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~ Prolog ~




Dumpfer Moosgeruch. Vermischt mit Benzin und Schwefel. Glattes Glas blitzte um sie herum auf. Der Geschmack von Metall lag auf ihrer Zunge. In ihrer Sicht tanzten verquirlte Linien und Punkte hinter orangenen Hintergrund einen verschrobenen Tanz.
Paige klebte das Haar im Gesicht, ihr Kopf dröhnte. Sie versuchte sich aufzustützen, aber der Arm, der langgestreckt unter ihrem Kopf lag, flammte auf vor Schmerz. Sie spürte jeden einzelnen Stich des Glases, das sich in ihre Haut gebohrt hatte. Sie drehte sich auf die Seite, spürte ihre Schulter kaum noch, stützte den anderen Arm auf, der in Ordnung schien. Sie raffte sich auf, zuckte abermals auf bei dem durchschneidenden Schmerz ihres Armes.
Ihre grünen Augen durchsuchten die Umgebung. Einzelne schwelende Stellen, Löcher verstreut über das Feld vor ihr, Gebäudetrümmer.
Blutgeruch stach in ihre Nase. Sie wandte sich um und zog scharf die schwere Luft ein, die den aufkeimenden Husten, in ihrem Hals noch unterstützte. Aber ihr Atem stand still, der Reiz kitzelte, doch drang nicht hervor.
Menschen, überall. Blut schlang sich in Bächen um die leblosen Körper. Das Haupthaus vollkommen zerstört. Brocken, unter denen Hände hervorragten. Beine ohne Besitzer.
Paige schrak zurück. Ihr Hand versank in etwas weichem, glibberigen, griff fest zu. Das zerquetschende Geräusch ließ ihr Schauer über den Rücken laufen. Als sie ihren Kopf herumdrehte, erblickte sie Niall. In Stücke zerrissen, der Magen zerfetzt über ihm verteilt.
Paige hob ihre Hand. Sie hielt seinen Darm fest umgriffen. Sie blickte zurück in sein Gesicht. Der Kiefer ausgerenkt, die Augen weit aufgerissen.
Ihr Magen drehte sich um. Und obwohl sie nicht atmen konnte, kein Ton ihrem starr geöffneten Mund entfahren wollte, jeglicher Geruch, ihr die Sinne raubte, sie konnte nicht wegsehen. Der Ruck im ihren Bauch konnte nichts hervorbringen. Seit Stunden hatte sie nichts mehr gegessen.
Und dann, nur ein Gedanke.
Rache.

~ Kapitel 1~




Unsanft zuckte Paige zusammen, als der Schmerz ihren Arm durchzog. Im nächsten Moment erklang der schrille Ton ihres Weckers durch das abgedunkelte Zimmer. Sie schlug auf das vibrierende Metallgestell und es verstummte. Die drückende Hitze des Raumes verstärkte den Schmerz in ihren Schläfen und sie wusste, es würde noch ein furchtbarer Tag werden.
Sie zog die Decke, die klamm an ihr klebte, von sich. Ihr ganzer Körper glänzte im matten Licht von Schweiß. Der Ventilator vor ihrem Bett hatte wiedermal den Geist aufgegeben. Sie stand auf. Ein schneller, kurzer Schmerz wie ein Blitz zog sich durch ihren linken Arm. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie über die hellen Narben auf ihrer Haut. Ihre Finger glitten zur Unterseite ihres Handgelenks, auf der ein Name in feinen Linien schimmerte. Niall.
Paige schob den Schauer von sich, den die Erinnerung an ihren Traum, oder viel mehr ihre Vergangenheit, mit sich gebracht hatte. Es lag lange Zeit zurück. Jedoch wirkte der Schmerz so frisch, als wäre es gestern gewesen.
Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und lief zum verhangenen Fenster. Sie zog den schweren, braunen Vorhang zurück, der von Löchern zerfressen war und die Sonne bahnte sich ihren Weg in das dunkle Reich. Paige kniff ihre Augen zusammen als das Licht in ihre Sicht stach. Doch die weißen Flecken verschwanden schnell und Paige konnte über die hohen Gebäude der kahlen, kalten Stadt blicken. Die grauen Türme der Wohnhäuser ragten weit über der Erde, auch wenn schon lange in manchen keiner mehr wohnte. Sie strich den Staub vom Glas und zeichnete die Sonne nach. Wie gern sie doch früher Sonnenaufgänge gemocht hatte. Im großen Garten sitzend, die leuchtenden Fackeln in den Blumenbeeten. Doch das lag lange zurück. Noch länger.
Sie wandte sich um und lief um ihr Bett zur Tür. Auf ihrem Weg wich sie den zahlreichen ungewaschenen Kleidungsstücken aus. Den Schalen mit den eingetrockneten Soßen- und Zwiebelresten, den leeren Plastikflaschen, die sie zu einem Turm gebaut hatte. Bevor sie zur Tür trat, schwenkte sie zu der vollgestellten Kommode. Vereinzelte Ohrstecker und Ketten lagen verstreut zwischen Parfümflaschen und Käm
men. Sie griff aus der offen stehenden obersten Schublade ein schlichtes, schwarzes Kleid und öffnete die Tür.Sie trat in den kleinen Flur, von dessen Wänden die alte Tapete sich blätterte. Wie sehr sie sich einmal einen freien Tag wünschte, um aufräumen und etwas renovieren zu können. Aber für Tapete hätte sie wohl nicht das Geld. Vielleicht würde sie im Keller ein paar zurückgelassene Farbeimer finden, deren Farben noch nicht eingetrocknet waren.
Sie schlich zur Tür gegenüber und trat in das kleine, blassrosa Bad. Sie schaltete das Licht ein und stellte die Dusche an. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fuhr Paige erschöpft über ihr Gesicht. Wenn die Aufseherin ihre Augenringe bemerken sollte, würde sie sie wieder in den Küchendienst versetzen. Sie drehte den Wasserhahn auf und spritze sich das kalte Wasser ins Gesicht. Angenehmer.
Sie stellte das Radio neben dem Waschbecken an und lauschte alter Musik aus einer Zeit, die sie nicht kannte. Die Kassetten hatte sie durch Zufall entdeckt. Sie putzte ihre Zähne im Takt, während sie das verschwitzte Top von ihrem Körper zog. Mit einem Blick auf den kleinen Wecker der Badablage, riss sie die Unterhose herunter und sprang unter das noch lauwarme Wasser.
Nachdem sie hastig in ihr Kleid geschlüpft war, sprang sie aus dem Bad in den Flur. Sie öffnete eine dritte Tür und ging durch die Küche zum kleinen Kühlschrank. Bilder zierten das Gerät, doch die meisten der Leute kannte sie nicht mal. Sie achtete nicht weiter darauf und öffnete die Tür, zog eine fast gänzlich leere Margarineschachtel hervor und eine geöffnete Packung Salami. Doch sie hielt inne. Würde Salami in Ordnung gehen? Nicht ihren Atem ruinieren?
Sie schob die Packung zurück und griff in das Salatfach, um eine Gurke hervorzuholen. Sie schloss den Kühlschrank und zog ein benutztes Brett vom Stapel ihres Tisches. Schnell spülte sie ein Messer ab und holte ein Glas aus dem Hängeschrank, das sie mit kaltem Tee füllte. Nach ihrem schnellen Frühstück zog sie hastig ihre grauen Turnschuhe an, warf eine Tasche über ihre Schulter und griff nach ihrem Schlüssel.
