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Als mich die Nachricht erreichte, dass meine Großmutter verstorben sei, war ich zuallererst vollkommen verwirrt. Ich war nicht erschrocken oder überrascht, ich hatte es ja in gewisser Hinsicht erwartet, sie war schließlich eine sehr alte Frau und auch sie plagten natürlich die einen oder anderen Gebrechen des Alters. Nein, das Irritierende an der ganzen Sache war, dass meine Großmutter meiner Meinung nach schon seit einiger Zeit nicht mehr unter uns anderen Menschen weilte. Das war die einzige mögliche Erklärung für das, was man in jedem einzelnen ihrer liebevollen Blicke fand, etwas, was man bei keinem Anderen finden konnte, der die uns so verhasste, grausame Welt um sich herum genauso wahrnahm, wie jeder, der auf und von ihr lebte. Man hatte bei meiner Oma immer das Gefühl, dass sie absolut glücklich war, sie freute sich über jede winzige Blume, die sie am Wegesrand sah, obwohl sie eigentlich schon halb verblüht und nicht richtig gewachsen war. Sie hatte also keinen für Andere ersichtlichen Grund, so glücklich zu sein. Doch erwiderte sie auf Nachfrage immer nur:"Warum sollte ich denn unglücklich sein?" Und in dem Moment wusste man, dass sie vollkommen Recht hatte und fragte sich, warum man nicht längst selbst auf diesen genialen Gedanken gekommen war. Sie strahlte so viel Lebensfreude, Energie und Kraft aus, man spürte, wie man sich, wenn man in ihrer Nähe war, von all den Sorgen und Pflichten erholen, loslösen und einfach nur mit ihr glücklich über das Leben sein konnte. Doch nach nicht allzu langer Zeit in der alten, gewohnten Umgebung kam man immer wieder in denselben alten Trott hinein, man hatte einfach nicht diese Einstellung zum Leben, man wollte innerlich eigentlich nicht glücklich sein, nur sah man das nicht ein. Man wurde wieder so abgestumpft, wie vor dem Besuch bei der alten Dame, die jeden Morgen aus ihrem kleinen, zerfallenen und vor Wind und Wetter ungeschützten Holzhaus mitten im Nirgendwo, hinaustrat und in ihrem winzigen, aber paradiesischen Rosengarten spazieren ging und sich über jede einzelne Farbe und Form dieser wunderschönen Pflanzen freute. Diese wenigen Blumen waren wahre Wunder, man war schon einfach von ihnen fasziniert, weil sie durch die Freude, die sie in meiner Oma auslösten von einer Energie erfüllt waren, die einfach unbeschreiblich war.
Doch diese alte, bewundernswerte und unglaubliche Dame ist nun endgültig in ihr eigenes Reich der Glückseligkeit eingegangen, oder sie weilt noch immer unter uns, ich weiß es nicht und ich weiß auch nicht, ob ich darüber nachdenken will, vielleicht ist sie ja nun selbst eine ihrer zauberhaften Rosen.
Doch eine Woche nachdem ich es gerade geschafft hatte, ansatzweise zu realisieren, dass meine größte Inspiration und Faszination fort war, trudelte bei mir zu Hause ein Brief ein, in dem es hieß, man habe ein Testament in einer ihrer Küchenschubladen gefunden und der Termin zur Verlesung sei heute Nachmittag.
Das verwunderte mich doch sehr, schließlich hatte die Madame meines Wissens nach nichts hinterlassen können, ihr Haus, ihr weniger Schmuck und alles, was sie sonst an materiellen Gütern besessen hatte, waren verkauft worden, um ihre vielen Schulden zu bezahlen, sie war, seit ihr Mann verstorben war, eine sehr arme Frau gewesen. Leider konnte auch ich, als ihre einzig gebliebene Verwandte ihr nicht helfen, da es mir nicht besser ging, nur sah man es mir mit meinen eingefallenen Wangen, den dunklen Schatten unter den finster dreinblickenden Augen und den zerrissenen Hosen an, während Großmutter stets wie eine hochfeine Dame aussah, ihre Haltung, ihre ganze Ausstrahlung kündete von unendlich viel Selbstachtung, ohne dabei hochmütig zu wirken.
Daher war ich furchtbar aufgeregt, als ich mich anzog und mit meinem kleinen, mittlerweile zehn Jahre alten, rostigen und auf meinem Hinterhof „gefundenen“ Fahrrad auf den Weg zur genannten Adresse machte. Ich verfuhr mich insgesamt fünf mal und nachdem mir einige Touristen weiterhelfen konnten, die sich anscheinend in meiner Heimatstadt besser auskannten als ich, fand ich endlich die Anwaltskanzlei "Stroke & Pogue".
