Cover




In tiefster Nacht voll Dunkelheit
schrie deine Seele um Geleit
und in der angsterfüllten Schwärze
entflammte jemand eine Kerze
Da schien dir, was man Hoffnung nennt
und heller als die Sonne brennt.




„Schätzchen, kannst du mir einen Gefallen tun und noch rasch ein paar Koboldeier ausgraben?“
Kyra zuckte zusammen. Sie hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass ihre Oma ins Zimmer gekommen war. Ihr Blick war auf irgendetwas draußen im Garten gerichtet. Sie saß regungslos auf einem Stuhl, die Arme auf der Fensterlehne, den Kopf abgestützt, und starrte. Nicht einmal ihre Beine baumelten. Doch als die Großmutter sie jetzt ansprach, drehte sie sich um. „Was?“, fragte sie, und noch konnte sich der träumerische Ausdruck nicht so recht entscheiden, von ihrem Gesicht zu verschwinden.
„Wir brauchen doch noch ein paar Koboldeier für unser Abendessen“, sagte Oma und lächelte.
„Koboldeier?“ Kyras Miene schwankte zwischen Neugier und Zweifel.
„Ja, sicher!“ Oma runzelte überrascht die Stirn. „Kennst du denn keine Koboldeier?“
„Nein“, antwortete Kyra und glitt von ihrem Stuhl.
Oma dachte einen Moment lang nach und schlug sich dann vor die Stirn. „Ach ja“, lachte sie. „Normalerweise heißen Koboldeier anders. Ich meine natürlich Kartoffeln.“
„Kartoffeln“, wiederholte Kyra. „Warum nennst du sie Koboldeier?“, fragte sie weiter und näherte sich der ausgestreckten Hand.
„Komm, wir gehen zusammen, dann erzähle ich’s dir unterwegs.“
Im Garten war es immer noch heiß. Der Rasen zeigte an einigen Stellen braune Flecken, und in Omas Gemüsegarten ließen die Pflanzen ihre Blätter hängen.
„Wir müssen heute Abend noch gießen“, sagte Oma. „Sonst verschrumpelt hier alles. Koboldeier müssen auch immer ein bisschen feucht sein. Weißt du“, fügte sie hinzu und sah zu Kyra hinunter, „das ist ein sehr altes Wissen, das mit den Koboldeiern. Nicht jeder kennt es. Es ist auch nicht jede Kartoffel ein Koboldei. Die Kartoffeln, die du im Supermarkt kaufen kannst, sind meistens nachgemacht. Aber meine hier im Garten sind echt.“
„Kobolde legen Eier?“ Kyra sah ihre Oma ungläubig an. Die lachte fröhlich. „Ja, natürlich tun sie das. Einen Großteil ihrer Eier essen wir auf, aber das ist nicht schlimm, weil sowieso nur aus wenigen Eiern ein Kobold schlüpfen kann. Man muss nur wissen, welche das sind.“
Inzwischen waren sie am Gemüsegarten angelangt. Aufgeregt hüpfte Kyra vorweg. „Zeigst du mir, aus welchen Eiern ein Kobold schlüpft?“, fragte sie.
„Na klar“, sagte ihre Oma. Gleich darauf knieten die beiden vor dem Beet und wühlten vorsichtig in der Erde.
„Schau her.“ Oma zog eine große Knolle hervor. „Das ist ein falsches Ei, da wird kein Kobold draus. Du kannst das an den kleinen braunen Knubbeln erkennen. Siehst du – hier, und hier.“
Kyra schaute und nickte eifrig. Oma legte die Knolle beiseite und grub weiter. „Aha!“, rief sie plötzlich aus. „Da ist doch eins.“
Ganz vorsichtig holte sie eine weitere Knolle aus dem Boden und rieb behutsam die Erde von ihr ab. „Siehst du“, sagte sie dann und ließ Kyra genauer gucken. „Das hier ist ein echtes Koboldei. Es ist ganz glatt und hat keine Flecken. Da schlüpft mal ein Kobold raus.“
Kyra riss die Augen auf. Diese Knolle sah tatsächlich ganz anders aus.
„Die essen wir aber nicht, oder?“
Oma schmunzelte und schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Und wir vergraben sie auch schnell wieder in der Erde. Keine Angst, ihr Kobolde“, wandte sie sich an den Boden, „ich habe Kyra nur ein echtes Ei gezeigt, damit sie sie erkennen kann. Ich habe euch doch schon von Kyra erzählt! Sie ist meine größte Enkelin, und sie kommt mich gerade besuchen.“
Kyra starrte ihre Oma an. „Du sprichst mit ihnen? Können sie dich hören?“
„Selbstverständlich.“ Oma nickte. „Es ist sogar wichtig, dass ich mit ihnen spreche, sonst verlassen sie eines Tages meinen Garten, weil es ihnen zu langweilig wird. Du musst wissen, dass Kobolde die meiste Zeit unter der Erde leben. Und da ist wirklich wenig los. Wenn ich den Kobolden keine Geschichten vor hier oben erzählen würde, wäre das noch schlimmer, als sie nicht zu gießen.“
„Aber sie sind nicht immer unter der Erde, oder?“
„Nein.“ Oma begann wieder zu graben. „Sie kommen manchmal nach oben, und einige entscheiden sich sogar, für immer über der Erde zu leben. Doch die nehmen dann eine andere Gestalt an. Sie werden zu Hunden, zu Vögeln, zu Katzen oder zu Eichhörnchen. Wenn du irgendwo ein besonders freches Exemplar von einem Lebewesen siehst, kannst du dir fast sicher sein, dass da drin ein Kobold steckt. Manche werden sogar zu kleinen Jungs“, fügte sie verschmitzt hinzu, und Kyra musste kichern.
