~Akeno's Sicht~
Entsetzt starre ich ihn an.
"Haru...was...?", flüstere ich außer mir. "Du willst mich hier... festhalten?"
Er grinst.
"Ich kann dich nicht gehen lassen, Akeno.", wiederholt er. "Wir haben noch nicht einmal gefrühstückt."
Erleichtert lehne ich mich an den Teddybären. Er hat nur Spaß gemacht.
"Aber wenn du willst...", fährt er fort. "Kannst du auch gerne hier bleiben. Dein Leben ist nicht schön, oder?"
Ich senke den Kopf und schweige. Das Angebot ist zu verlockend. Keine nervige Schwester. Keine Schule. Nur Haru.
"Überlege es dir. Du würdest als vermisst gemeldet werden.", meint er halbherzig. "Und du müsstest ganz lange hierbleiben. Aber nach ein paar Monaten könnten wir von hier verschwinden. Weg aus Japan."
Als ob das so einfach wäre. Seine Worte klingen unglaublich süß. Am liebsten würde ich einfach nur nicken.
"Ich möchte...ich möchte heute nicht zur Schule.", flüstere ich schließlich. "Ich möchte gerne nachdenken."
Als ich wieder zu Haru sehe, hat er sich bereits erhoben.
"Schlaf noch ein bisschen, Akeno. Niemand zwingt dich dazu, in die Schule zu gehen."
Ich blicke ihm nach, bis er draußen verschwunden ist und die Tür hinter sich zugeklappt hat.
Schlafen. Sogar das Licht hat er angelassen. Wie kann ich jetzt ans Schlafen denken? Auf dem Stuhl des Schreibtisches liegen meine Klamotten. Die Klamotten, nach denen ich mich sehnen sollte. Die ich auf mir spüren sollte. Aber sie stoßen mich ab. Ich möchte sie nicht. Nie mehr. Zu sehr erinnern sie mich an mein 'altes' Leben, dass ich nur so wenige Stunden vorher noch gelebt habe. Doch ich habe es satt. Habe das Mobbing satt. Ich möchte nicht zurück. Aber bei Haru bleiben? Meine Schwestern verlassen? Sie glauben lassen, ich wäre tot, oder jedenfalls einfach weg? Wie wird die Kleine das ertragen? Ohne Bruder aufzuwachsen? Ohne ihren Bruder, der immer für sie da ist? Wie werde ich weiter Judo trainieren können? Wenn ich nicht zur Schule gehe, gibt es auch kein Judo. Nie wieder. Oder vielleicht doch. Wenn wir von hier verschwinden. Aber wie lange wird das dauern? Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre?
Ich hasse es, Dinge zu entscheiden. Langsam gleite ich aus dem Bett. Haru hat Recht. Er hat meine Unterwäsche nicht angerührt, so fühlt es sich jedenfalls an.
Neben dem Bett stehen plüschige Hausschuhe, ähnlich wie die, die ich gestern dem Maid-Café getragen habe. Steht Haru wirklich aus so etwas? Ich übersteige sie vorsichtig. Der Parkettboden ist angenehm kühl. Langsam gehe ich durch das große Zimmer. Überall liegen Bücher verteilt. Englische Bücher, Japanische Bücher. Unter einem Stapel kann ich einige Manga's entdecken. 'Boy-Love'-Manga's. An den Wänden hängen Bilder. Bilder von Stränden und Wäldern. Ist es das, wovon er träumt? Möchte Haru vielleicht an's Meer? Zusammen mit mir? Oder hat er mir das Angebot aus reiner Höflichkeit gemacht? Weil er gesehen hat, wie schlecht es mir geht? Oder hat er mich gehört? Gehört, wie ich nachts spreche. Im Halbschlaf. Und mich später an nichts mehr erinnern kann? Sein Fenster ist mit Vorhängen zugezogen, obwohl es draußen noch dunkel ist. Draußen erkennt man einen schemenhaften Hinterhof, eine Wiese, ein paar Bäume. Es fühlt sich gut an, hier zu sein. Wach zu sein, wenn die meisten noch schlafen. Es gibt mir ein Gefühl von Einsamkeit. Ein schönes Gefühl, manchmal, doch meistens unerträglich. In diesem Moment macht es mich glücklich. Glücklich. Wann war ich das letzte Mal glücklich? Ich kann mich nicht erinnern. Möglicherweise gestern schon, als ich mit Haru in dem Maid-Café war. Möglicherweise auch schon in dem Moment, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Haru ist ein toller Mensch. Aber kann ich für ihn mein Leben aufgeben?