Sehr seltsamer Name, mein erster Gedanke war, dass das alles nur ein schlechter Scherz war, denn genau das waren früher als Jugendliche meine Lieblingsbands gewesen, vielleicht hatte sich ja einer meiner damaligen Freunde einen Streich erlaubt, doch wenn er sich schon eine solche Mühe macht, warum dann nicht auch hineingehen?
Ich betrat also das heruntergekommene Gebäude, blickte noch einmal auf das nicht sehr einladende Schild der Kanzlei und stellte fest, dass sie sich im vierten Stock befand.
Na super, also auch noch Treppen steigen. Aber die Aufregung, Spannung und Neugierde überwog und ich spurtete die Treppen in Rekordzeit hoch.
Als ich in der vierten Etage angelangt war, änderte sich mein Eindruck von der Kanzlei schlagartig. So etwas hatte ich noch nie gesehen. In einem kleinen, alten, kaputten, maroden und höchstwahrscheinlich besetzten Haus war ein einziges Stockwerk so prunkvoll verziert, das er wirklich dem Vatikan Konkurrenz machen könnte!!
Der Flur war mit Marmor getäfelt - mit echtem Marmor! , die Zierleisten in den oberen und unteren Ecken mit Gold verkleidet. Alles sah so sündhaft teuer, aber so wunderschön aus, dass es fast in den Augen schmerzte. Ich trat auf den garantiert handgewebten Teppich und es tat mir unbeschreiblich leid, ihn mit meinen auf der Straße gefundenen ausgelatschten Turnschuhen zu beschmutzen und stand dann erst einmal vor einer großen, schweren, mit unergründlichen Schnitzereien verzierten Eichentür. Ich erkannte in dieser Tür die seltsamsten Symbole und Zeichen und mysteriöserweise standen sie alle -und das weiß ich sicher, ich habe schließlich Geschichte studiert! - für Wiedergeburt, Neuanfang oder eigenartigerweise Wasser. Diese Symbole waren aus allen Religionen und Kulturen übernommen, die ich nur kannte und es waren auch noch einige mir bis dato Unbekannte eingraviert.
Ich wollte gerade den prachtvollen, altmodischen Türklopfer, welcher wie ein Schlüssel geformt war, gerade betätigen, da öffnete sich schon die Tür.

"Frau Lempschik, nehme ich an?", fragte mich eine untersetzte, kleine, weiche Frau, die mich ein wenig an eine Litschi erinnerte, sowohl was Form, Farbe, wie auch Geruch betraf. Ich nickte verwirrt. "Was...?", setzte ich an, doch ich kam nicht weit, sie unterbrach mich:
"Sie haben ihren Termin verpasst, aber wir haben noch etwas frei, heute ist nicht sonderlich viel los." Was für eine Überraschung. "Wenn sie mir bitte folgen würden, Frau...?"
"Lempschik, Cora Lempschik, erfolglose Anthropologin und arme Frau, deren Oma gestorben ist, sie haben meinen Namen gerade gesagt!", erwiderte ich leicht erbost.
Das kommentierte sie nur mit einem belustigten Augenbrauenzucken und watschelte mir voraus in einen Raum, der aussah, wie eine altrömische Badeanstalt.
Nur ohne Wasser.
Alles war voller Vasen, beckenförmiger Sitzgelegenheiten, seltsamen tropischen Pflanzen und Marmorstatuen von viel zu wohlproportionierten Frauen. Es roch sogar nach Badeöl, das empfand ich zumindest in diesem Moment so.
Doch durch diesen Raum rasten wir beinahe durch, es war, als wolle sie nicht, dass ich mich hier länger aufhalte, wir gingen durch die nächste Tür und betraten damit eine Bibliothek.
Ich hielt ich es auf jeden Fall erst für eine, bis mir der kleine Schreibtisch mit dem noch kleineren Mann darauf auffiel, der relativ mittig im Raum drapiert war.
"Der 16-Uhr-Termin, die Frau mit der toten Oma..." sagte die unsympathische Sekretärin, oder was auch immer sie darstellen sollte, an diesem surrealen Ort und entschwand. Der penetrante Seifengeruch der Litschifrau blieb allerdings.
Ich ging auf den winzigen Gnom von Mann zu und musste mir mein Lachen merklich verkneifen. Ihm fehlte wirklich nur noch der Goldtopf zum Kobold, er hatte rote Locken und dieses schelmische Grinsen auf den Lippen, als würde er etwas aushecken. Als er dann auch noch begann, mit irischem Akzent zu sprechen, konnte ich einfach nicht mehr an mich halten.
