlichtern beruhigt und in die Schule geschickt – schließlich hat es bereits geklingelt. Wo haben diese angeblichen „Schlichter“ gesteckt? Ich sollte mich über sie beschweren, sie haben keinerlei Nutzen!

»Wir wollen keine Homos auf unserer Schule, oder Leute?« brüllt da einer meiner netten Mitschüler. Drei Mal darf man raten wer. Markus, diese Ratte. Vereinzelte Zustimmung wird laut, bis alle einstimmig rufen: »Wir wolln' hier keine Homos! Wir wolln' hier keine Homos! Wir wolln' hier keine Homos!«

Die Schlichter können auch nichts gegen alle gleichzeitig tun und picken hie und da Schüler raus, die sie in die Schule bugsieren oder wahrscheinlich mit dem Direx drohen.

»Beruhigt euch!«

»Hey, was soll das? Ich habe mir meinen Nagel abgebrochen!«

»Geht rein, es hat geklingelt, ihr bekommt alle eine Verwarnung!«

»Fassen Sie meine Lederjacke nicht an, Sie haben fettige Finger. Ich schwöre, dass müssen Sie mir abbezahlen«

»Bitte nicht rumtrödeln!«

»Nehmen Sie ihre Flossen weg, ich darf mich nicht so schnell bewegen mit diesen Schuhen! Sie kosten mehr als Sie in ihrem ganzen Leben verdienen können«

Obwohl die meisten in dem großen Gebäude verschwunden sind, weigert sich eine bestimmte Gruppe hartnäckig, hauptsächlich bestehend aus der Clique von Markus, und beschimpfen Casper und mich weiter. Mehr Drama geht ja kaum. Was sind das denn für Idioten? Sie möchten was, worüber sie sich ihre Lästermäuler zerreißen können, bitte, ich biete ihnen die gewünschte Show. Ich gucke zu Casper rüber, der inzwischen neben mir steht, wir wechseln einen Blick und es ist für uns beide klar, was wir gleich tun werden.

»Zeigen wir ihnen, was sie von jetzt an jeden Tag sehen werden«, grinse ich.

»Jeden Tag?«, echot er zurücklächelnd und legt seine Hand auf meine Wange.

»Das hoffe ich«, meine ich leise.

Er überbrückt die letzten Zentimeter, die unsere Lippen entfernen und wir fangen an, hemmungslos drauf los zu knutschen. Ich mache, theatralisch begabt wie ich bin, übertriebene Stöhn- und Seufzgeräusche und Casper hat fühlbar Mühe nicht loszuprusten. Klick! Klick! Klick!

Das zweite Mal an diesem ereignisvollem Schultag werden wir auseinander gebracht. Die fetten Stummelfinger vom Direktor Pross bohren sich schmerzhaft in meinen ohnehin schon malträtierten Arm, genau auf die Stelle, wo Clarisse mich gebissen hat. »So, das wars mit der Vorstellung! In eure Klassen! Und ihr beide…in mein Büro! SOFORT!«

Kapitel 12.

»Erinnerst du dich an den Serienmörder, den „Dealer Killer“ über den wir einen Aufsatz schreiben sollten?«

Ich überlege angestrengt und streiche dabei über seine unrasierten Wangen, es kitzelt.

»Ach, der! War das nicht der Aufsatz, den du ganz allein geschrieben hast, ohne es mit mir zu besprechen?«

Er nickt stumm und lächelt, wobei seine Finger ebenfalls nicht von meinem Körper lassen können und stetig meine Wirbelsäule hinauf und hinab fahren. Wenn er gelegentlich „ aus Versehen“ weiter runter gleitet, zieht sich mein Unterleib zusammen und er grinst daraufhin wissend. Es wundert mich, dass diese Geesten so selbstverständlich sind, als ob ich vor ein paar Tagen nicht noch gedacht hätte, ich wäre hetero. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, das hier erfüllt mich mit Glück. Schnulziges Gelaber Ende. 

Wir haben „es“ nicht getan, wie man vielleicht vermutet, nein, wir waren ziemlich koscher und haben bloß miteinander geknutscht – halbnackt. So etwas habe ich bisher nicht gemacht, ohne anschließendem Sex meine ich, aber ich habe vor, es ab jetzt öfter zu tun. Ich bin froh, dass zurzeit noch keiner zu Hause ist, außer meiner Mutter, die bei zugezogenen Jalousien und Klaviermusik in ihrem riesigen Himmelbett schläft. Britta ist dem Merkzettel am Kühlschrank nach, auf Großeinkauf, Taylor sitzt zweifelsfrei in der Schulbibliothek.

»Und was hat das mit deinem Racheplan zu tun?«

»Du kannst dir zusammenreimen, warum man ihn „Dealer Killer“ benannt hat?« Casper rückt einen Stück von mir weg um mich besser ansehen zu können.

»Weil er Dealer umgelegt hat?«, rate ich Augenbrauen hebend?

»Korrekt. Er hat seine Morde stets als Suizid oder Unfall getarnt, in Zeitabständen und in verschiedenen Bundesländern oder gar Ländern. Keiner hat was geahnt, bis ihm ein fataler Fehler unterlief – er verliebte sich in eine Prostituierte«

Ungläubig blinzle ich. »Bitte, was?«

Was erzählt er hier für einen Mist? »Worauf willst du hinaus?«

»Halt einfach die Klappe und lass mich ausreden, Xander«, stutzt er mich streng zurecht und ich klappe gehorsam den Mund zu.

»Also: Er verliebte sich Hals über Kopf in eine Prostituierte, einen Junkie, die alles für Drogen tat. Sie erinnerte ihn an seine verstorbene Mutter, das sagte er ihr immer, deswegen tat sie ihm Leid und er sorgte sich um sie. Das ging eine Weile gut, sie lebten in einem kleinen Dorf abseits von Menschen, aber als er sie auf Entzug setzte, flippte sie völlig aus und wollte alles der Polizei erzählen – über jeden seiner Morde und seine Technik dabei. Er sah sich gezwungen, sie zu töten und verpasste ihr eine Überdosis in der Annahme sie würde diese nicht verkraften. Da hatte er sich anscheinend irgendwo verrechnet, denn sie überlebte es und erzähle danach der ganzen Welt sein Geheimnis. Seit dem jagt man ihn«

Verwundert runzle ich die Stirn. Ich habe mich ja schon das letzte Mal gefragt, warum er so darauf bestanden hat diesen Killer als Thema zu nehmen. »Woher kennst du diese Einzelheiten?«

»Es wurde ein Buch über ihn veröffentlicht wo sie ihre Zeit mit ihm beschreibt. Dort steht das, woran sie sich noch erinnern kann, er hat ihr wirklich seine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber meiner Meinung nach, hat man sehr viel davon dazu erfunden«

»Ich versteh nicht, was das mit dir zu tun hat! Dieser kranke Killer interessiert mich wenig«

»Ich will es mit seiner Methode versuchen – das heißt, ich bringe die um, die für die Ermordung meiner Eltern verantwortlich sind und es entweder wie einen Unfall oder einen Selbstmord aussehen lassen«

Mir fällt die Kinnlade runter, ich setze mich ruckartig auf und ich starre aus Kugelaugen ungläubig auf ihn herunter.

»Das ist nicht dein Ernst?! Du kannst dich doch nicht mit Profikillern anlegen!« Kopfschüttelnd zeige ich ihm den Vogel, er jedoch bleibt seelenruhig liegen und verschränkt seine Arme.

»Was hast du denn erwartet? Das ich ihnen einen Hassbrief schicken werde?«

Gute Frage auf die ich keine Antwort habe.

»Die Polizei–«

Nun richtet er sich ebenfalls auf und funkelt mich dunkel an.

»Hast du es vergessen? Ich habe die Aufnahmen gelöscht und es gibt keinerlei Beweise gegen die drei oder ihren Auftraggeber! Was kann die Polizei da schon tun, Xander?«

Angestrengt rattern die Rädchen in meinem Gehirn, ohne Erfolg vorweisen zu können.

»Dann sag mir deinen Plan!«, verlange ich entschlossen.

Seufzend beißt sich Casper auf die Unterlippe. »Ich bin noch nicht weit gekommen, denn ich konnte nicht herausfinden wo sich die drei Mörder befinden. Aber dank einem Haker, den ich durch Rex kennenlernte, habe ich die Adresse des Anwalts und kann von ihm weitere Informationen kriegen«

»Also das hast du damals auf Clarisse Party mit Rex beredet!«

»Ja, er hat von mir mehr Geld verlangt für sein Schweigen und ich wurde so sauer, weil ich befürchtete, dass du mehr gehört hast als du solltest. Und dass du mit diesem Flittchen ins Auto gestiegen bist, hat es nicht besser gemacht«

»Und ich habe angenommen, dass du und Rex…naja ist ja egal«, murmele ich kleinlaut und erinnere mich an die Gedanken, die ich da hatte. Gott, ich war eifersüchtig! Wie dämlich war das denn?

»Und was, wenn du da auch Beweise findest, die sie hinter Gitter bringen könnten?«

Casper senkt den Blick und ich lasse die Luft langsam entweichen um mich zu beruhigen.

