Sie sitzt vor ihrem Rechner und hat das Chatfenster offen. Merlin ist online. Mit ihm hat sie sich schon öfter unterhalten. Allerdings... so recht ist ihr das heute nicht.
Merlin:
„Was machst du heute noch?“
Todesfee:
„Nichts.“
Merlin:
„Das geht nicht. Irgend etwas macht man immer und wenn es nur Schlafen ist.“
Todesfee:
„Will zum See.“
Merlin:
„Na siehst du. Du gehst zum See. Das klingt doch schon mal nicht schlecht.
Aber zum Schwimmen ist es bereits ein bisschen zu kalt. Oder?“
Todesfee:
„Mal seh´n.“
Merlin:
„Du kommst so traurig rüber. Ist alles in Ordnung mit dir? Geht`s dir gut?“
Todesfee:
„Nein.“
Merlin:
„Habe ich schon gemerkt. Du bist so wortkarg. Möchtest du reden? Ich kann gut zuhören.“
Todesfee:
„Zu spät.“
Merlin:
„Das verstehe ich nicht. Reden kann man doch immer.“
Todesfee:
„Irrtum.“
Merlin:
„Na gut, dann will ich mal nicht länger bohren. Aber du weißt, dass du jederzeit mit meiner Hilfe rechnen kannst?“
… Schweigen … keine Antwort von ihr …
Merlin:
„Na gut. Ich wünsche dir einen angenehmen Nachmittag am See. Die Sonne und die frische Luft werden deinem Gemüt gut tun.
… wieder keine Reaktion von ihr ….
Merlin:
Ich mache mir Sorgen um dich...
Er sitzt vor dem PC. Die Nachrichten der anderen wandern über den Schirm, erscheinen unten und verschwinden oben. Nur Todesfee schreibt nicht mehr. Sie war komisch heute. Schweigsam, still und so gar nicht zugänglich. Und er, Merlin, schweigt. Eisige Stimmung macht sich in ihm breit. Mit ihr stimmt etwas nicht. Was machte sie gerade? Soll er sie suchen?
Fast automatisch geht der Griff zu einem gerahmten Foto. Sie hatte es nur für ihn machen lassen. Das sagte sie jedenfalls. Aber mehr wusste er nicht von ihr. Nur, dass es ihr heute nicht gut ging. Aber warum nur?
Sicher, sie haben sich schon sehr oft unterhalten. Aber wenn er die Gespräche genauer betrachtet, immer nur über belangloses Zeug. Wenn er etwas über sie und ihr Leben herausfinden wollte, hatte sie immer abgeblockt....
Sie macht den PC aus. Mit roten Augen sieht sie sich in der Wohnung um. Ihr Mann, nicht körperlich anwesend, aber trotz allem bedrohlich präsent und allgegenwärtig, spukt ihr wild im Kopf herum. Überdeutlich spürt sie noch die Spuren seines letzten Ausbruches. Die Striemen auf ihrem Rücken spannen und sprechen so eine deutliche Sprache. Die blauen Flecken auf den Armen tun bei jeder Bewegung weh.
Langsam steht sie auf, mit Bewegungen einer alter Frau verlässt sie das Haus. Das Auto wartet bereits. Ihr Auto. Das einzige, was ihr Mann ihr noch gelassen hat. Es soll sie zum See bringen. Sie will schwimmen, aber nicht so, wie es Merlin definieren würde. Anders, so wie sie es für richtig hält.
Kein Zeit für Fragen, keine Zeit zu zögern. Er muss los. Die Pflicht ruft. Er muss zum Dienst. Das Krankenhaus ruft. Noch mehr Leid und Tränen. Er muss helfen. - Die Arbeit ist seine Berufung. Gern hilft er, wo er nur kann, setzt sich mehr für die Patienten ein, als er es müsste. Doch dort, wo er helfen möchte ist es ihm nicht möglich.
