Als Gideon wie jeden Dienstagmorgen um 10 sein kleines, beigefarbenes, hie und da ein wenig verfallenes und sehr spartanisch eingerichtetes Häuschen am Stadtrand von Lyon verließ, um wie jeden Dienstagmorgen um 10 Uhr drei kleine, goldbraun gebackene Brötchen vom Dorfbäcker zu holen, stellte er fest, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode hatte liegen lassen. Also ging er nochmals hinein und machte sich auf den Weg über den weichen, handgewebten Teppich aus Marokko zur mit Wassermotiven verzierten, ebenfalls von einer von Gideons Reisen mitgebrachten, etwa hüfthohen Kommode unter dem Spiegel aus dem Antiquariat, in den er noch nie in seinem Leben einen Blick geworfen hatte. Er meinte immer: "Die Dinge sind, wie sie sind. Man muss sie hinnehmen und versuchen, mit ihnen klarzukommen. Ansonsten überlebt man nicht." Das war seine einzige Lebensmaxime und er war auch bisher immer sehr gut damit vorangekommen. Er hatte in seinem Leben alles erreicht, was er erreichen wollte, er beschwerte sich nie und ihm war alles gleichgültig. Einerseits konnte er so niemals unglücklich sein. Aber auch das Glück blieb ihm dadurch verwehrt, denn Gideons einzigstes Bestreben bei dieser Sache war, sich möglichst aus allem herauszuhalten, es interessierte ihn einfach nicht, ob da nun etwas war oder nicht, Hauptsache er schaffte es, es in sein Weltbild einzubauen. Dann war alles in Ordnung.
Als er endlich das Schränkchen erreicht hatte, der Weg schien ihm heute länger als sonst, fand er seinen Schlüssel nicht wie gewohnt in der Schale vor, die dort, so wie alles andere in seinem Haus, an demselben und immer gleich bleibenden Fleck stand, seitdem er es bezogen hatte. Nein, vielmehr lag er neben dem niedlichen, von einem seiner Patienten selbstgetöpferten und undichten Gefäß.
Aber auch das tangierte ihn nicht weiter, er steckte den Schlüssel ein und trat zum zweiten Mal an diesem Morgen über die Schwelle seines Hauses.
Und wunderte sich.
Gideon Porth wunderte sich. Das wunderte ihn wiederum noch mehr, da ihm dieses Gefühl so vollkommen fremd war, er hatte sich noch nie in seinem ganzen Leben gewundert. Warum auch? Es war ja immer einfach alles so, wie es war, da war nie etwas Wundernswertes gewesen.
Doch heute sollte es anders sein. Gideon fing schon mit dem ersten Atemzug an, sich zu wundern. Er roch nämlich nichts. Rein gar nichts. Es lag nicht der frische Geruch des Frühlings in der Luft, die Abgase der Stadt, der Geruch von Luft war fort. Man kann den Geruch von Luft nicht beschreiben, es gibt Menschen, die behaupten, Luft röche nach nichts, aber das stimmt nicht. Diese Menschen wissen einfach nicht, wie es ist, wenn es nicht nach Luft riecht.
Und genau das nahm Gideon gerade wahr. Er blickte sich um, um zu ergründen, was denn der Auslöser für diese skurrile Abwesenheit eines Geruchsanreizes, eines Impulses war, bemerkte aber stattdessen noch mehr bisher so selbstverständliche, nun aber vollkommenen abwesende Sinneseindrücke: Er spürte nichts.
Ihm war nicht warm, ihm war nicht kalt, es wehte kein Wind, er bemerkte die Kleidung auf seiner Haut nur, weil er sie sah. Doch langsam begann er daran zu zweifeln, was er sah. Woher sollte er auch schon wissen, was wirklich war und dass nicht alles, was er mit den Augen wahrnahm nur reinste Einbildung war, wenn er es mit keinem anderen seiner Sinne bemerken konnte?
Er schaute in den Himmel, in der Hoffnung, dort eine Erklärung für dieses Nicht-Gefühl zu finden. Entdeckte allerdings wiederum nichts. Keine Sonne. Keine Wolken. Nichts.
Es gab in diesem Moment kein Wetter.
"Kein Wetter?", fragte sich Gideon, "Das kann doch gar nicht sein!!". Und doch sagte ihm all seine Wahrnehmung etwas anderes.
Er war vollkommen verwirrt. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er die Welt nicht mehr. Er sah zwar alles, aber doch schien es nicht zu existieren. Er hörte viel, aber war es vorhanden? Gideon konnte sich einfach nicht erklären, was das war, ob überhaupt noch irgendetwas war. Er wollte darüber aber nicht nachdenken, er wollte nur einfach möglichst schnell aus dieser Nicht-Wahrnehmung und Unsicherheit um die Existenz der Dinge heraus- und in sein altes, gewohntes Leben wieder hineinfinden. Der Gedanke, mit dem er sich nun aus diesem Meer der Verwirrung zurück an den sicheren Strand des Bekannten ziehen wollte war: "Gut, dann mache ich jetzt einfach weiter, vielleicht legt sich das ja wieder." Also ging er los, um endlich die Brötchen vom Bäcker zu holen. Er setzte wie gewohnt einen Fuß vor den Anderen, doch spürte er die Erde unter sich nicht mehr.