»Bitte sag nicht, dass du dann trotzdem vorhast es selbst zu erledigen?«

»Du bist ein Idiot, Casper!«

»Rede nicht so! Sie haben meine Eltern brutal getötet und ich soll sie den Bullen überlassen, damit sie zehn Jahre im Gefängnis chillen können? Tut mir Leid, dass ich sie leiden sehen will!« Er schlägt mit der flachen Hand wütend auf die Matratze. »Navid versteht das wenigstens!«

Die Finger in die schwarze Decke krallend und einen Kloß schluckend schaue ich ihn an. Ich kann nicht glauben, was ich da gehört hab. Es ist, als ob er mir einen Messer ins Herz gerammt hat. Ein stumpfes Buttermesser.

»Du hast Navid vor mir eingeweiht?«

Mit einem tauben Gefühl in der Brust rutsche ich vom Bett und suche meine Kleidung zusammen, die ich sofort überstreife.

»Xander, warte! Ich hab es nicht so gemeint. Was macht es für einen Unterschied, wer von euch es zuerst wusste?«, ruft er und springt auf, um mich aufzuhalten, aber ich schlage seine Hand weg. Die Taubheit wandelt sich in brodelnde Wut um. Casper hat drauf, mich so aufzuregen.

»Lass es! Schieb' dir deine Entschuldigung in den Arsch! Vor mir hast du die ganze Zeit so getan, als wäre es dein größtes Geheimnis, welches du niemandem anvertraut hast und jetzt erfahre ich, dass Navid längst Bescheid weiß! Da sieht man nochmal wie verlogen du bist!« Ich ramme mein Füße in den Schuh und suche in dem Chaos überall nach dem zweiten. Ich muss mich unbedingt bei einem Spaziergang abkühlen, sonst könnte ich etwas unbedachtes sagen oder tun, was ich später sicherlich bereuen würde. Irgendwie streiten wir ständig!

»Vielleicht sollten wir ja doch die Anordnung des Direktors befolgen und nie wieder öffentlich rummachen! Dann muss ich zumindest nicht riskieren deswegen aus der Schule zu fliegen«

Ein schnaubendes Geräusch kommt von ihm.

»Du hörst nie auf Pross! Mein Onkel wird ihm einfach eine ordentliche Summe bezahlen und es ist aus der Welt geschafft! Zu der blödsinnigen Strafarbeit in dem Heim meiner Schwester müssen wir auch nicht hin«

»Der Ruf seiner Schule ist ihm am wichtigsten, das wird er nicht so leicht vergessen! Du kannst ja ruhig zu Hause bleiben, aber ich fahre morgen zu der freiwilligen Arbeit – da kriege ich eine Pause vor dir«

»Ach, komm schon, Xander. Ich musste es jemanden erzählen und am Anfang war halt nur er der einzige, der für mich da war«

»“Für mich da war“. Das heißt so viel, dass ihr herumgefickt habt und du ihm danach deine Geschichte aufgetischt hast« Schwungvoll drehe ich mich zu dem verzweifelt Haar raufenden Casper und gebe es auf, den verdammten Schuh zu finden. Zudem ist es mein Haus, also soll er gehen und nicht ich.

»Soll ich dir was verraten?« Mein Verstand sagt mir, ich solle die Klappe halten, aber mein Mund hört da nicht drauf. »Ich hab schon mit einem Typen außer dir gevögelt und es war geil!«

Es ist gemein ihm das an den Kopf zu schmeißen, wo er doch glaubt mein Erster zu sein und sich deswegen auch freut, aber es ist bereits zu spät das Gesagte zurückzunehmen. Nun ist es raus und ich warte gespannt auf die Wirkung meiner Worte. Er soll fühlen wie es ist, zu wissen, dass der, den du auf diese Weise magst mit einem anderen außer dir geschlafen hat. Wobei ich nicht bloß aus diesem Grund sauer auf ihn bin, er hat Navid mehr vertraut als mir!

Die erwartete Wirkung kommt seltsamerweise gar nicht – er glotzt fortwährend etwas hinter meinem Rücken an. Was gibt es da so Tolles zu sehen? Genervt schaue ich über die Schulter. Und erstarre zu einer Statue.

 

***

 

»Dad? Ich dachte du wärst auf einer Geschäftsreise?«, krächze ich um Fassung bemüht und werfe Casper einen eindeutigen Blick zu, der bedeutet, dass er sich gefälligst was anziehen soll. Er kapiert den Wink zum Glück.

Ich habe nicht oft miterlebt, dass mein Vater sprachlos war – ja das ist wohl das erste Mal. Seine Augen wandern zeitlupenmäßig zwischen mir und Casper, er schließt sie ganz kurz und setzt dann sein „Ich lass mich von nichts beeindrucken“- Gesicht auf, welches ich so gut kenne.

»Raus«

Casper fühlt sich angesprochen und macht sich stumm auf den Weg zur Tür.

»Auch du«, fordert er mich auf.

Ich blinzle nicht begreifend. »Was soll das heißen?«

»Das du das Haus verlassen sollst. Auf der Stelle«

»Na schön, ich gehe«, brumme ich.

»Du warst schon immer eine bloße Enttäuschung für mich, Xander, doch ich habe dich ertragen, weil du mein Sohn bist. Ich werde hier nicht mit dir diskutieren und ich werde auch nicht herumbrüllen und dich ausschimpfen, weil du eine Schwuchtel bist, aber erst wenn du normal bist, darfst du das Haus wieder betreten«

Entsetzt schnappe ich nach Luft und der Boden entgleitet förmlich meinen Füßen. »Dazu hast du nicht das Recht! Das ist genauso mein Zuhause, wo soll ich deiner Meinung nach hin? Auf die Straße?«

»Das ist ab jetzt dein Problem, du hast Hausverbot. Und da du dich nicht wieder bei dem Boxtrainig eingeschrieben hast, wie ich dir geraten hatte, kriegst du keine finanzielle Unterstützung mehr von mir, du kannst selber gucken, wie du weiterhin klarkommst«

Vor Zorn fast berstend mache ich einen Schritt auf die bewegungslose Gestalt meines Vaters zu und schreie ihm ins Gesicht:

»Ist mir scheißegal! Ich hab eh die Nase voll von dieser verkorksten Familie, ich hau hier endgültig ab. Mom liegt nutzlos im Zimmer rum, du bist niemals da und Taylor ist ein arroganter Streber. Es wird eine Erleichterung sein, euch loszuwerden, ehrlich. Mit euch verglichen bin ich der Normalste!«

»Deine Mutter ist seit ein paar Tagen im Pflegeheim«, erklärt er und zupft unbeeindruckt an seiner dunkelroten Krawatte. Okay, das haut mich etwas aus der Bahn. Ich habe heute die Klaviermusik gehört aus ihrem Zimmer, wie kann sie da weg sein? Ihm macht es offenbar nicht das Geringste aus, dass er seine eigene Frau in die Klapse eingeliefert hat.

Der soll verflucht nochmal ausrasten und nicht so arglos dastehen, als wäre nichts!

»Nur weil du mich rausschmeißt, verhinderst du nicht, dass ich weiterhin Typen nagle, Dad«

Mein Kopf fliegt nach links und ungläubig lege ich eine Hand auf die brennende Wange. Er hat mich geschlagen!

»Wenn du nicht in zehn Minuten weg bist, hole ich den Fahrer, der dich rausschafft«, redet er unbarmherzig weiter und dreht sich um.

»Ich hasse dich« Ich sage es voller Inbrunst. »Du warst nie mit mir zufrieden, hast mich ohne Ende kritisiert. Es hat mich früher fertig gemacht, aber mittlerweile interessiert es mich nicht, was du von mir hältst. Ich werde alles tun, um dich zu blamieren, verlass dich drauf«

Ich quetsche mich an ihm vorbei, zerknautsche dabei extra seinen Anzug, und rausche auch vorbei an Casper, der mir schweigend folgt. Zielstrebig schreite ich voran – nicht nach draußen, sondern die Kellertreppe nach unten.

»Ich werds diesem Möchtegern-Vater, der diese Bezeichnung eigentlich nicht verdient hat, zeigen, was er davon hat mich so zu behandeln«, murmle ich währenddessen aufgebracht vor mich hin.

Als ich die Tiefgarage betrete, schalten sich die Lichter automatisch an und ich erblicke erfreut das teuerste, älteste und liebste Auto, ein Oldtimer, meines Vater unter einer Abdeckung. Er handelt mit Autos, wie man damit so viel Kohle scheffeln kann, ist mir ein Rätsel.

Es hängen verschiedene Autowerkzeuge an der Wand, die noch nie benutzt wurden und ich suche mir einen bis auf Glanz polierten Radmutterschlüssel aus Silber aus und wiege ihn in der Hand.

Wird passen.

Entschlossen wende ich mich wieder Vaters Liebling zu, ziehe die Abdeckung ab, erhebe den Radmutterschlüssel und lasse ihn mit all meiner Kraft und einem Knurren auf die Glasscheibe herunterfallen. Diese gibt laut klirrend nach, die Scherben verteilen sich innen auf den pfefferminzgrünen Sitzen, und ich betrachte mein Werk einen Augenblick zufrieden, bevor ich zu dem anderen Fenster rüberwandere.

»Xander! Was tust du da?«, hallt Caspers bestürzte Stimme von allen Richtungen wider und er weicht meinen ausschweifenden Bewegungen aus.

»Ich zertrümmere Daddys Schatz, bist du blind oder was?« Ich schlage so oft und voller Wucht drauf ein, bis meine Arme lahm werden und das Auto aussieht, als hätte es einen gewaltigen Steinbrockenangriff hinter sich.

