Eigentlich hatte ich erwartet, dass es ein vollkommen entspannter und lustiger Sommer werden würde. Immerhin sollte es der letzte Sommer sein, bevor wir uns alle trennten. Die Einen würden ein Studium, die Anderen vielleicht eine Ausbildung beginnen. Dann würden wir nicht mehr die Zeit haben, zusammen Quatsch zu machen oder dumm rumzualbern. Ich fühle schon jetzt, wie sie mir alle fehlen werden. Es ist, als würde sich schon jetzt ein großes Loch in meiner Brust öffnen, was man nicht so leicht wieder zu kleben kann.
Doch erst mal möchte ich nicht daran denken, was kommen wird. Ich sollte mich jetzt aufs Fahren konzentrieren.
Rums.
„Noelle! Pass doch auf! Das war ein voll riesiges Schlagloch!“, schrie es von hinten. Man hörte ein ersticktes Stöhnen. Anscheinend war das Gepäck herumgepurzelt. Eine Hand griff nach meinem Sitz und zog sich nach vorne.
„Was sollte denn das werden?!“, schrie Joe mich an und ich wich etwas von ihm zurück. „Willst du uns alle verschütten?“
„Ich habe von Anfang an gesagt, dass ihr nicht so viel in dieses Auto packen sollt“, sagte Ann kühl und blätterte die Seite ihrer Zeitschrift um. Joe funkelte sie böse an.
„Halt bloß den Mund! DU hast gerade keine Sturzlawine miterlebt!“
Ich konnte ein kurzes Prusten nicht unterdrücken. Auf Anns Gesicht schlich sich ebenfalls ein hämisches Lächeln. Joe sah mich nur ungläubig an.
„Jaja, lach ruhig! Aber pass' das nächste Mal auf“, murrte er und verschwand wieder nach hinten.
„Tut mir Leid, Leute!“, rief ich und ein müdes Stöhnen kam zurück. Ich grinste und versuchte besser auf diesem halben Schweizerkäse den Löchern aus zu weichen. Anscheinend war das Schaukeln genauso wenig erwünscht, aber es schien fallende Objekte abzuhalten.
Ann musste kichern, als Tom aufstöhnte.
„Jetzt hat er wohl sein Board mal zu spüren bekommen“, lachte sie und ich musste ebenfalls lachen. Dann blickte ich in den Seitenspiegel. Jet fuhr direkt hinter uns. Und er schien sich köstlich zu amüsieren. Ich musste schmunzeln. Er war schon immer total schadenfroh gewesen.
War ja klar, dass er uns wieder verarscht hat, dachte ich. Nie kann er es lassen. Aber wenn das Auto nur einen Kratzer hat, wird mich mein Vater töten!
„Ich glaube, wir sollten uns abgewöhnen Jet auch nur ein Wort zu glauben, wenn es um Abkürzungen geht“, seufzte Ann und schlug ihre Zeitschrift zu. „Aber irgendwie überzeugt er uns doch immer wieder. Ich frage mich, wann diese wohl ihr Ende nimmt.“
Ich lächelte. Sie hatte ja so Recht. Immer wieder schaffte es Jet uns zu irgendwelchen stumpfsinnigen Abkürzungen oder Wegen zu überreden, bei denen wir am Ende mehr Zeit und definitiv mehr Nerven verloren, als auf dem eigentlichen Weg. Und das nicht nur in Bezug auf Fortbewegung.
Wenn ich an die letzte Projektarbeit mit ihm dachte, graute es mir immer noch. Die letzten 2 Nächte mussten wir All-Nighter einlegen, damit wir überhaupt fertig wurden. Zum Glück ist er nicht immer so. Aber leider meistens. Manchmal wünschte ich, unsere Gruppe wäre etwas geordneter, aber ich glaube, so leicht lässt sich unser chaotischer Trupp nicht ändern. Naja. Zumindest macht das Singen dadurch nur umso mehr Spaß. Alle sind tolle Musiker und es ist nur umso lustiger, je dümmer wir uns manchmal anstellen, wenn wir jammen.
„Bin ich froh, wenn diese Fahrt vorbei ist“, sagte ich laut und Ann stimmte mir mit einem Nicken zu, während sie gelangweilt durchs Fenster blickte.
„Ich kann mir vorstellen, dass Matt schon gerade an einem Song über diese ergebnislose Odyssee schreibt“, stöhnte sie und seufzte abermals. „Ich glaube, dieser Haufen bringt mich noch ins Grab!“
Wieder lachte ich. Ann war schon immer so, aber eigentlich sind wir alle für sie die besten Freunde, die sie sich wünschen kann. Und mir ging es nicht anders. Hätte ich jemals die Schule überlebt, wenn ich nicht alle meine Freunde im Chor getroffen hätte? Wohl eher nicht.
