Meine Heimat ist der Ort, an dem ich den ersten Teil meiner Kindheit verbracht habe. Meine bunte Oase im grauen DDR-Alltag, den ich so aber nie empfunden habe.
Es steht auch heute noch, dieser Altbaublock, mitten im Ort. Nur ist er nicht mehr, wie damals, die Grenze zwischen Dorf und Siedlung, steht auch nicht mehr allein, sonder steht als Fels der Vergangenheit mitten zwischen neuen Häusern. Auch Mehrfamilienhäuser, die wie Mietskasernen in Reihe und Glied genau da stehen, wo wir früher durch gelbe Weizenfelder gestrolcht oder über grüne Wiesen getobt sind. Das Grün meiner Kindheit ist verschwunden.
Auch die Fassade ist anders. Weg dieser raue, graue Putz, der das Haus immer düster hat wirken lassen. Dafür hat er jetzt eine hellgelbe glatte Fassade, genau so, wie es ist wenn man renoviert.
Das Haus selber wirkt jetzt freundlich, aber die Freundlichkeit im Inneren ist verschwunden. Keine Kindergruppen, wie wir es waren, die fröhlich ums Haus toben. Keine besetzten Sitzgruppen mehr, an denen die Erwachsenen zusammen grillen oder etwas trinken, feiern und die freie Zeit genießen.
Der Platz, auf dem wir damals gebolzt haben steht heute voller Autos. Da ist kein Platz mehr für Kinder. Kein Platz mehr für Fuß- oder Federball oder Fahrräder.
Der kleine Schrottplatz hinter den Garagen ist auch weg. Gut für die Umwelt, will man meinen. Aber für uns war das kein Schrott. Da wurde ein alter Wasserkessel mal zum Pferd umfunktioniert. In einer verrosteten Karosse eines Wartburgs haben wir verreisende Familie gespielt und ausrangierte Töpfe und Bratpfannen fanden eine zweite Verwendung in unserer Bude.
Aus alten Eisenstangen wurden Waffen für den Bandenkrieg oder Fahnenstangen fürs Lager. - Wir waren Abenteurer in einer aufregenden Welt.
Das Wäldchen hinter dem Haus gibt es noch. Aber es ist eingezäunt. - Für uns war es ein grüner Spielplatz. Die Bäume waren unsere Aussichtstürme, im Gestrüpp lies sich wunderbar Kriechling spielen und die Brennnesseln, welche da in rauen Mengen wuchsen, wurden von uns mit Stöcken niedermetzelt, um danach mit Limo und einem trockenen Brötchen den Sieg über die feindliche Armee feiern zu können.
In dem Wäldchen stand auch unsere Bude. Unser Hauptquartier, wenn es um den Krieg gegen die Siedlung oder das Dorf ging. Wir waren die Blockbande. Und wir waren in ständiger Feindschaft zur Siedlung und zum Dorf. Es konnte aber auch sein, dass wir uns mit der Siedlung gegen das Dorf zusammen schlossen, oder anders herum.
Das kleine Dorf, der stille und friedliche Ort meiner Kindheit, er ist jetzt eine Stadt. - Zwangseingemeindet in eine Stadt, die es jetzt in ein Wohnsilo verwandelt hat. Ein Spielplatz und ansonsten Beton und stark befahrene Straßen.
Man sieht keine spielenden Kinder mehr. Dafür sieht man aber jede Menge Paare, jung oder alt, und keinen von ihnen erkennt man mehr. Alles Menschen, die günstig Baugrund erstanden haben, um ihren Traum von einem Leben auf dem Land wahr zu machen. Ein Land, welches längst zur Stadt geworden ist.
Meine Linde, ein großer Baum mitten auf freiem Feld, auch ihn gibt es nicht mehr. Ein Blitz hat ihm das Leben genommen. Eine Naturgewalt und weg ist einer meiner letzten Rückzugsorte. - Oft war ich einfach nur dort, um Kraft und Ruhe zu schöpfen. Auch noch im Erwachsenenalter war es mein Ort der Erholung. Ich habe unter dem dichten Blätterdach auf der Bank gesessen und gelesen, gelernt oder einfach nur das Auge über die grünen Wiesen und Felder schweifen lassen. - Er fehlt mir.
Ja, für mich ist Heimat ein Ort, von dem man träumt. Ich Träume von meiner Kindheit im Wohnblock. Von meiner Kindheit in der Gemeinschaft eines ganzen Hauses. Eine Kindheit, in der ich dank meiner „Ziehmama“ zwei Mütter hatte und einfach nur glücklich und frei von jeder Sorge war.
Ich wohne auch jetzt in einem Dorf. Aber ein Dorf, in dem ich nach dem Umzug meiner Eltern nie richtig Fuß gefasst habe. Hier gab es keine Bandenkriege. Hier stand man entweder trinkend an der Bushaltestelle oder hat sich ignoriert. - Ich habe mich fürs Ignorieren entschieden. Ich war ein Außenseiter und ich gehe auch heute den Leuten lieber aus dem Weg.
Meine Heimat, der Ort an dem ich mich wohl fühle, der ist jetzt in meinem Kopf und in meinem Herzen. Nur für mich ist er noch immer so, wie er vor 25 Jahren war. Und wenn mir alles zu viel wird, dann kehre ich an diesen Ort zurück und genieße noch einmal meine Kindheit.
Texte: Rika Wächter
Lektorat: * - *
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2015
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Widmung:
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