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Der alte Giadamo lebte allein.
„Meine Freunde sind meine Familie!“, pflegte er zu sagen.
Er war zuhause in seinem kleinen Bergdorf.
„Ich brauche keine Frau. Du bist doch meine Frau“, lachte er an jedem Samstag Mittag, wenn er sich fein anzog, um im Dorflokal seine Mahlzeit zu bestellen. Gemeinsam mit Sophia freute er sich dann über die neusten Geschichten und ärgerte sich über manch ein weltpolitisches Ereignis, das irgendwo da draußen geschah. (Und das war gut so, fand Giadamo. Politik war in Ordnung, solange sie fern seiner Haustür passierte.)
„Ich brauche keinen Sohn. Du reichst mir vollkommen“, schmunzelte er fast jeden Tag, wenn der kleine Luigi direkt von der Schule aus zu ihm kam und manches Mal die Zeit vergaß. Doch Luigis Mutter schimpfte nie, denn sie mochte den alten, kauzigen Giadamo. Sie war ihm dankbar, dass er ihrem Sohn Geschichten erzählte und ihn vergessen ließ, dass er stumm war.

Wie oft schlenderten die beiden selbstvergessen über die kaum befestigten Straßen ihres Dorfes! Manchmal sah man sie gemeinsam schweigen, mit ernsten Gesichtern, in tiefe Gedanken versunken, doch dabei immer den gleichen Schritt findend, das gleiche Tempo.
Der alte Giadamo – gebeugt und krumm, furchenüberzogen, in übergroßer Kleidung und mit unrasiertem Gesicht. Der kleine Luigi – zu klein vielleicht für sein Alter, voller Leben, mit zerzaustem Haar und ordentlich gebügelten Hosen.
Dort eine Haut wie gegerbtes Leder – sonnengebräunt und von den Jahren gezeichnet.
Dort rosige Farbe unter Sommersprossen – ein bisschen zu zart, ein bisschen zu jung.

Luigi konnte nicht sprechen. Doch seine großen dunklen Augen blickten wach und aufmerksam in die Welt. Und am liebsten sah und hörte er zu, wenn Giadamo erzählte.

Eine merkwürdige Veränderung ging dann mit dem Alten vor. Sein Gesicht glättete, seine Schultern strafften sich und er war mit einem Mal fünf Zentimeter größer. Mit weiten, ausholenden Gesten umschmückte er seine Worte. Seine Augen glänzten und rollten mal hierhin, mal dorthin.
„Ich bin so alt“, sagte er dann zu Luigi, „ich bin so alt, dass meine Geschichten mehr Platz benötigen würden als alle Bücher, die in deiner Schule in den Regalen stehen. Und sie alle zu erzählen, würde länger dauern als dein ganzes bisheriges Leben.“
Dann blickte er in Luigis bettelnden Augen und nickte ernst.
„Du weißt, was Geschichten bedeuten, nicht wahr, Luigi. Du bist wie eine große Truhe, in die man seine wertvollsten und kostbarsten Schätze legt, damit ihnen kein Leid geschieht. Bei dir sind sie sicher, meine Geschichten. Und ich erzähle sie dir gerne. Hör zu...“