»Fertig?«

»Ja«, keuche ich und schmeiße den Schlüssel achtlos zu Boden.

Plötzlich legen sich von hinten Caspers Arme um mich. Ich lehne mich an ihn und lasse den Kopf hängen.

»Das mit deinem Vater tut mir leid«, flüstert er und vergräbt seine Nase in meinem Nacken. Ich schließe die Augen und genieße die Berührung.

»Du kannst ja nichts dafür. Er ist halt ein narzistischer Sack, er war es schon immer. Er war für Mum nicht da, als sie ihn am meisten brauchte, sie hat pausenlos nach ihm gefragt und ich musste ihr vorlügen, dass er auf Geschäftsreisen war, dabei wusste ich selbst nicht, wo er sich rumtrieb. Ich finde, er trägt Mitschuld an dem, was aus ihr geworden ist. Es ist einfach einfach Scheiße, dass er nicht mal Reue zeigt, schließlich hat er sich nie richtig um mich gekümmert! Verdammt, er hat mir das Gefühl gegeben, ich wäre ein Waisenkind!«

»Ich bemitleide mich ständig selber, dabei hast du es nicht leichter – eine Familie, die sich einen Dreck um dich schert«

Freudlos lache ich auf und drehe mich zu ihm um.

»Danke, jetzt geht’s mir viel besser«

Er guckt mich ernst an. »Xander, ist das so wichtig mit wem wir vorher geschlafen haben? Wir könnten das begraben. Nur weil ich es Navid zuerst erzählt habe, heißt es nicht, dass ich ihm mehr vertraue – ich wollte dir bloß den ganzen Mist ersparen, verstehst du?« Seine Stimme zittert leicht.

»Kann sein«, nuschle ich. Gut, er hat recht, ich hätte möglicherweise nicht so überreagieren sollen. Doch mir behagt es trotzdem nicht, dass er sich mit Navid in einem Haus aufhalten wird. Ohne Vorwarnung drängt sich eine Frage in meine Gedanken:

»Casper, bist du tatsächlich fähig einen Menschen umzubringen? Das ist bestimmt nicht so simpel wie es im TV gezeigt wird«

Er verzieht das Gesicht. »Ich…. Noch muss ich das nicht entscheiden«

»Du wirst keine Ruhe finden, bis du deine Rache hast oder?«

»Nein. Ich kann nicht«, verneint er leise und sieht mir traurig in die Augen.

Ich schlucke mehrmals hintereinander. »Ich werde dich das nicht allein machen lassen, das habe ich dir oft genug gesagt und ich bleibe dabei. Lass uns zu diesem Anwalt fahren von dem du die Adresse hast, jetzt gleich. Aufschieben ist unnötig«

Casper lacht in der Annahme ich würde scherzen, doch als ich nicht einstimme, hebt er erstaunt seine Augenbrauen.

»Wieso nicht sofort, Casper? Was spricht dagegen?«

»Es ist zu unerwartet!«

»Dieses Aufschieben bringt nichts und raubt uns beiden die Nerven«

Minutenlang mustert er mich und wir bleiben still, ich kann beinahe sehen, wie sein Gehirn auf Hochtouren läuft. »Und das meinst du ernst? Und was ist mit der Strafe, die wir von Pross gekriegt haben–«

»Darum kümmern wir uns, wenn wir das mit dem Anwalt erledigt haben. Ich möchte, dass wir das sofort machen und dann sehen wir weiter. Wie willst du eigentlich vorgehen?«

»Ehm…sollen wir das etwa hier in der Tiefgarage besprechen? Packe deine Taschen, wir bringen alles zu mir und dann fahren wir los. Du kannst bei mir wohnen solange dein Vater auf den Hausverbot besteht und noch länger«

»Gut, danke«, lächle ich erleichtert und küsse ihn flüchtig, aber er hält mich fest, als ich losrennen möchte.

»Das war kein richtiger Dankeskuss«

Casper fasst mich im Nacken, presst seine Hüften provozierend gegen meine und küsst mich verlangend. Ich seufze in den Kuss und werde deswegen rot. Also echt! Wir habe uns erst vor höchstens einer halben Stunde um den Verstand geküsst und ich habe seine Lippen schon vermisst gehabt, das kann nicht normal sein. Widerwillig reiße ich mich von ihm los und grinse.

»Das können wir später noch machen. Ich flitze schnell nach oben und dann fahren wir mit einem von Dads Autos zu dir«

»Na schön, beeile dich«

Daraufhin rase ich nach oben, packe zwei Taschen Klamotten und sonstiges Zeug ein, Caspers mitgebrachte Taschen, Zahnbürste und meinen kostbarsten Besitz: Den Schlüsselring, wo unter anderem auch ein Autoschlüssel von einem der Autos in der Garage hängt, dieser Schlüssel ist allerdings echt, ich habe ihn erst vor ein paar Tagen „geliehen“.

Sowie ich fertig bin, sprinte ich vollbeladen zurück, lasse meine Last in den Kofferraum eines Bugattis fallen, mache die Fahrertür auf und deute Casper sich zu setzten.

Amüsiert gleitet er hinters Steuer und ich umrunde das Auto um auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.

»Hast du überhaupt vor deinen Führerschein in nächster Zukunft zu machen?«

»Nee, du kannst mich ruhig weiterhin durch die Gegend kutschieren«

»Liebend gern«

Er dreht den Schlüssel um, den ich ihn gebe, und fährt aus der Tiefgarage, an dessen Ende sich das Tor auch automatisch nach oben rollt.

Als wir an dem Cheese Schloss angelangen, parkt Casper das Auto direkt vor dem Tor, wir steigen aus und holen die Sachen aus dem Kofferraum, die wir nicht brauchen werden und lagern sie in seinem Zimmer.

»Vorher sollten wir Proviant für den weiten Weg einstecken. Ich habe mich erkundigt, wo wir heute übernachten können, denn wir werden einen ganzen Tag für die Fahrt brauchen«

Wir betreten die Küche und suchen uns ein paar fertige Sandwiches zusammen, Chips und Salzstangen und noch was zu trinken. »Das reicht, falls wir mehr brauchen, können wir uns ja unterwegs was kaufen« Ich stimme ihm nickend zu, während ich dem aufgetauchten, ungebeten Gast in dem Kücheneingang vernichtende Blicke zuwerfe. »Was ist?«

Er ignoriert mich und wendet sich stattdessen an Casper, der ihn gerade bemerkt hat. »Casper? Wo wollt ihr hin?«

»Weg«, antwortet der wortkarg und verstaut das ausgesuchte Essen in einer Tüte.

»Und wohin?«, drängt Navid weiter.

»Das geht dich einen Scheiß an!«, platzt es aus mir heraus und Casper wirft mir einen gereizten Blick zu.

»Du weißt wohin«,richtet er das Wort wieder an den Riesen, der die Fäuste ballt.

»Warum nimmst du diesen Knirps statt mich?« Das kann man allerdings doppeldeutig verstehen.

»Xander, kannst du bitte kurz raus?«

Verständnislos starre ich ihn an. »Was?! Niemals!«

»Vertraust du mir nicht?«

»Doch, natürlich, aber dem da nicht«, deute ich auf das dritte Rad am Wagen.

»Ich kann auf mich aufpassen. Bitte, Xander«

Nach einigen Sekunden Blickduell mit diesen kohlschwarzen Augen, gebe ich stöhnend nach und stampfe aus der Küche – jedoch nicht soweit, dass ich nicht mithören könnte. Ja, ich weiß selber, dass ich mich wie ein bockiges Kind benehme, aber ich kann grad nicht anders, nicht wenn es um Navid und Casper geht.

»Navid, es tut mir schrecklich leid, dass ich dir falsche Hoffnungen gemacht habe, aber ich liebe ihn nun mal, dass wusstest du«, vernehme ich die Stimme von Casper.

Mein Herz fängt augenblicklich an wie verrückt zu rasen, eine hitzige Röte steigt mir bis zu Kopf und ich halte den Atem an. Er hat das L-Wort mit Verbindung zu mir benutzt. Soll ich es gut oder beängstigend finden? Beides gleichzeitig.

»Casper, das bildest du dir ein, in einem Monat wirst du genug von ihm haben! Du hast mir zu verstehen gegeben, dass du dich nicht verliebst«

»Das habe ich auch gedacht, Navid! Ich habe mir nicht träumen lassen, dass ich mich in den Trottel verliebe! Es ist nun mal so«

»Was ist an ihm so außergewöhnlich, dass er deine Vorbehalte vernichtet hat?«

»Außer, dass er scharf aussieht? Er ist halt…Xander. Ich könnte hier tausend seiner Vorzüge nennen. Wieso verliebt man sich in einen Menschen? Es ist passiert und fertig! Er gibt mir Halt und Sicherheit, obwohl er das selbst nicht merkt, er heitert mich auf und er ist nicht vor mir zurückgeschreckt nachdem er erfuhr, wie verkorkst ich im Innern bin. Ich hatte so große Angst ihn zu verlieren, dass ich meine Racheaktion aufs Spiel gesetzt habe und ihm alles gebeichtet habe. Er ist bei mir geblieben. Seit er da ist, geht es mir viel besser, er ist wie die Sonne für mich. Ich habe geglaubt, dass ich niemanden brauche und allein gut aufgehoben bin – da habe ich mich wohl geirrt, denn ihn brauche ich mehr als alles andere. Nachdem dieser Scheiß vorbei ist, will ich mit ihm glücklich werden und meine Vergangenheit hinter mir lassen, ein ganz normales Leben führen. Gönnst du mir das, Navid?«

»All das kann ich dir auch geben! Und noch viel mehr!«

Mit aufgerissenen Augen lehne ich mich an die Wand und lege eine Hand auf meinen Bauch. Eine Million Schmetterlinge flattern dort herum und belagern anscheinend auch meine Lungen, denn diese arbeiten nur sparsam. Ein großes Kribbeln durchzieht meinen Körper von oben nach unten. Ich habe nicht geahnt, dass er so für mich empfindet und es haut mich total um. Mein Kopf schwirrt von den Worten die er gesagt hat. Er will danach mit mir glücklich werden, hat er gesagt! Am liebsten würde ich da reinplatzen und ihn auf den kalten Küchenfliesen vernaschen.