Als ich mich aber dann langsam wieder im Griff und ein Glas Wasser geleert hatte, war ich in der Lage, ihm zuzuhören, ohne einen erneuten peinlichen Lachkrampf zu bekommen.
Es war auch nicht mehr nötig, ihn zu unterdrücken, weil ich dem Kobold mittlerweile zuhören wollte, er erzählte mir, dass er es trotz vieler Gerichtsverfahren, von denen ich überhaupt keine Ahnung hatte, und anderer schweißtreibender Bemühungen nicht geschafft hatte, das Haus meiner Großmama zu retten. Er schweifte noch ein wenig weiter ab, er hörte sich wohl gern reden, und kam dann schließlich und endlich auf den Punkt zu sprechen, wegen dem ich eigentlich gekommen war und auf den ich schon die ganze Zeit ungeduldig gewartet hatte: "...Fakt ist, dass ihre werte Großmutter -möge sie in Frieden ruhen- ein Testament geschrieben hat, in dem sie Ihnen das hier..." Er überreichte mir ein altes, verschmutztes Holzkästchen. "...vermachte und aber weiterhin in ihrem letzten Willen darauf bestand, dass sie es noch hier aufmachen und lesen, um -ich zitiere- "...die Welt einmal mit meinen Augen zu sehen." was das allerdings mit dem Ort des Öffnens zu tun hat, weiß ich auch nicht. Also: Da ist ein Sessel, hier ist der Schlüssel für das Kästchen und ich hoffe, sie genießen dieses letzte Andenken an ihre geliebte Verwandte. Und noch einmal mein herzliches Beileid." Warum sagen Menschen eigentlich immer "noch einmal" obwohl sie dieses angeblich wiederholte noch nie gesagt haben?
Darüber konnte ich später immer noch nachdenken, jetzt gab es erst einmal nur noch mich und das Kästchen, den verrosteten Schlüssel in meiner Hand, der langsam warm wurde.
Ich hastete zu dem mir angebotenen Sessel, rammte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn, es knackte gefährlich, diese Truhe schien schon sehr alt zu sein, und doch sprang der Deckel nach einigen Bemühungen und Hoffnungen auf.
Ich war eine kurze Weile benommen von dem Staub, der mir in die Atemwege und Augen drang, doch dann hatte ich freie Sicht auf mein Erbe, auf alles, was mir außer den Erinnerungen von meiner einzigen bekannten Verwandten geblieben war.
In der Truhe befand sich eine Schreibfeder mit einer chinesischen Gravierung, sie bedeutete so viel wie "Wunder", eine Lupe und ein unordentlich zusammengefalteter Fetzen Papier.
Ich muss zugeben, ich war verwundert.

Ich nahm den kleinen Papierfetzen und las mit Hilfe der Lupe, was darauf in unordentlicher, winziger Schrift geschrieben stand:
"Liebe Cora. Wenn du das hier liest, werde ich definitiv nicht mehr leben, zumindest nicht so, wie du und die meisten Menschen es unter "Leben" verstehen würden.
Du hast mich immer gefragt, wie ich es anstelle, trotz all meiner äußeren Sorgen so viel Glück und Zufriedenheit auszustrahlen, obwohl ich doch deiner Meinung nach so viele Gründe hätte, dies nicht zu tun. Ich will mit diesem letzten Brief ein für allemal auf diese Frage antworten. Nun, zuallererst liegt es daran, dass ich tatsächlich glücklich und zufrieden bin. Und das hängt mit einem Erlebnis in meiner Jugend zusammen.
Ich war nicht immer so, wie ich es zuletzt war, diese Lebensart, mit der ich dich so beeindruckt habe, war nicht immer die meinige. Früher war ich genauso wie du. Ich sah stets in allem das Schlechte, machte mir ständig Sorgen und Gedanken über meine Zukunft, mein verkorkstes Leben, die Gründe dafür, dass das es so ungerecht war, obwohl ich damals noch wesentlich weniger äußere Sorgen hatte, als zuletzt. Ich kam aus einer gut situierten Familie, war mit einem sehr netten und liebevollen Mann verlobt, den ich auch noch gern hatte, der aber leider in Amerika wohnte. Ich wollte ihn allerdings unbedingt vor unserer Hochzeit noch einmal sehen, mir behagte es nicht, einen Mann zu heiraten, den ich erst zweimal gesehen und dem ich einige Briefe geschrieben hatte. Also begann ich, zu planen. Ich wusste, dass meine Eltern mir niemals erlauben würden, allein nach Amerika zu fahren, ich war ja schließlich auch erst fünfzehn, also musste ich einen anderen Weg finden. Und das tat ich auch, ich suchte und fand eine Möglichkeit, unentdeckt von meinen Eltern nach Amerika zu kommen: Bald sollte ein Frachtschiff vom Hafen meiner wundervollen englischen Heimatstadt zufällig genau in seinen derzeitigen Wohnort auslaufen. Ich packte die Gelegenheit am Schopfe, einige Sachen und ein wenig Geld zusammen und teilte meiner damals besten Freundin meinen Plan mit. Sie fand diesen natürlich phantastisch und schwor hoch und heilig, niemandem etwas zu verraten, sie half mir auch beim Verfassen des Abschiedsbriefes und beim Planen meiner Flucht.
