Soweit ich das beurteilen kann, hatte ich eine recht behütete Kindheit. Aufgewachsen auf einem Dorf in tiefer DDR. Jeden Tag an der frischen Luft und immer irgendwelche Fantasieabenteuer erlebt. Brennesseln wurden zu einer gefährlichen Armee, die mit einem Schwert (einfacher Stock) unbedingt niedergemetzelt werden mussten. Verschieden gewachsene Astgabeln wurden zu einer Waffenausstellung im Museum und auf einem Schrottplatz haben wir uns schon mal einen Hausstand zusammen gesucht. Es gab ja nichts.
Meine Sandkastenliebe übernahm derweil die Familienplanung. Er zeichnete unser Haus und entwarf mir schon einmal mein Brautkleid. - Ach glückliche Kindertage!
Probleme gab es auch damals schon. - Nur ich habe sie nicht gesehen. Ich war ja Kind.
Akut wurden sie, als ich mit meiner Mom allein, ohne Papi, in den Urlaub fahren musste. Meine Mutter erzählte mir, dass er arbeiten müsse. - Papi fuhr damals Lkw und ich hatte öfter mal Dinge wie Orangen, Bananen oder Milka-Schokolade. Also nahm ich das so als gegeben hin.
Ganz krass wurde es, als wir nach Hause kamen und Papi lediglich einen Brief an mich und meine Kinderzimmer-Sachen zurück lies. - Nun war ich also ein Scheidungskind.
Auch das Dasein als Scheidungskind hat seine guten Seiten. Wenn sich die Eltern nicht mehr absprechen, ist es sehr leicht, beide gegeneinander auszuspielen. - Und was ich nicht plötzlich alles für Wünsche hatte. Ein Fahrrad wollte ich haben. - Papi hat gemacht. Dann sollte es ein Haustier sein. Mom war strickt dagegen und von Papi habe ich es bekommen. Ich habe denen die teuersten Dinge aus dem Kreuz geleiert und wurde so binnen kurzer Zeit zum richtiggehend verwöhnten Einzelkind. Beide haben um meine Gunst förmlich gebuhlt. Und ich stand dazwischen und habe mich ins Fäustchen gelacht.
Jeder Topf braucht aber seinen Deckel und so begab es sich, dass auch meine Mom der Meinung war, sich wieder einen Partner zulegen zu wollen. Es kam der Sonntag, an dem dieser Mann zu uns kommen sollte...
Meine Mom wollte nur vorsichtig ausloten, wie wir miteinander auskommen würden. Der neue Mann und ich. Wir sollten uns langsam kennen lernen. - Und das Experiment war ein Erfolg auf ganzer Linie. Denn dieser Mann lies sich von mir den ganzen Nachmittag lang mit Perlen behängen. Er hatte zum Schluss eine Kette, einen Armreif, eine Krone und Ohrringe. - Ach ne, wat war das ein Bild...
Abends wurde ich dann recht zeitig in die Nasszelle unserer Blockwohnung zitiert. Ich hatte mich bettfein zu machen, da ich am nächsten Tag ja wieder in die Schule zu gehen hatte. - Die glaubten wohl, ich sei doof. Die wollten ja bloß noch unter sich sein. Mehr als Händchen halten war ja den ganzen Nachmittag über nicht.
Taktisch durchdacht zog ich ab. Ab er meiner Mom hatte ich noch was zu sagen. Ich rief sie also zu mir, nach ein paar Minuten, und lies sie wissen, dass dieser Mann doch bitteschön mein neuer Papa zu werden hatte. Nur den Gedanken an ein Geschwisterkind für mich, sollten sie doch mal gleich vergessen. Ich wollte diesen Papa aber keine Geschwister! Da hatte ich klare Vorstellungen. Der neue Papa sollte lediglich für mich und Mom da sein. Da hätte er wirklich genug zu tun.
An dem Abend war ich ein sehr mustergültiges Kind. Ohne Zicken und Theater ging ich ins Bett und blieb ganz still liegen. Gehört habe ich aber nichts mehr.
Die Zeit zog ins Land und wir drei wuchsen zu einer kleinen Familie zusammen. Mein Wunsch schien sich zu erfüllen, denn irgendwann stellte man mir meine „neuen“ Großeltern vor. Sie lebten in einem riesigen Haus in einem anderen Ort. Ich durfte offiziell überall herumstromern und sollte mir alles ganz genau ansehen. So ganz nebenbei eröffnete man mir, dass man hier her ziehen wollte. Alles würde vorher umgebaut werden und dann hätte ich mein eigenes Zimmer...
