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Der Kleine drehte den Kopf und sein Blick presste ihnen den Mund zu.
Haltet euer verdammtes Maul oder ich ziehe euch die Eier lang!


Nicht zum ersten Mal fragte Micha sich, ob der Kleine wusste, dass er von seinen Soldaten der Kleine genannt wurde. Und wenn ja, ob es ihn scherte. Immerhin, so frotzelten sie, wenn sie abends in ihren Zelten unter sich waren, rasierte er sich den Kopf und verschenkte so mindestens einen Zentimeter Körpergröße.
Micha selber trug seine Haare etwas kürzer als zuhause, aber sie ganz abzuschneiden, dazu konnte er sich nicht durchringen. Vermutlich würde Karla ihn sonst ähnlich anstarren wie der Kleine eben. Wenn er in drei Monaten zurückkam.


Drei Monate. Drei Finger krallten sich in die staubige Straße, beschworen den Dreck unter den Nägeln.
Heute Abend schrubbe ich euch in der heißen Wanne.


„Vielleicht sind sie ja alle pissen“, hatte Dominik, den hier im Staub alle nur Doro nannten, ihm zugeflüstert. Ein paar Sekunden konnte das nur her sein.

Wie lange sie schon hier hinter dem Hügel vor der verdammten Bruchbude hockten, konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall war die Vorderseite des Hauses inzwischen fast komplett sonnenbeschienen, und wenn die Sonne ihnen im Rücken stand, würden sie loslegen. Wiederholt blinzelte er sich den Schweiß aus den Augen. Der Kampfanzug verstärkte die Hitze, er wirkte wie ein Treibhaus und das Gewehr auf seinem Rücken wog von Minute zu Minute mehr.
Micha wagte es nicht, sich umzuschauen. Nachzusehen, ob auch alle dort lagen, wo der Kleine sie hinbefohlen hatte bei der morgendlichen Sitzung vor dem Flipchart.

„Wir haben einen Tipp bekommen, dass in dieses Haus in den letzten Tagen Säcke geschleppt worden sind. Keine Ahnung, was sie enthalten, aber wir sind ja alle lange genug hier, um uns was Feines vorstellen zu können.“
„Blumenerde“, murmelte Dominik wie beiläufig, während er sich die Tafelskizze in sein Feldbuch übertrug. Das Wort schwebte in der Stille wie eine Nutte im Weltraum. Der Kleine musterte Dominik mit diesem strengen, bohrenden Blick, dann bellte er los.
„Soldat, wenn sie in der Hütte Blumenerde finden, dürfen sie meine Rosette in einen Topf pflanzen und mit nach Hause nehmen.“



Das Lachen stieg wieder in Micha hoch und er zwang sich dazu, jetzt nicht

seinen Ellebogen in Doros Seite zu rammen und mit seinen Händen erst einen Topf zu formen, um dann eine imaginäre Pflanze hineinzusetzen. Stattdessen blinzelte er erneut, zog die Stirn kraus und konzentrierte sich wieder auf das eine Fenster, das er beobachten sollte. Seit Stunden brannte es sich auf seine Netzhaut, ohne dass er auch nur die geringste Bewegung erspäht hätte. Nicht mal ein beschissener Vogel war vorbei geflogen. Und wie ihm erging es scheinbar allen anderen auch, denn noch hatte keiner ein entsprechendes Zeichen gegeben.

„Ich wiederhole“, hatte der Kleine am Morgen gesagt, als sich das Lachen gelegt hatte. „Wir wissen nicht, was uns erwartet. Wir glauben zu wissen, dass in diesem Haus etwas gelagert wird. Oder gesammelt. Vielleicht sind es Leichen, vielleicht sind es Waffen. Vielleicht fliegt uns die ganze Scheiße um die Ohren, wenn wir einen Fuß über die Schwelle setzen. Etwas werden wir dort drinnen finden, Männer, und denen unter euch, die nicht schwul sind, wünsche ich, dass sie ihren Frauen und Kindern mal davon erzählen können.“