Der Moment des Abschiedes war schon allzu bald gekommen und wir trafen uns wie abgemacht in aller Frühe im Nebel am Hafen, um ja das Schiff nicht zu verpassen, welches bald einlaufen sollte. Wir aßen frische, von meinem verhassten Nachbarn gestohlene Äpfel und genossen sie und unsere letzten Stunden gemeinsam in vollen Zügen.
Wir beide wussten nicht, für wie lang es heißen sollte: "Adieu!", als sie mich in den Schiffsbauch schmuggelte und zwischen irgendwelchen undefinierbaren Säcken versteckte. Sie umarmte mich noch einmal ganz fest und ging dann nach draußen, um darauf aufzupassen, dass auch wirklich alles glatt laufen würde. Sie war tatsächlich eine phantastische Freundin, solche Menschen findet man selten, sie riskierte alles, damit ich glücklich war.
Doch so weit dachte ich damals nicht, ich war nur noch aufgeregt, bald würde ich meinen Verlobten wiedersehen, oder etwa doch nicht? Was, wenn etwas schief gehen würde? Meine Nerven lagen blank.
Nach einiger Zeit hörte ich über mir Fußgetrappel, Männerschreie, einige Male kam auch jemand in den Lagerraum, aber anscheinend wollte er immer nur ein wenig dieser mysteriös riechenden Substanz aus einem der vielen Säcke herausholen und da ich ganz hinten versteckt lag, lief ich keine Gefahr, entdeckt zu werden.
Ich spürte, wie das Schiff ablegte und hätte platzen können vor Freude und Aufregung!! Niemand hatte mich daran gehindert, meinen Plan in die Tat umzusetzen, ich war einfach genial! Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Reise so lang dauern würde und nach einigen Stunden, wie es mir vorkam, schlief ich also ein.
Und wachte sehr unsanft wieder auf.
Draußen tobte ein Sturm, im Schiffsbauch war schon alles mit Wasser überflutet, ich schaffte es gerade noch, aus der Ladeluke, die sich Gott sei Dank direkt über mir befand, weswegen ich nicht weit schwimmen musste, zu entkommen. Draußen bot sich mir ein schrecklicher Anblick: Das Schiff war vollkommen zerstört, der Himmel war schwärzer, als alles, was ich jemals gesehen hatte und überall flogen Menschen und Schiffsteile wie Puppen durch die Luft.
Ich spürte einen Schlag am Hinterkopf und plötzlich musste ich einsehen, dass es doch noch etwas Schwärzeres als den Himmel in diesem Moment gab.
Als ich wieder aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte, war der Sturm vorbei und ich lag irgendwo im Meer auf irgendeinem Teil des Schiffes, das glücklicherweise aus Holz gewesen war.
Vom Rest meines Transportmittels war weit und breit keine Spur zu entdecken.
Ich war also vollkommen allein mitten auf dem Meer, hatte nichts zu essen, nichts zu trinken, hatte meine Familie, meine Freunde, meine Heimat verlassen und lag jetzt verletzt und wohl dem Tode nah auf einem Stück Holz rum.
Na toll, das passte wieder perfekt zu meinem furchtbaren, ohnehin schon schlechten Leben: Ich hatte immer schon geahnt, dass es mit mir kein gutes Ende nehmen würde, dass irgendwann eine Katastrophe kommen musste, aber dann gleich so etwas?
Ich war verzweifelt, hoffnungslos, wütend.
Und nachdem ich all diese Emotionen an dem Holzstück, mir selbst, dem Wasser und einem kleinen, imaginären Fisch ausgelassen hatte, wurde ich müde.