Ich straffe meine Schultern und stoße mich von der Wand ab. Jetzt, da ich das gehört habe, möchte ich sein Vertrauen in mich nicht enttäuschen und hier weiter lauschen. Ein paar Meter weiter mache ich halt und warte ungeduldig. Und nach einer Ewigkeit rauscht ein wütend zitternder Navid an mir vorbei und hinter ihm kommt auch Casper mit der Tüte. Wortlos ziehe ich ihn an mich und umarme ihn fest, fahre zärtlich seinen Rücken auf und ab und sauge seinen Duft in mich auf, überrumpelt erwidert er. »Was ist mit dir los?«

»Nix«, meine ich, hauche einen Kuss in seine Halsbeuge, lasse ihn wieder los und gehe voraus. Ich muss mich zusammenreißen – er soll bloß nicht wissen, dass ich gelauscht habe.

»Okay, und was werden wir tun, sobald wir vor seiner Tür stehen? Ich glaube kaum, dass er dir die Information vorbehaltlos geben wird. Hat er nicht eine Schweigepflicht?«

»Ja, hat er«, bestätigt er und setzt sich auf den Fahrersitz. »aber er wird reden«

Seine Tonlage versetzt mir einen Schauder, er klingt so sicher, zu allem bereit. Unsicher linse ich zu ihm, während der Motor knurrend startet und lege meine Hand auf sein Oberschenkel. »Was genau bedeutet das?«

»Das wirst du sehen, sobald wir dort sind, ich hab da so einige Ideen«

Kapitel 13.

»An dieses Brett, welches anscheinend ein Bett sein soll, werde ich mich erinnern, wenn ich später wegen den Rückenschmerzen nicht mehr aufrecht stehen kann«, strecke ich mich ächzend.

»Tut mir Leid, aber was anderes konnte ich in dieser Gegend nicht finden«, entschuldigt sich Casper und massiert mir von hinten die Schultermuskulatur. »Zudem verlangen sie hier keine Papiere sondern nur Bares«

»Ich weiß, jedoch hätte ich nicht gedacht, dass es so lange dauern wird«

»Piarze ist so schlüpfrig wie ein Wurm. Aber heute ist es ja so weit, wir gehen zu ihm«

»Ja, kann es kaum erwarten«, murmele ich und biege meinen Hals zur Seite als er anfängt zarte Küsse darauf zu verteilen.

Er gibt mir einen Klaps auf den Po und wendet sich ab.

»Ich werde duschen, mach dich in der Zwischenzeit bereit, wir werden danach losfahren«

»Okay«

Schon seit mehreren Tagen hocken wir hier herum und pendeln hin und her, zwischen diesem Drecksloch und dem Haus des Anwalts um genau diesen versteckt in einer Ansammlung von Büschen zu beschatten. Bisher ergab sich keine Gelegenheit ihn anzusprechen, er war das erste mal mit jemandem zusammen unterwegs, aber wir hörten auch zufällig ein Telefonat mit, bei dem er ankündigte heute entspannt einen Abend mit seiner Hand verbringen zu wollen.

Einerseits war ich froh, dass es sich so lang zieht, weil ich diese Zeit mit Casper verbringen konnte, andererseits jedoch konnte ich dieses ständige Abwarten kaum ertragen. Ich ziehe mich an und blicke aus dem Fenster – der Himmel ist bewölkt und passt sehr gut zu meiner jetzigen Stimmung, dieses komische Kribbeln in meinem Bauch, welches sich seit Stunden aufbaut, wird stärker. Was wird passieren und vorallem: Was wird Casper tun?

Nach einer Weile fühle ich wieder warme Lippen auf meiner Haut.

»Gehts dir gut? Hast du deine Meinung geändert?«

»Nein«, sage ich entschlossen. »Lass uns fahren. Je eher wir das hinter uns haben, desto früher können wir hier abhauen«

»Die Tasche?«

Ich hebe die besagte schwarze Tasche hoch. »Hier«

»Dann mal los«

Casper läuft mir voraus zu dem Auto, welches wir gemietet haben, da der Bugatti viel zu auffällig und schafft es die Karre beim zweiten Versuch zu starten. Der Weg vergeht eher wortkarg, jeder hängt seinen eigenen, düsteren Gedanken nach.

Am Waldesrand parkt er das kleine grüne Auto in einem wackligen Holzschuppen, der ursprünglich für gestapeltes Holz gebaut wurde. Das Haus des Anwalts befindet sich ungefähr am Anfang dieses weitläufigen Waldes und er kommt nur jede paar Tage hier vorbei, da er mehrere Häuser besitzt, wie mir Casper erzählt hat. Dieses hier ist sowas wie sein Rückzugsort, von dem eigentlich so gut wie niemand weiß, aber Caspers Vater kannte diesen Ort und hatte alles in seinen Computer gespeichert, deswegen engagierte Casper einen Haker, der die verschlüsselten Dateien öffnete und so die Adresse herausfand. Da der Anwalt sich sicher dort fühlt, hat er nur minimale Sicherheitsmaßnahmen – Kameras und eine Alarmanlage, die dank des selben Hakers durch eine Fernbedingung kontrolliert werden können. Diese Fernbedienung liegt grade in der Tasche und mit einem Knopfdruck kann man das alles lahmlegen, sodass niemand davon Wind kriegt, dass wir überhaupt hier waren.

Wir brauchen höchstens eine halbe Viertelstunde bis zum Haus oder besser gesagt Villa, dort verstecken wir uns wie gewohnt hinter einem dichten Busch, wie die Male zuvor. Von hier aus konnten wir mithilfe zweier Ferngläser das Haus gut überwachen, ohne entdeckt zu werden.

»Du kennst den Plan noch?«, fragt Casper mich ernst und ich nicke.

»Befolge ihn einfach und mache nichts Unerwartetes«

»Jaja«

Wir ziehen lederne Handschuhe an. Seine Hand mit der kleinen Fernbedienung hebt sich und er drückt ohne weiter zu zögern auf den Knopf – sofort können wir beobachten wie die Lämpchen der Kameras aufhören zu glühen. Dann nimmt er ein Tuch aus der Tasche und tränkt es mit klarer Flüssigkeit aus einem gläsernen Fläschchen. Chloro-irgendwas.

»Komm«, flüstert er und wir schleichen geduckt näher zur Haustür. Ich bleibe mit der Tasche hinter dem hohen und dichten Strauch zurück, während er weiterpirscht und schließlich stumpf klingelt. Nach einer halbenMinute höre ich die Tür aufgehen und wie ein Mann ein „DU!“ rausbringt bevor mehrere gedämpfte Geräusche ertönen und mein Namen gerufen wird.

Hastig renne ich ihnen rüber, der Anwalt liegt halb auf Casper, bewusstlos.

»Nimm die Beine, schnell, er bleibt nicht lang in diesem Zustand! Dieser Strolch ist schwerer als er aussieht!«, presst mein Freund hervor, ich schiebe umständlich die Taschengürtel weiter meinen rechten Arm hoch und packe wie gebeten die Beine. Casper schließt mit einem Tritt die Haustür hinter uns.

»Geh geradeaus, das Bad ist dahinten«

Zusammen legen wir ihn auf dem Fließboden des Badezimmers ab und ich krame in der Tasche nach Industrieklebeband.

»Wieso unbedingt ins Badezimmer?«

»Fessle ihn und verschwende keine Zeit! Ich habe ihm die minimale Dosis verpasst. Mach es nicht zu fest, damit keine Blutergüsse entstehen, über die Länge der beiden Arme verteilt und mehrere Schichten, wie ich es dir gezeigt habe. Ich nehme mir die Beine vor«, kommandiert er und tue auch das.

Sobald wir fertig sind und der Mann gefesselt vor uns liegt, dreht Casper die Wasserhähne der Badewanne auf und bemüht sich ihn ihn da rein zu heben.

Das hatten wir nicht besprochen.

»Casper, was tust du da?«, rufe ich panisch, helfe ihm dennoch den Bewusstlosen in die Wanne zu verfrachten, wo das Wasser langsam steigt.

»Keine Panik, Xander«, beruhigt er mich, holt erneut das Fläschchen und das Tuch raus und stellt es neben sich auf dem Boden ab.

»Bringe ihn in eine Sitzposition damit er nicht ertrinkt«

Als das ebenfalls erledigt ist, reißt der Anwalt plötzlich den Mund auf und lässt einen Schrei aus ganzer Kehle los, die Augen aufgerissen. Ich strauchle zurück, doch Casper beobachtet ihn mit gesenkten Lidern und zeigt keine Regung.