In Windeseile rann sie das leere Treppenhaus hinunter, hinaus durch den ungepflegten Eingangsbereich. Auf der Straße spross Unkraut und kleine Bäumchen kämpften sich durch Risse. Ihre Schritte hallten von den hohen Gebäuden wieder, als sie um die Ecke auf eine große Hauptstraße bog. Sie musste sich beeilen. Sie durfte den Bus nicht verpassen, der in die „Grünen Zonen“ fuhr. In der Ferne konnte sie Leute erkennen, die auf den Bus warteten. Sie beschleunigte ihre Schritte und konnte bereits den brummenden Motor des Busses hören.
Er hielt einen Moment bevor sie keuchend an der Bushaltestelle ankam. Warum hatte sie heute Morgen eigentlich geduscht? Die schwüle Hitze ließ ihr Haar an ihrer Haut kleben. Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen und stieg in den Bus. Eine leichte Brise zog durch die geöffneten Fenster des Busses. Paige atmete einmal tief durch, dann schlug ihr Herz nur noch halb so schnell. Sie ließ ihren Blick über die trostlosen Gebäude streifen, die ihr schon so bekannt geworden sind.
Eine Haltestelle würde der Bus noch halten, dann hatte sie noch 15 Minuten, bevor sie ihre Rolle wieder annehmen musste. Sie zupfte an dem weißen Band, das um ihr Handgelenk geschlungen war. Der Bus hielt vor einem großen, mit Drahtzaun besetzten Tor und öffnete die quietschenden Türen.
„Morgen, Paige“, rief ein blonder, muskulöser Junge in ihrem Alter, als er sie erblickte. Er war gerade in den Bus gestiegen und setzte sich auf die abgewetzten Plätze vor ihren.
„Morgen, Josh“, erwiderte sie matt, aber wandte ihren Blick nicht ab. Er sah sie schief an und stützte sein Kinn auf, als der Bus grummelnd losfuhr.
„Schlechte Nacht gehabt?“
Paige zuckte aus ihrer Starre.
„Sieht es so schlimm aus?“, fragte sie entsetzt. Josh grinste.
„Nicht so sehr, wie du es dir vielleicht vorstellst.“
„Josh!“, fuhr sie ihn an und schlug gegen seine Schulter.
„Sei mal nicht so nervös“, erwiderte er lässig.
„Du hast leicht reden. Du bist im Außendienst. Ich wurde gerade in den Raumdienst eingeteilt!“ Paige fuchtelte wild mit ihren Händen durch die Luft. Aber sie hielt inne in ihrer Bewegung. Sie durfte sich nicht zu viel bewegen oder der Schweiß würde wieder ausbrechen. Die Hitze war einfach zu unerträglich.
„So schlimm ist Raumdienst auch wieder nicht. Wem haben sie dich zugeteilt?“, fragte er.
Paige schielte hinter sich und zu den anderen Insassen des Busses. Keiner schien an ihrem Gespräch interessiert zu sein, aber man konnte sich nie sicher sein. Sie lehnte sich leicht vor und bedeutete Josh ihr näher zu kommen. Dieser sah sich verwundert um, bevor er ihr neugierig sein Ohr hinhielt. Paige zog die Hände als schützende Wände zwischen ihren Mund und seinem Ohr und flüsterte: „Der junge Herr.“
„Was?!“ Josh schrak zurück. Paige bedeutete ihm leise zu sein, doch die Leute im Bus hatten bereits ihre Köpfe umgewandt.
„Ja. Ich weiß. Die Hausvorsteherin ist zwar nicht die schlimmste Zuweisung, aber auch nicht die Tollste“, seufzte Paige und legte eine Hand auf ihre Wange. Die Köpfe wandten sich ihrer vorherigen Position zu. Sie musste wohl doch nicht eine allzu schlechte Schauspielerin sein.
Josh jedoch blickte sie immer noch entsetzt an. Paige verdrehte die Augen, um ihm zu bedeuten, dass er sich normal verhalten sollte. Einige Leute schielten sie immer noch misstrauisch aus den Augenwinkeln an. Josh wuschelte sich kurz durchs Haar und schüttelte den Kopf, um den Schock von sich zu schleudern.
„Wuh! Jetzt habe ich aber einen Schreck bekommen. Dieses Monster ist furchtbar.“ Seine Antwort klang mehr als nur gestelzt, aber jeder kannte die Hausvorsteherin. Die letzten neugierigen Blicke wandten sich ab von den Beiden.
Paige atmete erleichtert auf. Dann versetzte sie Josh einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Wie kannst du nur so laut sein?“, zischte sie versucht leise.
„Tut mir Leid. Ich war nur echt baff. Unglaublich, dass sie dich zu diesem Typen stecken. Ich habe gehört, er soll ein Tyrann sein und machen, was er will. Mein Beileid“, erwiderte der Blonde und rieb sich über die getroffene Stelle.
„Obwohl ihn noch keiner zu Gesicht bekommen hat“, seufzte Paige und blickte hinaus in die ebene Umgebung, die sich hinter dem Drahtzaun befand. Ein schmaler Streifen heißer, lebloser Steinwüste lag zwischen den „Grünen Zonen“ und den alten Wohnanlagen. Der Himmel strahlte im schönsten Blau im Kontrast zum heißen Rot des mit Steinen übersäten Bodens.
„Zu Gesicht bestimmt schon. Aber keiner konnte erzählen, wie er aussieht. Die, die für kurze Zeit für ihn gearbeitet haben, verschwinden von der Bildfläche. Ich frage mich nur, was mit den ganzen Leuten passiert“, murmelte Josh und lehnte sich mit verschränkten Armen hinter dem Kopf zurück.
Paige Kopf zuckte herum.
„Du solltest aufpassen, was du sagst, Josh. Hier sind überall Ohren“, züngelte sie hinter ihrer aufgestützten Hand hervor. Josh warf ihr einen genervten Seitenblick zu. Den Rest der Fahrt unterhielten sie sich nicht mehr viel.
Paige hatte Josh an ihrem ersten Tag kennengelernt. Damals war sie für eine Gartenparty als Hilfe angestellt worden. Einige Patzer hatte sie sich geleistet, aber jedes Mal, bevor die Hausaufseherin davon Wind bekommen hatte, hatte Josh ihr aus der Patsche geholfen. Zum Glück hatte sie kein größeres Chaos verursacht. Nur ein paar gefallene Teller, eine gestürzte Bowle-Schale und ein kleiner Stuhlzwischenfall. Die anderen Hilfen wussten, wie sehr sie diesen Job brauchte, also haben sie alle unterstützt und sie konnte eine feste Anstellung bekommen. Auch wenn keiner ihre wahren Absichten kannte. Nicht einmal Josh, dem sie fast alles anvertraute.
Als der Bus hielt, wurde Paige nervöser. Was würde sie wohl in der Residenz des Jungen Herren erwarten? Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Wahrscheinlich würde sie ihn nie erfahren, weil es ihr nicht gestattet sein würde, ihn anzusprechen. Aber das war ihre Chance. Sie musste herausfinden, was er und seine Familie mit den Geschehnissen vor 2 Jahren zu tun hatten.
Paige stieg aus dem Bus und folgte den anderen Angestellten in einer Reihe zum Hintereingang des Anwesens. Die Gegend war mit der anderen kaum zu vergleichen. Überall grünten Baume und Büsche, blühten die buntesten Blumen, die Paige jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Weiße Häuser, breit mit mehreren Etagen, hohen Fenstern und leuchtend roten Dächern standen inmitten der riesigen Grünanlagen umrandet von hohen, weiß geputzten Mauern. Blaues Wasser glitzerte in den Poolanlagen mit Steingrill und Liegen inklusive Sonnenschirm umstellt. Diese eingezäunte Harmonie. Paige hasste sie.