Gideon zog die Schuhe aus, um sich vielleicht wenigstens etwas einzutreten.
Er lief über einen Scherbenhaufen, sah, wie das helle Blut über das grün schimmernde Glas floss und wunderte sich darüber, wie unglaublich faszinierend er das fand.
Dann bemerkte er erneut, dass er sich wunderte und ihm wurde langsam flau im Magen.
Er bekam Angst und versuchte mit aller Macht, seine Wahrnehmung auf irgendetwas zu konzentrieren, er spürte nicht einmal seinen eigenen Herzschlag.
Er rannte.
Und immer noch gab es keinen einzigen Windstoß.
Und immer noch nahm er nicht seinen Atem wahr.
Auf diesen Schock überlegte er sich: „Wer weiß, vielleicht soll das ja meine Lebenseinstellung auf die Probe stellen, und ich soll sie gerade jetzt leben!“
Eigentlich glaubte Gideon nicht daran, dass irgendetwas oder irgendjemand sein Leben beeinflussen könnte, aber das schien ihn momentan die einleuchtenste Erklärung zu sein.
Gideon wollte diese Neuerung, diesen absoluten Umbruch seines Universums so nehmen, wie er schon immer alle Neuerungen in seinem Leben genommen hatte, er wollte sie einfach nur verdrängen und sie möglichst schnell in sein Weltbild einbauen. So, wie er es schon sein gesamtes Leben lang immer mit allen Dingen gehandhabt hatte. Also lief er weiter und so langsam gefiel ihm dieses Gefühl des Nicht-Fühlens.
So paradox das auch klingen mag, aber Gideon Porth fand Gefallen an einer Sache. So brauchte er sich wenigstens nicht mehr darum zu sorgen, dass irgendwelche Dinge, Gefühle, Sinneseindrücke, Einfluss auf sein Leben haben könnten. Und mit seinen Augen und Ohren nahm er ja noch immer einiges wahr.
Das hoffte er zumindest.
Er ging die lange staubige Landstraße entlang, die ihn im Sommer jeden Dienstagmorgen um 10 Uhr sehr quälte, da es immer unerträglich heiß war. Nun, das hatte jetzt für ihn ein Ende. Als er also über diesen Fakt nachdachte, genoss, was sich auf einmal für Möglichkeiten vor ihm auftaten und er immer tiefer in seine Gedanken und die Landschaft eindrang, sah Gideon plötzlich an der einzigen Kurve, die diese Fahrbahn zu bieten hatte, einen Mann stehen.
Dieser Mann stand da einfach so rum.
Und merkte gar nicht, was er Gideon damit antat, der all diese Neuerungen krampfhaft zu einem kompakten Bild zusammenzufassen suchte.
Gideon sah den Mann und hielt ihn für absolut unwirklich, er schien ihm eine Fata Morgana zu sein, obwohl dieser Eindruck das wohl normalste war, dass er in der letzten halben Stunde erlebt hatte, es standen schließlich oft Menschen an dieser Straße, denn wenige konnten sich hier ein Auto leisten, also fuhr eigentlich jeder per Anhalter in die Stadt, um seine Besorgungen zu erledigen. Doch jetzt hatte Gideon so etwas nicht erwartet. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, nichts wahrzunehmen, nichts Besonderes, dass dieser eigentlich gewohnte Eindruck nicht in seine momentane und schnell wieder neu angepasste Welt gehören wollte.
Er trat näher an den Mann heran.
Und entdeckte in diesem Menschen die personifizierte Trauer. Er war vollkommen grau gekleidet, sah klein, schmächtig und gebrochen aus und er weinte sogar.
Gideon empfand mit einem Male tiefstes Mitgefühl mit diesem armen Kerl. Er fragte ihn, was ihn denn so bedrücke. Der Traurige entgegnete:" Ach, mein Leben ist so schlecht. Es ist, als würde es jeden Tag und immer regnen. Jetzt zum Beispiel ist mir kalt, ich glaube, ich erfriere gleich. Dieses Gewitter hört wohl niemals wieder auf! Der Wind peitscht mir ins Gesicht und der Regen durchnässt mich noch vielmehr. Und das Furchtbarste ist: Ich weiß, dass es immer noch schlimmer kommen kann und bei mir auch garantiert noch viel schlimmer kommt, weil immer alles noch schlimmer kommt!"