Einige waren blasser geworden nach diesen Worten. Sie alle saßen gebeugt, malten Kästchen, Pfeile und Zahlen in ihre Bücher und schrieben Buchstaben daneben. Jeder von ihnen war ein Magnetplättchen an der Tafel, auf dem Papier rot. Der General kam und hielt Rücksprache. Er ließ sich mehr Zeit als sonst, wollte jedes Detail wissen, jedes strategische Pünktchen. Am Schluss wanderte er durch die Reihen und strahlte wie immer Ruhe aus.
„Sie werden das souverän meistern, meine Herren. Sie sind gut ausgebildet und werden in jeder Situation auf einen Fundus eintrainierter Verhaltensweisen zurückgreifen können. Vertrauen sie sich und vertrauen sie ihrem Vorgesetzten. Er hat einen guten Plan für sie ausgearbeitet.“
„Also dann“, waren seine letzten Worte, verbunden mit einem Nicken und einem raschen Lächeln.



Im Staub drehte der Kleine sich um und kauerte in der Hocke. Seine Augen sprangen von einem zum anderen, holten sich ein Nicken. Auch Michas Kopf senkte sich automatisch, doch auf Doro verweilte der Blick des Kleinen länger. Micha sah zur Seite und das Zucken in dem leichenblassen Gesicht. Starr fixierte Doro das Haus, das sie in wenigen Minuten betreten würden. Seine Hände tasteten nach dem Gewehr, umklammerten es mit weißen Fingerknöcheln. Dann erst wandte er den Blick zu dem Kleinen und senkte kaum merklich das Kinn.
Der Kleine hob die geöffnete Hand. Fünf Finger. Er schloss sie wieder, öffnete sie.
Vier Finger.
Schließen, öffnen – drei Finger.
Zwei Finger.
Ein Finger.
Los.


Das stundenlange Verharren im Staub hatte das Adrenalin angestaut. Geduckt, möglichst leise und möglichst schnell huschten sie zum Gebäude, jeder auf seinem vorgezeichneten Weg, jeder mit höchster, schmerzhaft offener Wahrnehmung.
Atmen – ein, aus – noch ein Schritt – ein, aus – die Tür, das Fenster.

Verdammte Scheiße, bewegt sich da was?



Das Herz zerspringt im Brustkorb, die Beine laufen nur noch automatisch. Schneller! Zur Hauswand, die Mündung Richtung Fenster.

Zeig dich du Sau und ich blase dir den Schädel weg!



Das Geräusch der zerberstenden Tür wie eine Explosion in den Ohren. Das Scheinwerferlicht stürmt als Erstes ins Innere und wieder hinaus durch die Ritzen zwischen den Brettern, die jemand hinters Fenster genagelt hatte. Gleich darauf dröhnt die Stimme des Kleinen über den Staub.

„Ein Raum, keiner drin!“

...
...
...


Im längsten Moment seines Lebens schloss Micha die Augen und sah ein rundes Gesicht voller Sommersprossen und Sorge, mit den dunklen Ringen durchstrittener Nächte. Ein Echo hallte in seinem Kopf wider:
„…bring ich dich um, …bring ich dich um, …bring ich dich um…“.
Wenn du als Leiche zurückkommst, bring ich dich um!



...
...
...


Reale Stimmen trafen seine Ohren von außen. „Gesichert!“

Als er die Augen wieder öffnete, sah er Staub und ein verfallenes Gebäude. In der Nähe, bei der Tür, stand Doro mit immer noch erhobenem Gewehr.
„Soldat Kunze“, brüllte der Kleine aus dem Inneren, „schnallen sie ihre Geliebte auf den Rücken und fangen das hier auf!“
Doro reagierte wie im Trance und hatte nur Sekundenbruchteile später die Hände frei, um einen runden Gegenstand aufzufangen.
„Das ist ein verdammtes Zwischenlager hier drin!“ brüllte der Kleine eine Spur lauter als gewöhnlich. „Die lagern hier einen ganzen Friedhof!“
Dann trat er hinaus und hob triumphierend etwas in die Luft, das genauso aussah wie das, was Doro in seiner eigenen Hand regungslos anstarrte.
„Sack Nummer 21, Grab Nummer 593, fünfte Reihe von links. Staub sollst du werden, denn aus dem Staub bist du gekommen!“

In seiner Hand hielt er einen Totenschädel.

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Tag der Veröffentlichung: 18.08.2009

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