»Sie haben mich also erkannt?«

»Diese Mordaugen vergisst man nicht so leicht! Müsstest du nicht eigentlich in einer Klapse liegen und vor dich hin sabbern?«, krächzt der Angesprochene und windet sich gar nicht erst, als ob er sowas nicht zum ersten mal erlebt. »Was für ein Zeug habe ich da eingeatmet?«

»Chloroform«

Ein ängstliches Zucken durchläuft das Gesicht des Mannes. »Aber das–«

»Keine Sorge, darüber weiß ich Bescheid«, unterbricht ihn Casper scharf und beugt sich gefährlich über den Badewannenrand. Ich frage mich worüber die da reden?

»Ich nehme an, Sie können von allein drauf kommen, wieso wir Sie aufsuchen? Erzählen Sie mir, wo Sie die Informationen über die drei Mörder meiner Eltern verstecken«

»Junge, ich habe keine Ahnung wovon du da sprichst«

»Ach, haben Sie nicht? Na schön, dann nutzen Sie mir nichts«

Er nimmt das Tuch und das Fläschchen vom Boden und sofort schreit der Anwalt: »Das traust du dich doch nicht!«

»Sie sind der Anwalt, der die Beweise gegen die Mörder verschwinden lies und tragen somit Mitschuld daran, dass sie immer noch frei herumlaufen während meine Eltern unter der Erde verrotten. Sie sind korrupt und dazu extrem einflussreich – keine gute Kombination. Ich denke, ich tue der Welt einen Gefallen, wenn ich Sie beseitige«, knurrt Casper und setzt das Fläschchen an, aber sein Opfer hält ihn auf, indem er wiederholt Schreie loslässt: »STOP! STOP!«

»Casper, was wird hier gespielt, verflucht? Du hast gesagt, du hättest was gegen ihn und wir würden ihn bloß erpressen und so die Informationen aus ihm holen!«

»Tja, da hat er dich wohl angeschmiert!«,wendet sich der Mann höhnisch an mich. Das Wasser reicht ihm schon bis zum Hals und ich schalte es eilig ab.

»Bitte, lass uns später streiten. Die Kameras dürfen nicht lange aus bleiben« Mit Überwindung nicke ich ihm zu und er fährt fort.

»Also Piarze, lassen Sie hören«

»Was auch immer du dir da ausgedacht hast: Es gab keinerlei Beweise gegen sie, die werden nicht umsonst Profikiller genannt! Es waren drei! Einer ist tot, der zweite verschwunden, der dritte ist unter einem Zeugenschutzprogramm«, lacht er. »Keine schöne Aussicht für den kleinen Casperlein, was?«

»Wer war der Auftraggeber?«, ignoriert Casper den letzten Satz – er muss sich sichtlich zusammenreißen – und darauf lacht der Anwalt nur noch lauter und scheint ganz vergessen zu haben, in welcher Lage er sich befindet.

»Oh, das war dein reizender Opa! Das hast du nicht gewusst?!«

Ich kann förmlich beobachtet wie Casper enorm erbleicht, er senkt die Utensilien zur Betäubung und schluckt geräuschvoll. Besorgt lege ich meine Hände auf seine Wangen.

»Tut mir Leid für dich«

»Nein, ist okay« schüttelt er den Kopf und kneift kurz die Augen zusammen.

»Ach, wie niedlich ihr beiden, aber glaubst du nicht, dass dein Vater sich für dich schämen würde, wäre er noch unter uns? Gott, sei ihm gnädig«

»Halten Sie ihr Maul!«, brülle ich ihn an und balle meine Fäuste, jedoch versperrt Casper mir den Weg.

»Noch eine Frage, Piarze: Wieso haben Sie das getan?«

»Ich habe nur meine Arbeit getan und meine Kunden verteidigt. Dein Vater ist selbst Schuld. Er wollte die Gang verraten und somit auch mich. Alles wäre aufgeflogen, auch meine Geschäfte und mein Geld wären futsch«

»Geld, Geld, Geld, wen kümmert Geld? Sie sind dafür verantwortlich, dass die Mörder meiner Eltern frei herumlaufen!«

Bevor ich etwas unternehmen kann, leert Casper das Fläschchen im Tuch aus, packt den Anwalt im Nacken und drückt es ihm eisern auf Mund und Nase. Dieser schreit in Todesangst, windet sich vergeblich, wirft mir einen flehenden Blick zu, indessen ich erstarrt zugucke wie das Leben aus ihm weicht und er ganz ruhig und reglos wird. Das Tuch enthüllt den im stummen Entsetzen aufgerissenen Mund – Casper klappt ihn zu und die Augen ebenfalls. So könnte man meinen, er würde schlafen.

»Was hast du…getan?«, flüstere ich und atme tief ein und aus, mein Gehirn verwandelt sich in Matsch, ich kapiere gar nichts mehr und habe die Befürchtung, gleich durchzudrehen. Mein Casper würde sowas nicht tun!? Oh, Gott! Oh, mein Gott!

»Er hatte ein Herzinfarkt in der Badewanne. Das ist kein Wunder, er hatte ein schwaches Herz, das Chloroform hat nur ein wenig nachgeholfen, aber es wird nicht nachweisbar sein«

Schweigend zündet er Duftkerzen an, die überall verteilt sind, schneidet das Klebeband auf und zieht Piarze die nassen Klamotten vom Leib um dann alles zu dem Fläschchen und dem Tuch in der Tasche zu verstauen.

»Casper, sag mir, dass er nicht tot ist. Bitte«

»Dann, müsste ich dich anlügen«, stellt er gepresst fest, zieht mich mit sich aus dem Haus und drückt den Knopf zum Reaktivieren an der Fernbedienung als wir außer Sichtweite sind. Viel zu rasant!

»Lass uns im Hotel deine Prinzipien erläutern, Xander«

»Er hatte möglicherweise Kinder und eine Familie und du lässt ihn hier vergammeln, bis ihn jemand findet? Er ist noch immer ein Mensch«, empöre ich mich und stolpere beinahe über einen Ast.

»Erstens hat dieses Schwein keine Familie oder gar Kinder und zweitens: Soll ich den Notdienst rufen, oder was? Ja, hallo, ich bin hier zufällig im Privatwald von einem Anwalt spaziert und habe durch die Hauswände gesehen, dass er tot in der Badewanne liegt. Oder wie stellst du dir das vor?«

Darauf kann ich nichts antworten, sondern mich bloß auf mein Platz im Auto setzen.

»Es tut mir Leid, dass ich dir das Wichtigste am Plan verschwiegen habe, du hättest mich sonst aufgehalten«

»Ja, allerdings. Aber was mich am meisten fertig macht ist, dass du dazu fähig bist so etwas zu tun« Beschämt weicht er meinem Blick aus und nuschelt:

»Ich kann es ja selber nicht fassen, ich habe diese Wut in mir und habe angenommen, dass ein Teil davon verschwinden würde, sobald er stirbt«

»Und, hat es was gebracht?«

»Nein, nichts. Doch ich habe nun erkannt, was wir als nächstes tun müssen«, sagt Casper.

»Was?«

»Wir überlegen uns eine neue Strategie in der wir an meinen Großvater rankommen. Wir werden ihn zur Rede stellen«

»So wie den Anwalt?«

»Nein, anders«

»Und das bedeutet bei dir was genau?«

»Das habe ich mir noch nicht fertig überlegt«

Angestrengt versuche ich mir klar zu werden, was im Haus abgelaufen ist und suche nach Abscheu oder Angst zu Casper – nichts. An meinen Gefühlen zu ihm hat sich rein gar nichts geändert, obwohl er vor mir einen Menschen umgebracht hat! Wie krank muss ich eigentlich sein? Ich kann sogar ein bisschen nachvollziehen warum er das getan hat, auch wenn ich das nicht möchte. Zwei verschiedene Seiten sind in mir entstanden. Die eine gefüllt mit Entsetzen über seine Tat und die andere mit lauter Rechtfertigungen und Gründen, die für ihn sprechen. Die zweite ist größer und das erschreckt mich noch mehr.

In bleierner Stille fahren wir zu unserem Hotel und betreten ebenso ruhig das versiffte Zimmer. Casper sinkt auf das Bett nieder und vergräbt sein Gesicht darin, die Schultern beginnen unerwartet zu beben. Er weint.

Mit einem Kloß im Hals setze ich mich zu ihm und streichle über seinen Rücken. Es zerreißt mich praktisch von innen ihn so zu sehen. Ich würde alles tun damit es ihm besser geht, da mir aber nichts besonderes einfällt, lege ich mich schließlich einfach neben ihn und umschlinge ihn mittels Armen und Beinen, während gedämpfte Schluchzer das ganze Bett erzittern lassen. So lange musste er es unterdrücken und jetzt kann er anscheinend nicht mehr. Traurig schließe ich die Augen und drücke ihn fest an mich.

Nach einer langen Weile bemerke ich, dass er aufgehört hat zu weinen und mich stattdessen lächelnd beobachtet.

»Ich liebe dich«, wispert er aufrichtig und streicht zärtlich eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Das Herz springt mir fast aus der Brust, als sich die Worte wieder und wieder in meinem Kopf wiederholen und ich sie kribbelnd am ganzen Körper wahrnehme.