Ich dachte mir: "Wozu jetzt noch kämpfen, wenn es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnt, also warum nicht einfach den Tod siegen und mich endlich ruhen lassen. Es reicht langsam. Auf Wiedersehen, grausame Welt!", nachdem ich das gedacht hatte, sagte ich es noch einmal laut, dann brüllte ich es gen Sonne und wollte mich gerade ins Meer stürzen, als plötzlich vor mir auf dem Wasser ein Mann erschien.
Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich all die theatralischen Selbstmordgedanken vergaß und mit einem Mal kerzengerade auf dem Brett saß.
Dieser Kerl stand da. Er stand da einfach so rum. Auf dem Wasser! Und wunderte sich nicht einmal darüber!
Er sah mich nur an, mit seinen tiefen, durchdringenden Augen und plötzlich spürte ich eine bisher ungeahnte Kraft in mir, ich wusste, ich konnte alles schaffen, wenn ich nur wollte, doch gleichzeitig wurde ich ganz ruhig und friedlich, ich wusste, ich hatte alle Zeit der Welt.
Nach einiger Zeit schaffte ich es, mich aus dieser Faszination zu lösen, und wieder in die Realität zurückzufinden.
Ich sah wieder mich, verzweifelt, klein, jetzt schon den Wahnvorstellungen des Hungers unterliegend und eine neue Welle der Trauer überflutete mich.
Plötzlich sprach eine Stimme, sie schien von überall her zu kommen, aus dem Wasser unter mir, den Wolken über mir, sogar aus mir selbst! Sie sagte: "Warum bist du nicht glücklich? Schau dich um und sag mir, warum du nicht glücklich bist!"
Ich wollte schon etwas Patziges erwidern, doch dann sah ich mich wirklich um.
Und sah das Paradies. In jedem kleinsten Teilchen, das ich wahrnahm, war die Welt perfekt, ich sah das von Hunderten von Edelsteinen glitzernde Wasser, spürte die wundervoll warme Sonne auf meiner Haut, schmeckte das Salz des Meeres auf meinen Lippen und roch...roch...ich roch Rauch!
Im ersten Moment war ich so überwältigt von meinen neuen Sinneseindrücken, dass ich den Geruch gar nicht spezifisch wahrnahm, ich war zu angefüllt mit Liebe, Glück und Freude über mein Leben und darüber, im Einklang mit meiner Umwelt zu sein, dass ich das große Dampfschiff erst gar nicht bemerkte, welches mich schon längst ansteuerte.
So lernte ich letztendlich doch noch deinen Großvater kennen, der anscheinend Kapitän dieses erschienen Schiffes war und ebenso überrascht, mich zu sehen, wie ich, als ich den Mann auf dem Wasser sah, durch den ich glücklich wurde und durch den ich lernte, zu leben.
Ich bitte dich, schreib mit dieser Feder, dem einzig nicht nur ideell wertvollen Gegenstand, den ich jemals besessen habe, alles auf, was für dich und dein Leben von solcher Bedeutung ist, wie dieses Erlebnis für mich. Diese Dinge müssen für die Nachwelt erhalten bleiben, wir müssen es schaffen, dass die Menschen sich nicht mehr fragen: "Warum bin ich glücklich?" sondern sich vielmehr die Frage stellen, warum sie es nicht sind! Und ich weiß, wenn du meinen Brief gelesen hast, wirst du verstehen, warum jeder Mensch auf der Welt es verdient hat, glücklich zu sein. Also hilf mir, die richtigen Fragen zu stellen. Und vergiss nicht, dein Glück ist überall. Du brauchst es nicht zu suchen. Du kannst es nur finden.
Wenn du mit all deinen Sinnen dein Leben, deine Umwelt genießt, wahrnimmst und liebst, entdeckst du diese Wunder, findest du überall dein Glück."

Ich blickte auf. Mittlerweile war es schon nach Mitternacht. Ich sah mich um, der Raum hatte sich verändert: Er war nicht mehr, als die schäbige kleine Stadtbibliothek, es gab keine Marmorpfeiler, keine seltsamen römischen Badesäle, keine Kobolde. Und doch war dieser Ort wunderschön, ich sah, wie sich die Straßenlaterne im Fenster über dem hintersten Bücherregal spiegelte, schloss mein kleines Holzkästchen ab und trat begeistert in den wundervollen, fast greifbaren, und sich in jedem Moment neu erfindenden Nebel hinaus.
Ich war glücklich.
Warum denn auch nicht?

Impressum

Texte: Buchcover: "Frau schneidet Rosen im Garten" von Childe Hassam
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine wundervolle Großmutter, die mir gezeigt hat, dass Kreativität überall ist.

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