~Haru's Sicht~
Ich ziehe alle Vorhänge in der Wohnung auf, während draußen bereits die Sonne aufgeht. Ich habe keine Lust auf Schule. Ich möchte bei Akeno bleiben. Akeno. Kaum zu glauben, dass ich ihn erst seit gestern kenne. So winzig. So niedlich.
Ich seufze leise und schlage ein Ei in die Pfanne. Spiegelei. Hoffentlich mag er das.
Am liebsten würde ich sofort in das Zimmer stürmen und mich neben ihn legen. Aber dazu ist es noch zu früh. Wer weiß, vielleicht möchte er ja wirklich bei mir bleiben. Ich sollte ihn nicht vergraulen, indem ich ihm zu nahe komme. Es ist falsch, dass ich ihm anbiete, ihn zu 'entführen'. Er hat ein eigenes Leben. Eine eigene Familie. Ich bin selbstsüchtig. Ich denke nur an mein Wohl. Nicht an ihn. Nur an mich, und daran, wie gerne ich möchte, dass er bleibt. Es muss nicht einmal für immer sein, er kann es sich jederzeit anders überlegen. Ich würde ihn nie aufhalten. Er ist etwas besonderes. Er verdient etwas besseres, als das Leben, dass er jetzt hat. Er wird gemobbt. Das hat er mir anvertraut, obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kennen. Seine Eltern sind tot. Seine Schwestern nerven. Was ist das für ein Leben? Er kann sich nicht wehren. Er ist klein. Kleiner als der Rest, sieht anders aus. Nachdenklich schaue ich nach draußen. Haben wir überhaupt eine Chance?
~Akeno's Sicht~
Es riecht nach Essen, mein Magen beginnt zu knurren. Es ist sieben Uhr. Ich weiß nicht, ob Haru noch da ist. Vielleicht hat er mir etwas übrig gelassen?
Ich schleiche zu der Tür und öffne sie einen Spalt breit. Tatsächlich, ein Flur. An den Seiten mehrere Türen. Und an den Wänden Bilder. Bilder über Bilder. Ist Haru ein Künstler? Malt er gerne? Ich überlege nicht lange und betrete den Flur. Ein langer, dunkelblauer Teppich führt mich über den Flur. Er ist mit orientalischen Mustern bestickt. Einige der Türen sind offen. Bad, Toilette, Wohnzimmer. Die größte Tür ist vermutlich die Eingangstür, daneben stehen Schuhe, auch meine sind dabei. Ich weiß nicht, ob Haru alleine wohnt, aber es sieht sehr danach aus. Er könnte mich sowieso nicht ein einer Wohnung verstecken, die von weiteren Menschen bewohnt wird, ohne das die etwas von mir erfahren. Die letzte Tür, die direkt gegenüber des Schlafzimmers ist, strömt den stärksten Geruch nach Essen aus. Die Küche. Innen spielt das Radio ein englisches Lied. Vorsichtig drücke ich die Tür ein Stück auf. Erleichtert bemerke ich, dass sich hier nur Haru befindet, der am Fenster steht. Hat er noch nicht gegessen?
Ich schlüpfe ich den Raum.
"Haru?"
Er dreht sich erschrocken um.
"Oh...da bist du ja.", meint er verwirrt. "Du hast aber wenig geschlafen."
"Ich habe nicht geschlafen.", erkläre ich und setze mich auf einen der Stühle, die rund um dem Küchentisch stehen.
Haru sagt nichts, setzt sich aber mir gegenüber.
"Möchtest du etwas essen?", fragt er nach einer Weile. "Ich habe Spiegeleier gemacht."
Spiegeleier. Noch nie gegessen. Ich nicke. Er steht auf und reicht mir einen Teller. Offensichtlich hat er alles schon vorbereitet. Er muss sich gelangweilt haben.
"Wohnst du eigentlich alleine?", frage ich, während ich ein Stück des Eis koste. Salzig. Aber eigentlich lecker.