Himmel, fingen die Alarmglocken jetzt mit ihrem Geläut an. Ein eigenes Zimmer hatte ich nämlich auch schon in unserer Wohnung... - jawohl! Meine Mutter eröffnete mir, dass sie ein Kind erwartete. Boar – sie stellte es als toll hin, dass ich nun eine große Schwester werden sollte. - Ab diesem Zeitpunkt war unsere Mutter-Tochter-Verhältnis quasi nicht mehr vorhanden. Ich habe mich einfach nur noch verraten gefühlt. So, als wäre ich eine Backware vom Vortag, die noch mal für einen Tag in die Auslage darf... Dabei hatte ich doch von Anfang an klar gesagt, dass ich ein Einzelkind bleiben wollte. - Das war der Startschuss für meine Laufbahn als Zicke, die in der Pubertät mit einem ungehörten Hilfeschrei gipfeln sollte.
Die Schwangerschaft schritt nun also voran und meine Mom wollte mich unbedingt mit einbeziehen. Ich weiß noch, dass ich ein Strampler für das Baby aussuchen durfte. In den Ferien musste ich immer mit in die Stadt und tragen, was Mom so ergattert hatte...
Als sie dann zu Hause war, wurde es noch schlimmer. Ich stand nur noch unter Druck. Eine große Schwester hilft der Mutter! Eine große Schwester macht immer schnell und gut ihre Aufgaben für die Schule! Ein große Schwester geht der Mutter nicht auf die Nerven! - Mein Leben als Kind war von heute auf morgen vorbei. Von da an hatte ich zu funktionieren. (Was ich auch tat, wie es mir möglich war.)
Dann kam die Geburt. - In der Nacht hatte ich mitbekommen, dass die beiden ins Krankenhaus gefahren waren. - Ich war ja nun eine große Schwester und machte mich allein für die Schule fertig und ging pünktlich zum Bus. - In der Schule sagte ich nichts. Aber irgendwann stand mein neuer Papa auf dem Schulhof, verkündetet mir, dass ich einen Bruder hätte und gleich mit nach Hause durfte. Aber ich wollte nicht. Eine große Schwester würde sicherlich nicht einfach so die Schule verlassen. Ich würde ganz normal mit dem Bus nach Hause fahren, etwas essen und dann gleich meine Hausaufgaben machen. - Er zockelte also wieder ab.
Um einen Besuch kam ich an diesem Tag aber nicht herum. Mein neuer Papa unterbrach mich sogar bei den Hausaufgaben, um mich ins Krankenhaus zu schleifen. Dort saß ich eine Weile auf dem Bett meiner Mom. Mein neuer Papa und Mom unterhielten sich, während die große Schwester schon mal Bammel vor der anstehenden Mathearbeit bekam.
Bevor wir wieder gingen, bekam ich meinen kleinen Bruder durch eine Glasscheibe zu sehen. Dann ging es endlich wieder nach Hause, wo ich meine Hausaufgaben fertig machen musste, um dann ohne Abendbrot ins Bett zu müssen, weil ich mich nicht genug gefreut hatte.
Als der neue Erdenbürger nun zu Hause war, drehte sich alles nur noch um ihn. Wenn Mom ihn nicht fütterte oder badete, wusch sie Windeln oder war anderweitig beansprucht.
Mein neuer Papa steckte entweder auf seiner Arbeit oder baute am Haus. Oftmals bekam ich gar nicht mit, wenn er abends irgendwann nach Hause kam, um noch etwas mit seinem Sohn zu tüddeln.
Wenn jetzt die Nachbarn oder Freunde klingelten, kamen sie nur noch wegen meinem Bruder. Für ihn waren plötzlich die Sachen, die ich sonst bekam. Sowas wie Bananen oder Schokolade.
Ich hasste mein Dasein als große Schwester. Irgendwie kam ich mir nur noch wie ein lästiges Anhängsel vor. Als Mom wieder arbeitete, stieg ich zur Nanny auf. - Ganz böse in Erinnerung ist mir hier ein Urlaub in der Türkei. Mein Bruder und ich in einem Zimmer. Ständig hatte ich ihn an der Backe. Dabei war ich inzwischen 16 und wollte abends mal nicht lesend Schlafwache abhalten. Da war dieser süße Barmann, der schien ein Auge auf mich geworfen zu haben. Und ich musste ihm ständig absagen.
Bis heute hat „meine Mom“ nicht geschnallt, dass ich das alles nie gern gemacht habe. - Bis heute glaubt sie, dass ich eine stolze große Schwester war.
Zugegeben, als mein Bruder dann älter wurde, fast schon erwachsen war, wurden wir ein Herz und eine Seele. Heute poltern wir gemeinsam gegen „Mom“.
Und gemeinsam im Freibad nach Männerärschen gucken, macht auch riesigen Spaß!
Texte: Rika Wächter
Bildmaterialien: Rika Wächter
Lektorat: * keines*
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2014
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