Den ganzen Arbeitsweg sind seine Gedanken bei ihr. Wo ist sie gerade? Ist sie auf dem Weg zu ihm? Hat sie seinen Schichtplan noch? Wie soll es weiter gehen? Wie kommt er an sie ran? Fühlt sie auch wie er?
Am See ist nicht viel los. Sie ist froh darüber. Gut für ihr Vorhaben weniger aufmerksame Augen steigern das Gelingen ihres Vorhabens.
Noch einmal legt sie sich in die Sonne und schließt die Augen. Das letzte mal ist so lang her. Damals bekam sie einen Sonnenstich. Sie wollte sich ihrem Mann nicht hingeben und er schlug zu. Einfach so. Eigentlich ohne Grund. Nur weil sie Kopfschmerzen hatte. Nein, er verwundete sie stark und im Krankenhaus durfte sie nichts sagen. Dort behauptete er, er hätte sie in diesem Zustand am Fuß der Kellertreppe gefunden.
Und dann die Schwangerschaft. Er hat ihr das Kind nicht gelassen. Er besorgte den Termin zur Abtreibung. Ob sie das wollte war egal. Das Kind war nicht mehr. Weg. Einfach so im Mülleimer. Die Kinderschuhe blieben in der Verpackung. Und dort sollten sich auch bleiben. Langsam dahin rottend in ihrem Grab. Im Garten neben ihrer Katze, die er auch auf dem Gewissen hatte.
Warum die Schläge dieses mal? Sie weiß es nicht. Um so mehr tun ihr die Wunden weh.
Langsam vom Leben abschied nehmend steht sie auf und geht auf das Wasser zu. Die sinkende Sonne spiegelt sich auf der Wasseroberfläche. Fast so, als wolle sie ihr den Weg zeigen, den sie nehmen muss, um diesem ewigen Leid endlich zu entfliehen.
Der erste Schritt... der zweite Schritt.... Das Wasser ist kalt, aber das ist heute nicht von Belang. Die Kälte betäubt sie.
Jeder weitere Schritt führt sie tiefer und tiefer ins Wasser hinein. - Als es ihr unterhalb der Brüste steht, dreht sie sich ein letztes Mal um. Ein kontrollierender Blick in die Umgebung, aber keiner scheint von ihr Notiz zu nehmen. - Sie läuft weiter.
Das Wasser schließt sich über ihrem Kopf. Nur das Glucksen des Wassers in den den Ohren öffnet sie die Augen und sieht in das trübe Nichts. - Langsam wird die Luft knapp, die Gedanken weichen aus ihrem Kopf...
Es hat nicht sollen sein. Man hatte sie beobachtet. Man wollte sie nicht sterben lassen. So wacht sie auf. Das Zimmer ist ihr fremd. Die Sachen die sie trägt auch. Ein papierähnlicher Krankenhauskittel.
Langsam wird sie sich der Gegenwart des Mannes bewusst. Er sitzt neben ihrem Bett und sie freundlich lächelnd, aber schweigend, an.
Im ersten Moment glaubt sie ihren Mann zu erkennen, will schreien und zuckt dabei heftig zusammen. - Doch es ist nicht ihr Mann. Es ist ein Gesicht, welches sie nicht kennt.
„Was machst du für Sachen, Todesfee?“ Und ein zärtliches Lächeln umspielt seine Lippen. Er greift nach ihrer Hand, streichelt sie liebevoll und redet mit sanfter Stimme weiter: „Ich wollte dich finden. Den ganzen Nachmittag waren meine Gedanken bei dir. Und dann haben sie dich hier her gebracht. Zu mir!“
Sie sieht ihn an und sagt nichts. Mit ängstlichen Augen beobachtete sie die Tür.
„Sollen wir jemandem für dich anrufen?“, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein! Derjenige der es wissen sollt ist bei mir.“
Sie sehen sich an, halten sich gegenseitig die Hände und die Welt ist auch für sie wieder in Ordnung. Diese Hände würden ihr helfen das Kommende zu meistern.
Texte: Rika Wächter
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2013
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