„Wann sind wir endlich da?!“, stöhnte Joe auf. „Ich halt’s hier hinten langsam nicht mehr aus!“
„Krieg dich ein, Joe! So lange wird es schon nicht mehr dauern“, meckerte Cady. Sie war die Leidtragende, die neben Joe sitzen musste. Joe muss definitiv eine Veranlagung zur Hyperaktivität haben! Er kann keine Minute still sitzen und eine lange Autofahrt ist für ihn die Hölle. Er kann einen damit wirklich nerven. Andererseits ist er aber auch die treibende Kraft in unserer Truppe. Mit ihm ist es niemals langweilig. Cady dagegen ist sehr ruhig, wie Ann. Nur ist sie wesentlich impulsiver, denn sie kann Joes Gejaule am wenigsten leiden. Zum Glück fuhr ich und musste nicht hinten sitzen. Und zum Glück hatte Ann den Platz neben mir gezogen.
„Ah! Sieh mal“, rief sie und deutete schräg vor sich in die Ferne. Als ich hinsah, entdeckte ich ein größeres Waldstück, nach den ganzen Feldern, die wir durchquert hatten.
„Das muss es sein“, sagte sie und lächelte mich an. Langsam verwandelte sich die triste Ackerlandschaft in Wiesen und Büsche. Vereinzelte Bäume tauchten auf. Hinter dem recht lockeren Baumwall des Waldes sah man schon das Wasser aufblitzen. Endlich waren wir da. Joe wühlte sich schon hervor.
„WO?!“, rief er aufgeregt.
„Da drüben“, sagte Ann genervt.
„Jahuu!“, schrie er auf und ruckelte sehr heftig, dass ich ins Schlingern kam.
„Setz dich hin, Joe!“, schrie ich ihn an. „Schön, wenn du dich freust, aber ich will das Auto noch heil wieder nach Hause bringen!“
Er stoppte.
„Tut mir Leid, Elle“, sagte er kleinlaut.
„Ab nach hinten“, fauchte ich und er grub sich wieder zu seinem Platz zurück. Ann griff derweil nach ihrem Handy.
„Hey, Alex!“, sagte sie. „Habt ihrs gesehen? Ist das der Wald? ... Gut. Nächste Rechts, Elle. Bis dann.“ Ann legte auf. „Wie ich es mir gedacht habe. Matt hat schon die ersten 2 Strophen fertig“, lachte sie. Ich ließ den Kopf fallen.
„Ehrlich? Na da bin ich mal gespannt“, erwiderte ich und sah schon die Straße, die nach rechts bog.
„Hey. Bist ja ziemlich geschlichen, Elle“, rief Jet, als er aus dem Auto stieg, zu mir herüber. Ich streckte ihm nur die Zunge entgegen. Dann griff er sich an die Brust und sank dramatisch auf seine Knie.
„Oh mein Gott. Wie lange durfte ich ihre einzigartige Zunge nicht mehr betrachten, Miss Jaimes. Ich muss einen unverzeihlichen Fehler begangen haben“, heuchelte er und warf sich auf das Gras.
„Wenn du nicht gleich mit diesem Theater aufhörst, wirst du ihn nie wieder gutmachen können“, erwiderte ich genervt und verschränkte die Arme. Er stürzte hoch und lief zu mir herüber. Er warf seinen Arm über meine Schultern und rief zu Matt: „Alles Safe, Mann! Wir sind sicher.“
Das war so typisch Jet. Er liebte es, mich zu veralbern. Und Matt und Joe machten liebend gern mit. Wahrscheinlich war ich manchmal einfach zu leichtgläubig. Aber an dieses Hofstaatgeplenkel hatte ich mich schon gewöhnt
Ann stellte sich neben mich und schlug Jets Arm von meinen Schultern, bevor sie ihre Arme um mich schlang.
„Wag es ja nicht, Elle zu berühren, du niederes Gewürm“, sagte sie ruhig und funkelte ihn böse an.
„Nein! Tut mir nichts, Mylady!“, rief Jet gekünstelt und duckte sich, aber im nächsten Moment lachte er schon wieder laut auf und auf Anns Gesicht trat ein Lächeln. Hin und wieder machte auch sie bei diesem Spiel mit.
„Manchmal geht mir euer Melodram echt auf den Keks“, sagte ich matt. Joe stellte sich vor mich und wuschelte mir durchs Haar.
„Schon gut, kleine Elle. Es wird alles gut werden. Onkel Joe ist ja da!“, sagte er, aber sein Grinsen wurde mit jedem Wort breiter. Und stieß seine Hand weg und sah schmollend weg. Die anderen lachten.
„Schön wie ihr euch immer auf meine Kosten amüsiert“, sagte ich gereizt, aber sie beendeten ihr Lachen nicht und schließlich kam ich nicht herum mit zu lachen.
So war es fast immer. Sicher war ich irgendwo immer die Geplagte, aber es machte mir nichts aus. Ich war nicht die Kleinste, aber gegen die Jungs konnte ich nicht ankommen. Alle waren mindestens einen Kopf größer als ich und meine 1,75 waren nun wirklich nicht klein. Selbst Dem, der Jüngste war größer als ich. Irgendwie war es deprimierend, wenn ich daran dachte, dass sie vor 2 Jahren noch kleiner als ich waren.
„Lasst uns auspacken!“, rief Lea von der Ladeklappe nach vorn. „Sonst steckt Tom wohl noch den Rest des Ausfluges im Auto fest.“ Sie grinste breit, als sie in den Kofferraum deutete. Ich konnte nicht genau verstehen, was Tom rief, aber ich musste trotzdem lachen, da es sich sehr nach Schimpfen anhörte. Wir mussten ihn leider etwas zu bauen, damit alles hineinpasste.
„Zum Glück hat Elles Vater so ein großes Auto. Ich frag mich, wie wir sonst alles wegbekommen hätten“, sagte Alex und lief seufzend zur Ausladeklappe.
Nach einer Stunde hatten wir alles aufgebaut. Die Jungs hatten die Zelte aufgestellt, während wir Mädchen schon mal Essen machten. Klar, total sexistische Aufteilung, aber mal ehrlich. Wenn wir die Jungs hätten kochen lassen, würden wir wohl kaum 2 Wochen davon leben können. Mal abgesehen davon, dass wahrscheinlich nicht viele die erste Mahlzeit unbeschadet überstanden hätten. Von den Jungs konnte wirklich keiner kochen. Deswegen bestand auch der Hauptteil, der von den Jungs eingebrachten ‚Nahrungsmitteln‘ aus Terrinen. Hätten wir einen Ofen gehabt, wäre wohl eher Pizza mitgekommen.
„Alter! Diese dummen Zelte! Das hat echt Ewigkeiten gedauert!“, schimpfte Matt und setzte sich auf einen der Baumstämme, die um eine Feuerstelle gelegt waren.
„Wahnsinn, wie ihr das gemacht habt“, sagte Lea freudestrahlend, was aber ruhig sarkastisch aufgefasst werden durfte.
„Als ob. Ich wusste ja nicht mal, dass Zelte denken können, um dadurch als dumm zu gelten“, sagte Cady genervt.
„Cady, der war echt schlecht“, erwiderte Dem und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
„Stell dir vor, dass sollte auch so sein“, giftete sie lieblich lächelnd zurück.
„Ich glaub, Cady verhungert gleich. Sie ist echt nur so zickig, wenn sie Hunger hat“, sagte Joe zu Jet und dieser nickte. Cady jedoch warf ihnen einen finsteren Blick zu, dass beide zusammen zuckten.
„Wenn ihr nicht so lange gebraucht hättet, um ein paar Zelte aufzustellen, wäre ich schon längst wieder lieb und nett.“
„Schon gut, Cady. Beruhige dich“, sagte ich und hielt ihr einen Pappteller mit Essen hin. Sie hatte immer noch einen finsteren Ausdruck auf dem Gesicht, als sie den Teller griff und mich dabei ansah, aber ich wusste, dass sie es nicht böse meinte.
„Ihr habt uns gerettet, Miss Jaimes! Wie können wir euch das nur vergelten“, sagten Jet und Joe gleichzeitig. Ich seufzte nur.
„Esst endlich und haltet die Klappe“, antwortete ich und beide platzierten sich stürmisch neben mir. Auf jeder Seite einer.
„Guten Appetit!“, riefen beide und griffen nach dem Essen, das vor mir ausgebreitet war.
Sie sind ja so kindisch, aber irgendwie kann man sie dafür einfach nicht hassen.
„Du hast die beiden gut im Griff“, sagte Matt scherzhaft und lachte, als ich ihm seinen Teller reichte. Ich beäugte nur die zwei Gierschlunde neben mir und zuckte dann mit einem Auge.
„Jaaa, weil ich ja die Heilige Jungfrau bin“, sagte ich tonlos. Matt grinste.
„Nimm’s nicht so schwer. Irgendwann hören sie vielleicht auf“, lachte er. Matt wusste wenigstens, wann er es sich nicht mit mir verscherzen sollte. Er hat ein gutes Gespür für die Grenze, bevor ich sauer werde, und konnte meistens die anderen beiden Chaoten vor Schlimmeren bewahren.
„Vielleicht solltest du dir einfach endlich einen Freund suchen, Elle. Der kann dich dann vor den beiden beschützen“, scherzte Alex und ich sah sie aus den Augenwinkeln an, während sie lachte. Tom und Lea stimmten mit ein.
„Da muss ich ihr Recht geben, Elle. Ich glaube, dass die Zwei dann ganz schnell die Nase voll haben werden“, lachte Lea hervor.
„NEIN! Das geht nicht!“, rief Jet dazwischen. „Sie ist doch heilig! Kein Mann darf sie anrühren!“ Joe stimmte ihm mit vollem Mund zu und nickte heftig.
„Ihr spinnt doch“, sagte ich.
„Achja?! Was sagst du dazu, Dem?“, fragte Joe herausfordernd, nachdem er runtergeschluckt hatte. Dieser sah erschrocken von seinem Teller auf. Anscheinend war er bei dieser Diskussion nicht ganz dabei.
„Ähm…“, begann er, aber beendete seinen Satz nicht. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Dem positionierte sich immer nur äußerst ungern auf einer Seite, wenn in der Gruppe 2 Meinungen vertreten waren.
„Lasst ihn einfach in Ruhe“, sagte Ann und schob sich die Gabel in den Mund. „Und Elle genauso. Es ist ihre Entscheidung, wann und wen sie zum Freund nimmt.“
Damit war die Diskussion auch schon beendet, obwohl Jet und Joe nicht zufrieden mit dem Ergebnis aussahen. Sie schmollten, weil genau diese Diskussion immer zum gleichen Ergebnis kam.
Langsam neigte sich die Sonne, als Ann und ich das Besteck im Wasser reinigten. Es war dämsig und die Grillen zirpten laut. Die Jungs hatten ein Feuer entfacht und beratschlagten mit den anderen, was wir genau in den nächsten 2 Wochen alles machen wollten. Doch lange schienen sie bei dem Thema nicht zu bleiben, weil die Jungs aufstanden, sich auszogen und rüber zum See liefen, als Ann und ich fertig waren und zur Feuerstelle zurück wollten. Sie stürmten an uns vorbei mit lautem Gebrüll und warfen sich mit einer großen Spritzerei in das warme Wasser. Ann ging ein paar Schritte hinter mir und erwischte die volle Ladung, was mich gerettet hatte. Sie sah grimmig drein. Wie ein begossener Pudel. Joe und Matt lachten, als sie sich umdrehte und sie starr anblickte.
„Du siehst aus, als wäre ein Eimer über dir ausgeschüttet worden“, witzelte Joe und hielt sich vor Lachen den Bauch. Dann jedoch ergriff ihn eine riesige Wasserwelle.
Ann hat da eine sehr gute Technik raus, in der sie mit ihrem Schienbein eine Welle aufwirbelt, die ihr Gegenüber vollkommen durchnässt. Und wenn sie wütend ist, greift sie beim Wasserkampf gerne danach. Ich lächelte und hob die Besteckschale auf, die sie abgestellt hatte. Dann brachte ich diese zum Hauptzelt, in dem die Nahrungsmittel und dergleichen waren. Die anderen Mädchen waren bereits umgezogen und rannten ins kühle Nass. Ann ging zu unserem Zelt und holte ein Handtuch heraus, um sich etwas abzutrocknen.
„Du hast doch einen Bikini drunter, oder? Lass uns schwimmen gehen. Aber bitte nicht direkt neben der kämpfenden Meute“, sagte sie zu mir und warf mir ein Handtuch entgegen. Ich nickte fröhlich und zog mein Shirt aus.
Kurze Momente später sind wir schon ein Stück um den See gegangen. Die anderen hatten sich einen Wasserball besorgt und hüpften wild im Wasser rum.
„Ich kann nicht verstehen, wie hier mitten im Sommer kein Mensch sein kann?! Ich meine, dieser See ist Wahnsinn!“, rief ich begeistert und lief in die heranschwappenden Wellen. „Es ist so angenehm warm, weil der See nicht so tief ist.“
„Ja, aber nur solange die Sonne draufscheint“, sagte Ann und sah zum Himmel. Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Lass uns schwimmen.“
Wir schwammen ein paar Züge und ließen uns auf einem von der Sonne beleuchteten Stück treiben. Die Sonne war so angenehm in Verbindung mit dem kühleren Wasser. Ich liebte es, in dem Wasser zu gleiten und den Vögeln und Klängen meiner Freunde zu lauschen. Das würde doch noch ein super Sommer werden. Dann spürte ich Wellen gegen meinen Kopf schwappen. Ich dachte, Ann hätte sich umgedreht und wäre ein Stück geschwommen, aber als ich einen Schatten auf mir spürte, öffnete ich die Augen. Joe stand über mir gebeugt.
„Na, du Nixe. Treibst hier ja rum, wie ein lebloses Blatt“, sagte er und grinste mich breit an. Ich richte mich auf. Ann war anscheinend schon früher zu den anderen hinüber geschwommen.
„Was willst du, Joe?“, fragte ich ihn und entfernte mich aus seiner Reichweite, denn ich hatte nicht vor, die Wasseroberfläche von unten zu betrachten. Joe aber setzte sich nur neben mir in das flachere Wasser und sah mich ernst an. Etwas überrascht ließ ich ihn sogar näher an mich.
„Was ist?“, fragte ich erneut und er sah mich unverwandt an. Dann blickte er zur Seite.
„Also… Was machst du denn so nach den Ferien?“, fragte er.
„Hmm? Na, ich werde studieren“, antwortete ich etwas perplex über seine Frage.
„An der Wails?“
„Ja. Aber hatte ich dir das erzählt?“, fragte ich mich und grübelte nach. Eigentlich hatte ich doch nur Ann davon erzählt, oder? Nicht mal meine Eltern wussten davon, weil sie mich nicht für gut genug für die Wails hielten. Er aber grinste.
„Dann werden wir uns wohl wieder sehen! Ich gehe dort auch studieren“, sagte er freudestrahlend und kratzte sich am Hinterkopf. Verwundert sah ich ihn an. Auch wenn es nicht so scheint, aber Joe hat bessere Noten als ich, wie auch Jet und Matt. Er wird sicher aufgenommen. Bei mir wird es wahrscheinlich knapp, aber es sieht gut aus.
„Warum gehst du ausgerechnet dahin?“, fragte ich ihn. Er hatte nie erzählt, dass er dort hinwollte. Er hatte immer von der Forth gesprochen, eine gute Uni. Einen Moment wich er meinem Blick aus.
„Mein Vater… wollte, dass ich auf die Wails gehe. Du weißt schon. Weil er dort auch war. Und die Uni ist genauso gut wie Forth. Das Research Center ist sogar noch besser“, antwortete er. Aber ich konnte ihm das nicht wirklich abkaufen, obwohl das mit seinem Vater stimmte. Eine dunkle Vorahnung erfasste mich.
„Das machst du doch nicht… nur wegen mir…oder?“, murmelte ich und sah von ihm weg. Als ich zurückblickte, sah er mit rotem Gesicht zu den anderen in der Nähe. Jet winkte zu uns hinüber und Joe winkte zurück. Irgendwie hatte ich es schon geahnt. Er brauchte nichts sagen. Es reichte, wenn er schwieg. Das war Antwort genug. Dann seufzte ich und wirbelte Wasser auf, als ich aufstand. Abermals wurde Joe von einer Welle überspült.
„Du bist so ein Idiot, Joe!“, sagte ich leicht gereizt und rannte zu den anderen hinüber. Er blieb allein zurück.
Als die Sonne untergegangen war, saßen wir alle um die Feuerstelle herum, aßen Marshmallows und sangen ein paar Lagerfeuerlieder, die wir kannten. Matt hatte seine Gitarre und Jet seine Cajon mitgenommen, so dass es noch mehr Spaß machte, in die Stille der Nacht zu singen. Alex erzählte Gruselgeschichten, aber wir alle waren zu erschöpft, um lange ihren Reden zu folgen. Also beschlossen wir nach der zweiten Geschichte schlafen zu gehen.
In der Nähe des Platzes, auf dem wir zelteten, befand sich eine kleine Sanitäranlage, in der wir Zähne putzen und auf Toilette gehen konnten. Auch ein paar Duschen waren aufgestellt. Allerdings mussten die Nutzer des Campingplatzes, sprich wir, sie sauber halten, da er öffentlich war und unter keiner Verwaltung stand. Noch ein Grund mehr, der mich verwunderte, warum hier niemand Urlaub machte. Es waren Ferien. Sicher mussten die meisten Eltern noch arbeiten, aber viele Jugendlich wie wir hatten frei.
„Eigentlich müsste dieser Platz total überfüllt sein“, nuschelte ich, als ich beim Zähneputzen über den Platz sah. Alex stand mir gegenüber, auf der anderen Seite der Waschbeckenreihe. Sie spuckte aus und spülte sich den Mund.
„Da hast du wohl Recht“, sagte sie und sammelte ihre Utensilien zusammen. „Aber es geht auch ein Gerücht um, über diesen Ort.“ Ann und Lea, die neben mir standen, wurden hellhörig - genau wie ich.
„Laut diesem Gerücht sollen schon nach dem ersten Tag, den Besucher hier verbracht hatten, Menschen spurlos verschwunden sein. Sie sollen nachts auf dem Weg zur Toilette gewesen, aber niemals zurückgekehrt sein. Einer soll beobachtet haben, wie sein Freund auf ein weißes Licht im See zu schwamm. Dann strahlte es hell auf und sein Freund war verschwunden“, erklärte sie hinter vorgehaltener Hand. Lea quiekte. Sie hasste solche Geschichten abgrundtief. Auch ich schluckte.
„Warum hast du das nicht erzählt, bevor wir hierher gefahren sind“, fragte ich sie nervös.
„Weil ihr so einen Quatsch nicht glauben solltet“, sagte Jet. Er war mit seinem Handtusch über der Schulter plötzlich hinter Alex aufgetaucht. „Mit so einem Käse wollen wir gar nicht erst anfangen.“
„Es gibt keine handfesten Beweise für so ein Licht“, stimmte Joe zu, der sich neben ihn stellte.
„Allerdings gibt es tatsächlich Vermisstenanzeigen von Campern, die verschwunden sind“, erwiderte Alex, als sie ihre Arme verschränkte und sich zu den Jungs wandte. „Wie wollt ihr euch das erklären“, fragte sie herausfordernd. Joe sah zu Jet.
„Vielleicht schleicht ein Serienmörder hier rum, der alle auffrisst. Was weiß ich?“, antwortete er gereizt. Er hatte sichtlich keine Lust sich den Ausflug von so einem Gerücht vermiesen zu lassen. Lea zuckte heftig zusammen, als er denn Massenmörder erwähnte. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Keine Sorge, Lea. Hier gibt es keinen Massenmörder“, versicherte ich ihr. Dann ließen wir von dem Thema ab und gingen zurück zu den Zelten.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Die Geschichte, die Alex vorhin erzählt hatte, machte mich etwas nervös, auch wenn ich sie nicht wirklich glauben konnte. Oder besser glauben wollte.
Ann schlief ruhig neben mir und ich wollte sie nicht wecken, da sie Schlaf brauchte. In letzter Zeit hatte sie immer schlecht geschlafen. Das war auch der Grund, der uns dazu brachte, Zelten zu fahren. Matt war der Meinung, dass ihr frische Luft gut tun würde. Und anscheinend funktionierte es, denn Ann zuckte nicht mal, als ich den Reißverschluss des Zeltes öffnete und hinausschlich.
Der Mond schien hell über den Bäumen und spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Sees. Eine kleine Entenfamilie tauchte aus einem Gebüsch auf und wirbelte das Wasser auf, dass sich große Kreise über die Oberfläche zogen. Es war alles ruhig. Ich schlich hinüber zu den Sanitäranlagen. Bisher war nichts passiert. Als ich die Toilette wieder verließ, lag der Platz immer noch in Stille. Ich war froh, dass kein Licht auf oder Lichtball über der Wasseroberfläche hing. Also schien dieser Part wirklich erfunden und ich fühlte mich etwas wohler. Ich wollte zu den Zelten hinüberlaufen, als plötzlich eine Hand mich an der Schulter zurückhielt.
„WUA-!“, schrie ich auf, doch eine Hand legte sich auf meinen Mund. Mein Herz raste bis zu meinen Ohren. Derjenige, der mich festhielt, war größer und kräftiger als ich. Ich wollte gerade in Panik geraten, als mir eine bekannte Stimme ins Ohr flüsterte.
„Ganz ruhig, Elle. Ich bin’s nur“, sagte Joe und ließ die Hand von meinem Mund. Ich atmete einmal tief ein und dann wieder aus. Dann funkelte ich ihn böse ein.
„Sag mal spinnst du! Mich so zu erschrecken!“, fuhr ich ihn an und in der Stille der Nacht klang meine Stimme sehr laut, aber auch leicht heiser, von dem noch in mir sitzenden Schreck.
„Ich habe dich zu den Toiletten schleichen sehen. Du sahst verängstigt aus, also dachte ich, ich folge dir, falls irgendwas an der Geschichte dran sein sollte“, erklärte er und hob eine Hand zur Entschuldigung.
„Hach! Das nächste Mal steh einfach irgendwo, wo ich dich gleich sehen kann und du dich nicht an mich anschleichen musst“, seufzte ich hervor. Ich war erleichtert, dass es Joe war. Und irgendwie freute ich mich auch, dass er sich Sorgen um mich machte.
„Tut mir wirklich leid“, betonte er noch einmal und kratzte sich mit einem Grinsen am Hinterkopf.
„Schon gut“, winkte ich ab. Wir liefen gemeinsam in Richtung der Zelte. Aber durch den Schreck war ich hellwach, also steuerte ich auf die Feuerstelle zu, die noch leicht glomm. Anscheinend hatte Jet sie nicht richtig ausgemacht. Das wäre gefährlich gewesen, wäre nicht ein Steinkranz um das Feuer gelegt worden. Ich setzte mich auf dem Baumstamm, der direkt gegenüber unserem Zelt lag. Von dort sah ich direkt zum Mond. Joe setzte sich neben mich. Er will mich nicht allein lassen, wegen dem Gerücht, dachte ich. Oder auch wegen eines anderen Grundes?
Ich sah zu ihm hinüber. Er sah mir in die Augen.
„Tut mir echt leid, das gerade eben“, murmelte er nochmal und sah zu Boden. Ich schüttelte nur mit dem Kopf. Einige Grillen zirpten immer noch, obwohl es schon spät war. Trotz der Nähe des Sees gab es hier kaum Mücken. Vereinzelt erklang der Ruf einer Eule. Joe setzte an, um etwas zu sagen, aber ich deutete abrupt in die Luft. Er folgte meinem Finger und erblickte kleine gelblich-grüne Lichter.
„Glühwürmchen“, flüsterte ich. Sie tanzten um die glimmenden Holzscheitel und über die Wasseroberfläche. Es wirkte beruhigend und eine kleine Weile saßen Joe und ich auf dem Baumstamm und beobachteten die kleinen Käfer bei ihrem Flug.
„Wäre…“, begann Joe ruhig, aber hielt einen Moment inne. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich auf die Forth gegangen wäre?“, fragte er flüsternd. Ich konnte spüren, dass ihn die Frage bedrückte. Aber ich lächelte und sah ihn mit zurückgelegtem Kopf an.
„Nein. So ist es bestimmt nicht, Joe“, antwortete ich. „Ich will nur nicht, dass du dein Leben und deine Chancen von mir abhängig machst.“
„Würdest du dich mehr freuen, wenn Jet auf die Wails gehen würde?“, fragte er etwas energischer. Er starrte auf die Glut und konnte mich nicht ansehen. Hatte er meine Antwort überhaupt gehört? Einen Moment herrschte Ruhe.
„Nein“, sagte ich tonlos und sah wieder zum See. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Joe aufzuckte und mich ansah.
„Noelle“, flüsterte er leise. Und ich konnte nicht anders, als ihn wieder an zu lächeln. Dann wand ich mich ihm zu und griff nach seinen Backen. Ich kniff fest hinein und Joe zuckte vor Schmerz zusammen.
„Du bist wirklich ein Idiot, Joe! Mich so etwas überhaupt zu fragen“, schimpfte ich, aber konnte mein Grinsen dabei nicht abstreifen. „Natürlich freu ich mich total, wenn einer meiner besten Freunde auch auf meine Uni geht!“
Ich ließ ihn wieder los. Er rieb sich mit zusammengekniffenen Augen die Wangen.
„Musste das sein?“, nuschelte er hervor.
„Hättest du es auf andere Weise begriffen?“, fragte ich zurück. Dann sahen wir uns beiden einen Moment an und mussten sofort lachen. Es war doch so dumm. Ich merkte, wie sich mein Verhältnis zu Joe veränderte, aber ich war nicht schuld daran. Es machte mich nervös, aber gleichzeitig freute ich mich, dass ich ihm so viel bedeutete.
„Ihr macht ganz schön Krach“, ertönte eine Stimme hinter uns. Als wir uns umsahen, erblickten Joe und ich Jet, der aus seinem und Joes Zelt herauslugte. Er zog den Reißverschluss gänzlich auf und kroch hinaus. Ich war etwas überrascht. Wie lange hatte er uns wohl schon belauscht?
„Könnt ihr beide nicht schlafen?“, fragte er und drängelte sich zwischen mich und Joe, während er zu Joe sah. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Dann wandte er sich wieder mir zu.
„Soll ich dir ein Schlaflied singen?“, fragte er grinsend und warf einen Arm um meine Schultern. Er war angenehm warm im Vergleich zur kühlen Nachtluft.
„Ähm… Ich glaube nicht, dass das nötig ist“, erwiderte ich. Irgendwie fühlte ich mich in dieser Situation total unwohl. Joe erhob sich und sah nicht sehr begeistert aus. Er lief um mich und Jet herum und setzte sich auf meine andere freie Seite. Er ließ sich mit gespreizten Beinen neben mir nieder. Jet und auch ich sahen ihn überrascht an.
„Falls du es nicht mitbekommen haben solltest, Jet, wir haben uns unterhalten“, giftete Joe seinen Freund an. Oh, oh, war alles, was ich denken konnte.
„Ähm, Joe-“
„Ja, das habe ich mitbekommen. Hast du ein Problem?“, entgegnete Jet kühl. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er mich beim letzten Wort an sich zog.
„Also…wie war das nochmal mit ‚kein Mann darf mich anrühren‘?“, stammelte ich verzweifelt, aber die beiden Jungen beachteten mich gar nicht.
Na toll! Auch das noch!
Plötzlich sah Jet fröhlich zu mir hinunter.
„Weißt du eigentlich schon, dass ich auch auf die Wails gehen will?“, fragte er gekünstelt. Ich musste bleich geworden sein. Ich konnte fühlen, wie sich das Blut durch meine Adern aus meinem Gesicht zog. Es war der feigere Teil von mir, der vor Jet flüchten konnte. Meine Augen jedoch starrten ihn an. Dann sah er wieder zu Joe.
„Wir werden wohl noch eine Menge Spaß nach unserem Abschluss haben“, säuselte er, aber seine Augen fixierten Joe kampfeslustig.
Bitte, Gott! Lass das alles nicht passieren! Bitte, lass sie einfach schlafend umfallen, wie bei dieser einen Krankheit! Ich bitte dich! Ich will nicht, dass das ausgerechnet am Anfang unseres Ausfluges passiert!
Aber mein Flehen half nichts. Ich konnte sehen, wie Joe seine Schultern straffte. Es ist wirklich furchtbar mit ansehen zu müssen, wie sich zwei Freunde wegen eines Mädchens streiten. Aber noch viel, viel schlimmer ist es, dieses Mädchen dazwischen zu sein.
Ich versuchte, mich aus Jets Arm zu lösen, aber er hielt stand.
„Lass mich los, Jet!“, sagte ich bestimmt und sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick, ließ aber seinen Widerstand fallen und nahm seinen Arm weg. Ich war froh, dass Joe nicht gleich im Anschluss seine Arme um mich geschlungen hatte. Ich stand auf und drehte mich den beiden zu. Sie sahen erwartungsvoll zu mir hoch. Gott, war das ein furchtbares Gefühl!
„Könnt ihr bitte diese Streitereien lassen, Jungs?“, fragte ich nicht wirklich überzeugt von einer positiven Antwort.
„Wenn du das hier und jetzt klärst, werden wir auch nicht weiter darüber streiten müssen“, sagte Jet scharf und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ich hatte genau das erwartet, aber ich hatte ja an meiner letzten Hoffnung festhalten müssen. Ich war wirklich naiv.
Ich überlegte, was ich jetzt sagen konnte, um beide irgendwie zufrieden zu stellen, aber mir fiel nichts ein. Und sie sahen mich beide unverwandt an. Ich wich ihren Blicken aus. Um mich herum war alles frei, ich hätte in jede Richtung laufen können, doch trotzdem fühlte ich mich wie in die Ecke gedrängt.
Obwohl Jet derjenige war, der diese Stimmung heraufbeschworen hatte. Joe hatte bis auf einen Satz nichts weiter dazu gesagt. Als ich zu ihm sah, schien er den Boden interessanter zu finden als mich. Sollte ich das jetzt verstehen, dass ihn diese Diskussion nicht interessierte? Oder… war es eher so, dass er mich nicht zu einer Antwort zwingen wollte, wie Jet es gerade tat?
