Ilsebilse Spinne
wie lang dein Faden ist
Doch dann kam der Regen
und der Faden riss
Dann kam die Sonne
leckt den Regen auf
Ilsebilse Spinne
krabbelt wieder rauf.
(Kinderreim)
Wenn die Großtante ihr Mittagsnickerchen machte, war der richtige Augenblick. Denn dann saß die Großtante auf der Terrasse in ihrem Schaukelstuhl, der Kopf fiel nach hinten über die Lehne und mit weit geöffnetem Mund schnarchte sie, dass ihre eingefallenen Wangen flatterten. Dann könnte Marie den Köder in diesen offenen Schlund hinablassen und die Bösartigkeit herausfischen.
Sorgfältig zog Marie den Faden der Angel durch die Löcher des Köders. Vor allem achtete sie darauf, dass sich ihre Zungenspitze nicht aus dem Mund bewegte.
„Lass das! Große Mädchen machen das nicht mehr!“, flüsterte sie.
Sie hatte sich für den Knopf entschieden. Den kleinen Katzenknopf, den sie mit ihrem eigenen Geld gekauft und an ihren Lieblingspullover genäht hatte.
„So was Affiges habe ich schon lange nicht mehr gesehen!“, zischte Marie durch ihre zusammengepressten Lippen. „Du bist wirklich ein dummes, albernes Mädchen!“
Es war anstrengend, den Faden zu fixieren. Marie wandte ihre Augen kurz ab und starrte verträumt zum Papierkorb.
„Ritsch ratsch, ritsch ratsch“, sang sie leise und schnitt mit Zeige- und Mittelfinger Löcher in die Luft.
Eine Maus hätte nicht durchgepasst durch diesen dürren Schlund. Nach kleinen süßen Mäuschen schnappte die Bösartigkeit besonders gerne. Dafür hatte sie einen mächtigen Holzschuh im Kleiderschrank stehen. Extra für kleine süße Mäuschen, die entkräftet am Wegesrand lagen und sich vertrauensvoll in eine Hand kuschelten und Worten lauschten, die falsche Versprechungen machten.
„Hab keine Angst, kleine Maus! Niemand tut dir was! Ich pass’ auf dich auf!“
Wieder und wieder murmelte Marie diese Worte vor sich hin. Ihre Augen blieben trocken. Auf dem Schreibtisch lag das kleine Holzkreuz, das sie auf dem Grab der Maus aufstellen würde, sobald sie die Bösartigkeit aus der Großtante herausgeholt hatte.
„Ich setze mich jetzt raus, Marie. Gib Ruhe solange, wenn’s Recht ist!“
„Mach ich, Tante“, murmelte Marie und betrachtete ihre Angel. Der Stock kam frisch aus dem Wald, er war kräftig und biegsam. Den Faden hatte sie nicht durchreißen können, er müsste also halten. Und der kleine Katzenknopf baumelte so süß und verführerisch am unteren Ende der Schnur... wie sollte die Bösartigkeit da widerstehen können?
Marie nickte zufrieden.
„Die Mühe hättest du dir sparen können“, sagte sie laut in den Raum hinein, und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Dann stand sie auf und schlich zur Terrasse. Hinter dem Vorhang der Außentür verbarg sie sich und lugte vorsichtig zu dem zierlichen Schaukelstuhl, auf dem die Großtante saß und auf den Schlaf wartete. Sie starrte hinaus in den Garten, ihre sehnigen Hände lagen spiegelgleich auf den Armlehnen des Stuhls, ihr Körper bewegte sich ruckartig vor und zurück – sie schaukelte.
Nach ungefähr fünf Minuten stoppte das Schaukeln abrupt und der geierartige Kopf fiel nach hinten. Gleich darauf dröhnte eine erste Welle des Schnarchens an Maries Ohren.
Lautlos zählte Marie bis Hundert, dann erhob sie sich leise und bewegte sich Schrittchen für Schrittchen vorwärts in Richtung des offenen Mundes. Sie hob die Angel in die Höhe, genau über den Schlund der Großtante. Zentimeter für Zentimeter ließ sie den Köder hinabsinken, bis zu dem Punkt, von dem an es kein Zurück mehr gab. Jetzt musste sie den Knopf fallen lassen und ihn so tief wie möglich in den Rachen wünschen. Die Bösartigkeit – das wusste sie – lauerte irgendwo dort unten, und sie schlief nie.
Ein letztes Mal noch atmen, dann raffte Marie all ihre Konzentration zusammen, krallte die Hände fest um den Angelstock und gab dem Abwärtsstreben des Knopfes nach.
Zuerst brach das Schnarchen ab. Dann hustete und würgte die Großtante, ihre noch schlafenden Hände fuhren an die Kehle. „Wehr dich nicht“, zischte Marie und versuchte, den Knopf wieder hoch zu ziehen. Ein deutlicher Widerstand war da – etwas hing fest und sträubte sich dagegen, an die frische Luft befördert zu werden!
Marie zog stärker. Und in dem Moment, in dem die Großtante blau anlief und mit einem zu Tode entsetzten Ausdruck die Augen aufriss, starrte Marie auf die Bösartigkeit, die sich gierig in dem kleinen Katzenknopf verbissen hatte.
Sie sah aus wie eine fette Spinne mit fetten Regenwurmbeinen. Abstoßend und ekelig baumelte sie dort, ihr Körper glänzte gelblich-schmierig, sie zuckte und zappelte wie ein verendender Fisch.
Die Großtante war jetzt wach, doch anstatt furienartig aufzuspringen und Marie anzubrüllen, sie zu schütteln und an den Haaren zu ziehen, keuchte sie nur einmal kurz und sackte dann ohnmächtig in sich zusammen.
Marie starrte weiter. Sie starrte und starrte. Dann schob sie vorsichtig einen Finger nach vorne und stupste die Bösartigkeit in die Seite. Ein aufgeregtes Flattern war die Antwort. Marie zog die Bösartigkeit dicht vor ihr Gesicht und hauchte sie an. Leise zitternd hielt das Spinnenwesen inne. Vorsichtig griff Marie zu und zog ihm den Knopf aus dem Maul. Es fühlte sich gar nicht eklig an, eher wie ein kleines, nacktes Tierbaby. Ohne noch lange zu zögern öffnete Marie den Mund und stopfte die Bösartigkeit hinein.
Sie glitt die Kehle hinunter wie Schokoladenpudding.
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2009
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