»Ich…ich liebe dich auch«, flüstere ich ihm stockend zu und senke die Wange seiner Berührung entgegen.

»Ich glaube…ich habe niemanden so…geliebt wie dich« Dieser Augenblick ist so intensiv und intim, dass ich es fast nicht aushalte.

Folglich verwickelt er mich in einen stürmischen Kuss und unsere Hände gehen auf Wanderschaft. Binnen kurzem sind wir die lästige Kleidung los und spüren den jeweils anderen Körper heiß auf der Haut. Ich streichle die Narben entlang, küsse mich seinen bleichen Hals, die Brust bis zum Bauchnabel hinunter und meine Finger spielen mit seinen Nippeln bis er erschauernd stöhnt. Jeden Zentimeter von ihm möchte ich am liebsten in mich aufnehmen und für immer festhalten. Dann rutsche ich wieder hoch und wir reiben unsere Erektionen aneinande, ich küsse ihn gierig.

Eine irationale Befürchtung hat mich beschlichen – dass er mich verlässt. Irgendwie bescheuert und doch kann ich sie nicht abschütteln. Deswegen reift eine Idee in mir aus, über die ich schon seit langem grübele, die ich mich aber nicht getraut habe auszuprobieren oder auszusprechen.

Ich packe Caspers rechte Hand und führe sie zwischen meine Beine – als er meinen Schwanz nehmen will, wehre ich ab und führe ihn weiter nach unten zu meiner Spalte, wo er selbst übernimmt und sie entlangstreicht. Derweil schaue ich ihm ununterbrochen in die Augen und in seine tritt ein liebevoller Glanz. Da dringt ein Finger in mich ein, ich keuche auf und schließe die Lider, konzentriere mich nun darauf meinen Körper vollkommen zu lockern. Vorsichtig tastet er in mir und langsam finde ich Gefallen daran – es ist fremdartig aber nicht unangenehm, neu und doch vertraut. Und da trifft er plötzlich auf etwas und ich biege mich ihm wimmernd entgegen, halte mich an ihm fest. Casper nimmt nach einiger Zeit einen zweiten Finger dazu und benutzt auch etwas kühles Gleitgel, welches mich zucken lässt. Das Blut rauscht mir in den Ohren, wir küssen uns, obwohl es nicht genug Sauerstoff um uns herum gibt und ich sehne mich danach, ihn endlich zu verspüren, noch näher als jetzt. Es wundert mich, dass er sich so gut im Griff behalten kann, während ich ruhelos stöhne und ächze und es mir verkneifen muss, mich selbst zu befriedigen.

Meine Brust küssend beugt er sich über mich und ich kann sehen, wie er sich mit zitternden Fingern ein Kondom überstreift. Eine prickelnde Vorfreude ergreift mich und ich schlinge meine Beine um seine Mitte, wie er es bei mir damals im Heim gemacht hat. Er setzt an und hebt den Kopf, um mich im Blick behalten zu können. Sein Gesicht ist ganz erhitzt und die Stimme bricht ihm als er sagt:

»Habe ich erwähnt, dass ich dich liebe?«

»Ja, aber sage es so oft es geht«

Lächelnd nickt er, dringt stückweise in mich ein und umfasst gleichzeitig meinen zuckenden Schaft. Ich verharre unter ihm und mustere ihn ausgiebig, wie er stöhnt, das Gesicht vor Lust verzerrt und mich trotzdem so eingehend mustert wie ich ihn. Davon kriege ich nicht genug, von seinen durchdringender Iris, bis zu seinen perfekten Bauchmuskeln, die sich anspannen sobald er sich bis zum Anschlag in mir versenkt hat. Es ist anders als alles zuvor und es ist unbeschreiblich ihn auf diese Weise wahrzunehmen – in mir und neben mir, überall um mich.

Da er sich sehr beherrschen muss, gerät er jetzt schon ins schwitzen und eine Schweißperle läuft seinen Hals hinab, ich fange sie mit der Zunge auf, er grinst.

Meine Hände wandern zu seinen Hinterbacken, in die sich meine Finger krallen und ihn zu mir ziehen, sodass er unerwartet heftig in mich stoßt und etwas in mir trifft, was mich zum Aufschreien bringt.

Schwungvoll wechsle ich die Position und sitze nun rittlings auf ihm, möchte mehr hiervon haben, alles in mich aufnehmen. Auf seiner Brust abgestützt, hebe ich mein Becken an und lasse mich auf ihm nieder, mache kreisende Bewegungen dazu.

Casper presst seinen Hinterkopf ins Kissen, stöhnt ungehemmt und unterstützt mich mit beiden Händen an meinen Hüften. Auch mir entfahren entrückte Geräusche bei jedem Heruntergleiten und ich beschleunige mein Tempo.

Ich krümme mich zu ihm herunter, streiche mit flachen Händen über die Vorderseite seines perfekten Oberkörpers, die festen Muskeln der Arme und der Schultern entlang, lecke über die zu einem Spalt geöffneten Lippen, aus denen so wunderbare Laute entweichen und mir eine Gänsehaut nach der nächsten einjagen. Jede Sekunde nähere ich mich dem Höhepunkt, in meinem Unterleib herrscht ein Durcheinader, es kribbelt, brennt angenehm, zieht sich zusammen, pulsiert. Fasziniert versinke ich in diesen verschiedenen Empfindungen und hätte niemals angenommen, das sowas möglich ist.

Als wir so schnell werden, dass ich kaum noch Luft bekomme und durch meinen Körper Hitze lodert, kann ich es nicht länger in mir behalten und entlade mich nach hinten lehnend, den Kopf in den Nacken werfend, heiß auf seinem Bauch. Auch er biegt seinen Rücken durch und stemmt sich zu mir hoch, verkrampft – und kommt gleich darauf keuchend in mir drin.

Geschafft sinke ich aufs Bett und reiche ihm die Taschentücher vom Nachtisch. Demzufolge nimmt er mich in seine Arme, gemeinsam genießen wir mit geschlossenen Augen die Nachwehen und fahren durch die Haare des anderen.

»Jetzt liebe ich dich sogar noch mehr«, scherzt Casper leise und ich lache wohlig und breite die Decke über uns beide aus.

»Du verlässt mich doch nicht, oder?«, spreche ich mein Hirngespinst aus.

»Mich wirst du nie wieder los«

»Gut so«, murmele ich im Halbschlaf. »Gibst du mir auch dein Wort darauf?«

»Schlaf jetzt, Xander, und träume bitte von mir«

Was für eine seltsame Bitte, denke ich, bevor ich ins Land der Träume rüber wandere.

 

***

 

Gähnend und selig lächelnd strecke ich mich auf der steinharten Matratze aus, die diese Nacht gar nicht so schlimm war. Mein Arm tastet selbsttätig die abgekühlte Oberfläche entlang auf der Suche nach einem warmen Körper, der neben mir liegen sollte, und findet dabei etwas ganz anderes. Wie paralysiert halte ich kurz inne, öffne dann meine Augen und ergreife das Stück Papier. Klopfenden Herzens lese ich die hingekritzelte Nachricht:

»Xander, ich hoffe du verstehst, warum ich ohne dich gegangen bin. Es ist gefährlich und ich kann nicht zulassen, dass du wegen mir draufgehst. Mein Großvater war es, der Profikiller auf seinen eigenes Fleisch und Blut gehetzt hat, also wird er auch vor mir nicht Halt machen, er würde uns beide erledigen, aber ich habe einen guten Plan entwickelt. Verzeih mir bitte, dass ich es dir nicht persönlich sagen konnte!

Fahre nach Hause und suche mich nicht, ich werde dich selber finden, versprochen.

Ich liebe dich. Seh

Sprachlos reibe ich mir über die Lider und lese es erneut, doch die Sätze bleiben stehen.

Ich springe kopflos auf und schlittere ins Bad – da ist er nicht, ich gucke aus dem Fenster – das Auto ist weg und im Zimmer sind auch keine Sachen mehr von ihm da, als wäre er nie hier gewesen.

Auf meine Lunge drückt eine tonnenschwere Last, ich setze mich auf die Bettkante, da sich alles um mich dreht und drücke sein Kissen japsend an mich, mein Herz fühlt sich wund und blutig an. Die geschriebenen Wörter kreisen unaufhörlich in meinem Gehirn herum.

Alles ist zerbrochen, er hat mich in diesem Drecksloch allein gelassen, obwohl er mir das Gegenteil versprochen hat und verlangt von mir, dass ich nach Hause fahre. So ein Heuchler! So ein verdammter Lügner! Das Kissen mit seinem Duft presse ich mir aufs Gesicht und schreie zornig hinein bis meine Kehle brennt und der Stoff von meinen Tränen durchtränkt ist.

Ich will ihn hassen! Immer wieder hat er mich verarscht, wann endet das? Wenn es gefährlich ist, wie will er da heil heraus? Wütend schleudere ich das Kissen zur Seite und wühle in einer kleinen Tasche nach dem Schlüssel des Bugattis, den wir ein paar Kilometer weit entfernt in einer Mietgarage untergebracht haben. Ich werde bestimmt nicht hier rumsitzen und Däumchen drehen, irgendwas muss ich tun. Doch dort entdecke ich es nicht, stattdessen nur ein weiteres Blatt Papier.