Noch während Gideon über diese Worte nachdachte, verschwand der Mann. Gideon war irritiert. Und dann dachte er sich, dass der Mann doch eigentlich Recht hatte, es war tatsächlich möglich, dass es noch schlimmer kam. Schlimmer ging immer, nur besser kann es niemals werden.
Plötzlich fühlte Gideon Regentropfen auf seiner Haut. "Na toll.", dachte er. "Ich sag doch, es wird immer schlimmer und schlimmer. Egal was ich mache, ich mache damit sowieso nur etwas anderes kaputt. Also warum überhaupt noch etwas machen?"
Sprach es aus und setzte sich prompt hin, mitten auf die Straße. Ihm wurde kälter und kälter, er sah ein, wie sinnlos sein ganzes Dasein doch war und führte sich alles vor Augen, was in seinem Leben schief gelaufen war. Damals war ihm das alles als unwichtig erschienen. Gefühle, Einbildung also, das war doch alles egal.
Ein Mann, der in einem beigefarbenen Haus am Stadtrand von Lyon wohnte, saß am Dienstagmorgen um 11 Uhr mitten auf einer Straße, die in die Stadt führte, war tieftraurig, während um ihn herum die Straße durch den Regen immer nasser wurde, die kleinen Regentropfen unendlich und immer unendlicher werdende Kreise in den sich bereits langsam bildenden Pfützen auslösten, und war fasziniert von seiner eigenen Trauer, er betrachtete seine Gefühle und Gedanken dabei wie von außen, wie durch eine Glasscheibe hindurch, als würde er sich einen Kinofilm anschauen, dessen Anfang er verpasst hatte und nun musste er selbst herausfinden, worum es in diesem Film ging, denn niemand klärte ihn darüber auf.
Gideon leckte sich die Lippen und schmeckte die salzigen Tränen und das frische Regenwasser auf seiner Zunge, das versetzte ihn in hellste Entzückung, ja beinahe schon Ekstase.
Er fühlte sich mit neuem Leben erfüllt, sah auf einmal die phantastischsten und einmaligsten Gebilde, die das Regenwasser, die jeder einzelne Tropfen auf seiner Haut, auf der Straße und in seiner gesamten momentanen Lebensumgebung formte, und mit jedem weiteren Wassermolekül, das er auch nur im geringsten wahrnahm, war es, als würde ein Stück seiner alten, so mühsam und nur aus Schmerz, Leid, Entbehrung und selbstgeschaffenen Problemen errichteten Blockade um seinen Zugang zum Glück fallen.
Er atmete tief ein und roch den Geruch des Lebens.
Er roch das Wasser, roch den Asphalt unter sich und vertiefte sich ganz und vollkommen in seine Wahrnehmung, jeder Moment bot einen neuen Geruch, einen neuen Reiz, die Impulse waren einfach unermesslich und aufregend, Gideon roch, dass er begann, zu leben.
Auf einmal fühlte er auch seine Umwelt. Er fühlte seine nasse Kleidung an seinem Körper, die ihm überhaupt nicht mehr unangenehm war, sondern eher das Interessanteste, was er jemals gefühlt hatte und Gideon wusste, dass er dieses Gefühl niemals wieder haben würde.
All diese Gefühle, alles, was er wahrnahm, waren nur für diesen Moment bestimmt und für diesen Moment perfekt, er wusste, dass nur dieser Moment existierte, und dass dieser Moment niemals wieder kommen würde, dass nur der Augenblick zählt und vor allem, dass es nur möglich ist, jetzt zu leben.
Er sah sich um und alles um ihn herum war ein Wunder. Er legte sich flach auf den Boden und spürte die raue Oberfläche des Straßenbelages auf seiner Wange, er war fasziniert von der neuen Perspektive, die sich ihm aus dieser Lage bot, stand auf und entdeckte mit einem Mal, dass er die Perspektive erneut gewechselt hatte.
Dann ging er einen Schritt und sah die Dinge schon wieder anders.
Gideon wusste, dass alles um ihn herum -und nur das- Leben war, dass es nur das gab, was er wahrnahm und dass diese Wahrnehmung nur durch Veränderung fortbestehen konnte, denn nur Veränderung war Leben.
Gideon veränderte sich, er veränderte sein Denken, er begriff, dass seine Welt aus nichts als seiner puren, wiedergewonnenen und neuen Wahrnehmung bestand.
Er sah, er roch, er fühlte die Magie der Faszination.
Und er war fasziniert von der Neugier, die ihn beim Gedanken an das Leben, an Jetzt packte, er war dabei, seine Welt zu entdecken, die Wunder des Seins wahrzunehmen, die allgegenwärtig sind und nur darauf warten, von uns geliebt zu werden.
Texte: Buchcover:
"Fenster zum Meer" von Andres
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Puck, der mich zum Nachdenken bewegt und zum Lachen bringt.