Er beobachtet mich aufmerksam, während er antwortet:
"Meine Familie wohnt in England. Ich vermisse sie manchmal. Aber es ist okay. Ich habe mich dazu entschlossen hier zu leben."
Ich nicke verständnisvoll. Meine Vermutung hat sich bestätigt. Ich kann hierbleiben, wenn ich möchte. Niemand wird mich entdecken. Aber möchte ich das? Ich weiß es nicht.
"Gehst du heute zur Schule?", frage ich, um mich selbst abzulenken.
Er legt den Kopf schief.
"Ich kann hierbleiben, wenn du möchtest.", schlägt er vor. "Wir könnten noch mal in 'ThreeLittleMaid's' gehen."
Verlockend. Zu verlockend.
"Du musst nicht deine Schuluniform anziehen.", fährt er fort. "Ich habe noch andere Klamotten. Ich könnte dir welche geben."
Ich beiße mir auf die Lippe um nicht gleich zu bejahen.
"Ich kann aber auch zur Schule gehen.", sagt er ausweichend, als ich nicht antworte. "Aber dann bist du bis vier Uhr alleine. Oder...du gehst einfach nach Hause. Ich meine, wenn du nicht bei mir bleiben willst."
Er starrt auf die Tischplatte. Ich möchte ihn nicht traurig machen.
"Ich möchte nach Hause.", flüstere ich.
Keine Reaktion.
"Um meine Sachen zu holen."
Er blickt zu mir hoch. In seinen Augen spiegelt sich all seine Hoffnung wieder.
"Du bleibst?", fragt er erstaunt. "Wirklich?"
Als ob er es nicht glauben könnte.
"Ich habe mein altes Leben satt.", erkläre ich. "Ich möchte das nicht mehr. Ich möchte frei sein. Und wenn das nur so geht, dann bitte. Aber merk dir, dass ich nicht jedem so schnell vertraue, wie dir. Normalerweise würde ich nach einem Abend nie zu jemandem mitkommen. Verstehst du?"
Er hört mich schweigend an und nickt.
"Dann mach mal.", antwortet er.
Als ich aufstehe breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
"Warte, ich gebe dir etwas zum Anziehen. Bei uns ist die Schuluniform keine Pflicht mehr. Ich darf tragen, was ich möchte. Aber nimm du deine Uniform mit. Lass sie bei dir zuhause, ja? Ich denke, du wirst sie nicht brauchen."
Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen. Für alles was er getan hat. Für die Rettung vor Mamoru. Für das Maid-Café. Für seinen Vorschlag. Aber ich tue nichts. Ich bin keinen körperlichen Kontakt gewöhnt. Ich umarme nicht einmal meine Schwestern.
"Danke.", sage ich deshalb nur. Er lächelt mich an und erhebt sich. Ich schiebe meinen leeren Teller zu ihm hin und er stellt ihn auf der Anrichte ab.
"Ich kann dir Jeans anbieten.", sagt er grinsend. "Dürften dir zu groß sein. Du kanst sie unten hochkrempeln."
Ich hatte vergessen, was für ein Riese Haru ist. In seinen Klamotten werde ich noch winziger aussehen, als ich es jetzt schon tue.
"Meinetwegen.", sage ich gnädig.
"Super.", erwidert er, schmeißt die Sachen auf das Bett und schnappt sich seine Tasche, die auf dem Stuhl liegt.
"Wir sehen uns um fünf.", sagt er lächelnd, drückt mir seinen Wohnungsschlüssel in die Hand und verschwindet nach draußen. Er geht jetzt zur Schule. Wie immer.
Langsam ziehe ich mich um. Seine Klamotten duften angenehm. Nach ihm. Fast vergesse ich, dass ich männlich bin. Haru ist einfach zum dahinschmelzen.
Wütend unterbreche ich meine Gedanken, schnappe mir alle meine Sachen und laufe Hals über Kopf aus der Wohnung. Das Treppenhaus ist in einer angenehmen Farbe angestrichen. Hellgrün. Auf den Fensterbrettern stehen Pflanzen. Draußen ist es angenehm kühl, die Sonne strahlt. Ein wunderbarer Tag.
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Fey (Die mir IMMER noch ein weiteres Kapitel schuldet o.o) <3