»Ich habe doch gesagt, du sollst mich nicht suchen, Xander. Vertrau mir, wir werden uns wiedersehen. Den Schlüssel habe ich zur Sicherheit mitgenommen. Ich habe jemanden angerufen, der dich abholt und mit dem du dich mal richtig aussprechen sollst.

Ich liebe dich weiterhin. Sehr«

»Ach halt doch die Klappe!«, knurre ich und zerknülle den Zettel in der Faust.

Und wer ist dieser „Jemand“ überhaupt?

Wie aufs Stichwort klopft es rüde an die Tür und in der kindlichen Hoffnung, es wäre Casper, schließe ich sie auf – und werde bitterlich enttäuscht.

»Was zum Teufel suchst du denn hier?!«

Ich hätte mit jedem rechnen können, jedoch nicht mit meinem großen Bruder, Taylor!

»Dein Psycho hat mich angerufen. Tja, der Weg war wohl umsonst, ihr habt mich veräppelt und hier läuft keine Show ab« Verärgert dreht er sich um, ich rufe:

»Warum bist du hier?«

»Ich habe gehofft dabei zusehen zu können wie du in Scheiße schwimmst, warum sonst?«

Was in seinem Kopf so alles vorgeht, habe ich nie begriffen. In dieser Hinsicht ist er noch schlimmer als Casper.

Was mache ich jetzt bloß? Zwei Möglichkeiten bieten sich mir: Ahnungslos durch die Gegend zu rasen auf der Suche nach ihm oder nach Hause zu fahren, wo ich nicht willkommen bin, und dort darauf zu warten, dass er mich „findet“. Beides klingt nicht verlockend.

Andererseit hat er ja vielleicht recht – dieses eine Mal könnte ich auf jemanden hören und das tun, worum man mich bittet. Für ihn kann ich es machen. Es ist ja nicht so, dass Casper mir einen endgültigen Abschiedsbrief hinterlassen hat – er ist einfach für eine Dauer nicht da. Er packt das schon, rede ich erfolgreich auf mich selber ein, er ist stark, schlau und ist bestens dazu fähig auf sich aufzupassen. Wenn er schreibt, dass er einen guten Plan entwickelt hat, sollte ich ihm vertrauen, denn er ist keiner von denen, die zu viel von sich halten. Dennoch bin ich sauer, dass er auf diese Weise abgehauen ist. 

Ich fasse mir ein Herz, atme schwer ein und sage:

»Da du hier bist, kannst mich ja gleich nach Hause bringen«

»Da du ja hier bist, kannst mich ja gleich nach Hause bringen«, äfft Tay mich abfällig nach. »Du kannst dich nicht mal richtig ausdrücken – es heißt: "kannst du mich ja gleich nach Hause bringen". Zudem hast du dort Hausverbot, Dad hat mir aber nicht verraten wieso, das finde ich noch raus. Ich bin mit seinem Audi hier. Er ist völlig ausgeflippt wegen des geschrotteten Oldtimers und des verschwundenen Bugattis«

»Wenigstens das«, murmle ich und packe schnell meine Tasche, bevor ich mich doch noch umentscheide. Danach gebe ich den Zimmerschlüssel zurück und steige in das Audi, wo Tay schont startbereit sitzt.

»Woher hat Casper deine Nummer?«

Casper meint oft, dass man sich nicht mit der Familie streiten soll, da sie von einem Augenblick zum anderen für immer aus dem Leben scheiden können und dann viele Dinge ungesagt bleiben, er versucht mich oft dazu zu überreden mit Tay Frieden zu schließen. Als ob das überhaupt möglich wäre.

»Ich soll wissen, wo Psychos die Nummern von Leuten herkriegen? Er hat mich eben angerufen und gesagt, dass du dich umbringen willst. Da konnte ich nicht widerstehen«, brummt er und ich glotze ihn ungläubig an. Verarscht er mich oder ist es sein Ernst? Am besten werde ich nicht versuchen den Sinn hinter seiner Aussage zu ergründen. 

»Das hast du ihm geglaubt?«

Aufs Gas tretend faucht er mich an: »Könnte ja sein, dass das vererbbar ist. Eins sollte klar sein – Britta hat mich gezwungen zu fahren, sie hat das Telefonat mitbekriegt. Ich wollte hier bloß zusehen, wie du dich umbringst und ihr könnte ich dann sagen, dass ich alles versucht hätte, um dich umzustimmen. Jetzt werde ich dich aber zu Britta bringen, damit sie aufhört mir die Ohren vollzuheulen. Seit Mum nicht da ist hat sie zu viel Freizeit«

»Du bist doch echt krank«, ist das Einzige, was ich sagen kann. 

Er wirft er mir einen bösen Blick zu und lächelt bitter.

»Du hattest immer die Freiheit alles zu tun und ich stand im Mittelpunkt von Dad und Mum. Dad kontrolliert mein Leben und Mum konnte keinen einzigen Tag ohne mich verbringen – wenn sie mal nicht völlig in Depressionen versunken war. Aber das nimmst du in deiner Seifenblase natürlich nicht wahr, du bist mit dir selbst beschäftigt.«

Ich lasse mich nicht dazu herab, ihm darauf zu antworten, drehe das Radio auf und Suche nach einem passablen Sender, als dort urplötzlich ein mir bekannter Name ausgesprochen wird. Mein Herzschlag verdoppelt sich schlagartig und ich mache lauter.

»Hey, doch nicht so laut–«

»Klappe«, schreie ich ihn wild an und er gehorcht ausnahmsweise.

»…der erfolgreiche Geschäftsmann Issa Kolec und sein Enkel Casper Kolec sind unter anderem die Opfer des unglaublichen Feuers, das sich, wie wir bereits berichteten, in der Nacht von gestern auf heute ereignete und das Gebäude vollkommen zerstörte. Die Opfer konnte man dank der Kameras um das abgebrannte Gelände ermitteln, denn die Leichen waren in einem Zustand der Unkenntlichkeit. Da die gesamten Alarmanlagen ausgeschaltet waren und es in dieser Nacht nebelig war, entdeckte man das Feuer viel zu spät…« Ich drehe das Radio auf lautlos.

»Was hast du?« Ich höre ihn gar nicht, ich höre nichts mehr, denke nichts mehr und fühle ebenfalls nichts.

»Er hat sein Versprechen schon wieder gebrochen«, flüstere ich hohl und alles wird schwarz vor meinen Augen. 

Kapitel 14.

»Heute ist…mal sehen…John Lenon dran«, sage ich und lege die Schallplatte in den uralten Rekorder, den mir Britta vor Kurzem geschenkt hat. Ich war die letzten Tage damit beschäftigt nach allen möglichen Schallplatten von den „Beatles“ zu suchen und die dann zu kaufen. Die Musik plätschert ruhig dahin.

»Willst du vielleicht heute mit mir reden?«, frage ich sie und sie schüttelt den Kopf. Seufzend setze ich mich auf den Stuhl neben ihrem Bett und nehme ihre zarte Hand in meine.

»Er ist nicht tot, weißt du. Egal was alle sagen, ich glaube das nicht«

In ihren Augen glitzerten Tränen und sie zieht mir ihre Hand weg. Das ist das Zeichen dafür, dass ich aufhören soll über ihn zu reden. Obwohl sie sprechen kann – das hat sie gezeigt, als die Polizei sie über den angeblichen Tod ihres Bruder aufgeklärt hat – tut sie es nicht jedes Mal, wenn ich sie besuche. Aber mit wem soll ich sonst über ihn reden, als mit seiner Schwester, Sara.

»Es soll ja bekanntlich vier Phasen der Trauer geben, du bist eben noch in der ersten. Du willst es nicht wahr haben«, sagt sie leise und sieht aus dem Fenster.

»Ich trauere gar nicht. Es gibt keinen Grund zur Trauer, denn er ist nicht tot. Und in welcher Phase bist du dann?«

»In keiner. Ich bin so ein emotionaler Wrack, dass ich mir nicht sicher bin, überhaupt etwas zu empfinden«

Ich schaue sie stumm an. Sie ist zwar seine Zwillingsschwester, doch da ist keine Ähnlichkeit. »Wieso hast du nicht mit ihm gesprochen?«

Sie schluchzt plötzlich auf und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. »Ich wollte ihn nicht sehen, ich war egoistisch und schwamm in Selbstmitleid wegen meinen Beinen. Er hat mich viel zu sehr daran erinnert, was passiert ist. Jetzt ist es zu spät, um mich zu entschuldigen«

Vorsichtig schlinge ich meine Arme um sie, während sie von krampfartigen Schluchzer geschüttelt wird.

»Sara, weißt du was?«

»Was?«, schnieft sie und ich bringe sie auf Armabstand.

»Ich hätte mich in dich verliebt, wenn dein Bruder mir nicht den Kopf verdreht hätte«

Ein leises Lächeln schleicht sich auf ihre Züge.

»Du Blödmann. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Cas dich an sich rangelassen hat – das hat bisher noch keiner geschafft«

Sie nennt ihn immer „Cas“ und nun kann ich nachvollziehen, warum er was dagegen hat, dass ich ihn so nenne. Ich habe ihr alles erzähl, die ganze Geschichte, von Anfang, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, bis zum jetzigen Zeitpunkt.

»Was soll ich sagen? Ich bin halt etwas Besonderes«, zucke ich grinsend mit den Schultern,

»Das bist du wirklich. Cas hatte Glück mit dir und ich bin dir sehr dankbar, dass du mich besuchst«, meint sie ernst.