Und Giadamo erzählte.
Er erzählte von fernen Ländern und großen Abenteuern. Er hatte mit Tigern gekämpft und war auf Elefanten geritten. Er hatte Menschen gesehen, die sich Stöcke durch die Lippen steckten oder mit Blasrohren auf die Jagd gingen. Er kannte Wälder, in denen man von der Hitze feucht wurde und Berge, die so kalt waren, dass der eigene Atem gefror. Giadamo war in Städten gewesen, die weiter reichten als das Auge blicken konnte, und er hatte dort Menschen gesehen, die reich waren, mit magischen Kräften Türen öffneten und dabei ernst guckten.
„Wenn du viel Geld verdienen willst, Luigi“, sagte er zu dem Jungen, „musst du dein Lachen verkaufen.“
Wenn Luigi ihn dann erschrocken und ungläubig anstarrte, schmunzelte er und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nein“, sagte er, „das ist nicht wahr. Du musst nur viel arbeiten, und wer viel arbeitet, vergisst manchmal, zu lachen.“
In solchen Augenblicken erlosch das Feuer in Giadamos Augen für kurze Zeit und er zog seine Augenbrauen zusammen. Für einige Minuten versank er in Schweigen und runzelte die Stirn.
„Das Leben ist wie das Meer, Luigi“, sagte er schließlich.
Luigi nickte verstehend.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte Giadamo ihn tief in den Keller seines kleinen Hauses geführt. Dort, das wusste Luigi seitdem, stand, hinter vielen Decken und Tüchern verstaut, ein Bild.
„Das ist das Meer“, hatte Giadamo ihm erklärt und in seiner Stimme schwang Sehnsucht mit.
„Das Meer ist das Leben, Luigi. Es ist tausendfach größer als unser See. Ach was – millionenfach größer! Das Meer hat keine Grenzen, Luigi. Wenn du an seinem Ufer stehst, kannst du weiter sehen als irgendwo sonst auf der Welt – und trotzdem siehst du das Ende nicht. Das Meer bewegt sich ständig. Mal ist es wie das Haar einer Frau, das der Wind durchschmeichelt. Und dann ist es wie eine Decke, die im Sturm hängt und wilde Wellen schlägt. Es bewegt sich ständig. Mal wächst es, mal schrumpft es. Dann wächst es wieder, schrumpft wieder, und so weiter. Es ist niemals dasselbe, und wenn du an einem Morgen an sein Ufer trittst, wirst du immer wieder etwas Neues finden, das es dir zum Geschenk macht. Es ist niemals dasselbe – und doch ist es immer da. Es verkleidet sich, es gebiert Leben und verschlingt seine Toten. Und doch, Luigi. Und doch …“
Der alte Mann öffnete eine kleine Kiste und entnahm daraus etwas, das er Luigi in die Hand legte.
„Das ist eine Muschel“, sagte er. „Riech mal an ihr. Riechst du das Salz? Riechst du die Weite, das Wasser, den Sturm?“
Luigi fühlte die glatte Oberfläche und sog einen Duft ein, der so fern und aufregend wirkte, dass seine Augen zu leuchten begannen.
Giadamo blickte ihn an und lächelte. „Ich möchte sie dir schenken, die Muschel. Hier, nimm das Kistchen dazu und verstau es gut. Dann wird sie dich gut beschützen.“

Jeden Morgen öffnete Luigi seitdem die kleine Kiste und berührte seine Muschel. Er bat sie um Kraft, wenn die anderen Kinder ihn hänselten und hinter ihm herliefen, um ihn umzustoßen. Er bat sie darum, dass er nicht aufhören würde, zu lachen.
Und an jedem Abend öffnete er die Kiste abermals und legte eine weitere Geschichte in sie hinein.

Doch eines Tages war Giadamos Schweigen länger als sonst. Sein Atem ging schwer, und seine Augen blickten grau.
„Ich werde nicht mehr lange leben, Luigi.“ flüsterte er, und seine Hände bewegten sich dabei nicht. Voller Angst zog der Junge am Ärmel des Alten und versuchte, ihn aufzurichten.
Mit einem müden Lächeln wehrte Giadamo ab.
„Lass nur, kleiner Luigi. Ich sterbe.“ Und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich werde heute nicht mit dir wandern gehen.“
Luigis Herz schlug, wie es noch nie geschlagen hatte. Wild entschlossen rannte er nach Hause und griff sich die Muschel, seinen größten Schatz. Als er wieder bei dem Alten angelangt war, öffnete er dessen Hand und legte das Geschenk in sie hinein. Ein tiefer Seufzer stieß aus Giadamos Körper, und eine Träne rann sein Gesicht hinunter.
„Zu spät“, hauchte er. „Zu spät.“
Doch Luigi hatte genug gesehen. Erneut rannte er nach Hause und zerrte am Kleid seiner Mutter, bis sie alarmiert und besorgt hinter ihm hergelaufen kam. Er zog sie in Giadamos Haus, vorbei an der Stube, in der der Alte lag und direkt hinunter in den Keller.
„Es ist zu dunkel“, meinte seine Mutter. Doch Luigi wusste, dass Giadamo hier unten Kerzen aufbewahrte. Zwei schnelle Griffe, und sie hatten Licht. Da sah die Mutter das Bild. Giadamos Bild, das Bild vom Meer – Giadamos Sehnsucht. Luigi führte sie nach oben zu dem alten Mann, und seine Mutter erkannte, was geschah. Sie sah die Muschel, sie sah das Sterben. Sie blickte in die Augen von tausend Geschichten und sah das stumme Betteln eines kleinen Jungen. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, in der sie nur atmete... atmete und sah.
„Giadamo“, sagte sie sanft, „ich bin dir so dankbar für alles, was du für Luigi getan hast. Wenn ich doch nur...“
Schweigen füllte den kleinen Raum. Und mit einem Male war alles klar.
„Wartet hier, ihr beiden.“ Luigis Mutter lächelte.
„Ich werde einen Wagen holen, und dann fahren wir zum Meer. Ich packe einen Korb, wir nehmen Decken mit, dann fahren wir zum Meer.“

Giadamo schloss die Augen und lächelte.




Impressum

Texte: (c) 2000
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2009

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Widmung:
für Zauberer, Sternentänzer und Seelensammler

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