Am Pageneingang stand bereits die Hausaufseherin. Ihre lange weiße Robe glich einer Nonne, deren Blütetage bereits vorbei waren. Als sie Paige erblickte, bedeutete sie ihr ihr zu folgen. Josh gab Paige einen Klaps auf die Schulter, bevor sie aus der Reihe heraustrat. Im Zurücksehen konnte sie noch das Grinsen auf seinem Gesicht erkennen, bevor er hinter der weißen Mauer verschwand. Die Hausaufseherin stand einige Meter vom Pageneingang entfernt.
„Wie ich sehe, müssen wir dich erst ordentlich zu Recht machen“, sagte sie angewidert, als sie eine von Paige' braunen, leicht gelockten Strähnen in der Hand befühlte und sie dann achtlos zurückwarf. Die Aufseherin griff Paige' Kinn und besah sich genau ihr Gesicht. Die Falte auf ihrer Stirn wurde immer tiefer. Ruppig ließ sie das Kinn wieder los. „Der Junge Herr duldet keine Augenringe. Du solltest sogleich schlafen gehen, wenn du heimkehrst und dich nicht an anderen Dingen betätigen.“
„Ja, Ma‘am“, erwiderte Paige gehorchend, doch das Blut kochte in ihren Adern. Was glaubte diese Frau, was sie jeden Abend tat? Sie war gar nicht dazu in der Lage noch irgendetwas zu tun.
Die Aufseherin drehte sich um und lief die Mauer entlang. Paige folgte ihr. Sie hatte keine andere Wahl. Wenn sie sich der Aufseherin widersetzen würde, würde sie nie an ihr Ziel gelangen. Nie ihre Rache vergelten können. Sie liefen um eine Ecke der Mauer, die zu einem hohen Gang führte, der das Angestelltenhaus vom Wohnhaus und vom Haupthaus trennte.
Das Haupthaus durften die normalen Angestellten des Wohnhauses nie betreten, obwohl im Wohnhaus nur schlichtweg Verwandte des Jungen Herren lebten. Im Haupthaus selbst lebte der Junge Herr. Aber ob seine Eltern ebenfalls dort lebten, wusste keiner. Paige musste noch so viel herausfinden. Ihr Herz schlug schneller mit jedem Schritt. Sie war schon so weit gekommen. Hatte herausgefunden, wer für den Anschlag verantwortlich sein könnte, sich unter das Personal geschlichen und nun würde sie direkten Kontakt zu dieser Familie bekommen.
„Der Junge Herr möchte nicht angesprochen werden. Du darfst keinen Mucks von dir geben, wenn er sich in irgendeiner Weise beschäftigt, isst oder ein Bad nimmt. Wenn er dich zu etwas auffordert, musst du ihm Folge leisten, egal, um was es sich handeln mag.“ Die Aufseherin hielt inne und drehte sich zu ihr im.
„Egal, um was es sich handelt“, wiederholte sie in bestimmenden Ton. Dann setzte sie ihren Weg fort. Paige ließ die Zunge für einen Moment heraushängen, bevor sie ihre Beine wieder in Bewegung setzt.
„Der Junge Herr mag keine aufdringlichen Gerüche, außer derer, die er selbst fordert. Achte darauf, kein Parfüm zu tragen oder parfümierende Produkte zu verwenden. Du hast deine Kleidung immer sauber zu halten und immer verfügbar zu sein, wenn der Herr nach dir verlangen sollte.“
Paige hielt inne.
„Verzeihen Sie, Ma’am.“
Widerwillig wandte sich die Hausaufseherin um und besah sie mit strengem Blick.
„Ich… bin doch an… feste Arbeitszeiten gebunden, nicht wahr? Wie soll ich dem Herren rund um die Uhr zur Verfügung stehen, falls der Fall wirklich eintreten sollte, dass er nach mir verlangen würde?“ Paige schluckte heftig, als die Augen der Aufseherin sich enger zu Schlitzen verzogen.
„Du wirst hier wohnen“, erwiderte sie tonlos mit einer Handbewegung auf das Gebäude hinter ihr deutend.
Paige fiel der Mund auf. Verwirrt wanderten ihre Augen ohne beschreibbaren Weg zwischen der Mauer, dem Boden, der Aufseherin und dem Haus hin und her.
„Aber-“ Die Aufseherin hob ihre knochige Hand.
„Zunächst jedoch“, begann sie, „werden wir heute sehen, ob du des Jungen Herren würdig bist. Dann hast du einen Tag Zeit deine Sachen zu packen.“
Paige stand starr vor Entsetzen. Sie hatte niemals davon gehört, dass die Bediensteten des Haupthauses dort auch wohnten. Aber sie erinnerte sich an Josh Worte. Wie hätte sie davon wissen sollen, wenn niemals jemand zurückgekehrt war. Paige schluckte, aber der Klos in ihrem Hals blieb trocken stecken.
„Für gewöhnlich haben die regulären Angestellten am Wochenende frei. Allerdings dürfen sie sich weder dem Wohnhaus noch dem Angestelltenhaus nähern. Alles weitere wird dir erklärt, falls du heute bestehen solltest. Die Wohnungen werden für gewöhnlich aus den normalen Wohnanlagen in die Wohnhäuser der Bediensteten am Ende der Straße verlegt.“ Die knochige Hand deutete in die Richtung hinter ihr, in der die Mauer gen Westen verlief. In der Ferne konnte Paige nur schwach ein blaues Dach erahnen.
„Über alles, was hinter diesen Mauern vorfallen sollte, hast du strengstes Schweigen zu wahren. Keine Aufzeichnungen, keine Fotos, keine Filme oder sonstige Möglichkeiten, etwas festzuhalten. Wenn du dich jedoch einer Anordnung widersetzen solltest… Ich denke, du weißt, was mit den Angestellten geschieht.“
Sie verschwinden. Paige war sich darüber im Klaren, auch wenn sie das genaue Vorgehen des „Verschwindens“ nicht kannte. Sie nickte zögerlich.
„Nun denn“, bedeutete die Aufseherin und schritt auf ein blaues Tor in der Mauer zu. Paige' Beine wollten sich kaum rühren. Das war er. Der letzte Moment, um sich um zu entscheiden. Wenn sie durch diese Mauern treten würde, würde sie ihre bisher bekannte Welt verlassen. Sie würde Josh niemals wieder sehen, ihr verkommenes, kleines Apartment verlassen müssen. Aber wenn sie jetzt wegrennen würde, jetzt aufgeben würde, würde sie ihr Leben lang Wut in sich schwelen spüren und niemals ein ruhiges Leben führen können.
Paige zwang sich weiter zu gehen, als die Aufseherin schon beinahe am Tor angekommen war. Sie beschleunigte, um nicht auffallen zu lassen, dass sie der älteren Frau nicht gefolgt war. Doch erst jetzt spürte sie, wie drückend die Hitze um sie herum wirklich war, als sie schwer auf ihren Schultern lag, während sie vor dem Tor zum Stehen kam.
Die Aufseherin blickte hinauf zu einer Kamera, deren Visier aufblitzte, als sie die beiden Frauen fixierte. Das schwere Tor zog sich langsam zu beiden Seiten auf. Paige erblickte den kiesigen Weg vor sich, der zum Haupthaus führte. Ein letztes Mal blickte sie zurück zu der Ecke, hinter der sie ihr bisheriges Leben zurücklassen würde. Mit einem Seufzen trat sie durch das blaue Tor auf den steinigen Weg vor ihr.
Prachtvolle Skulpturen aus Stein und in Büsche geschnitten säumten den Weg zu einem Rondell in dessen Mitte ein riesiger Brunnen Wasser plätschern ließ. Als ob ein Pool in einer Wüstengegend nicht schon genug Prunk darstellte. Dieser Brunnen war beinahe so groß, wie die Eingangshalle zu Paige' Wohnhaus. Die Aufseherin schritt um den Bau aus Marmor und Kristall, den Engels- und Fischfiguren verzierten, an der Spitze eine Figur einer jungen, nackten Frau, die den unter ihr dargestellten Figuren Wasser aus einem winzigen Krug spendete.
Paige beäugte den Brunnen ein letztes Mal, bevor die Aufseherin eine winzige Andeutung machte, ihren Kopf umzuwenden. Der Kies knirschte laut unter ihren Turnschuhen, als sie rasch zu der Aufseherin hinüberlief, die vor einem Wächterhäuschen inne gehalten hatte. Ein Mann mit einem dichten, schwarzen Bart in weißer Uniform trat heraus. Das Licht der Sonne ließ das Weiß blendend aufstrahlen sowie die silbernen Verzierungen seiner Wächtermütze aufblitzen.
„Beth. Wie lange habe ich dein Gesicht hier nicht mehr gesehen“, sagte er fröhlich und schritt mit offenen Armen auf die Aufseherin zu. Doch sie hob abermals die Hand.
„Ich bin nicht hier, um zu plaudern, Rasaf. Ihr habt eine neue Bedienstete. Und leider lassen mir die Angestellten im Wohnhaus nicht die Zeit, öfter nach dem Jungen Herren zu sehen“, erwiderte sie bestimmt. Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Du wirst mit dem Alter auch nicht lockerer, wie mir scheint, Beth.“
„Du dafür umso mehr, wie es mir scheint“, erwiderte die Aufseherin schnittig.
Rasaf lachte auf und schob seine Hände in die Taschen.
„Dann werde ich euch nicht länger aufhalten. Du kennst den Weg zum Seiteneingang. Aber soweit ich gehört habe, hatte der Junger Herr einen schlechten Morgen. Er war außer sich, als die neue Bedienstete noch nicht ihren Aufgaben nachgehen konnte. Seit lieber unauffällig.“ Der ältere Mann nickte Paige zu, hob vor der Aufseherin die Mütze und verschwand in seinem Häuschen.
„Wir sollten uns sputen“, sagte die Aufseherin und bedeutete Paige ihr rasch zu folgen, als sich ihre Beine schon in Bewegung setzten. Mit großen Schritten eilte sie um die Treppen, die als Sockel der hochragenden Säulen dienten, die das Vordach der großen Eingangstür stützten. Eilig folgte Paige ihr. Sie war zu überwältigt von der Gelassenheit des Wachtmannes und der prunkvollen blauen Mosaike auf der weißen Außenwand des Haupthauses, dass sie keine Zeit hatte länger über Zurückliegendes nachzudenken. Und wenn das Temperament des Jungen Herren nicht ihren Tot verheißen könnte, hätte sie sich wohl kaum um Eile geschert. Aber dafür war es noch zu früh.
Die Aufseherin hastete ihre Robe hochgezogen auf eine kleinere, blau und weiß verzierte schwarze Tür zu, aus der Lärm zu vernehmen war. Paige war froh, dass sie ihre Turnschuhe anhatte, auch wenn die Aufseherin diese zuvor mit einem abwertenden Blick bedacht hatte.
Als Paige im Türrahmen stand, kam bereits eine rundliche Frau mittleren Alters auf die Aufseherin zu gelaufen.
„Da seid ihr endlich, Beth. Der Junge Herr ist außer sich. Er verlangt sofort die neue Angestellte zu sehen“, sagte sie mit heiserer Stimme. Mit einer Hand wedelte sie sich Luft zu, da sie nur schwerlich atmen konnte. Auf ihrer olivfarbenen Haut sammelten sie kleine Schweißperlen.
Die Aufseherin legte nachdenklich einen Finger auf ihr Kinn.
„Was ist nur in ihn gefahren? Warum verlangt er so sehr danach eine neue Bedienstete zu sehen?“, murmelte sie.
Die kleinere Frau vor ihr schüttelte den Kopf.
„Ich kann es mir nicht erklären. In letzter Zeit hat er so viele Bedienstete gefeuert und den Rest scheucht er wegen jeder Kleinigkeit durch das Haus. Er war schon immer leicht pedantisch, aber das“, nuschelte sie hinter vorgehaltener Hand. „Irgendetwas scheint ihn zutiefst verärgert zu haben.“
„Weißt du, was vorgefallen sein könnte?“
Die jüngere Frau schüttelte den Kopf.
„Vor ein paar Tagen hat er eine der Bediensteten ins Kleiderzimmer eingeschlossen, weil sie die Schuhe wie üblich nach Marke sortiert hat. Aber er wollte sie nach Farben sortiert haben. Er ließ das Mädchen erst gehen, nachdem sie die Schuhe noch fünf Mal nach neuer Vorgabe sortieren musste. Sie hat fast zwei Tage in dem Zimmer ohne Essen oder Pause verbracht.“ Der Frau lief eine Träne die Wange hinab.
„Beruhige dich, Maria. Der Junge Herr ist in einer Phase schwerer Wandlungen seines Lebens. Stimmungsschwankungen sind vollkommen normal.“ Die Aufseherin hatte die Arme auf die Schultern der kleineren, beleibten Frau gelegt und strich sachte über diese. Dann wandte sie ihren Blick Paige zu. „Wir werden dich sofort zu Recht machen und als erstes wirst du dem Jungen Herren einen Tee bringen.“
Paige spürte den Widerwillen. Einen solch zickigen Herrn hatte sie nicht erwartet. Aber es erklärte auch, warum sie so schnell nach ihrer Festanstellung schon vom Haupthaus angefordert wurde. Der Junge Herr schien gerade einen Verschleiß an Bediensteten zu haben, dass man wohl nicht der Annahme war, noch mehr erfahrene Arbeitskräfte verlieren zu müssen. Widerwillig nickte Paige und folgte der leicht schluchzenden Maria in den Bedienstetenraum.
Paige war bereits überwältigt gewesen als sie das hohe Gewölbe des Ganges erblickt hatte, dessen Decke verschiedenste kultische Mosaike und Malereien zierte, aber als sie den Bedienstetenraum betrat, konnte sie ihren Mund nicht mehr gänzlich geschlossen halten. Allein der vollkommen Mosaik verzierte Raum in blauen, grünen und weißen Tönen kam ihr mehr wie der Eingang zu einem Badehaus vor, als eine Art Lobby eines Bedienstetenraumes.  Mehrere Türen zweigten ab. Durch eine angelehnte Tür konnte sie einen großen Raum mit Betten erhaschen, durch eine andere Tür lief Maria in ein Zimmer, das Kleidung zu enthalten schien.
Paige folgte der kleinen Frau bis in den Türrahmen. Auch hier war der Boden mit Mosaik verziert, die Wände jedoch waren im schlichten Weiß geputzt. Maria zog weißen Stoff aus den Unmengen an Kleidungsstücken hervor und eilte zurück zu Paige.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte sie und wuselte an Paige vorbei in den nächsten Raum. „Zieh das Kleid aus und lege es in das Fach dort drüben. Dein Name steht drauf. Oh mein Gott! Was trägst du für Schuhe!“ Maria war entsetzt und eilte sofort aus dem Raum. „Saari! Wo bist du Saari?“, hallte es in der Lobby, als die Schritte sich entfernten.
Paige schaute einen Moment der kleinen Frau nach, dann wandte sie sich dem Stück Stoff zu, dass vor ihr auf einer steinernen Bank lag. Zunächst dachte sie, es würde sich lediglich um einen Streifen Stoff handeln, aber als sie die weiße Seide entfaltete, lag ein weißes Wunder vor ihr. Noch nie hatte sie ein solches Kleid gesehen. Nicht einmal die hohen Damen hatten etwas dergleichen getragen.
Paige öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und zog ihre Turnschuhe aus. Der Stoff war so rein, dass sie sich unglaublich schmutzig vorkam. Wie ihr geheißen, legte sie das Kleid in ein kleines Fach über dem ihr Name angebracht war. Paige Wood.
Als Paige das Kleid in die Luft hielt, um eine Möglichkeit zu finden, es überzustreifen, stürmte Maria mit einem Mädchen ungefähr in Paige' Alter durch die Tür.
„Lass es liegen!“, rief Maria mit hoher Stimme. Man konnte ihr den Stress geradezu anmerken. Das Mädchen hinter ihr trug einen Bottich mit dampfendem Wasser. Maria blieb vor Paige stehen und betrachte sie. Sie fühlte sich etwas beschämt, so in ihrer Unterwäsche angestarrt zu werden.
„Schwarz“, seufzte Maria und schüttelte resigniert den Kopf. „Egal. Wir müssen dir zuerst den Staub vom Körper waschen, sonst könntest du den Stoff beschmutzen. Der Junge Herr kann das auf den Tod nicht ausstehen. Dreh dich um!“
Doch Paige hatte keine Möglichkeit dem Befehl zu folgen, da sie, bevor sie auch nur eine Bewegung machte, bereits von Maria zu Recht gedreht wurde. Saari stellte den Bottich neben die Frau auf den Boden. Die kleine Frau tauchte ein Leinenlappen in das dampfende Wasser und schrubbte anschließend über Paige' Rücken. Das heiße Wasser ließ sie zusammen zucken.
„Saari. Sieh im Kleiderraum nach, ob wir noch andere Unterwäsche haben“, befahl Maria dem Mädchen. Sie zog an Paige' String. „Eine 38.“ Paige schlug die Hände vor ihren Po.
„Was machen Sie da?“, fragte sie entsetzt, doch Maria ließ nicht zu, dass sie sich umdrehte.
„Steh still. Wir haben keine Zeit für solche Kinkerlitzchen. Du kannst nicht unter einem solchen Kleid schwarze Unterwäsche tragen.“ Maria tauchte abermals den Lappen ins Wasser und wusch Paige' Schultern. Sie ließ den BH aufschnappen, um die darunterliegenden Stellen ebenfalls waschen zu können. Erschrocken stoppten Paige' Hände den BH vorm vollkommenen Herunterfallen. Sie war entsetzt, auch wenn Maria genauso eine Frau war wie sie.
„Zieh die Unterhose aus“, befahl Maria und wrang den erneut befeuchteten Lappen über dem Bottich aus. „Hopp, hopp. Ins Wasser!“
Paige entledigte sich unfreiwillig des letzten Stückes Stoff, dass ihren Körper bedeckte und stieg in den Bottich.
„Hock dich hin! Dann kann ich dich schneller waschen. Was ist das für ein Band?“, fragte sie entsetzt und griff nach Paige' Arm. „Nimm das ab.“
Paige zog ihre Hand zurück.
„Niemals!“
Maria schwang eine Augenbraue zur vollen Länge.
„Zick nicht herum, Mädchen. Dafür habe ich keinen Nerv. Weg damit.“
Die kleine, jedoch kräftige Frau packte Paige' Arm und zog das Band von ihrem Handgelenk. Als ihr Blick auf die geschwungen Narbe des Namens fiel, konnte Paige das Kinn schon auf dem Boden aufschlagen hören.
„Was hast du dir angetan, Mädchen? Bist du verrückt?!“, schrie sie hysterisch aus.
„Ich wollte das Band nicht abnehmen“, erwiderte Paige schnippisch.
Marias braune Augen funkelten fast wie Rubine, als sie ihr einen furchterregenden Blick zuwarf. „Wir werden einfach ein passendes Band umbinden.“
Saari trat zur Tür hinein, in ihren Händen glänzte weiße Seide unter beiger Spitze hervor. Paige errötete, als sie die Dessous erblickte. Warum musste sie solche Unterwäsche als einfache Bedienstete tragen?
Saari hob das Handtuch von der steinernen Bank und hielt es Maria hin, als diese den Lappen ins Wasser fallen ließ. Paige war verwundert, wie staubig sie gewesen sein musste, als sie das leicht sandfarbene Wasser erblickte. Maria rubbelte mit dem Handtuch über ihren Körper. Paige jedoch ging dies definitiv zu weit.
„Ich kann das auch allein. Sie brauchen mich nicht wie ein Kind zu behandeln“, fauchte sie und riss Maria das Handtuch aus der Hand. Diese besah sie mit einem stechenden Blick. An die weinerliche Frau von zuvor erinnerte nichts mehr.
„Dann beeile dich. Wir haben nicht viel Zeit.“
Maria sprang hinter sie und zog das Kleid vom Stein. Paige trocknete ihren Körper in geübter, schneller Weise. Oft musste sie sich morgens beeilen.
„Saari. Hole bitte das Make-Up her. Wir können nicht noch ewig durch die Räume rennen“, hielt die ältere Frau das Mädchen an. Als Paige aus dem Bottich steigen wollte, hielt Maria sie zurück.
„In diese Schuhe“, sagte sie und deutete auf ein paar weiße Ballerina. Paige trocknete ihre Füße und glitt in den weichen, festen Stoff. Sie wand sich um und hob den seidenen, mit Spitze verzierten Stoff hoch. Rasch schlüpfte sie in die Dessous und stellte sich gerade vor die kleinere, braungebrannte Frau.
Sie warf Paige das Kleid über und zog es zu Recht. Es glich bis zur Taille einem schlichten T-Shirt, wo der Schnitt sich aber weitete und Falten warf. Der Stoff reichte Paige kurz über ihr Knie und wurde zum Saum hin durchsichtiger, der ebenfalls mit feiner, goldener Spitze verziert war. Ausgehend von der Spitze flammten goldene, pointilierte Blumen auf. Die oberen Säume waren verziert mit goldenen Mustern. Der Ausschnitt war gerade geschnitten, sodass beinahe die beigefarbene Spitze zu sehen war.
Ein schlichtes Kleid, aber das schönste, das Paige jemals getragen hatte. Aber warum so ein aufwendiges Kleid? Es war mit Sicherheit handgearbeitet. Wie konnten sie eine Angestellte wie sie so etwas Wertvolles tragen lassen?
Saari kam zur Tür herein, als Maria mit prüfender Miene die letzten unnötigen Falten aus dem Kleid strich. Saari bedeutete Paige stumm auf der Bank Platz zu nehmen und warf ihr einen Umhang über ihr Kleid.
„Kümmere dich um ihre Augen. Sie sehen furchtbar aus. Ich werde etwas Parfüm holen“, sagte Maria und verschwand aus dem Raum.
„Ich dachte, der Junge Herr mag kein Parfum“, murmelte Paige als Saari eine Puderdose öffnete.
„Der Junge Herr scheint in letzter Zeit den Duft von Freesien nachzuhängen. Er wünschte, dass der seichte Duft auch von den Bediensteten ausginge.“
Paige zuckte unweigerlich. Sie hatte nicht erwartet, dass Saari ihr antworten würde. Und dass sie so eine zarte und sanfte Stimme besitzen würde. Sie erinnerte Paige an seichte Glockenklänge aus ihrer Kindheit.
„Du sprichst?“, entfuhr es ihr ungewollt.
Saari puderte über Paige' Wangen und Stirn.
„Der Herr wünscht keine unnötigen Störungen durch Laute, die wir mit Worten erzeugen könnten. Du solltest das verinnerlichen.“ Erst, als Saari ihr ein Lächeln schenkte, bemerkte Paige die blauen Augen, die im Kontrast zu ihrer dunklen Haut strahlten. „Würdest du bitte deine Augen schließen?“
Paige nickte und spürte über die geschlossenen Lider einen sanften Pinselstrich gleiten. Ein leichtes Streichen eines Fingers, ein neuer Strich, nochmals ein Streichen. Ein schwerer Pinsel fuhr über den Rand ihres oberen Lides.
„Öffnen“, sagte Saari und strich mit einem Kohlestift über den Rand der unteren Lider.  Zuletzt setzte sie Mascara auf und sammelte anschließend das Make-Up zusammen. Paige zog den Umhang von sich und legte ihn zusammen.
„Warum muss mein Äußeres so aufwendig sein?“, fragte sie, als Saari den Umhang entgegen nahm. „Ich meine, dieses Kleid, die Unterwäsche.“
Saari legte ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Der Junge Herr mag schöne Frauen. Komm mit. Ich werde dein Haar noch etwas frisieren.“

 

Als Paige aus dem Raum trat, geschminkt, frisiert und mit kleinen, goldenen Steckern in den Ohren und einer langen Kette mit einem goldenen Anhänger behangen, kam Maria ihr entgegen.
„Wer auch immer das Parfum in die Nebenkammer des Jungen Herren mitgenommen hat, wird Ärger bekommen“, schimpfte sie und sprühte in Paige' Gesicht. Sie hustete auf und versuchte die Nebelwolke vor sich zu vertreiben, während Maria ihren ganzen Körper einsprühte.
„Gut. Und jetzt müssen wir schnell zum Jungen Herrn. Er ist erschöpft von seinem Tobsuchtsanfall. Lass uns den Tee aus der Küche holen und hochtragen. Saari, bitte räume alles weg“, sagte Maria und legte Paige eine Hand auf den Rücken, um sie in Bewegung zu setzen, während sie ihren Kopf zu Saari herumwand.
„Sehr wohl, Madame“, antwortete diese und verschwand im Ankleideraum.
Maria packte Paige' Arm und zog sie hinter sich durch einen offenen Türrahmen in einen kleinen, überdachten Gang entlang der Außenfassade des riesigen Hauses. Paige konnte einen kurzen Blick auf den Garten erhaschen, der geradezu überladen von Blumen schien, die in tausenden Farben schillerten, umringt von glitzernden Fontänen verschiedenster Wasserspiele. Sie konnte diesen vor Reichtum strotzenden Ort immer weniger leiden.
Noch bevor sie aus der Sonne abermals durch einen offenen Türrahmen in einen großen, belebten Raum trat, wusste Paige, dass es sich um die Küche handeln musste. Die köstlichsten Düfte sprangen ihre regelrecht entgegen und als sie um die Ecke bog, erblickte sie eine Fülle an geschäftigen Menschen in weißer Kleidung.
Die Küche war ihr kein unbekannter Ort und sie kannte die Mengen an Lebensmitteln, die allein im Wohnhaus verbraucht wurden, aber diese Auswahl ließ sie entsetzt die Nase kraus ziehen. Es gab absurde Mengen an frischem Fisch und Fleisch. Das Obst konnte sie nicht einmal abschätzen. Der Raum war erhellt durch einzelne hohe Fenster, durch die das Sonnenlicht die glänzenden Stahlanlagen aufblitzen ließ. Jedoch hastete Maria durch den Raum wie von einer Biene gestochen und ehe Paige überhaupt alles mit einem Blick streifen konnte, betraten sie bereits einen neuen Raum.
In diesem duftete es süß und warm. Paige erblickte die herrlichsten Süßspeisen und Gebäcke. Alles war so abgehoben. Maria ließ von ihr ab und eilte zu einer Arbeitsplatte, auf der eine golden schimmernde, hoch geschwungene Kanne, eine gläserne Tasse und etwas Gebäck auf einem kleinen Tablett stand. Sie hob dieses an und eilte zurück zu Paige.
Als sie es ihr in die Hand drückte, fiel Marias Blick abermals auf Paige Handgelenk.
„Das hätte ich beinahe vergessen“, rief sie auf, begann in einer ihrer Kleidertaschen zu fühlen und holte ein zartes, weißes Band hervor. Das Band war gerade breit genug, den Namen zu verdecken. Sie bedeutete Paige schnell ihre Hand auszustrecken und band das Band gekonnt zu einer Schleife.
„Und nun los“, rief sie und deutete auf die Tür, in deren Richtung sie Paige sogleich schob. Die anderen Angestellten in der Backstube folgten ihr mit ihren Blicken, doch keiner wirkte wirklich erstaunt. Eher gelangweilt. Wieder eine Neue. Das war es, was ihre verdrehten Augen sagten.
Paige schritt durch die Tür und folgte der hektischen Maria Treppen hinauf in den 2. Stock. Die Treppen wirkten willkürlich in den Raum gesetzt, sodass ein Spiel aus Marmor und Freiraum das Licht in verschiedenster Weise reflektierte und abblockte. Säulen in verschiedensten Größen ragten vom Erdgeschoß bis zum Dach, oder nur bis in eine Etage, um der nächsten an anderer Stelle fortgesetzt zu werden. An den Wänden hingen zwischen kletternden Jasmin verstreut Taubenbeeren, während in großen, steinernen Kübelbeeten an den Wänden verschiedenste Farne, Schilf und Wüstenrosen angepflanzt waren. In den Etagen verteilt standen kleine Palmen. Hohe Fenster ließen Blicke auf den Garten und auf die ferne Steinwüste zu. Es war wie ein Labyrinth für die Augen. Paige wusste nicht, wohin ihr Blick sich hätte wenden müssen, doch sie musste Maria einholen, die gerade um die Ecke verschwunden war.
Als sie um die Ecke bog, führte es sie in eine lange Galerie mit offenen Fensterbögen zu beiden Seiten. Hastig folgte Paige Maria, die bereits auf der anderen Seite des Ganges angekommen war und abermals auf eine Ecke zusteuerte. Die Tasse klirrte gefährlich auf dem bronzenen Tablett. Als Paige um die Ecke bog, rannte sie fast in Maria, die überraschender Weise kurz hinter der Ecke stehen geblieben war. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen fixierte die kleinere Frau Paige. Sie schluckte. Maria hob ihren Finger und verwies auf den verhangenen Teil des Ganges.
„Dahinter befinden sich die Gemächer des Jungen Herren“, sagte sie bestimmt. Paige nickte. „Er will seine Ruhe. Also stell‘ das Tablett schnell ab und komm wieder in die Küche. Erlaube dir keinen Patzer. Nicht heute. Ansonsten werden wir alle es zu spüren bekommen“, zischte die gebräunte Frau und schob Paige in Richtung der magentafarbenen, mit Goldfäden verzierten, schweren Vorhänge, durch die gedämpftes Licht drang.
Paige berührte den samtenen Stoff, aber bevor sie ihn beiseite zog, blickte sie sich noch einmal um. Maria war verschwunden. Natürlich. Wenn ein Sturm losbrechen sollte, wollte sie nicht im Mittelpunkt stehen. Paige verfluchte sich, dass sie der Stelle zugesagt hatte, doch im nächsten Moment biss sie die Zähne zusammen. Hatte sie eine andere Wahl? Aber musste der Junge Herr ausgerechnet an ihrem ersten Tag seinem angestauten Gemüt Luft machen?
Resigniert seufzte Paige und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Die Fensterbögen der Galerie zogen sich bis hinein in den riesigen, weißen Raum an dessen Seiten sie breitere Halbkreise beschrieben. Sie führten auf einen großen Balkon, der das Gemach von zwei Seiten rahmte, soweit Paige erkennen konnte. Leichte, weiße Stoffe hingen zwischen den Bögen und wehten im sanften Wind. Obwohl draußen eine immense Hitze herrschte, war es in dem Raum angenehm kühl. Ein großer Ventilator rotierte an der Decke. Vereinzelt lagen persische Teppiche im Zimmer verstreut. Rechts von Paige stand ein großer, schwerer Holztisch. An einer dritten Seite füllte eine Wand einen der Fensterbögen aus, vor dem ein riesiges, in weiße Leinen gehülltes, rundes Bett stand.
Paige wandte sich dem Schreibtisch zu, um das Tablett abzustellen und zu verschwinden. Eine Person stöhnte auf, als würde die Welt jeden Moment untergehen und sie zuckte zusammen. Das Geschirr auf ihrem Tablett klapperte leicht, bevor sie es hastig abstellte.
„Habe ich nicht gesagt, ich will nicht gestört werden!“, blaffte eine männliche Stimme mit zunehmender Stärke. Paige zuckte genervt mit einer Augenbraue.
„Verzeiht Herr, ich bringe nur euren Tee“, erwiderte sie. Jedoch entfuhren ihr die Worte aufsässiger als sie wollte. Doch andererseits störte sie das keineswegs. Sie konnte diesen Ort seit ihrem ersten Blick auf das Tor nicht ausstehen.
Auf dem Bett streckte sich ein Kopf empor. Paige hatte zuvor nicht bemerkt, dass jemand auf dem Bett lag, da es drei Stufen höher stand. Finstere Augen funkelten sie an. Der Junge Herr hatte kurzes, schwarzes, blauschimmerndes Haar, vereinzelt waren rote und goldene Perlen in kleinere Strähnen eingelassen. An seinem rechten Ohr hing ein langer, goldener Ohrring, der reich an Ornamenten verziert schien und im Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut noch mehr funkelte. Der junge Mann rappelte sich von seinem Bett hoch, stützte sein Kinn auf einen Arm und besah Paige mit einem prüfenden Blick.
Paige verbeugte sich. Sie durfte den Jungen Herrn nicht direkt in die Augen blicken. Es würde ihn noch mehr provozieren und die geschwungene Augenbraue in seinem Gesicht hatte ihr bereits verraten, dass sie sich zu viel erlaubt hatte.
„Ich kenne dich nicht“, murmelte der Schwarzhaarige misstrauisch. Paige nickte, aber hob den Kopf nicht an. Sie hörte, wie etwas herunterrutschte und im nächsten Moment nackte Füße über den Marmor liefen. Sie richtete sich auf, aber ihr Blick war weiter fest auf den Boden gerichtet. Als nackte Füße in ihre Sicht traten, weiteten sich ihre Augen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Hoffentlich hatte sie sich noch nicht alles verdorben.
Eine Hand fuhr durch das hockgesteckte Haar, das Saari im kunstvollen Wellenspiel an einer Seite ihres Kopfes befestigt hatte. Paige zuckte, als ein Finger ihr Ohr streifte. Seine Hand legte sich auf ihre Wange, strich mit den Fingern bis unter ihr Kinn. Dann hob er es an. Saphire trafen ihre hellgrünen Augen. Sie strahlten genauso kräftig wie Saaris Augen. Allerdings... Das Blau war viel tiefer. Wenn Saaris Augen einem Himmel glichen, so glichen seine einem tiefen, undurchdringlichen Ozean.
Paige schluckte nervös. Ihr Herz gewann an Geschwindigkeit. Beinahe hatte sie sogar Angst, er könnte es hören.
Seine Brauen zogen sich zusammen, während seine Augen ihre fixierten. Sie ließen keinen Widerspruch zu. Und doch zogen sich die dunklen Striche über seinen Saphiren in eine gehobene Haltung, als er von ihr abließ.
„Grün. Hatte ich noch nie“, murmelte er langsam und blickte zur Seite, als müsste er wirklich darüber nachdenken. Paige war zu überrascht, um den normalerweise förmlichen Knicks zu machen. Sie hatte erwartet, dass dieser Mann mit den strengen, undurchsichtigen Augen sie anschreien würde. Doch er dachte über ihre Augenfarbe nach?
Er schlug mit einer Hand in die Luft.
„Du bist neu. Ausnahmsweise werde ich dir deinen Patzer verzeihen“, sagte er und ging Richtung Balkon. Paige klappte der Mund auf. Dieser arrogante Mistkerl!
„Wie großzügig von euch“, erwiderte sie schnippisch mit einem Knicks.
Der junge Mann verharrte in seinem Schritt. Langsam drehte er sich um. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Wie bitte?“
Paige setzte ein hämisches Grinsen auf.
„Ich meinte, wie unglaublich großzügig ihr doch seid“, wiederholte sie mit honigsüßer Stimme, während sie das Grinsen zu einem Lächeln verzog. Sie machte einen tiefen Knicks. Ruckartig hastete der Schwarzhaarige zu ihr hinüber. Als er vor ihr erneut zum Stehen kam, richtete Paige sich auf und grinste ihm ins Gesicht. Seine Miene war vollkommen entgleist, die Augen aufgerissen, der Mund geöffnet. Seine Augen zogen sich zusammen, mit ihnen der Rest des Gesichtes. Geladene Wut brannte in seinen Augen als würde ein tobender Sturm das Meer aufwühlen.
„Du-“ Es schien als wüsste er gar nicht, wo er anfangen sollte. Seine Augen blickten verwirrt um sie herum, suchten nach den richtigen Worten, bevor sie Paige fixierten. „Du wagst es?!“
Mehr hat er nicht zu sagen, dachte Paige unbeeindruckt.
Der Mann packte ihren Hals und stieß sie gegen die Wand. Der Aufprall presste Paige die Luft aus den Lungen. Dass er solche Kraft besitzen würde, hatte sie nicht erwartet. Sie versuchte nach Luft zu ringen, aber der Druck seiner Hand ließ dies nur spärlich zu. Ihre Hände packten sein Handgelenk. Wütend zog sie ihr Gesicht zu einer Grimasse und starrte ihn mit brennendem Hass an. Was hatte sie anderes erwartet von dem Mitglied einer Familie, die sich so leichtfertig Menschen entledigen konnte.
Sein Gesicht kam ihr näher. Die scharfen Augen fest auf ihre gerichtet.
„Ich könnte dich jeden Moment töten, wenn ich wöllte“, hauchte seine Stimme bebend auf ihr Gesicht. Paige spürte den stechenden Schmerz in ihren Lungen, aber er war nicht zu vergleichen mit dem Schmerz, den sie 2 Jahre zuvor verspürt hatte. In ihren Augenwinkeln konnte sie den Dolch um seine Hüfte erkennen. Sie umfasste den goldenen Griff und zog ihn hervor. Der junge Mann wich beim Aufblitzen des Metalls zurück. Paige schnappte hektisch nach Luft. Er prustete, wirkte unbeeindruckt.
„Soll mir das sagen, dass du genauso in der Lage wärst, mich jeder Zeit zu töten?“
Paige atmete tief durch, um nicht ins Hyperventilieren zu geraten und richtete die Klinge von ihm auf ihren eigenen Bauch.
„Verzeiht, dass ich euch widerspreche, Herr, aber ich will euch genau das Gegenteil damit ausdrücken“, keuchte sie mit einem Lächeln. „Ich bin jeder Zeit in der Lage mir selbst das Leben zu nehmen.“
Der Schwarzhaarige ihr gegenüber lachte auf.
„Und das soll mich beeindrucken? Du bist töricht.“
„Meint ihr? In dieser Situation habe ich mehr Macht darüber, mein Leben zu beenden, als ihr. Würde mich das euch nicht überlegen machen?“ Paige grinste. Sie wusste genau, wie stolze Männer wie ihr neuer Herr sein konnten. Und wie egal ihm das Leben einer anderen Person auch war, sein Stolz war es ihm nicht. Paige stieß mit der Spitze gegen den Stoff ihres Kleides. Sie konnte das kühle Metall durch den Stoff deutlich auf ihrer Haut spüren.
Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich, wie sie erwartet hatte. Er fiel auf ihr Spiel rein. Doch ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
„Tu es doch. Was gäbe es Schlimmeres als sein Leben zu verlieren? Dann ist alles zu Ende.“ Sein hochmütiges Grinsen erschwerte es Paige, ihre Fassung zu wahren und nicht in rasenden Zorn ausbrechend auf ihn loszustürmen.
„Herr, es gibt vieles, das schlimmer ist im Leben als der Tod. Mir scheint, euer Wissen ist begrenzt. Ihr gebt mir einen weiteren Vorteil“, knirschte sie hinter ihren Zähnen hervor in ihrem Versuch, sich einigermaßen zu beherrschen und nicht unnötig die Schärfe des Dolches zu testen.
„Was?“, knurrte der Schwarzhaarige. „Was sollte schlimmer sein als sein Leben zu verlieren?!“ Sein Lachen hallte von den Wänden wieder.
Paige zog den Dolch von ihrem Bauch zurück und warf ihn auf den Boden.
„Euren Stolz. Ihn zu verlieren, weil eine niedere Bedienstete euch euer schlimmsten Drohung, die ihr besitzt, um Gehorsam zu erzwingen, beraubt.“ Paige machte einen Knicks. „Beispielsweise?“, sagte sie und erwiderte den entsetzten Blick des Jungen Herrn.
„Oder hättet ihr dieses Spiel wirklich so weit treiben wollen, dass ich eure wundervollen Teppiche und eure Würde beflecke? Würdet ihr nicht lieber sterben wollen?“
Die Hand des Jungen Herrn glitt unter sein einer Tunika gleichendes Gewand und zog ruckartig einen weiteren Dolch hervor. Er stürmte auf Paige zu und drückte sie erneut gegen die Wand. Das glatte, kühle Metall lag flach an ihrem Hals.
„Willst du mich etwa belehren?“, brüllte er in ihr Gesicht. Paige jedoch verzog keine Miene. Sie konnte es in seinen Augen sehen, die Wut, aber auch die Angst. Entgegen der Skrupellosigkeit, die er so leicht zur Schau stellte, wusste sie in diesem Moment genau, dass er noch nie einen Menschen getötet hatte.
„Jetzt bist du wohl nicht mehr so vorlaut“, knurrte er.
„Meine Name ist Paige“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Und was sollte mich das interessieren?“ Er kippte den Dolch an, das er über Paige' Haut schabte.
„Eine Person sterben zu sehen, die man kennt, ist etwas furchtbares. Da ihr nun meinen Namen wisst, werdet ihr mich niemals als eine Namenlose in eurem Kopf beiseiteschieben können. Nun, da ihr meinen Namen kennt, wird mein Geist euch für den Rest eures Lebens verfolgen. Besonders, weil ich die erste Person wäre, deren Leben ihr nehmt, die erste Person, deren Augen jemals grün waren.“ Paige lächelte den jungen Mann an.
Er wich zurück. Vollkommenes Unverständnis stand in seinem Gesicht geschrieben.
„Woher- woher willst du wissen, dass ich niemals jemanden umgebracht habe?“ Doch seine Stimme klang nicht so stark, wie er es wahrscheinlich wollte. Er schien in Paige' Augen zu überrascht über ihr Wissen. Sie strich sich über die aufgeraute Haut an ihrem Hals. Das Schlucken fiel ihr noch schwer, aber mit jedem Wort, das sie sprach, fühlte sie sich stärker, überlegener, auch wenn ihr Herz vor Spannung kurz davor war zu zerreißen.
„Ich habe Menschen gegenüber gestanden, die bereits gemordet haben, Herr. Ihr besitzt in keinem einzigen Zug eures Gesichtes auch nur annähernd die Blutrünstigkeit dieser Menschen. Ich habe die Angst in euren Augen gesehen, da ihr sie nicht in den meinen fandet. Warum sonst habt ihr gezögert und den Dolch nicht im ersten Moment durch meine Kehle fahren lassen?“
„Du verdammtes Weibsstück“, schrie er und schleuderte den Dolch fort. Im Sonnenlicht blitzte er auf, als er durch einen der Stoffe in den Fensterbögen schnitt.
„Niemand hat so viel Macht über einen Menschen, wie er selbst. Aber nur zu gerne, geben die Menschen anderen die Schuld an ihrer anscheinenden Machtlosigkeit.“
Paige' Augen waren fest auf ihn gerichtet. Die Hilflosigkeit, die sie in seinen Augen erkennen konnte, verunsicherte ihn innerlich, aber Paige spürte, dass er nach etwas suchte, dass ihm aus der Misere seines Lebens helfen konnte. Er stellte sich gerade hin, fest auf beide Beine. Wie es schien, hatte er etwas gefunden.
„Gut. Wenn dich der Tod nicht abschreckt, kann ich dir andere Dinge antun. Du bist nur eine einfache Frau“, sagte er verächtlich.
„Es scheint, dass Männer immer der Meinung sind, das stärkere Geschlecht zu sein.“
„In diesem Haus bin ICH das stärkere Geschlecht. In allen Fällen“, sagte er mit erhobener Stimme. „Im Keller gibt es eine Stelle, an der den ganzen Tag Wasser heruntertropft. Ich werde dich auf einen Stuhl dort platzieren, das Wasser auf deinen Kopf fallen lassen. Du wirst keine Möglichkeit haben zu schlafen, keine einzige Möglichkeit, deine Gedanken ruhen zu lassen. Und dein ständiges Bewusstsein wird dich zerfressen.“
Paige erwiderte nichts. Der Schwarzhaarige lachte siegessicher.
„Euch fällt nichts Schlimmeres ein? Sind eure Drohungen damit schon erschöpft?“
Paige wandte das Gesicht ab. Das Salz stach in ihre Augen, dass es ihr schwerfiel, sie offen zu halten. Der Schmerz zuckte durch ihr Gesicht.
„Herr, habt ihr jemals geliebt?“ Sie hielt inne. „Habt ihr“, sie wandte sich ihm zu, „jemals so sehr nach einem Menschen verlangt, dass alles andere vollkommen egal war? Das nichts im Leben mehr Farbe hatte, wenn diese Person nicht vor euch stand?“
Der Schwarzhaarige verstummte. Sie ging auf ihn zu. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie einen Kopf kleiner war als er.
„Habt ihr jemals erfahren, wie es sich anfühlt, eine solche Person nie mehr erreichen zu können?“ Sie hielt vor ihm inne. Blickte in seine gebannten Augen. „Wisst ihr wie ein entrissenes Herz, der lebende Tod schmeckt?“
Die Augen des Mannes wurden verwirrter. Als er eine Hand hob und eine Träne von ihrer Wange wischte, begriff sie erst, dass sie weinte. Und sie hatte angenommen bereits alle Tränen vergossen zu haben.
„Keine Folter, nicht einmal der Tod kann so schrecklich sein, wie dieses Gefühl vollkommener Einsamkeit. Nichts, Herr.“ Sie machte einen Knicks. „Verzeiht meine ungehobelten Worte. Straft die anderen nicht für mein Vergehen.“
Er wandte sich um.
„Geh einfach.“

Impressum

Texte: by Rii Yaa
Bildmaterialien: Brush by surfing-ant; Ribbon by ForestGirStock (deviant.Art)
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2012

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