Am liebsten hätte ich ihr verboten in der Vergangenheitsform von Casper zu sprechen, aber ich will sie nicht aufregen, sie hat genug Aufregung gehabt in letzter Zeit.

»Hast du deine Mutter schon heute besucht, Xander?«

»Ja, kurz. Es geht ihr hier viel besser«

»Das freut mich für dich. Zeig ihr, dass du sie brauchst und dass du sie liebst«

Ich bezweifle jedoch, dass sie je gesund wird oder dass ich ihr mit meinen Besuchen helfen kann.

»In dieser Hinsicht bist du echt wie Casper, er versucht mich auch ständig dazu zu bringen, mich mit meiner Familie zu vertragen.«

»Familie ist das Wichtigste, was es gibt. Das habe ich schon immer gewusst«

»Das ist bei eurer Familie so gewesen. Bei meiner ist es anders, ich bin in einer völlig anderen Situation als du es warst.«

»Du bist ein Dickkopf«, rügt sie mich und fährt mir durch die millimeterkurzen Haare. Ich weiß nicht genau warum, aba ich hatte den Drang sie mir abzuschneiden und habe es einfach getan. »Ich bin müde und werde jetzt schlafen. Und du sollst endlich wieder in die Schule gehen, du schwänzt schon viel zu lange!«

»Ohne ihn gehe ich da nicht hin«, flüstere ich.

Sie seufzt und kuschelt sich in ihre Decke. »Mach bitte „Stand by me“ an, das war Dads Lieblingslied«

»Gut«

Ich tue worum sie mich bittet und sehe ihr dabei zu wie sie binnen Minuten einschläft. Sara nimmt viele Medikamente und ist deshalb sehr oft müde.

Das Lied verklingt und ich lege die Platte von Neuem an.

Dann höre ich ein kaum vernehmbares Geräusch und unverhofft legen sich mir bekannte Hände über meine Augen, ich zucke zusammen.

»Hast du mich vermisst?«, flüstert eine Stimme nah an mir, stürmisch drehe ich mich zu ihm um, er wankt ein wenig, und klammere mich mit zusammengekniffenen Augen so fest ich kann an ihm fest.

»Oh Gott…oh Gott, Casper. Warum hat es bloß so lange gedauert?«, wimmerre ich undeutlich, weil ich mein Gesicht an seine Schulter drücke. Langsam bewegt er uns zu dem Rhythmus des Lieds und ehe ich mich versehe, drehen wir uns schrittweise auf der Stelle.

»Die Aufregung um den Brand musste sich erst beruhigen, bevor ich zu dir konnte«

»Ich habe dich so unendlich vermisst, alle haben gesagt, dass du nicht mehr lebst–«

Er drückt mich inniger an sich und fährt mit seinen geöffneten Lippen über meine.

»Du hast mir auch gefehlt«

»Was ist passiert?«

»Ich war da, wollte ihn von Angesicht zu Angesicht erschießen, aber aufeinmal explodierte das ganze Gebäude und das nächste, was ich weiß ist, dass ich in Navids Auto aufgewacht bin«

»Navid hat dir also den Arsch gerettet. Du bist ein Idiot«, stelle ich fest und lehne meine Stirn an seine. Das ist mir eigentlich egal, das Wichtigste ist, dass er bei mir ist und dass ich ihn nie wieder gehen lassen werde. Nie wieder. »Es war einfach schrecklich ohne dich, so verdammt leer«

Casper reibt seine Nase an meinem Hals und küsst mich nochmals, küsst mein Lieder, meine Wangen, mein Kinn und meine Stirn.

»Ich muss auswandern und–«

»Was?«, unterbreche ich ihn fassungslos und schubse ihn von mir weg. »Du verlässt mich nicht nochmal, klar?«

»Begleite mich«, sagt er und nimmt mich wieder in in die Arme. »Ich weiß - ich war immer dafür, dass du dich mit deiner Familie verträgst, doch ich kann mir nicht vorstellen ohne dich fortzugehen, «

Ich starre sprachlos vor mich hin. Was war das? »Und wohin?«

»Das ist egal, Hauptsache wir sind zusammen«

Das muss ich erst sacken lassen, aber mir klopft schon das Herz bis zum Hals vor Aufregung. »Das fühlt sich ja fast wie ein Heiratsantrag an«

»Vielleicht ist es ja einer«, schmunzelt er.

»Dann ist meine Antwort: Ja, ich will«

Noch immer stehen wir so eng beieinander, dass kein Blatt Papier zwischen uns passen könnte und unsere Hände können auch nicht von einander ablassen, streicheln uns gegenseitig.

»Ich liebe dich«, sagt er sanft lächelnd.

»Ich liebe dich auch«

»Meine Schwester möchte ich auch mitnehmen, wenn du nichts dagegen hast«

»Nein«, sagt Sara überraschend hellwach. »Ihr müsst ohne mich wegfahren. Habt ein bisschen Spaß, das habt ihr euch verdient. Ich würde euch nur aufhalten und außerdem muss ich hier bleiben bis ich ganz gesund bin«

»Sara, du sprichst–«, keucht Casper zu ihr ans Bett stürzend und ihm laufen sofort Tränen über die Wangen.

»Xander, wärst du so lieb und lässt uns kurz allein, damit ich meinem Bruder eine Gehirnwäsche verpassen kann?«

»'Türlich«, nuschle ich und trete hastig aus dem Zimmer.

Toll, da erwartet mich geradewegs Navid.

»Xander«, nickt er mir an der Wand lehnend zu. Sein Gesicht ist ist etwas zerkratzt und insgesammt sieht er angeschlagen aus. 

»Navid«, erwidere ich in der gleichen Tonlage und bleibe unschlüssig stehen. Aber dann reiche ich ihm doch die Hand entgegen. »Ich danke dir«

Er verzieht das Gesicht, beachtet meine Hand nicht. »Das habe ich für mich und ihn getan. Wenn er später merkt, dass ich besser für ihn bin–«

»Das ist ein Wunschtraum und das brauche ich dir gar nicht erst zu sagen. Wir fahren zusammen weg und du wirst nicht dabei sein«

»Nicht du hast ihn aus dem brennenden Gebäude geholt, sondern ich!«, zischt er und knackt zornig blitzend mit dem Nacken.

»Aus dem gleichen Gebäude, welches du vorher in Brand gesteckt hast? Wer ist überhaupt die zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche, die man für Casper hält? Hast du etwa jemanden dafür ermordet?«

»Die habe ich auf dem gleichen Weg ins Gebäude geschmuggelt, auf dem ich Casper wieder rausgeschafft habe. Offiziel gibt es diesen gar nicht! Das habe ich alles getan, damit er nicht das Blut seiner Verwandten an den Händen kleben hat, während du auf deinem faulen Arsch gesessen hast«

Darauf kann ich nichts entgegnen, er hat ja irgendwie recht. Man kann über Navid sagen, was man will, aber man kann nicht behaupten er würde Casper nicht genug lieben. 

Dieser kommt zum Glück aus der Tür, seine Augen sind ganz verheult und ich nehme ihn wieder in den Arm. Ich kann es nicht lassen, ihn anzufassen, ihn ständig zu berühren um mich nochmal zu versichern, dass er vor mir ist. »Alles, okay?«

»Ja, sie hat mir wirklich eine Gehirnwäsche verpasst, aber wir können jetzt hier raus. Uns darf bloß keiner sehen, sonst glaubt jemand noch, ich wäre von den Toten auferstanden«

»Navid, ich schätze wir müssen uns verabschieden«

Er hat mich losgelassen und tritt zu Navid, reicht ihm, wie ich gerade eben, die Hand zum Schütteln, aber dieser zieht ihn kurzerhand zu sich und küsst ihn leidenschaftlich.

Casper gibt ein überraschtes Geräusch von sich und reißt sich sofort von ihm los, stolpert ein bisschen nach hinten.

»Du wirst bereuen–«, fing der Große an, der nun nicht groß sondern eher klein und verletztlich wirkt. Beinahe, aber auch nur beinahe empfinde ich einen Hauch Mitleid für ihn. 

»Nein, Navid, werde ich nicht, doch ich bin dir dankbar, für alles was du für mich getan hast. Ich werde dirdas nicht vergessen«

Damit wendet er sich zu mir, verschränkt seine Finger mit meinen und führt uns weg.

»Komm«

»Casper, ist diese Scheiße nun endlich vorbei?«, frage ich hoffnungsvoll, wir schreiten mittlerweile den dunkeln, leeren Flur entlang.

»Ja«

»Und fühlst du dich jetzt besser, nachdem sie tot sind?«

Liebevoll lächelnd hebt er unsere Hände zu seinem Mund. »Ich habe ein für alle mal damit abgeschlossen. Wir können neu anfangen, am besten irgendwo weit entfernt und wo es warm und sonnig ist. Und wenn Sara gesund ist, holen wir sie zu uns«

»Das klingt nach einem sehr guten Plan. Schaffst du es zu vergessen, dass da noch einer der Mörder lebt?«

Die Treppe des Hintereingangs steigen wir bedachtsam herunter, da sie ganz glitschig vom Laub ist und Caspersieht mich aufrichtig an, seine dunklen Augen leuchten, seine schwarzen Haare fallen ihm strubelig in die Stirn. »Mit dir schaffe ich alles«

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: Nadin Pohler alias ultranumb
Lektorat: ernasack
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

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