Meine Augen blieben auf ihm heften. Jet sah von mir zu Joe und wieder zurück. Als ich zu ihm herüberblinzelte, schien er sehr widerstrebend. Dann stand er auf.
„Also darf ich das so verstehen, dass du Joe nimmst?“, fragte er gereizt. Ich konnte die Enttäuschung in seinen Augen sehen. Und es tat weh. Ich hasste es so angesehen zu werden.
„Nein!“, murmelte ich hervor und Joe sah weg. Jet sah überrascht aus. Sein Gesicht heiterte sich auf. Aber ich musste ihm diesen Ausdruck wieder nehmen. „Es bedeutet, keinen von euch beiden… werde ich nehmen…“
Ich schwieg. Ich konnte die erneute Enttäuschung in Jet spüren, auch ohne dass ich ihn ansehen musste. Joe sah nicht einmal auf.
„Okay“, sagte Jet langsam. Seine Augen wirkten verwirrt. Er drehte sich um und lief zum Zelt. Ich konnte erkennen, dass er leicht schwankte. Das Gefühl zu haben, zwei Mal hintereinander abgewiesen zu werden, ich konnte es ihm nachempfinden. Als er ging und Joe mich nicht immer noch nicht ansah, fühlte ich das Gleiche. Aber ich hoffte, dass beide darüber hinweg sehen konnten. Wenigstens bis zum Ende des Ausfluges. Ich will sie so nicht sehen. Ich will nicht, dass sie mich meiden. Eigentlich sollte das doch der beste Sommer überhaupt werden. Für mich, Joe und Jet würde es auf jeden Fall schwer werden.
Joe stand auf, aber ging nicht zum Zelt zurück. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass er etwas sagen würde. Mich ansieht. Mein Herz zog sich zusammen. Aber ich sah, wie sein Blick mich nur streifte, als er Richtung Sanitäranlagen ging. Überrascht blickte ich ihm nach.
Ein Impuls durchflutete meinen Körper. Meine Beine zuckten schon in die Richtung, in die er gegangen war, aber ich hielt inne. Sollte ich das tun? Wenn ich gerade im Prinzip beiden einen Korb gegeben hatte? Aber ich hoffte, dass Joe gemerkt hatte, wie ich ihn angesehen habe, bevor ich ‚Nein‘ gesagt habe.
Unweigerlich folgte ich ihm doch. Mein Körper trug mich schon fast allein.
„Joe!“, rief ich ihm nach.
Er blieb zwischen zwei Bäumen stehen und sah zurück. Zwei Trauerweiden. Wie ironisch!
Als ich ihn erreichte, sah er mich immer noch an.
„Was ist?“, fragte er monoton. Aber es wirkte auch bestimmt und gequält zu gleich.
„Ich…“
Warum nur konnten Worte nicht herauskommen, wenn es am Wichtigsten war?! Meine Kehle fühlte sich zusammengeschnürt an. Nein, eher vollgestopft. Verstopft von den Worten, die sich drängten heraus zu brechen, aber sich gegenseitig zurückstießen. Ich schluckte.
„Willst du noch irgendetwas sagen?“ Es schien ein bisschen hoffnungsvoll, aber sein Tonfall klang eher gekränkt. Er sah zum Wasser, das nur wenige Zentimeter neben uns ans Gras schwappte.
Ich sah ihn hoffnungsvoll an, als er mir wieder in die Augen sah. Sie wirkten weicher, weicher als der harte, starre Blick zuvor, mit dem er den Boden gemustert hatte.
Joe hob eine Hand und deutete auf die Bank, die zwischen den Weiden stand. Ich nickte und setzte mich. Er nahm neben mir Platz. Nervös sah ich zu seinem und Jets Zelt, aber der Reißverschluss war zugezogen. Jet musste mich gehört haben. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er im Zelt lag, aber ich schob den Gedanken beiseite und wandte mich wieder Joe zu. Dieser sah auf seine verschränkten Finger.
„Nun?“, fragte er.
„Also ich… ich denke, dass… ich…“ Es war so schwer den Satz zu Ende zu sprechen. „Dich lieber mag als… Jet“, flüsterte ich und stand abrupt auf. Das Blut stieg in meine Wangen und ich lief von ihm weg. Von ihm und den Zeltlager. Ich konnte hören, wie er meinen Namen rief, mir folgte. Dann erstrahlte ein Licht und alles um mich herum wurde weiß.
Ich spürte, wie mir der Wind entgegenschlug. Ich spürte eine Kraft, die mich gegen den Wind anzog. Erschrocken öffnete ich die Augen und sah, wie ich fiel. Panik stieg in mir auf. Der Boden war nicht mehr fern. Ich verschränkte meine Arme vor meinem Gesicht und stieß mit dem harten Asphaltboden zusammen.
Aua, dachte ich schmerzlich, aber es tat weniger weh, als ich erwartet hatte. Ich richtete mich auf und war umringt von riesigen weißen Gebäuden. Es war Nacht. Niemand war auf der Straße.
„Wo bin ich?“, flüsterte ich. Und dann hörte ich Schritte, die immer schneller auf mich zu liefen.
Ich stieß panisch hoch und rannte. Rannte so schnell ich konnte. Wo bin ich?!
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011
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