Wieder wandten sie sich ihrer Arbeit zu. „Hier draußen ist es heute wirklich heiß“, plauderte Oma. „Ich muss mir morgen dringend einen neuen Sommerrock kaufen. In meinem alten Lieblingsrock ist ein Riss.“ Dann schwieg sie.
„Oma“, fragte Kyra unvermittelt. „Erzählst du ihnen auch traurige Geschichten?“
Oma seufzte und nickte. „Oh ja“, antwortete sie. „Traurige Geschichten sind auch gut. Kobolde hören alles gerne, und einem selbst hilft es manchmal, wenn man etwas erzählen kann.“
Das Mädchen senkte den Kopf zur Erde und begann scheinbar eifrig, weiter zu wühlen. Oma stand auf und legte die Knollen, die sie schon ausgegraben hatten, vorsichtig zur Seite.
„Meine Mama wird sterben“, sagte Kyra plötzlich zu dem Loch vor ihr. „Sie wird operiert, und dann wird sie sterben.“
Eine Kartoffel plumpste von Omas Hand auf die Erde. „Wer hat die denn so was erzählt?“, fragte sie rasch und sah Kyra erschrocken an. Das Mädchen atmete tief und sah auf. „Niemand. Aber ich habe gehört, wie Papa und Mama darüber gesprochen haben. Deshalb bin ich doch auch hier. Weil sie nicht wollen, dass ich ständig heule.“
Oma wiegte bedrückt den Kopf hin und her und hockte sich wieder neben Kyra auf den Boden. Nachdenklich strich sie ihr über den Kopf.
„Weißt du, Schätzchen“, sagte sie vorsichtig, „das ist nicht ganz richtig. Deine Mama ist sehr krank, und sie wird auch operiert. Aber sie kann dann wieder gesund werden. Es ist nur schlimm, dass man das vorher nicht so genau weiß.“
Kyras Augen schimmerten. „Aber Papa hat so sehr geweint“, flüsterte sie. Oma lächelte sie an und zog sie in ihre Arme. „Na, das darf er auch, dein Papa. Er hat große Angst, aber er weiß auch nicht mehr als wir alle.“ Eine Weile wiegte sie das Kind stumm hin und her, dann schien ihr etwas einzufallen.
„Weißt du, was ich dir noch nicht über Kobolde erzählt habe?“, fragte sie. „Kobolde wissen manche Dinge viel eher als wir. Und sie sind richtige Glücksbringer. Wenn wir die Eier gut pflegen, und wenn sich dann vielleicht noch ein Kobold nach dem Schlüpfen in eine andere Gestalt verwandelt, dann wissen wir, dass alles gut wird. Kobolde verwandeln sich nämlich nur, wenn es etwas zu feiern gibt.“
Kyra verharrte einen Moment. Dann löste sie sich aus der Umarmung und beugte sich interessiert über das Loch in der Erde. „Wie lange dauert es, bis die Kobolde schlüpfen?“, fragte sie. Oma beugte sich auch nach vorne. „Hmm“, machte sie. „Ich schätze mal, eine knappe Woche. Und bis dahin“, fügte sie hinzu, stand auf und reichte Kyra wieder die Hand, „erzählst du den Koboldeiern jeden Tag ein bisschen. Und gibst ihnen genug Wasser, so dass sie nicht austrocknen.“
„Das kann ich jetzt schon tun“, sagte Kyra eifrig und hüpfte vorweg zur Gießkanne.
Während der nächsten Tage war Kyra viel an der frischen Luft. Sie nahm sogar ihren Malblock mit in den Gemüsegarten, und vom Küchenfenster aus konnte Oma sehen, wie sich ihre Lippen ständig bewegten. Kyras Haut bekam endlich Sommerfarbe, und auch ihr Appetit stieg wieder. Sie nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Und so verging eine Woche wie im Flug.
„Schätzchen, kannst du bitte mal reinkommen?“ Oma stand in der Gartentür und winkte mit dem Kochlöffel. „Ich muss noch schnell zum Nachbarhof und eine Kanne Milch holen“, erklärte sie dem herbeieilenden Mädchen. „Es wäre schön, wenn du derweil im Haus bleiben und ein bisschen aufpassen könntest. Du kannst dir eine Kinderserie im Fernsehen anschauen, wenn du magst.“
Kyra blickte sich noch mal zögernd um, dann nickte sie entschlossen. „Ist gut“, sagte sie und schlüpfte ins Wohnzimmer.
Die Fernsehserie war noch nicht zuende, da klackte auch schon Omas Schlüssel im Haustürschloss. Kyra achtete nicht darauf. Sie musste gerade laut lachen über das, was auf dem Bildschirm passierte.
Ein paar Minuten später öffnete Oma die Tür und kam herein. „Na“, sagte sie und strich Kyra über den Kopf. „Willst du noch ein bisschen raus gehen? Du müsstest die Koboldeier noch gießen, es ist sehr trocken.“
Lächelnd schlenderte sie dem Mädchen hinterher. Sie kam gerade auf der Terrasse an, als ein schriller Schrei vom Gemüsegarten herüberhallte. „Oma, Oma, komm schnell!“ Kyra beugte sich über das Loch in der Erde, griff hinein und zog etwas hervor. Sie drehte sich um und rannte zurück zum Haus, der Großmutter entgegen. In ihren Armen trug sie ein Fellbündel, aus dem ein empörtes Miauen klang.
„Ein Kätzchen!“ Kyra war völlig außer Atem. „Ein Kobold hat sich in ein Kätzchen verwandelt!“
Oma lachte zu Kyra hinunter. Auch sie strahlte über das ganze Gesicht. „Ein Kätzchen“, wiederholte sie und klatschte fröhlich in die Hände. „Das ist gut!“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /