Cover

Prolog



Sie saß auf dem kleinen Balkon, der sich vor ihrem Dachfenster befand. Von innen vernahm sie den leisen flüsternden Gesang einer ihrer Lieblingssängerinnen, aber hörte nicht wirklich zu. Gedankenverloren rührte sie mit ihrem Strohhalm in dem Glas kalter Limonade, das sie in der Hand hielt. Leise klirrten die Eiswürfel aneinander. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken, die auf dem Boden verteilt waren und legte ihre leicht geschwollenen Füße hoch. Die Party hatte sie ganz schön geschafft. Sterne funkelten am Himmel, während sie ihren Blick über die Himmelsgebilde streifen ließ. Die Straße war ruhig. Kein Auto fuhr mehr an den Häusern vorbei. Es war sehr spät abends. Oder auch sehr früh morgens, die genaue Zeit hatte sie vergessen.
Sie dachte an die Jungen, die heute Abend wieder so viel Interesse an ihr gezeigt hatten. Es war seltsam für sie, so viel Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen. Als sie die Schule abgeschlossen hatte, kamen sie auf einmal wie in Schwärmen auf sie zu. Hatte sich ihre Ausstrahlung so sehr verändert? War sie reifer geworden? Was war es, was die Jungen dazu brachte sich manchmal schon auf ersten Blick zu ihr hingezogen zu fühlen?
Sie kannte keine Antwort darauf. Das Einzige, was sie wusste, war, dass diese jungen Männer immer nur auf Befriedigung körperlicher Bedürfnisse aus waren. Heute Abend hat sich ihr das wieder bewiesen, als sie sich ihr so aufdrängten, dass sie ihren Atem auf ihrem Hals spüren konnte.
In diese Richtung allerdings hatte sie noch nie einen Jungen getroffen, der sie interessiert. Es waren doch alles nur Muttersöhnchen oder Pseudomachos, die doch wirklich keine Ahnung von Frauen hatten. Die Männerwelt hatte eindeutig ihre Werte verloren. Oder vielleicht war sie auch zu wählerisch oder anspruchsvoll?
Auf jeden Fall ließ keine Tat eines Mannes ihr Herz aufwallen. Sie betrachteten sie ja doch nur entweder als Stück Fleisch oder versprachen ihr unglaubliche Liebe, die alle Hindernisse überwindet, ließen sich aber doch bei der ersten Ablehnung entmutigen. Gab es überhaupt einen Mann, der ihre Grenzen körperlicher Berührung genau kannte und seinen Kampfwillen um sie auch ohne leere Worte beweisen konnte? Auch darauf kannte sie keine Antwort.
Sie rieb sich ihre Füße. Das stechende Gefühl in ihnen hatte zugenommen. Aber die kühle Nachtluft machte es erträglich. Sie seufzte und stimmte in das Lied ein, das an ihr Ohr drang. Leise sang sie das Lied vor sich hin und der Nachtwind trug den klaren Klang durch die Luft.
Werde ich jemals einen Menschen finden, den ich so sehr lieben kann, wie man sagt, fragte sie sich. Liebe ist doch nur eine Illusion, der alle nachlaufen, beantwortete sie selbst ihre Frage. So etwas wie aufrichtige Liebe gibt es doch gar nicht. Wenn Gott die Menschen geschaffen hat, damit sie auch Liebe empfinden konnten, warum habe ich dann das Gefühl, dass ich selbst das niemals können werde?
Sie sah hoch zum Himmel. Eine kleine Wolke strich sich langezogen über den dunklen, glitzernden Sternenvorhang der Nacht. Ein heller Schweif streifte hinter dieser hervor und sie schloss die Augen, um sich etwas zu wünschen. Würde doch nur endlich jemand erscheinen, der mein Herz zum schlagen bringen kann, dachte sie. Sie schlug ihre Augen auf, aber widererwartend war die Sternschnuppe nicht verschwunden. Im Gegenteil. Sie wurde sogar immer länger. Und auch irgendwie größer. Kam es ihr nur so vor, oder flog diese helle Schnuppe gerade wirklich auf sie zu?
Sie wandte ihren Blick ab und schüttelte den Kopf. Habe ich heute Abend wirklich so viel getrunken, fragte sie sich. Das ist doch Blödsinn. Diese Sternschnuppe kommt nicht auf mich zu geflogen. Doch um sie herum wurde es immer heller. Sie blickte wieder auf und der helle Lichtball kam immer schneller auf sie zu geflogen. Es blendete sie stark und sie versuchte ihre Augen vor dem Licht zu schützen. Sie wollte zur kleinen Treppe an ihrem Dachfenster, aber so weit kam sie nicht mehr.
Sie spürte, wie etwas ihr in den Schoß gefallen war. Es war schwer, kalt und weich. Weich? Kalt? Waren Sternschnuppen nicht verglühendes Gestein? Müsste sie sich dann nicht daran verbrennen? Sie öffnete die Augen, als das Licht langsam verlosch.
„WAS?!“, erschrak sie. Halb um ihre Hüfte geschlungen lag ein bewusstloser, junger Mann. Er war kaum bekleidet. Nur ein flatterndes, weißes Tuch war um ihn geschlungen. Sie konnte ihren Augen nicht trauen. Die hellschimmernden, goldenen Haare des Jungen färbten sich in wenigen Sekunden in fließenden Farben ins Schwarze. Aber was noch erstaunlicher war, waren die weißen Flügel auf seinem Rücken. Langsam wurden sie grauer und die Federn flogen sanft schwebend im Wind davon. Als sie gänzlich verschwunden waren, blieben nur Narben auf dem Rücken zurück, wo sie einst ihren Ursprung fanden.
„Was…? Aber das ist unmöglich!“, keuchte sie. Sie hob ihre Hand, um sein Haar zu berühren, hielt aber kurz inne. Dann ließ sie ihre Finger sanft durch die schwarzen, blauglänzenden Strähnen gleiten. Glitzernder Staub stob auf, wie viele kleine Kristalle.
„Wo kommst du nur auf einmal her?“, flüsterte sie und strich über seine Wange.

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Irritierendes Kennenlernen



Die Vögel zwitscherten fröhlich. Die Sonnenstrahlen fielen durch das geöffnete Fenster und warfen verspielte Muster auf das Holz des Fussbodens. Sommerliche Wärme drang durch den Raum.
Rya lag vergraben unter den Decken ihres Bettes im Schatten hinter der Fenstertreppe. Der Klang der Vogelstimmen weckte sie unsanft und sie drehte sich auf die andere Seite, um sie auszublenden. Ihr Kopf brummte leise und sie fluchte über den verdammten Alkohol. Sie zog ihre Beine an und schlang ihre Arme um diese. War das gestern Nacht nur ein Traum gewesen, fragte sie sich. Dann streckte sie ihre Glieder und stöhnte leicht auf bei dem stechenden Schmerz ihres Kopfes.
„Natürlich muss es ein Traum gewesen sein. So etwas wie Engel gibt es nicht“, flüsterte sie und warf ihre Decke zur Seite, um aufzustehen. „So ein Quatsch“, sagte sie, als sie sich gerade erheben wollte. Doch plötzlich zog sie etwas zurück in ihr Bett und drückte sie an sich. Rya entfuhr ein leiser Schrei, als sie nach hinten fiel und starke Arme sich um sie schlangen.
In ihre Kissen zurückgedrängt, hob sie die Decke, unter der die Arme hervorragten. Blaue Augen sahen hinter einem Vorhang aus schwarzen Haaren zu ihr hinauf. Rya blieb die Luft weg. Erschrocken sah sie in die fremden Augen und ihre Kehle schnürte sich immer enger zu. Gänsehaut fuhr ihre Haut hinauf, als sich die Hände des jungen Mannes über ihre Haut unter dem langärmligen Pyjamaoberteil bewegten. Sie glitten von ihren Bauch über ihre Hüfte zu ihrem Rücken und hinterließen auf ihrem Körper eine Spur eisigen Kribbelns. Rya atmete schwer, konnte sich aber nicht gegen die Berührungen wehren. Sie fühlte sich wie gelähmt. Weiter wurde sie zu dem Fremden gezogen und seine Nasenspitze zog die Linien ihres Schlüsselbeins nach. An ihrer Halsbeuge verharrte er und ließ seine weichen Lippen ihre Haut sanft liebkosen.
„NEIN!“, schrie Rya auf und fand endlich die Kraft den Mann von sich zu stoßen. Sie stürzte rücklings vom Bett. Ihr Herz raste wie wild. War es nun Angst, Sehnsucht oder einfach nur Aufregung? Sie wusste es nicht. Es fühlte sich seltsam an. Ihre Brust zog sich zusammen und es fiel ihr schwer zu atmen. Was war das nur? Rya kannte dieses Gefühl nicht. Ihr Magen drehte sich mehrmals um sich selbst und Rya rannte durch die Zimmertür zum Bad. Der junge Mann blieb halb verborgen in den Decken des Bettes zurück. Sein Blick folgte ihr, bis sie verschwunden war.
Rya knallte hinter sich die weiße Tür zu und keuchte stark. Ihre Brust schnürte sich immer enger zu und sie bekam kaum noch Luft. Ist das jetzt Asthma oder doch nur einfaches Hyperventilieren, kreiste es in Ryas Kopf. Ihre Gedanken waren total wirr und unklar. Als würde sie diese nur durch einen Filter wahrnehmen. Langsam glitt sie an der Tür hinunter, während ihr Blick immer unklarer wurde und dunkle Flecken sich in ihr Blickfeld stahlen. Sie keuchte immer noch heftig und hielt mit der einen Hand ihren Kopf, mit der anderen krallte sie sich in den Pyjamastoff. Allmählich beruhigte sie sich und die Anspannung in ihrer Brust löste sich zäh. Nach ein paar weiteren Minuten war sie gänzlich verschwunden und nur noch leichte Stiche ließen Rya an das schmerzhafte innere Ziehen erinnern. Mit ihrem Ärmel wischte sie die kleinen Schweißperlen von ihrer Stirn und streckte die Beine von sich.
„Was war das? Ich dachte, ich sterbe gleich, nur weil er mich berührt hat“, flüsterte Rya in sich hinein. Sie dachte nochmal einen Moment an das furchtbare Gefühl, schüttelte es dann aber von ihr ab. Sie stand auf und schwankte leicht. „Zumindest schien es kein Traum gewesen zu sein. Dieser Junge ist wirklich vom Himmel gefallen. Aber was sollte das gerade eben? Ich dachte immer, Engel dürften Menschen nicht anrühren? Aber wenn er ein gefallener Engel ist, gilt das dann auch für ihn…So ein Quatsch! Engel? Was denke ich denn da?!“
Rya grübelte über diesen mysteriösen, jungen Mann nach und ging dabei im kleinen Bad auf und ab. Als ihr Blick jedoch kurz den Spiegel streifte, blieb sie abrupt vor diesem stehen. Sie beugte sich vor, um genau zu betrachten, was sie entdeckt hatte. An ihrem Hals befand sich ein großer, bläulich-violett schimmernder Fleck. Rya konnte ihre Augen nicht trauen. Wie war denn der dahin gekommen? Sie fuhr über die dunkelgefärbte Stelle und zuckte leicht, als sie die eisige Kälte an ihren Fingern spürte. Sie zog sich durch die ganze Hand und pulsierte. Doch das Pulsieren war genauso schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war. Rya verstand die Welt nicht mehr. Was ist denn hier nur los, schrie sie innerlich und kam schon fast einer Panik nah, als sie wieder heftig ihren Kopf schüttelte.
Beruhige dich, Rya. Kein Grund hier freizudrehen, schollt sie sich selbst. Sie atmete mehrmals tief durch. Ganz ruhig, dachte sie. Ich werde das Problem schon irgendwie lösen. Irgendwie wird das schon klappen! Sie griff nach einem Lappen und tränkte ihn in warmes Wasser. Als sie ihn etwas ausgewrungen hatte, legte sie ihn auf den bläulichen Fleck. Sie schrie auf und ließ den Lappen fallen. Tränen traten ihr in die Augen. Die mit Wasser in Berührung gekommene Stelle hellte sich leicht auf, aber der Schmerz war unerträglich. Okay, warmes Wasser scheint unter echt bösartigen Schmerzen zu helfen, schlussfolgerte Rya. Fürs erste ließ sie aber weitere Heilungsversuche sein und legte den Lappen auf dem Waschbecken ab, nachdem sie ihn aufgehoben hatte.
„Nur was fange ich jetzt mit diesem Typen an. Es ist total unlogisch, dass es sowas wie Engel gibt, aber…Irgendwie ist das die einzige Erklärung, die ich finde. Außer da ist ein Mensch mit nichts außer einem Tuch bekleidet und angeklebten Flügeln aus einem Flugzeug gefallen, dass ich nicht bemerkt habe und ist wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Hmm. Klingt sogar annähernd plausibler als die Engelsstory“, nuschelte Rya vor sich hin und setzte sich dabei auf den Toilettendeckel. Sie schielte hinüber zur Tür. Aber im nächsten Moment zuckte sie zusammen. Ihr war plötzlich etwas bewusst geworden, was ihr zu seltsam erschien.
„Wie sind wir überhaupt in mein Bett gekommen?“, fragte sie sich entsetzt. „Ich kann mich nicht erinnern, mich umgezogen zu haben oder sonst irgendwas… Habe ich wirklich so viel Alkohol getrunken? Aber an den Typen erinnere ich mich doch noch. Wie ich durch seine Haare fuhr und…“
Rya hielt inne. Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Sie sah ihre Hand an. Spürte noch deutlich das Gefühl der seidigen Haare und wieder begann ihr Herz wild zu schlagen. Sie spürte wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Was um alles in der Welt ist er, dachte sie.
Wieder schielte sie zur Tür hinüber und wandte sich dieser dann ganz zu. Fakt war, dass sie herausfinden musste, wer oder was dieser Junge war. Aber wie sollte sie das anstellen? Sie wusste ja nicht mal, ob er ihr wohl gesinnt war oder nicht. Naja. Wenn man die Tatsache betrachtet, dass er sich an sie rangemacht hat - wenn man das so nennen kann - dann wollte er ihr wahrscheinlich nichts Böses. Aber das kommt drauf an, wie weit er denn noch gegangen wäre.
Jedoch seine Berührungen. Es war als würde jede Stelle, die er berührte, einschlafen. Diese kribbelnde Gefühl, das man bekam, wenn das Blut in den Beinen oder Armen knapp wurde. Und es war eiskalt gewesen. Zumindest das, was die Berührung zurück ließ. Rya wusste genau, dass sein Atem heiß war und seine Lippen warm. Aber das Stechen in ihrem Hals, was daraufhin auftauchte, war furchtbar kalt gewesen und hatte ihr die ganze Luft genommen.
Rya stand auf und schlich zur Badezimmertür hinüber. Sie atmete noch einmal tief ein, bevor sie diese öffnete und durch einen schmalen Schlitz in den Flur lugte. Doch sie schrie auf und schlug die Tür wieder zu.
Da hatte er gestanden. Mit dem Rücken zu ihr, mit seiner Hand durch seine Haare fahrend. Nur das weiße Tuch um seine Hüfte gebunden, welches schlaff herunter hing. Auf seinem Rücken waren sie immer noch. Die Narben von denen Rya dachte, sie hätte sie sich nur eingebildet. Irgendwie machte es sie traurig. Ihr traten Tränen in die Augen.
Poch, poch. Es klopfte gegen die Tür und Rya erschrak. Sie sprang von der Tür weg, als sie das Klopfen hörte. Ihr Herz raste und sie blieb einfach nur still stehen. Ihren Blick fest auf die Tür gerichtete. Sie wartete darauf, dass diese sich öffnete, aber sie blieb verschlossen. Rya wusste nicht, ob sie die Tür selbst öffnen sollte oder ob es nicht doch besser wäre sie verschlossen zu lassen. Keine Regung.
„Sag mal, wie lange willst du noch da drinnen bleiben?“, ertönte eine männliche Stimme. Rya wurde immer nervöser. Jetzt hatte dieser Typ - oder was auch immer - sogar geredet! Und seine Stimme war unglaublich schön. Nein, Rya. Lass dich nicht ablenken, dachte sie. Sie musste jetzt ernst bleiben. Immerhin stand da ein Fremder vor ihrer Tür, nur mit einem Tuch bekleidet. Hat er wirklich nichts drunter? Rya! Du denkst schon wieder nur Schwachsinn, schimpfte sie mit sich selbst.
„Wer…wer bist du?“, fragte sie stotternd. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich kaum selber hörte. Aber das, was sie hörte, klang auch nicht sehr…naja…selbstbewusst.
Keine Antwort. Was soll das denn jetzt, dachte Rya. Ist er noch da? Sie schlich zur Tür. Leider hatte diese kein Schlüsselloch, also war Rya notgedrungen dazu gezwungen, die Tür zu öffnen. Sie legte ihre Hand auf die Klinke und drückte diese herunter. Mit mehr Selbstbewusstsein, da sie überzeugt war, dass der Junge nicht vor der Tür stehen konnte, öffnete sie also die Tür. Sie schrak zurück. Natürlich hatte er doch hinter der Tür gestanden.
Er sah irgendwie leicht beleidigt aus. Okay. Ein Engel kann er nicht sein. Schließlich sind die immer gut drauf, dachte Rya und blickte eingeschüchtert den Jungen an. Dieser beugte sich zu ihr vor und sie wich noch ein Stück zurück. Allerdings kam sie nicht sehr weit. Ihr eigner Arm hielt sie davon ab von der Tür wegzutreten. Doch sie konnte die Klinke, die sie fest umklammerte, nicht loslassen.
„Meinst du nicht, dass es unhöflich ist, mich zu fragen, wer ich bin, ohne dich zu entschuldigen oder selbst vorzustellen?“, herrschte er sie an. Rya musste jetzt einfach verwirrt aussehen. Zumindest merkte sie, wie sich ihre Gesichtszüge zu einem entsetzten Ausdruck verzogen. Dann fasste sie sich und wurde wütend.
„Was soll das denn heißen?! Du bist doch derjenige, der einfach so aus dem Himmel fällt, in meinem Bett schläft und hier halbnackt rumläuft. In meiner Wohnung! Ohne das ich es dir erlaubt habe!“, fauchte sie zurück.
„Tut mir Leid. Ich konnte es mir nicht wirklich aussuchen, wo ich hinfalle, weißt du. Es ist schwer sich mit zerfallenden Flügeln zu navigieren“, erwiderte der Junge angesäuert und machte mit seinen Händen flatternde Bewegungen. Dann klappte Rya zusammen. Ihre Hand konnte die Klinke immer noch nicht loslassen. Verblüfft sah sie ihn an. Ihr Mund blieb offen stehen, da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte.
Hat er das jetzt wirklich gesagt oder habe ich Halluzinationen, dachte Rya. Sie sah zu dem halbnackten Jungen hinauf. Dieser hockte sich nun zu ihr herunter. Er sah ihr in die Augen und sie klappte ihren Mund wieder zu. Sie schluckte, als die blauen Augen tief in ihre blickten. Dann seufzte er und setzt sich in einen Schneidersitz. Rya ließ überrascht die Klinke los.
„‘Tschuldige. Das war unangebracht. Immerhin habe ich es dir zu verdanken, dass ich nicht irgendwo auf dem Asphalt geplättet rumliege“, sagte der Dunkelhaarige nun und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Aufrecht saß er vor ihr und sah auf das verdatterte Mädchen vor sich. Dann seufzte er wieder.
„Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen oder hast du deine Stimme ganz verloren?“, fragte er und sah sie an. Rya öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Der Junge sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. Dann hob sie die Hand, als würde sie ihn stoppen wollen und legte ihre andere Hand an ihre Stirn.
„Warte einen Moment. Ich muss…mich erstmal sammeln… Ich meine, ordnen… Also,… du weißt schon“, sagte sie unbeholfen und der Junge nickte nur. Rya ließ ihre Hand wieder sinken und dachte über die Geschehnisse nach, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie verschränkte die Arme und ließ alles in Bildern an sich vorbeilaufen. Erst zuckte sie leicht, dann prustete sie los. Musste lachen. Das war so verrückt. So verrückt, dass sie einfach nur lachen konnte. Sie krümmte sich schon und der Junge seufzte abermals.
„Ja. Wenn ich du wäre, würde ich diesen Blödsinn genauso wenig glauben“, stöhnte er.
„Sorry. Kch! Aber das ist einfach zu abgedreht“, prustete Rya zwischen ihren Lachen hervor. Sie versuchte sich zu fassen, aber ein Kichern konnte sie sich einfach nicht verkneifen. Wenn es wirklich alles stimmen sollte, saß ihr ein Engel gegenüber. Ein Engel. Wie in den Geschichten und Filmen. Ein Engel, der seine Flügel verloren hatte. Als Rya das realisierte, verstummte ihr Lachen und sie sah in das gleichgültige Gesicht des Jungen vor ihr. Irgendwie war es seltsam. Und traurig. Wie sollte er denn nun in den Himmel zurückkehren? Wenn er doch seine Flügel verloren hatte?
„Tut mir Leid. Mein Lachen war unangebracht“, nuschelte Rya und sah zu Boden. Der Junge lachte kurz auf.
„Lass mal. Kann dich schon verstehen. Es ist wirklich abgedreht. Ich hätte mich auf dem Boden gerollt vor Lachen und wahrscheinlich eine ganze Weile nicht mehr aufgehört“, erwiderte er.
Rya sah kurz zu ihm auf. Irgendwie fühlte sie sich leer. Wie kann er das so sagen, fragte sie sich. Immerhin wurde er…
„Können Engel eigentlich sarkastisch sein?“, sagte Rya laut und verschränkte wieder die Arme. Sie sah ihn mit grübelnder Miene an. Jetzt begann der Schwarzhaarige zu lachen.
„Du bist mir ja Eine. Jeder andere hätte mich für verrückt erklärt und ohne zu zögern rausgeschmissen. Und du? Du fragst mich, ob Engel sarkastisch sein können?“ Es musste noch mehr lachen. Er hielt sich den Bauch und schlug mit einer Faust auf den Boden. Er beugte sich so weit vor, dass seine Nasenspitze schon fast den Boden berührte. Rya sah ihn skeptisch an. Das war wohl ‘ne dumme Frage, dachte sie und verzog das Gesicht.
„Ja, ja. Lach ruhig.“
Das kichernde Häufchen vor ihr schien sich derweil wieder zu beruhigen.
„Meine Güte. So viel habe ich schon lange nicht mehr gelacht“, keuchte der Junge hervor, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Rya sah ihn schief an. Was für ein komischer Kauz. Doch als er sie angrinste, setzte ihr Herz einen Moment aus.
„Okay. Wenn du also wirklich ein Engel bist-“
„Ich bin kein richtiger Engel mehr“, unterbrach er sie. Sie hielt inne. Er sah sie mit festem Blick an.
„Was…bist du dann?“, fragte sie schließlich.
„Wie du siehst, habe ich keine Flügel mehr“, antwortete er und deutete auf die Narben auf seinem Rücken. „Ich bin ein ‚Gefallener Engel‘. Gott hat mich aus dem Himmel verbannt. Um es nett auszudrücken.“
Rya dacht über das nach, was er gesagt hatte.
„Dann bist du für mich trotzdem noch eine Art Engel“, sagte sie darauf.
Der Junge sah sie verdutzt an. Dann glättete sich sein Gesicht wieder.
„Wenn du meinst…“
„Ja. Immerhin bist du weder ein Mensch noch ein Dämon – sofern diese existieren, was bei deiner Existenz durchaus denkbar ist - oder? Also bist du auf eine gewisse Art und Weise noch ein Engel.“
Rya sah ihm in die Augen. Sie war der festen Überzeugung, jetzt da sie nun mal von Engeln überzeugt war, dass er auch noch irgendwie engelsgleich schien.
„Denk, was du willst. Für mich ist Gott sowieso gestorben“, erwiderte der Schwarzhaarige. Er stand auf und ging zurück zur Schlafzimmertür. Das Licht der Sonne strahlte ihn an und er schien leicht zu schimmern. Aber vielleicht bildete sich Rya das auch nur ein. Sie stand ebenfalls auf und ging auf ihn zu.
„Warum?“, fragte sie. Er jedoch sah sie nur einen Moment an und wandte sich dann wieder ab. Das sollte mir jetzt wohl sagen, dass es mich nichts angeht, dachte Rya genervt.
„Okay. Kann ich auch mit leben. Aber sagst du mir wenigstens deinen Namen? Oder vielleicht zuerst deine Kleidergröße. Irgendwie müssen wir was an deinem Stil ändern. Mir persönlich ist das etwas zu frisch.“ Sie deutete dabei auf das weiße Tuch, dass nur das Nötigste bedeckte. Der Schwarzhaarige wandte sich zu ihr um. „Und dann erklärst du mir das hier. Das tut nämlich höllisch weh!“, sagte Rya und deutete dabei auf den blauen Fleck an ihrem Hals.

Rya wühlte in ihrer Tasche. Sie suchte ihren Hausschlüssel und konnte ihn einfach nicht finden. Es war auch nicht besonders leicht seine Tasche zu durchsuchen, wenn man in der anderen Hand ein paar Tüten mit Klamotten hielt. Natürlich versteckte sich ihr Schlüssel ganz unten und als sie ihn endlich zu fassen bekam, seufzte sie leicht auf.
„Ich hoffe, Joah ist nicht zu verwirrt, dass ich seine alten Klamotten wollte. Er hat sie sowieso nicht mehr gebraucht. Aber ob er mir die Ausreden mit dem Cousin wirklich abgenommen hat?“, murmelte Rya vor sich hin, während sie versuchte den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
Aber noch bevor sie ihn umdrehen konnte, öffnete sich die Tür abrupt und sie wurde mitgezogen. Beinahe wäre sie nach vorn gefallen, hätte da nicht der große Dunkelhaarige gestanden. Als ihre Hand sie stützend an seiner Brust abfing, breitete sich ein Gefühl wie kaltes Feuer in ihr aus. Rya schrie auf und zog ihre Hand ruckartig zurück und schüttelte sie. Dann funkelte sie den Jungen böse an.
„Was soll das? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Tür nicht öffnen. Egal, wer davor steht. Autsch. Und es tut verdammt weh, dich zu berühren!“, fuhr sie ihn an und zwängte sich an ihm vorbei ohne ihn zu berühren. Was sich als äußerst schwer erwies, wenn der Angesprochene keine Anstalten machte sich ein wenig zu bewegen. Als sie es geschafft hatte, lief Rya in ihre kleine Küche und warf die Papiertüten, die sie in der Hand hatte, auf den Tisch. Dann öffnete sie ihren Kühlschrank und suchte nach etwas Essbarem. Als sie sich einiges gegriffen hatte, stupste sie mit ihrem Knie gegen die Kühlschranktür, um sie zu schließen. Sie legte die Zutaten für das Mittag auf die Arbeitsplatte und drehte sich zur Tür um.
Dort stand der halbnackte Junge und beobachtete sie. Rya lief leicht rot an.
„Steh da doch nicht so rum. Die Sachen in den Tüten sind für dich. Zum Anziehen. Ich hoffe, sie werden passen“, sagte sie leicht säuerlich und deutete über ihre Schulter auf den Küchentisch. Der Junge warf einen kurzen Blick auf den Tisch und sah sie dann wieder an. Rya blickte verwirrt zurück.
„Du wirst dich ja wohl noch anziehen können, oder?“, fragte sie vorsichtshalber.
Er sah sie mit einem Ausdruck vollkommenen Unverständnisses an.
„Ich bin ein gefallener Engel. Kein Kleinkind“, erwiderte er bissig, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er blickte nur auf die Türschwelle herab. „Aber es ist eine alte Angewohnheit von mir Küchen nicht zu betreten.“
Rya sah verdutzt drein.
„Eine alte Angewohnheit“, sagte sie skeptisch. „Na, wenn du meinst.“ Sie griff nach den Tüten und brachte sie ihm zur Tür. „Hauptsache, du siehst dann nicht aus, wie ein modischer Notfall.“
„Falls du es vergessen haben solltest. Engel waren auch mal Menschen. Ich denke schon, dass ich noch etwas Geschmack behalten habe. Kommt aber drauf an, was du mir da mitgebracht hast“, entgegnete der Junge schnittig und ging in ihr Zimmer.
„Dann warst du bestimmt auch ein ganz sarkastischer, was?“ Rya streckte ihm die Zunge hinterher und widmete sich dann wieder dem Essen zu. Ihr Magen knurrte schon mehr als laut und sie wollte es nur so schnell wie möglich auf dem Tisch haben. Aber isst dieser Typ eigentlich auch, fragte sie sich, während sie Wasser aufsetzte.
Sie kippte die Soße über die Nudeln, als sie mit dem Kochen fertig war. Der Junge hatte sich solange nicht blicken lassen. Rya hatte ihm auch einen Teller aufgemacht, aber ob er es essen würde, wusste sie nicht. Auch egal. Dann esse ich es halt, dachte Rya. Sie trat durch die Tür ihres Schlafzimmers und blieb wie angewurzelt stehen.
Der dunkelhaarige, junge Mann saß auf ihrer Balkontreppe und sah in den Himmel. Der Wind wehte sanft durch seine Haare. Sein Kleidungstil schien zumindest schon mal sicher. Als er sie bemerkte, wandte er sich ihr zu. Überrascht fiel ihm der zweiten Teller auf. Rya fühlte sich ertappt und hielt ihm den Teller hin.
„Wenn du es nicht essen willst, lass es stehen. Ich hab genug Hunger für zwei Portionen“, sagte sie. Der Junge nahm ihr den Teller aus der Hand und betrachtete die Spaghetti mit Bolognese-Sauce. Rya setzte sich auf ihr Bett, dass direkt neben der Treppe stand, nur getrennt durch ein Regal, und begann zu essen.
„Es ist komisch. Ich habe schon so lange nichts mehr gegessen“, murmelte er.
Rya verschluckte sich fast an ihrem Bissen, den sie gerade in ihren Mund geschoben hatte. Sie klopfte sich auf die Brust und hustete leicht. Der Junge blickte sie nur beschämt von der Seite an.
„Wie bitte? Esst ihr da oben den nichts?“, fragte sie hüstelnd und deutete mit ihrer Gabel nach oben. Jetzt sah er sie noch beleidigter an.
„Weißt du, es ist nicht gerade normal da oben zu essen, wenn man eigentlich die ganze Zeit mit Arbeit beschäftigt ist. Mal abgesehen, dass Tierisches sowieso nicht verzerrt wird“, erwiderte er schnippisch.
„Also nur Obst und Gemüse?“, fragte Rya interessiert.
„So ziemlich. Naja. Außer Äpfel. Aber das versteht sich ja so ziemlich.“
„Hmm.“
Dann griff er die Gabel und häufte sich etwas auf. Skeptisch sah er die rote Soße langsam runter tropfen. Er roch nochmals an den Nudeln, bevor er seinen Mund öffnete und die Gabel hineinschob.
„Wehe du sagst jetzt, es schmeckt nicht. Dann geb ich dir einen Grund in der Hölle zu landen“, flüsterte Rya giftig. Entrüstet sah er sie an.
„Bleib ruhig. Es schmeckt ja“, erwiderte er hastig. Dann grinste Rya ihn an.
„Dann ist ja gut“, sagte sie und aß weiter.
Verdutzt sah er sie an und stocherte dann in seinem Essen weiter rum. Dann stellte er den Teller neben sich und stand auf. Rya sah überrascht auf. Er griff sich einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. Sie schluckte ihren letzten Bissen runter und platzierte ihren Teller auf ihrer Bettdecke.
„Was ist?“, fragte sie und sah ihn skeptisch an. Er schien sie fast mit seinem Blick zu durchdringen. „W-was?“ Rya wurde immer nervöser. Warum starrte er sie nur so an?
„Du bist ein seltsamer Mensch“. sagte er.
„Soll heißen?“, fragte Rya nach einem kurzen Zögern.
„Du bist nicht wie andere Menschen.“
„Da stimme ich dir zu. Ich hab mich bis jetzt auch nur einmal getroffen.“
„So meinte ich das nicht!“, seufzte er. Rya sah ihn skeptisch an. Worauf wollte er nur hinaus?
„Sondern?“, fragte sie.
„Zum Beispiel,… Wenn ich dich berühre.“ Er hob die Hand und ließ seine Finger über ihre Wange fahren. Rya zuckte. Es war, als würde ein Tropfen Eiswassers ihr Gesicht hinuntergleiten.
„Du bist so warm“, sagte er abwesend.
„Naja. Wenn du kalt wie Eis bist, ist das nur logisch, oder“, erwiderte Rya und entfernte sich etwas von seiner Hand. Er ließ sie sinken.
„Du glaubst, dass das normal ist.“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Rya merkte wie ihr Kopf immer mehr brummte. Ihre Gedanken kreisten hin und her. Irgendwie machten seine Worte keinen Sinn. Sie verstand ihn einfach nicht.
„Wenn ich soweit oben wohnen würde, wäre ich bestimmt auch tiefgekühlt“, murmelte sie.
„Es ist, als würde ich in Feuer fassen.“ Der Dunkelhaarige betrachtete seine Hand. Seine Finger waren rot und die Blutadern waren genau zu erkennen. „Das ist nicht normal. Normalerweise spürt ein Mensch keinen Unterschied. Die Körpertemperatur von Engel und Menschen sind eigentlich gleich. Eigentlich versuchen solche Wunden bei Engeln nur Berührungen von… Dämonen…“
Rya riss ihre Augen auf. Wie bitte?!
„Willst du etwa behaupten, dass ich ein Dämon bin?!“, fuhr sie ihn an. Ihr Besteck klirrte auf dem Teller, als sie sich abrupt zu ihm gebeugt hatte. „Spinnst du? Ich bin ein ganz normaler Mensch!“
Erschrocken sah er sie an. Solch eine Rektion hatte er erwartet und trotzdem war ihm die Heftigkeit ihrer Gefühle ungewohnt.
„Tut mir Leid. So meinte ich es nicht. Vielleicht ist es ja auch nur eine Fehlfunktion wegen meiner Verbannung aus dem Himmel“, meinte er. „Das wäre zumindest die einzige Erklärung, die ich finden kann.“ Seine blauen Augen schweiften über ihr Gesicht zu ihrem Hals. „Verzeih das heute Morgen. Ich wusste nicht, dass dein Körper so reagieren würde. Verzeih, wenn es schmerzlich war.“
Rya verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und fuhr mit ihrer Hand über ihren Hals. Der Fleck hinterließ ein frostiges Gefühl auf ihren Fingerspitzen.
„Und wie das wehtat! Mit warmem Wasser konnte ich es etwas bessern, aber es schmerzte höllisch! Ich kann diesen Fleck nicht mal berühren, ohne dass meine Hand dabei vor Kälte taub wird“, schimpfte sie und deutete auf ihren Hals. „Warum hast du das überhaupt getan? Wieso wolltest du -?“ Aber sie brach ab. Ihr Gesicht wurde puterrot. Sie wand es von ihm ab. Es war ihr einfach zu peinlich ES beim Namen zu nennen. Warum fiel es ihr so schwer? Bei anderen Jungen hatte sie doch nicht solche Hemmungen. Wieso konnte sie ihm ihre Wut nicht einfach ins Gesicht schreien?
„Ich heiße Aiden.“
Stille. Rya wandte sich wieder zu ihm. Er sah sie immer noch ruhig an. Rya stockte der Atem und sie wusste nicht, was sie denn nun sagen sollte.
„A-aiden“, stammelte sie nur, um sich den Namen einzuprägen. Ein schöner Name, dachte sie. „Und ist das dein wirklicher Name?“
Aiden sah sie verwundert an.
„Mein richtiger Name?“
„Hast du diesen Namen im Himmel erhalten, oder hattest du ihn schon, als du lebtest?“, konkretisierte sie sich. Stumm sah er sie an und wandte sich dann ab. Er griff nach seinen Spaghetti und begann sie zu verspeisen. Rya sah ihm dabei zu, bis ihr einfiel, dass sie selbst noch aufessen musste.
„Ich weiß es nicht mehr“, sagte Aiden schließlich, als er seinen Teller geleert hatte. Rya blickte von ihrem auf und sah einen traurigen Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Alle haben mich von Anfang an Aiden genannt. Ich erinnere mich nicht mehr… an meinen Erdennamen. Wir legen unsere Namen ab, sobald wir in den Himmel fahren.“
Der Teller klirrte leise, als er ihn auf dem Regal zwischen ihm und Rya stellte. Rya aß den letzten Happen, der ihren Teller noch zierte, nachdem sie ihn heruntergekratzt hatte. Sie sah von ihrem leeren Teller und Aiden hin und her. Dann fasste sie einen Entschluss.
„Ist doch egal“, sagte sie und stand auf. Aiden riss sich aus seinen Gedanken und sah zu ihr auf. Sie sah ihn nicht an, sondern gerade zu der ihr gegenüberliegenden Wand. Ein Bild mit grünen, spielerischen Schnörkeln zierte sie und sog einen in den Bann, wenn man es länger betrachtete. Sie wand sich zu ihm um und lächelte leicht.
„Ist doch egal. Du bist jetzt hier und nicht in deiner Vergangenheit. Namen sind eh nur Schatten, die man uns aufdrückt. Wer weiß, ob ein Da Vinci nicht doch ein Picasso ist, solange man ihn nicht richtig sieht? Ich finde aber, Aiden passt sehr gut zu dir.“ Dann griff sie nach seinem leeren Teller und verschwand in die Küche. Aiden sah ihr verdutzt nach.
„Sie ist wirklich… ein seltsamer Mensch...“

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Unerwartete Begegnungen



Joah nippte an seinem Kaffee, während er sich gedankenverloren im Café umsah. Im Hintergrund dudelte schwingende Jazzmusik und gab dem in hellen Farben gehaltenen Raum eine angenehme Atmosphäre.
Viele verschiedene Leute waren im Café und gönnten sich große Eisbecher mit Sahne, Torten oder andere kleine Süßspeisen, die angeboten wurden. Im Sommer war hier immer fiel los, besonders wenn sich die Schule dem Ende neigte und auch die Studenten mehr Lust bekamen, die Vorlesungen und Seminar lieber für ein paar Stunden frische Luft sausen zu lassen.
Joah machte es Spaß dabei zu zusehen, wie gackernde Schulmädchen in der einen und seriöse Geschäftsmänner in der anderen Ecke hier eine Pause fanden. Draußen an den Tischen konnte man ein, zwei Autoren bei ihrer Arbeit beobachte und nur vermuten, ob sie denn bereits berühmt oder kurz davor waren. Joah mochte das Ambiente und die verschiedenen Leute, auch wenn es öfter mal durch den vielen Betrieb lauter war. Doch beschäftigte ihn auch, was gestern geschehen war.
„Du scheinst wohl grad ganz wo anders zu sein, was?“, fragte sein Gegenüber.
Joah wand sich einem der Jungen, die mit ihm zusammen im Café saßen, zu. Er hatte blondes, struppiges Haar und helle Augen. Der Junge hatte sich gerade den Eislöffel in den Mund gesteckt und beobachtete seinen Freund. Dieser lachte auf.
„Was soll schon sein?“, erwiderte er und trank den letzten Rest aus seiner Tasse.
„Komm schon, Alter. Du bist doch sonst nicht so abwesend und schaust so viel in der Gegend rum, wenn wir hier sind“, sagte der Zweite neben ihm.
„Ich hab nur ein bisschen die Sonne genossen, ist das jetzt falsch?“ Joah sah sie fragend an.
„Sonst bist doch auch viel lustiger drauf und laberst wie ein Wasserfall“, sagte der Blonde.
„Da muss ich Steve recht geben. Du bist sonst immer ‘ne ziemliche Labertasche“, fügte der Zweite hinzu.
„Ihr seid heute wirklich wieder unglaublich nett, Jungs“, erwiderte Joah leicht angesäuert.
„Spuck es einfach aus und wir lassen dich in Ruhe.“ Steve schob sich den nächsten Happen in den Mund und kaute genüsslich. „Nich‘, Mart?“
Joah sah ihn schief an. Er hatte nicht wirklich Lust mit den beiden darüber zu reden, dass seine beste Freundin gestern vorbeigeschneit war und nach seinen alten Klamotten gefragt hatte. Zwar unternahmen sie öfter etwas zusammen, aber trotzdem war er sich nicht sicher, ob er das Thema erwähnen sollte. Er grübelte nach, wie er es wohl am besten umgehen könnte, da stellte Martin seine schon geleerte Tasse ab.
„Mann, wenn du so lange zögerst, muss es ja was mit Ryanne zu tun haben“, sagte er und zog eine Augenbraue hoch. „Du kannst das nicht verleugnen. Sonst redest du ständig von ihr und heute hast du noch kein einziges Wort über sie verloren.“
„Jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir das auch auf, Mart. Ist irgendwas zwischen euch passiert? Hast du sie endlich rumgekriegt? Hat sie dich rangelassen“, grinste er Joah erwartungsvoll an.
„Als ob. Ich glaube, da können noch Jahrtausende vergehen, bevor ich da irgendwelche Chancen habe“, erwiderte Joah und sah grimmig aus dem Fenster.
„Nimm’s nicht so schwer, Joah. An Ryanne ist eben nicht leicht ranzukommen“, sagte Martin und klopfte ihm auf die Schulter. Joahs Gesichtszüge wurden nur noch grimmiger.
„Man müsste meinen bei ihrem Erfolg bei Männern wechsle sie jeden Abend das Bett“, überlegte Steve und schlug sich mit dem Eislöffel gegen die Unterlippe.
„Erzähl nicht so einen Quatsch! Du weißt ganz genau, dass sie nicht so ist“, fuhr Joah ihn an. Steve zuckte zurück und sah ihn entsetzt an.
„Reg dich ab! So hab ich das doch gar nicht gemeint. Ich weiß, dass sie in der Hinsicht das fromme Lamm schlechthin ist.“
„Dann solltest du es vermeiden, so über sie zu reden. Das klingt fast so, als hätte sie dir ‘ne saftige Abfuhr erteilt“, bemerkte Martin. Steve warf ihm nur einen finsteren Blick zu.
„Klar. Seh‘ ich echt so aus wie die Penner, die versucht haben sie flachzulegen? Ich weiß, dass sie mich nicht ranlassen würde“, erwiderte der Blonde gekränkt. Jetzt schaufelte er den Rest seines Eises brummig in seinen Mund. „Die hat doch bis jetzt keinen rangelassen! Was denkst du, was wir am nächsten Tag als erstes erfahren würden, wenn sie jemand rumgekriegt hätte. Außer es handelt sich um Joah.“ Steve stoppte nur kurz, um mit dem Löffel auf den Brünetten sich gegenüber zu zeigen und schob sich dann eine Waffel in den Mund. Martin sah von Steve zu Joah. Dieser wirkte jetzt nur noch entnervter als vorher.
„Du hast wirklich ein unglaubliches Taktgefühl, Steve“, erwiderte Martin und gab ihm eine Kopfnuss. Steve rieb sich den Kopf und warf Martin einen finsteren Blick zu.
„Er hat schon Recht, Mart. Sie ist vor ein paar Tagen vorbei gekommen, um sich Sachen von mir zu leihen. Angeblich für ihren Cousin, der seinen Koffer auf dem Flug verloren hat“, brummelte Joah. „Irgendwie kann ich ihr das aber nicht abkaufen.“
Steve und Martin sahen sich an. Dann lachten sie gleichzeitig los. Joah schielte zu den beiden und verdrehte die Augen.
„Ich bitte dich, Joah. Wieso sollte sie lügen?“, lachte Steve. „Sowas kommt öfter mal vor, weißt du? Von solchen Fällen erzählt meine Schwester öfter.“
Joah warf ihm einen ungläubigen Blick zu. War ja klar, dass die beiden seinen Verdacht nicht unterstützen würden. Sicherlich kam sowas mal vor, aber irgendwie konnte er es Ryanne einfach nicht glauben. So sehr er es auch wollte. Er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass ein Junge in Ryannes Wohnung lebte.
„Sie hat noch nie etwas von einem Cousin erzählt. Erst recht nicht von einem, der vorhatte sie zu besuchen. Sie hat mir immer alles erzählt, aber nicht das“, sagte Joah matt. Martin und Steve hörten auf zu lachen. Sie sahen sich an und dann wieder zum niedergeschlagenen Joah, der seinen Kopf auf die Tischplatte legte und seufzte.
„Komm schon. Sie ist nicht der Typ, der sich einfach über Nacht einen Wildfremden als Lover anlacht. Besonders einen ohne Klamotten. Sie wird schon ihre Gründe haben, wenn sie dir nicht die Wahrheit erzählt haben sollte. Mädchen sind so“, versuchte Martin ihn aufzumuntern. Doch im nächsten Moment schnellte Joahs Kopf vom Tisch hoch.
„Was is los, J-?“
„Da! Da ist sie!“ Joah zeigte auf einen Punkt hinter dem Fenster. Die beiden anderen folgten seinem Finger und konnten sehen, wie Ryanne gerade ein Geschäft verließ. „Unterwäsche war das Einzige, wonach sie mich nicht gefragt hatte.“
„Ist das nicht irgendwie klar? Alter! Ich würde auch nicht deine getragenen Boxer anziehen wollen“, erwiderte Steve skeptisch.
„Außerdem, wer sagt denn, dass sie sich nicht selbst Unterwäsche gekauft hat“, warf Martin dazwischen. Auf Steves Gesicht breite sich ein Grinsen aus, als er scheinbar zur Decke blickte. Martin gab ihm eine weitere Kopfnuss. „Hör auf, dir das vorzustellen, Steve!“, schimpfte er. Dieser rieb sich den Kopf und warf seinem Kumpel einen weiteren bösen Blick zu.
Joah jedoch wirkte nur noch skeptischer. Wer war wohl dieser Kerl, den seine beste Freundin da mit Klamotten versorgte? Irgendwie machte ihn das nur noch nervöser. So nervös, dass er aufsprang, seine Sachen griff und zur Tür hastete.
„Sorry, Jungs! Wir sehen uns nachher!“, rief er, bevor er das Lokal verließ. Steve und Martin sahen ihm nur verdutzt nach.
„Lass uns auch gehen. Wir müssen bis zum nächsten Seminar noch ein paar Texte lesen“, sagte Martin und stand auf.
„ARGH! Ich hatte das gerade verdrängt!“, erwiderte Steve genervt und warf Geld auf das kleine Tablett mit der Rechnung. Dann schwang er sich seine Tasche über die Schulter und trottete schmollend aus dem Café. Martin legte seinen Beitrag dazu und folgte dem Blonden mit einem Schmunzeln.
„Bist heute aber sehr großzügig mit deinem Trinkgeld gewesen, Steve. Hat die Kellnerin es dir etwa angetan?“, fragte Martin, als er den Blonden eingeholt hatte.
„Halt‘ die Klappe!“, brummelte er und wand sein Gesicht von seinem Kumpel ab. „Joah hat einfach seinen Kaffee nicht bezahlt.“
„Jaja. Deswegen stand auch deine Nummer auf der Rechnung“, erwiderte Martin und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Steve sah ihn wütend an.
„Lass das! Die Kellnerin hat damit überhaupt nix zu tun!“, schimpfte er und schubste Martin von sie weg. Martins Lachen wurde lauter und Steves Gesicht wurde immer röter. Doch als sie um eine Ecke bogen, stießen beide mit jemanden zusammen. Steve hielt sich an der Hausecke fest, Martin konnte sich gerade so auf den Beinen halten.
„Wuow! Entschuldige. War keine Absicht“, sagte Martin und rieb sich den Kopf, während er zu dem jungen Mann, mit dem sie zusammengestoßen waren, aufsah. Als er jedoch in die Augen des Größeren blickte, stockte ihm der Atem.
„Ja, sorry, Mann“, fügte Steve hinzu, der sich gerade aufrichtete, aber auch als er in das Gesicht seines Gegenübers sah und zwei Narben über der linken Wange erblickte, erstarrte er.
„Ihr Zwei scheint ja sehr viel Spaß in der Menschenwelt zu haben“, sagte der große Schwarzhaarige und verschränkte die Arme. Sein Blick war kälter als Eis.
„Wa-was macht ihr hier, Herr?!“, fragte Steve stotternd, aber konnte sich aus seiner Starre kaum lösen. Ihm zitterten die Knie und er schluckte bevor er weiter sprach. „Es ist äußerst ungewöhnlich euch hier zu treffen. Warum seid ihr nicht in der Unterwelt?“
„Muss ich mich vor dir rechtfertigen, Niederer?“, knurrte der Größere in einem tiefen bedrohlichen Ton.
„Verzeiht, Herr. Manchmal kann er nicht einschätzen, wie man sich zu verhalten hat“, fuhr Martin dazwischen und stellte sich vor Steve, der sichtlich geschockt wirkte. „Was führt euch denn in die Welt der Menschen, Herr? Wenn mir die Frage erlaubt ist.“
Einen Moment sah der Schwarzhaarige die beiden mickrigen Gestalten vor ihm mit einem schneidenden Blick an, dann entspannte er sich aber wieder.
„Ich bin hier, um mit euch über meinen Bruder zu sprechen“, begann er. Seine Stimme wirkte nicht mehr halb so kalt wie zuvor. Eher ernst. Sogar ein wenig belustigt. „Wie stellt er sich denn an?“ Er zog eine Augenbraue hoch und wartete auf die richtigen Antworten. Martin richtete sich gerade auf. Steve hinter ihm wirkte nun auch weniger eingeschüchtert als im vorherigen Moment.
„Herr, ihr wisst, dass euer Bruder euch nicht kennt?“, fragte Martin vorsichtig. Der Schwarzhaarige lachte auf.
„Natürlich! Ich wollte nur Fragen, was mein kleiner Bruder denn so anstellt. Ich weiß, dass ihr mit seiner Aufsicht betraut seid. Meine Mutter hat mir alles erzählt. Aber weiß liebes Brüderchen denn schon von seinem Glück? Von seiner Verlobten?“
„Nein, Herr. Er ist sich über seine Existenz nicht bewusst. Er lebt wie ein normaler Student“, antwortete Steve. Das Grinsen, das sich auf das Gesicht des Schwarzhaarigen geschlichen hatte, wurde nur umso breiter, als er die Worte hörte.
„Und sie?“
„Ebenso, Herr.“
„Ausgezeichnet. Dann werde ich noch eine Menge Spaß haben“, murmelte er und lachte tief, während Steve und Martin sich ansahen. „Und was für ein Spaß!“

Rya bog um die Ecke zu ihrem Haus. Im Sommer stand die Haustür für gewöhnlich offen und als sie auf den Fußweg vor dieser einbog, erblickte sie den Sohn des Hausverwalters, der anscheinend den Rasen vorm Haus mähen wollte.
„Hallo“, grüßte sie fröhlich.
Der junge Mann stoppte in der Bewegung den Rasenmäher anzuwerfen und drehte sich um. Dann grinste er sie an und nahm seine Kappe ab.
„Hallo, Rya! Wie geht’s? Warst du einkaufen?“, fragte er und deutete auf die Tüten in ihrer Hand.
„Jap! Hab einen erfolgreichen Fang gemacht. Naja… wenn man es so nennen kann“, antwortete sie und schwang mit der Tüten herum. Dann grinste sie ihn aber breit an „Und du musst den Rasen mähen? Viel Spaß!“
„Denn werd ich bestimmt haben. Es gibt doch nichts besseres, als an einem schönen Sommertag den Rasen zu mähen“, erwiderte er.
„Pass auf, sonst übernimmt sich dein Sarkasmus noch!“ Rya kicherte nur kurz und betrat dann das Haus. Als sie die 4. Etage erreicht hatte, wühlte sie nach dem Schlüssel in ihrer Tasche. Als sie ihn nicht finden konnte, stöhnte sie genervt auf.
„Ich sollte mir wirklich sowas wie eine Schlüsseltasche anschaffen oder einen Magneten, der nur meine Schlüssel anzieht“, grummelte sie und durchwühlte weiter in ihrer Tasche.
„Wenn du weißt, dass jemand in deiner Wohnung ist, bräuchtest du auch einfach nur klingeln“, sagte eine Stimme direkt vor ihr. Rya sah auf und Aiden erwiderte ihren Blick eher gelangweilt. Er zog eine Augenbraue hoch, machte ihr Platz und bedeutete ihr mit einer Hand die Wohnung zu betreten. Rya ließ ihre Arme aus der Suchhaltung sinken und lief an ihm vorbei. Rya warf ihm über die Schulter einen gereizten Blick zu. Dann warf sie ihm eine Tüte entgegen.
„Da hast du Unterwäsche!“, sagte sie nur schnippisch und wollte in ihr Zimmer gehen. Aiden öffnete mit regloser Miene die Tüte. Doch dann zog er eine Augenbraue hoch, als er nach etwas darin fischte.
„Ich weiß nicht so wirklich, ob mir diese Art von Unterwäsche steht.“ Rya zuckte zusammen und drehte sich dann verstohlen um. „Außerdem ist violett nicht unbedingt meine Farbe“, sagte Aiden und hielt einen mit schwarzer Spitze verzierten BH hoch.
Rya stürmte auf ihn zu und riss ihm den BH und die Tüte mit einem tödlichen Blick aus der Hand und schleuderte ihm die andere, die sie noch in der Hand hielt entgegen.
„Der ist auch nicht für dich!“ Ryas Gesicht platzte fast vor Röte, aber sie wand sich ab und lief in ihr Zimmer. Dieser Typ geht mir sowas von auf die Nerven! Langsam halt ich es echt nicht mehr aus!, dachte sie. „Warum muss ausgerechnet mir so ein Typ durchs Fenster fliegen! Was habe ich nur schlimmes getan?!“
„Ich weiß nicht genau, ob das unter die Rubrik fällt ‚Kleine Sünden-‘“
„Halt‘ die Klappe!“, fuhr sie zwischen Aidens Bemerkung. „Nach deiner Meinung hat keiner gefragt!“
Rya lief zu ihrem Schrank und warf in eine der unteren Schubladen die Tüte. Dann trat sie in ihrer Rage mit ihrem Fuß die Schublade zu. Wie ein schwerer Sack warf sie sich auf ihre Couch und griff nach einer Zeitschrift, die auf einem kleinen Tisch neben dieser lag. Aiden lehnte sich gegen den Türrahmen.
„Und? Wie lange willst du heute wieder rumzicken?“, fragte er.
„Du bist gar nicht da. Woher kam nur diese Stimme? Vielleicht sollte ich mal zum Psychiater. In letzter Zeit höre ich wirklich viel zu oft diese nervige Stimme“, erwiderte sie bissig und blätterte in der Zeitschrift. Aiden seufzte nur auf.
„Wenn du mich ignorierst, wird das auch nichts ändern.“
„Lass mich einfach in Ruhe, ja! Ich hab jetzt keine Lust mich wegen dir aufzuregen!“ Damit drehte Rya ihm den Rücken zu und blätterte zur nächsten Seite.
Aiden fuhr sich durchs Haar und schaute in die Tüte in seiner Hand.
„Sowas kindisches“, flüsterte er. „Danke.“ Dann verschwand er in Richtung Bad. Auf Ryas Wangen leuchtete ein leichter roter Schimmer auf.
„Bitte schön“, sagte sie leise. Sie konnte ein Kichern hören und dann wie sich die Badezimmertür schloss.
Plötzlich klingelte es. Rya sah verwundert über ihre Schulter. Sie warf die Zeitschrift auf den Couchtisch und rollte sich elegant von der Couch. Sie lief mit leisen Schritten zur Tür und sah durch den Spion. Eigentlich erwartete sie keinen Besuch. Wer sollte sie auch besuchen? Und einladen würde sie niemanden, solange Aiden bei ihr hauste. Überrascht zuckte sie zurück und öffnete die Tür.
„Joah. Was machst du denn hier?“, fragte Rya verwirrt und sah ihn schief an. Der Junge ihr gegenüber grinste sie an.
„Ich wollte nur mal vorbeischauen, da du dich in den letzten Tagen ganz schön isoliert hast. Und ich wollte deinen Cousin kennenlernen. Hab auch Kuchen mit“, erwiderte er freudestrahlend und hielt eine Pappschachtel von einer Konditorei hoch.
Rya sah ihn immer noch verdutzt an, aber ließ ihn dann in die Wohnung. Eigentlich wusste sie nicht genau, warum. Schließlich war es keine gute Idee, wenn jemand von Aiden erfuhr. Aber ihr Kopf sagte ihr, dass sie Joah eigentlich noch nie irgendetwas vorenthalten hatte, seitdem sie sich kannten. Und das war schon eine ganz schön lange Zeit.
„Hältst du mal kurz?“, fragte Joah und drückte ihr die Pappschachtel in die Hand, damit er seine Schuhe ausziehen konnte.
„Klar“, antwortete Rya nur knapp und nahm die Schachtel. „Möchtest….du einen Kaffee?“
„Ein Cappuccino wäre mir lieber“, sagte er, streifte seine Schuhe von seinen Füßen und richtete sich mit einem Grinsen wieder auf. Rya verschränkte die Arme und setzte selbst ein schelmisches Grinsen auf.
„Man könnte fast meinen, du wärst nur ein halber Mann, wenn du ständig Cappuccino trinkst“, sagte sie stichig.
„Zum Glück hab ich ja gerade vorher nen Kaffee getrunken, da ich ja weiß, dass du keinen Kaffee hast“, erwiderte er in demselben Ton und beide mussten lachen, als sich die Badezimmertür öffnete. Aiden trat heraus, nur mit einer Boxer bekleidet, an der herum zupfte.
„Das soll mir also stehen? Du hast einen interessanter Geschmack“, sagte er skeptisch und blickte dann von der Unterhose zu ihr auf. Seine Augen weiteten sich, als er Joah erblickte. Dieser sah nicht minder entsetzt zurück. Ihm klappte der Mund auf. Rya war geschockt und sah von Aiden zu Joah und zurück. Aiden jedoch entspannte sich wieder, nachdem er den fremden Jungen erblickt hatte, verschränkte die Arme und nahm eine lockere Haltung an. Joah war wie versteinert. Da stand ein halbnackter Mann in der Wohnung seiner besten Freundin. Seiner besten Freundin, in die er schon seit Jahren verliebt war.
„Ähm, Joah?“ Rya wusste nicht recht, ob er sie hörte. Zögerlich hob sie ihre Hand, wollte ihn am Arm berühren, zog sie wieder zurück, versuchte es nochmal. „Also… Ich kann das… erklären…“, versuchte sie, aber Joah machte keine Regung.
„Wer? Wer bist du?“, fragte er und deutete mit seinen Finger auf den jungen Mann am anderen Ende des Flurs, der vor der geöffneten Badezimmertür stand. Joah sah Aiden mit einem Blick gemischt aus Ungläubigkeit, Ernsthaftigkeit und Wut an. Er konnte selbst kein genaues Gefühl zu ordnen.
„Bist du etwa ihr Cousin?!“ Joahs Stimme klang leicht hysterisch. Er konnte es einfach nicht fassen. Selbst wenn sie verwandt waren, musste er doch wohl nicht halbnackt vor ihr auftauchen und schon gar nicht fragen, ob ihm die Unterhose stand.
„Joah. Bleib bitte ruhig“, versuchte Rya ihn zu besänftigen. Sie kannte ihn, wenn er Wutanfälle bekam. „Ich werd dir alles erklären, okay?“
„Warum rennt er hier halbnackt rum?!“
„Was geht dich das an? Ich wollte lediglich ihre Meinung hören. Das ist alles“, sagte Aiden in einem ruhigen Ton und sah dann Rya fragend an. „Und?“
„Ja, toll“, erwiderte sie matt, sah aber gar nicht wirklich hin. „Ähm, Aiden. Das ist Joah. Ich bring ihn wohl besser erstmal ins Zimmer.“ Rya schob Joah zu ihrer Zimmertür, während Joahs Blick immer finsterer wurde. „Und du, zieh dir endlich was an!“ Mit diesem Satz schubste sie den sich wehrenden Joah in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Aiden zuckte nur mit den Schultern und verschwand wieder im Bad.
Joah stand still mitten in Ryas Zimmer. Immer noch geschockt. Er ballte die Fäuste zusammen.
„Joah?“, fragte Rya vorsichtig.
„Und das soll dein Cousin sein? Ihr scheint ja eine ziemlich innige Beziehung zu haben, wenn ihr so… so…“ Joah war außer sich vor Wut. Sein Herz raste vor Zorn, als würde es gleich zerplatzen. Und dann sah dieser Typ auch noch viel besser aus als er. Mit seinen Muskeln und Sixpack und…, er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.
„Beruhig dich erstmal, Joah“, sagte Rya.
„Wie soll ich mich denn da bitte beruhigen, wenn so ein Typ bei dir wohnt!“, fuhr er sie an, als er sich zu ihr gedreht hatte.
„Krieg dich ein! Es ist ja wohl meine Sache, wer bei mir wohnt!“, fauchte sie zurück. So langsam ging ihr Joah auf den Keks. Warum machte er sie nur dermaßen an? Sie hatte ja nicht mal die Chance sich irgendwie zu verteidigen.
„Und wer ist der Typ jetzt? Es ist ja wohl offensichtlich, dass er nicht mit dir verwandt sein kann! Wo hast du den aufgegabelt?!“
„Ich hab gesagt, du sollst dich einkriegen. Na und?! Dann wohnt Aiden eben bei mir! Was ist dein Problem?! Es ist ja nicht so, als ob du zu bestimmen hast, ob ein Mann bei mir wohnt oder nicht!“ Rya war nun richtig in Fahrt gekommen. Ihr Gesicht war rot und ihre Augen funkelten ihren besten Freund an. Tickt der noch ganz richtig?!, wütete sie in Gedanken.
Joah dagegen hatte bei ihrem letzten Satz den Mund zugeklappt. Darauf konnte er nichts erwidern, denn es stand ihm ja wirklich nicht zu, darüber zu entscheiden, wer bei ihr wohnte und was für eine Beziehung sie teilten. Seine Fäuste verkrampften sich nur noch mehr und er fühlte sich wie ein ausgekotzter Hundekuchen. Er wusste gar nicht mehr, was er denken sollte. In seiner Brust kreisten Wut und Enttäuschung und Verlangen zugleich. Wie in einem großen Strudel, der alles einsog.
Rya sah ihren Freund, wie er anscheinend mit sich selbst kämpfte. Sie beruhigte sich und sah verlegen zur Seite.
„Tut mir Leid. Ich hätte dich nicht so anschreien sollen“, sagte sie kleinlaut und fuhr mit ihrer Hand über ihren Arm. Joah schüttelte den Kopf. Er löste seine verkrampfte Haltung.
„Nein. Ich muss mich entschuldigen. Mein Ausraster… Ich hätte nicht… Sorry“, murmelte er vor sich hin und konnte Rya nicht direkt ansehen. Sein Gesicht rötete sich vor Scham.
„Bekomm ich dann auch noch eine Entschuldigung?“, ertönte Aidens Stimme von der Tür hinter den beiden. Rya und Joah drehten sich um und sahen den in der Tür lehnenden Aiden. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass er die Tür geöffnet hatte. Joah sah ihn allerdings finster an.
„Vielleicht, wenn du mir sagst, wer du bist und was du von Ryanne willst!“
„Joah!“, fuhr Rya dazwischen und stellte sich direkt vor ihn, um ihm zurückzuhalten. Joahs Fäuste spannten sich wieder an.
„Spuks endlich aus!“
„Ganz ruhig! Ich bin nur ein Freund, der überraschend reingeschneit ist. Das ist alles“, erwiderte Aiden mit einer wedelnden Hand. Rya sah ihn einen Moment an, begriff aber sofort.
„Und warum brauchst du dann Klamotten? Bist du etwa zu Hause rausgeflogen?!“
Joah funkelte ihn an. Rya versuchte ihn zu beruhigen. Aiden sah ihn einen Moment forschend an.
„Ja. Könnte man so sagen. Und du? Bist du etwa ihr Freund?“
„WAS?!“, fragten Rya und Joah wie aus einem Mund. Beide wurden rot. Joah hatte seine Wut vollkommen vergessen.
„Wie kommst du darauf?! Natürlich nicht! Er ist nur mein bester Freund“, erwiderte Rya hastig. Sie schob Joah von sich, um die Situation noch deutlicher zu machen. Irgendwie wollte sie nicht, dass Aiden so über die beiden dachte. Joah jedoch versetzte das „nur“ einen tiefen Stich ins Herz. Er fühlte sich, als hätte man ihn gerade mit eiskaltem Wasser übergossen. Wie ein nasser Hund ließ den Kopf hängen.
„Danke, dass du das so vehement abstreitest, Rya“, nuschelte er. Rya erstarrte. Ihre Augen nahmen einen entsetzten Ausdruck an. Aiden zog eine Augenbraue hoch und sah von Rya zu Joah und zurück. Dann zuckte er die Schultern. Rya wandte sich zu Joah um.
„Tut mir Leid, Joah. So hatte ich das nicht gemeint. Bitte… ich…“ Doch sie wusste nicht, was sie genau sagen sollte. Sie sah wieder zu Aiden, der sich gerade hinstellte und dann wieder zu Joah. „Ich mach… erstmal Cappuccino!“ Und schon verschwand sie in die Küche.
Aiden betrat das Zimmer nun endgültig und trottete zur Couch. Er warf sich in die Kissen und streckte seine Beine unter dem Couchtisch aus.
„Was ist mit dir? Willst du dich nicht auch setzen?“, fragte er Joah, der immer noch wie ein Häufchen Elend dastand. Dieser zuckte nur kurz und lief dann zur zweiten Couch, auf die er sich dann setzte. Oder er fallen ließ. Er seufzte. Aiden zog wieder eine Augenbraue hoch und legte seine Arme über die Lehne.
„Du bist in sie verknallt, oder?“, fragte er eher gleichgültig, als wirklich neugierig. Joah schrak auf und sah ihm verwirrt ins Gesicht. „Also ich bitte dich! Nach der Aktion ist das ja wohl mehr als klar.“
„Tut mir Leid“, erwiderte Joah nur elend. „Auch wegen vorhin.“
Auden winkte ab.
„Kein Ding. War auch ‘ne doofe Aktion. Ich wollte Rya nur ein bisschen ärgern. Hab aber nicht drauf geachtet, dass sie Besuch bekommen hat“, sagte Aiden und streckte seine Zunge raus. Joah sah ihn nur noch verwirrter an.
„Warum tust du sowas? Magst du sie etwa auch?“, fragte er.
„Nein, nein. Es gibt eine Person, die mir wichtig ist“, antwortete Aiden und sah still zur Seite. Joah sah ihn fragend an, konnte sich aber schon fast denken, was es war. Einen Moment war es ruhig.
„Aber ich mag Ryas geschocktes Gesicht, wenn ich sie mit irgendwas überrasche.“ Aiden musste lachen. „Sie sieht dann immer so vollkommen überfordert aus. Sie ist ja eher der Mensch, der alles unter Kontrolle haben will, deswegen ist es umso amüsanter.“ Aiden kicherte in sich hinein.
„Ach, ist das so?“, fragte Rya gereizt. Sie war inzwischen aus der Küche zurückgekehrt mit einem Tablett mit drei Tassen. Joah jedoch sah geschockt aus. Wie viel hatte sie wohl mitbekommen? Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und verteilte die Tassen
„Schön, wenn ich dich so belustigen kann. Ich kann diesen Spaß zwar nicht ganz nachvollziehen, aber bitte.“
„Wenn du so bissig bist, bist du fast noch süßer“, sagte Aiden mit einem Grinsen. Rya überraschte das, denn für gewöhnlich grinste Aiden eher selten. Sie wurde rot und zuckte zusammen bei seinem Satz. Dann lachte er laut auf.
„Genau das meinte ich. Echt zum tot schießen!“ Aiden hielt sich schon den Bauch und rollte sich halb auf der Couch rum. Ryas fühlte sich verarscht und das sah man ihrem Gesicht auch an. Sie wurde nur noch röter und verkrallte ihre Finger im Tablett.
„Halt einfach die Klappe, Aiden!“, fuhr sie ihn an und schlug mit dem Tablett wütend auf ihn ein. Joah beobachtete die Szenerie und fühlte sich etwas fehl am Platz. Sie wirken eher wie ein Paar auf mich, dacht er und wurde noch betrübter. Er griff nach seiner Tasse und nippte daran.
„Und woher kennt ihr euch?“, fragte er schließlich, nachdem er den ersten Schluck herunter geschluckt hatte. Rya hörte auf Aiden zu schlagen und dieser hörte auf zu lachen.
„Eh?“, sagte Rya. „Also…“
„Das war bevor sie mit 10 umgezogen ist“, sagte Aiden ganz gelassen und griff nach seiner Tasse. Rya sah ihn überrascht an. Genau wie Joah. Woher weiß er, dass ich mit 10 umgezogen bin?, fragte Rya sich. Hatte ich das erwähnt? Sie grübelte weiter darüber nach, während Aiden seinen Cappuccino trank.
„Dann wart ihr also befreundet, bevor wir uns kennen gelernt haben, Rya?“, fragte Joah nun die Brünette. Diese schrak aus ihren Gedanken auf.
„Ah, ja! Genau“, erwiderte sie und grinste ihn an. „Wir sind Sandkastenfreunde.“
Joah sah sie skeptisch an.
„Und warum hast du ihn dann nie erwähnt? Ihr scheint ja ziemlich eng befreundet zu sein. Wieso habe ich dann nie von einem Aiden gehört?“, fragte er und sah sie forschend an. Rya wurde sichtlich nervöser. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Fragen beantworten sollte, schließlich hatten sich sowohl sie als auch Aiden spontan aus den Fingern gesogen.
„Sie war sauer auf mich. Da hat sie mich bestimmt einfach ganz schnell vergessen“, sagte Aiden und stellte seine Tasse ab. „Ich hab nämlich ihr Lieblingsbuch kaputt gerissen. Danach hat sie nie wieder ein Wort mit mir geredet und wahrscheinlich auch nicht über mich verloren.“ Rya konnte ganz klar einen Stich spüren. Sie sah zu Aiden und sein Blick sagte eindeutig: ‚Du bist echt unfähig, dir was eigenes auszudenken.‘
„jaa…. So war das…“, sagte Rya. Ihre Stimme klang aber nicht zustimmend, sondern genervt. Joah sah von einem zum anderen. irgendwie hatte er das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmte.
„Und wie bist du dann auf sie gestoßen? Ich meine, ihr habt euch jetzt 10 Jahre nicht mehr gesehen und trotzdem nistest du dich ausgerechnet bei Rya ein, wenn man dich zu Hause rauswirft?“, fragte er Aiden. Sein Blick wurde mit jedem Wort skeptischer. Aiden jedoch grinste.
„Jap. Meine Eltern würden nie drauf kommen, mich hier zu suchen“, erwiderte er und schlürfte seine Tasse leer.
„Sieht wohl ganz so aus“, fügte Rya genervt hinzu. Man konnte regelrecht die Blutader an ihrer Schläfe pulsieren sehen.
„Ach ja. Die Klamotten sind von dir, oder, Joah? Danke dafür“, grinste Aiden ihn an. Joah winkte nur ab.
„Ich brauchte sie sowieso nicht mehr“, erwiderte er matt. Joah stellte sein leere Tasse ab und erhob sich. „Ich sollte jetzt besser gehen. Ich muss noch was für die Uni erledigen.“
Rya erhob sich ebenfalls und ging mit ihm zur Tür. Aiden trottete beiden hinterher.
„Wir seh’n uns dann in der Uni, Rya“, sagte Joah zum Abschied und umarmte seine Freundin. Diese wirkte überrascht, doch so konnte sie nicht sehen wie Joah Aiden finster anfunkelte. Dann löste er sich von ihr und hielt Aiden die Hand hin. Dieser zog skeptisch eine Augenbraue hoch, aber reichte ihm dennoch die Hand. Beide drückten wohl fester zu, als es hätte sein müssen und dann verschwand Joah hinter der Tür.
„Puh! Tut mir Leid. Normalerweise ist Joah ein ganz lustiger Typ“, sagte Rya und lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Sie seufzte. Aiden sah allerdings auf seine Hand.
„Das glaub ich dir gern, aber ich glaube, er hat schon von Grund auf eine Abneigung gegen mich“, sagte er tonlos und hob seine Hand. Die war glühendrot und kleine Bläschen bildeten sich vereinzelt auf der Haut. Rya sah verwirrt von der erhobenen Hand zu Aidens Gesicht. „Wie es aussieht, fließt Dämonenblut in seinen Adern.“

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Ungeahnte Wahrheiten



„Das ist sowas von schwachsinnig! Wie kann er nur so etwas behaupten? Als ob Joah von einem Dämonen abstammen würde! Ausgerechnet Joah! Das Gute in Person!“, murmelte Rya vor sich her, während sie die Tassen abwusch. „Das macht alles gar keinen Sinn. Es ist einfach unmöglich. Nur weil er sich da ein bisschen an der Hand verbrannt hat, muss Joah gleich dämonisches Blut haben. So ein Quark!“
Wütend schmiss sie den Lappen in die Spüle, nachdem sie das Wasser abgelassen hatte. Danach ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen und verschränkte die Arme.
„Das kann einfach nicht angehen! Dieser Aiden spinnt doch!“, schimpfte sie. „Der hat auch schon behauptet, dass ich eine Dämonin wäre. Ich würde sagen, der hat echt Paranoia! Was machen die da oben eigentlich?!“
Rya sah wütend zur Decke. Wenn es eines gab, was sie am wenigsten ausstehen konnte, dann war es, wenn man ihre Freunde schlecht redete. Und besonders Joah. Ihren besten Freund. Sie kannte ihn nun schon so lange. Und Dämon waren furchtbare, sündige Wesen, wenn sie dem glauben konnte. Also war es einfach unmöglich, dass Joah einer war. Nie hat er irgendetwas getan, was auch nur in entferntester Weise darauf hingewiesen hatte.
Rya stieß geräuschvoll Luft aus ihren Mund. Dann drehte sie sich um und öffnete den Kühlschrank. Sie suchte einen Moment, aber fand die Schokolade, die sie jetzt so dringend brauchte. Ansonsten würde sie sich nicht mehr so schnell beruhigen.
Als sie die Kühlschranktür schloss und erblickte sie Aiden im Rahmen der Küchentür. Sie hatte das Gefühl, dass er ihre Wut sehr gut spüren konnte, die ihrem Blick entwich. Sie riss die Verpackung der Schokolade auf und biss hinein. Dann verschränkte sie die Arme und sah ihn vorwurfsvoll an.
„Was?“, sagte sie knapp und kaute weiter. Aiden lehnte sich an das Holz des Rahmens und sah sie durchdringend an. Aber Rya blieb standhaft. Heute hatte er sie wirklich genug beleidigt und bloßgestellt. Er sollte merken, dass Alles seine Grenzen hatte.
„Wie lange willst du noch böse auf mich sein?“, fragte er. Rya zog eine Augenbraue hoch.
„Ich weiß nicht mal, ob ich damit aufhören würde, wenn du dich entschuldigst“,
erwiderte sie schroff.
Sie und Aiden sahen sich in die Augen. Einen Moment wirkte es so, dass keiner von beiden nachgab, aber schließlich wand Aiden seinen Blick ab.
„Tut mir leid“, murmelte er und ging zurück in Ryas Zimmer. Diese stand perplex da. Klar, hatte sie sich das auch denken können und eigentlich hatte sie es auch erwartet. Aber dass er es wirklich getan hatte, überraschte sie trotzdem. Obwohl sie es auch nicht anders erwartet hatte von einem Engel.
Sie biss abermals ein Stück Schokolade ab und trat in den Flur. Zuerst wollte sie durch die Tür in ihre Zimmer gehen, aber dann drehte sie sich der Tür zu, die direkt gegenüber der Küche lag. Einen Moment sah sie diese überlegend an, dann drückte sie die Klinke hinunter und trat in den stickigen Raum.
Der Raum stand voller Kisten. Diese vergruben Möbel, die von weißen Leinentüchern bedeckt waren. Die Jalousie hatte Rya geschlossen, als sie hier eingezogen war, aber ein leichter Lichtschimmer schien durch den schmalen Spalt, der die Jalousie und das Fensterbrett trennte. Rya steckte die Schokolade in ihre hintere Hosentasche. Hoffentlich vergess ich die nachher nicht, dachte sie und stürzte sich in das Kissenmeer. Als sie beim Fenster angelangt war, zog sie die Jalousie hoch und öffnete es. Eine dicke Wolke stob auf und der Staub erstickte sie fast. Schnell steckte Rya ihren Kopf aus dem Fenster, um wieder Luft zu bekommen. Als der Reiz in ihrem Hals nachgelassen hatte, atmete sie nochmal tief durch.
„Was machst du da?“, fragte Aiden. Rya zuckte und sah dann nach links. Dort erblickte sie den Jungen, wie er auf dem kleinen Balkon saß und die Füße in ihre Richtung baumeln ließ.
Er sah sie fragend an.
„Ich will das Zimmer aufräumen“, erwiderte sie und machte eine gereizte Grimasse.
„Und wofür?“, hakte Aiden nach.
„Eigentlich interessiert dich das doch gar nicht wirklich, oder?“, fragte sie und sah ihn wissend an.
Er dachte einen Moment nach.
„Eigentlich nicht, aber ich würde es trotzdem gerne wissen“, antwortete er ehrlich. Rya seufzte.
„Das war zu meinem Einzug das Zimmer, in dem meine Freunde geschlafen haben. Also ein Gästezimmer“, erklärte sie ihm. „Ich wollte es sauber machen, damit du hier drin schlafen kannst. Ich hab nämlich keine Lust dich jede Nacht auf meiner Couch schlafen zu lassen.“
Aiden sah sie überrascht an. Dann stand er auf.
„Ich helfe dir“, sagte er knapp und ging durch die Glastür nach innen.
Wie es aussieht, kann er doch ganz nett sein, dachte Rya und musste schmunzeln.

Nach zwei Stunden waren sämtliches Kisten aus- und umgeräumt oder ganz entsorgt worden. Rya holte gerade die Bettwäsche aus dem Trockner, die sie für das Bett, das nun Aiden gehören sollte, bestimmt war. Als sie das Zimmer betrat, saß Aiden auf einem Stuhl am Fenster. Das Zimmer war nur spärlich eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Kommode. Aber Aiden brauchte auch nicht mehr. Er hatte darauf bestanden, dass es genüge.
Als Rya nach Deck griff, um sie zu beziehen, nahm Aiden sie ihr aus der Hand.
„Warte. Ich mach das schon“, sagte er nüchtern und begann den Bezug aufzuziehen. Er stellte sich nicht mal dumm an, was Rya verwundert, aber als sie daran dachte, dass er natürlich mal ein Mensch war, dann musste er das ja können. Sie griff nach dem Kissen und bezog dieses. Aiden hielt zwar einen Moment inne, aber hielt sie nicht auf.
„Hier“, sagte sie, als sie fertig war und Aiden gerade die Decke ordentlich auf das Bett legte. Er griff nach dem Kissen und warf es ans Kopfende, das direkt unter dem offenen Fenster lag.
„So. Dann hast du dein eigenes Schlafgemach ab heute“, grinste Rya ihn an. Dann kriecht er vielleicht nicht mehr in mein Bett, dachte sie und verzog das Gesicht.
Aiden musterte sie nur überrascht, aber verlor kein Wort darüber.
„Danke.“ Das war alles, was er sagte.
Dann verließ Rya das Zimmer und streckte sich einmal kräftig. Sie seufzte und sah dann auf die Uhr. Es war schon fortgeschrittener Nachmittag. Dann erinnerte sich Rya an das Gespräch, dass sie mit Joah geführt hatten. Sie drehte sich um. Aiden stand direkt vor ihr.
„Sag mal. Woher weißt du, dass ich mit 10 umgezogen bin?“, fragte Rya und sah neugierig zu Aiden auf. Dieser blickte einen Moment nach rechts.
„Wenn ich dich berühre“, begann er. „Kann ich auch deine Erinnerungen lesen, wenn ich es will.“
Rya sah den Jungen entsetzt an.
„WAS?!“, schrie sie auf. „Wie bitte?“ Ihr Gesicht wurde dunkelrot, vom Ansatz bis zum Hals. Dann holte sie aus und wollte ihn schlagen, aber bevor ihre Haut seine berührte hielt sie inne.
„Was… was weißt du noch?“, fragte sie nervös und schaute weg.
Aiden reagierte nicht. Als sie ihn ansah, befand sich auf seinem Gesicht ein trauriger Ausdruck.
„Dein Vater…“, antwortete er matt. „Mehr weiß ich nicht.“
Rya war schockiert. Von ihr aus hätte er alles wissen können, nur nicht das. Nur nichts über ihren verdammten Vater!
„Es ist… aber nur beim ersten Mal passiert, als ich dich berührte. Es war keine Absicht“, fügte Aiden hinzu. Rya schüttelte den Kopf.
„Schon gut. Aber bitte schneide dieses Thema nie wieder an“, murmelte sie und ging in ihr Zimmer. Aiden sah ihr überrascht nach.
Als auch er das Zimmer betrat, saß Rya auf dem Balkon und beobachtete den Himmel. Die Wolken schlichen über das langsam verfärbende Blau. Aiden setzte sich neben sie und sah auch auf.
„Wie ist es da oben?“, fragte Rya. Aber sie sah ihn nicht an. Ihre Stimme klang gedämpft.
Aiden betrachtete sie einen Moment, dann seufzte er.
„Ich denke nicht so schön, wie man es sich vorstellt. Es ist relativ trist. Alles voller weißer Gebäude. Es gibt einige kleine Gärten und Parks. Aber man darf sie erst ab einem bestimmten Rang betreten“, antwortete er ruhig.
Rya beobachtete nun ihn. Sein Blick war fest, aber auch ein klein wenig Trauer spiegelte sich darin wieder.
„Und den heiligen Garten“, fügte er hinzu und sah sie an. Einen Moment blickten sich beide nur in die Augen. Braun in Blau und Blau in Braun. Dann wand er sich ab. „Aber den dürftest du kennen.“
„Ist dieser Garten das Paradies?“, fragte Rya leise.
Aiden nickte vorsichtig.
„Ich würde es aber nicht als solches bezeichnen“, gestand er. „Es ist nicht so, dass die Menschen nach ihren Tod voll Freude darin herum laufen.“
Rya musste schmunzeln.
„Das wäre ja auch zu viel des Guten gewesen“, lächelte sie. Aber es verschwand gleich.
„Was passiert dann mit den Seelen der Menschen?“, fragte sie und sah wieder Aiden an.
Dieser schwieg einen Moment.
„Manche werden zu Engeln erhoben. Jene, die besonders rechtschaffend waren oder Kinder, die man noch erziehen kann“, begann er, aber wurde wieder stumm.
„Und die anderen?“
„Diese… wandern in die Heiligen Gefilde. Dort werden sie der Reihenfolge nach wiedergeboren.“
Rya sah ihn überrascht an.
„Also gibt es Wiedergeburt wirklich?“
„Eine menschliche Seele bleibt nie lange im Himmel. Wenn sie nur kleinere Sünden begangen hat und wird sie von diesen reingewaschen, indem sie durch einen Wasserschleier tritt. Sobald sie auf der anderen Seite ist, wird sie wieder geboren.“
„Das heißt… wenn jemand stirbt, wird er nur wenige Minuten irgendwo anders wiedergeboren?“, fragte Rya und unterstrich ihre Aussage mit einer bogenähnlichen Bewegung ihrer Hand.
Aiden schüttelte den Kopf.
„Die Zeit im Himmel vergeht anders. Langsamer, als du sie hier wahrnimmst“, erwiderte er.
Rya lächelte schwach.
„Irgendwie ist das schade“, sagte sie und Aiden wand sich ihr überrascht zu.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Naja… Es gibt so viele Gläubige, die hoffen ihr Leben im Jenseits in einem wunderbaren Paradies zu verbringen. Manche töten sogar dafür…“, sie hielt inne. „Und dann bleiben sie nur wenige Minuten dort. Sie haben im Prinzip gar nichts davon und müssen sich wieder dem qualvollen und sündigen Leben hingeben.“
Sie sah traurig auf die Straße hinunter.
„Außer sie werden Engel…“
„Ich verstehe, was du meinst“, sagte Aiden einige stille Minuten später. „Aber die, die töten, auch wenn sie an einen Gott glauben, erreichen nie den Himmel.“
Er stand auf.
„Sie gehen in die Unterwelt.“ Aiden streckte sich und schüttelte sich darauf, als würde er dieses Wort schon grundsätzlich verabscheuen. Rya sah weiter auf die Straße und beobachtete ein paar Kinder, die begannen zu spielen.
„Was geschieht mit ihnen? Kommen sie auch irgendwann wieder? Oder verbrennen sie wirklich bei Leibe?“
„Diese Frage kann ich dir nicht ehrlich beantworten.“
Rya sah zu dem Dunkelhaarigen auf.
„Ich war nie da. Mir wurde nur gesagt, dass sie Strafen erhalten. Und wenn sie diese erfüllt haben, werden auch sie reingewaschen und wiedergeboren. Aber ich weiß nicht, ob das wahr ist.“
„Meine… meine Mutter ist früh gestorben. Ich kann mich nicht mehr wirklich an sie erinnern“, sagte Rya. „Ich hatte gehofft, sie hätte jetzt ein schöneres Leben…“
„Vielleicht ist sie ja ein Engel geworden und wacht über dich“, entgegnete Aiden. Rya sah abrupt zu ihm auf.
„Meinst du wirklich?“ Sie sah ihn hoffnungsvoll an. „Kannst du sie sehen?“
Aiden lächelte und sah dann zum Horizont.
Rya sprang auf.
„Oh nein! Wenn das stimmt, dann muss sie unglaublich von mir enttäuscht sein! Ich…“ Aiden unterbrach sie. Sein eiskalter Finger berührte ihre Lippen. Sie zuckte zurück.
„Hast du-?!“
Er schüttelte den Kopf.
„Sag einfach nichts. Deine Mutter liebt dich so, wie du bist.“
Rya stockte. Ihr Hals fühlte sich an, als würde er sich zu schnüren. Dann konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rannen ihr übers Gesicht, ohne, dass sie es wollte. Aiden beobachtete sie. Rya sackte auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen.
„Ich… liebe sie auch…“, nuschelte sie hervor. Mehr konnte sie nicht sagen. Sie schloss die Hände vor ihr Gesicht.
Aiden hockte sich zu ihr hinunter. Rya konnte seine kalten Hände an ihren Armgelenken spüren und zuckte zusammen. Sie sah ihn an. Er wischte mit seinem Daumen die Tränen aus ihrem Gesicht. Raureif bildete sich auf Ryas Haut, aber verschwand kurz darauf. Ihre Wangen glühten.
„Weine nicht“, sagte er leise. „Sonst machst du sie traurig und sie könnte ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Engel dürfen nicht an ihrem alten Leben hängen. Das ist der Preis, den sie zahlen, um Engel zu werden. Deswegen dürfen wir uns nur an eine einzige Sache aus unserem Leben erinnern. Da sie sich wahrscheinlich an dich erinnern wollte, wurde sie dir wohl zugeteilt.“
Ryas Tränen rannen wieder über ihre Wangen, aber dann wischte sie sie mit ihrem Handrücken weg. Sie traute sich nicht wirklich, aber sie wollte es gerne wissen.
„Woran… erinnerst du dich?“
„An meinen Tod.“ Dann verschwand Aiden im Zimmer.

Joah saß über seinen Uniaufgaben, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Wütend warf er sie an die Wand. Der Bleistift kannte seinem Zorn nur knapp standhalten. Deprimiert stand Joah auf und lief in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und schnappte sich eine Dose Bier aus dem Sixpack.
„Es ist äußerst ungewöhnlich für dich um diese Uhrzeit etwas zu trinken“, ertönte eine Stimme neben ihm.
„Na und“, erwiderte er schroff und öffnete die Dose mit einem lauten Klack. „Ich habe nun mal Lust drauf!“ Wütend schmiss er die Kühlschranktür zu.
„Ganz ruhig, Alter! Mart wollte nur wissen, was dir so die Suppe versalzt hat“, versuchte Steve seinen Kumpel zu beruhigen.
„Aiden“, sagte Joah tonlos und setzte sich an den Küchentisch. Martin und Steve setzten sich zu ihm.
„Wer ist Aiden?“, fragte der Blonde.
„Wie es aussieht wohl Ryannes neuer Mitbewohner“, erklärte Martin, um Joah die Antwort abzunehmen. Dieser schlürfte das Bier aus der Dose.
„Autsch!“, erwiderte Steve. „Tut mir leid, Mann.“
„Sie behauptet, er wäre ein alter Bekannter. Ein Sandkastenfreund, der von zu Hause abgehauen ist“, brummte Joah und sah aus dem Fenster. Martin warf Steve einen vernichtenden Blick zu, als dieser ansetzte etwas zu sagen.
„Und du glaubst das nicht.“ Eine Feststellung, keine Frage.
„Sie hat ihn nie erwähnt. Nie! Und er meinte, man hätte ihn rausgeworfen, aber es sieht mir mehr danach aus, als hätte er zu große Sehnsucht nach ihr gehabt.“ Joah drückte auf die Dose ein, doch sie hielt noch stand. Wieder trank er daraus. „Wie er sie angemacht hat! Direkt vor mir!“, fauchte Joah. Diese Dose knackte bedrohlich.
„Bist du sicher, dass du das noch trinken willst?“, versuchte Steve die halbvolle Dose vor ihrem schmerzlichen Tod zu bewahren. Joah funkelte ihn finster an und leerte die Dose in einem Zug. Dann zerdrückte er sie geräuschvoll, direkt vor dem Gesicht des Blonden.
„Glaub mir. Das würde ich nur zu gern auch mit ihm machen.“ Joah warf die Dose auf den Tisch und verschwand aus der Küche. Als Martin und Steve die Tür knallen hörten, wussten sie, dass er sich nicht so schnell wieder beruhigen würde.
„Das gefällt mir gar nicht, Mart! Das ist echt nicht gut“, begann Steve hektisch. „Wenn Jin davon Wind bekommt,…“ Den Rest wollte er gar nicht erst aussprechen.
„Ich weiß, was du meinst. Das macht die Sache nur umso komplizierter. Ich denke nicht, dass Jin ein Problem mit diesem Aiden hätte, aber für ihn ist es zu gefährlich…“ Martin dachte intensiv nach.
„Aber wir können doch Joah nicht schon jetzt erzählen, dass… Die Herrin hat uns verboten etwas zu sagen, bevor sie es erlaubt!“ Steve wirkte stark eingeschüchtert.
Martin griff nach der Dose und hielt sie ihm vor die Nase. Natürlich war sie eingedrückt. Aber ihre bedruckte Oberfläche war an den Stellen, an denen das Metall Joahs Hand exakt nachbildete, weggeätzt.
„Ich weiß aber nicht, wie lange seine Kräfte noch in ihm ruhen werden. Wenn er auf diesen Aiden trifft und richtig wütend wird, weiß ich nicht, ob es nicht besser für ihn ist, auf Jin zu treffen“, entgegnete Martin und legte die Dose wieder auf den Tisch.
„Wir haben ein großes Problem.“
„Inwiefern denn, Jungs? Vielleicht kann ich euch helfen“, fragte eine tiefe Stimme. Ein Schatten warf sich über den Tisch und als die beiden Jungen zum Fenster sahen, erblickten sie den Schwarzhaarigen im Rahmen hocken.
„Herr?!“, stieß Steve hervor.
„Hat mein Brüderchen was angestellt?“, fragte er belustigt. Er schien guter Laune zu sein. Dann erblickte er die Bierdose. „Oh! Da war wohl jemand wütend“, witzelte er und lachte auf.
„Bitte, Herr! Joah ist in seinem Zimmer. Er könnte euch hören“, flehte Martin. Der
Schwarzhaarige beendete sein Lachen, aber grinste breit.
„Als ob mich das interessieren würde. Aber Mutter wäre davon nicht angetan“, sprach er eher zu sich selbst, als zu Steve und Martin. „Hat mein Brüderchen denn irgendwas über seine Verlobte erwähnt?“
Er sah die beiden Jungen ernst an. Steve schluckte und sah zu Martin. Genau das wollte er eigentlich vermeiden.
„Nein. Nichts Besonderes“, antwortete er mit sicherer Stimme. Der Schwarzhaarige zog eine Augenbraue hoch.
„Und wo lag dann euer Problem?“, fragte er misstrauisch. Er sah die beiden scharf an.
„Der Müllberg“, erwiderte Martin und deutete auf den Müllhaufen, der eine ganze Ecke der Küche füllte. „Joah ist dran, aber wenn er wütend ist, ignoriert er seine Aufgaben immer.“
„Warum ist er wütend?“ Der Schwarzhaarige sah etwas gelassener aus, aber war dennoch neugierig.
„Er kriegt die Matheaufgaben nicht auf die Reihe“, antwortete Martin. „Wir werden ihm wohl helfen müssen, nicht, Steve?“ Er wand sich an den blonden neben ihm.
„Äh…ja! Klar!“, stotterte er hervor. Der Schwarzhaarige musterte ihn genau und Steve zuckte zusammen.
„Sei nicht so nervös. Ich habe nicht vor euch etwas anzutun. Schließlich müsst ihr für mich spitzeln.“ Dann wand er sich wieder an Martin. „Wenn sich irgendetwas in Beziehung meines Bruders und seiner Verlobten tun sollte, informiert mich sofort. Wenn ihr das nicht tut…“
Der Schwarzhaarige hob die Hand. Ein finsterer, kalter Schauer durchfuhr die Jungen und die Luft in ihren Lungen gefror regelrecht. Beide japsten nach Luft, als er die Hand wieder sinken ließ.
„Bis zum nächsten Mal“, verabschiedete er sich und war verschwunden.
Eine Tür öffnete sich und kurze Momente später stand Joah in der Tür.
„Hey, Jungs. Tut mir leid wegen vor-“, begann er, aber stockte. Er erblickte seine zwei schweratmenden Mitbewohner. „Hey! Was ist los mit euch?!“
Er hastete zu ihnen hinüber.
„Ist alles in Ordnung?“
„Klar. Kein Ding“, antwortete Steve gepresst.
„Wir haben nur nen Wettbewerb gemacht, wer am längsten die Luft anhalten kann“,
keuchte Martin hervor.
„Aber immerhin habe ich gewonnen.“ Er grinste den Brünetten an.
„Ihr spinnt doch“, sagte Joah und schüttelte resigniert den Kopf.

„Sag mal, du bist doch jetzt schon seit 10 Jahren mit Joah befreundet, oder?“, fragte Aiden. Er saß gelangweilt auf der Couch und beobachtete Rya beim Lernen. Diese seufzte.
„Ja. Und?“
„Wie ist denn eure Beziehung zu einander?“ Rya wand sich ihm zu. Sie wirkte verwirrt.
„Er ist mein bester Freund. Das weißt du doch“, antwortete sie ihm. „Warum fragst du?“
Aiden sah sie einen Moment stumm an.
„Mir erschien es so, als wäre für ihn das weit mehr, als nur eine Freundschaft“, entgegnete er.
„WAS?!“ Rya sah ihn entsetzt an. „Wie kommst du darauf?!“
„Ist dir das etwa noch nicht aufgefallen?“ Aiden warf ihr einen fragenden Blick zu. „Dabei ist es doch so offensichtlich. Wenn ich an vorhin denke…“
„Nein, nein! Da hast du was falsch verstanden! Joah mag es nur nicht, wenn Personen in meiner Nähe sind, denen er nicht vertraut“, winkte Rya ab.
„Aber ist das nicht ganz schön anmaßend? Will er dann nicht dein Umfeld bestimmen? Für mich wirkt das so, als wolle er keine Konkurrenz haben“, schlussfolgerte Aiden und sah auffordernd zu Rya.
„So ein Quatsch!“, erwiderte sie und ihr Gesicht wurde rot. „Ich kenne Joah schon fast über 10 Jahre. Das wäre mir aufgefallen.“
Aber irgendwo hat er auch recht, dachte Rya. Er scheint wirklich mein Umfeld kontrollieren zu wollen. Und er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Er kann mir meine Wünsche regelrecht von den Augen ablesen. Und damals, als ich…
Rya setzte einen entsetzten Blick auf. Ihr ganzes Gesicht färbte sich rot.
„Oh mein Gott! Du hast recht!“, schrie sie und sah Aiden fassungslos an. „Was mach ich jetzt nur?!“
Rya sprang auf und rannte im ganzen Zimmer rum.
Joah ist mir wichtig, aber so kann ich nicht über ihn denken. Er ist mein bester Freund!
„Uuuuuuh! Wie konnte das nur passieren!“, rief sie und hockte sich auf den Boden. Starr sah sie auf ihre Füße. Sie hatte Angst. Große Angst
Was ist, wenn ich mich jetzt anders verhalte? Ich werde mich anders verhalten! Das ist… furchtbar. Ich werde ihn nie wieder so sehen können, wie vorher!
Aiden kniete sich vor ihr nieder.
„Ist alles in Ordnung? War das so ein großer Schock?“, fragte er. Es klang sogar Besorgnis in seiner Stimme.
Rya sah wütend auf.
„Wie konntest du mir das nur sagen?! Was soll ich denn machen, wenn ich ihn wiedertreffe? Er war derjenige, den ich am meisten vertraut habe. Bei dem ich nicht darüber nachdenken musste, dass er sich in mich verlieben könnte!“, fuhr sie ihn an. Dann sank sie wie ein Haufen Elend zusammen. „Was mach ich nur?“
Aiden war verblüfft. Er hatte nicht erwartet, dass sie darauf so heftig reagieren würde. Menschen scheinen wirklich impulsiv zu sein, dachte er.
„Eigentlich musst du dich doch gar nicht anders benehmen“, sagte er. Rya sah ihn an.
„Ihr seid schließlich Freunde. Und er hat es dir bis jetzt bestimmt nicht gesagt, weil er will, dass du das selbst entscheidest.“
„Wie… wie meinst du das?“
„Ach komm schon, Rya. So dumm bist nicht mal du, dass du es nie mitbekommen würdest. Früher oder später hättest du dich sowieso entscheiden müssen.“ Aiden sah sie skeptisch an. Rya sah wieder zum Boden.
„Du hast wohl recht“, murmelte sie.
„Es kommt nur darauf an, wie du dabei fühlst“, fügte Aiden hinzu. Seine Stimme klang matt. Als Rya aufsah und in seine Augen blickte, wirkten diese ferner als zuvor. Dann wand er seinen Blick ab.
„Aiden?“, fragte sie vorsichtig und wollte ihn berühren, aber er zuckte zurück.
„Lass das lieber. Sonst erfrieren deine Hände noch.“ Dann erhob er sich. „Also? Was wirst du tun?“
Rya sah resigniert zum Boden.
„Ich weiß es noch nicht…“
„Warum verliebst du dich nicht auch einfach in ihn!“, sagte eine Stimme fröhlich. Als Rya zum Balkon sah, saß ein junger Mann auf ihrer Treppe. Er hatte kurzes, schwarzes Haar und neben den Narben auf seiner linken Wange, zeichnete sich ein hämisches Grinsen ab. „Ich denke meine Mutter würde sich sehr darüber freuen. Und Joah erst.“
Er lachte laut auf. Im nächsten Moment stand er schon direkt vor Rya. Er hob ihr Kinn mit seiner Hand an und kam ihr ganz nahe.
„Außer du willst mit mir vorlieb nehmen“, grinste er. Rya konnte die Wärme seiner Lippen spüren, bevor Aiden rief: „Runter, Rya.“
Sie duckte sich und Aidens Bein schwang über sie hinweg. Der Schwarzhaarige war verschwunden. Als Rya sich wieder aufgerichtet hatte, während Aiden sich umsah, schlangen sich muskelöse Arme um sie.
„Da will dich wohl einer für sich haben“, säuselte er in ihr Ohr, doch als er Aiden erblickte, der ihn finster ansah, verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht. Ein verächtlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht
„Wen haben wir denn da? Solltest du nicht tot sein?“, hauchte seine Stimme eiskalt.
„Das sagst ausgerechnet du, Jin“, entgegnete Aiden eben so kühl.

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Dunkle Zeiten



Leere. Jegliche Zeit floss gleichzeitig dahin und doch zog sie sich zäh wie Teer durch den Raum. Wie das Blut auf dem hellen Boden.
Alles schien kalt und still. Kein Ton. Sie starrte auf das Blut an seinem Arm. Eine klaffende Wunde. Tief genug, dass das Weiß des Knochens durch die Haut brach. Strahlend im Vergleich zum dicken, schweren, dunklen Blut. So kontrastierend matt zu seinen Augen. Als ihre Augen seine fixierten, verschwand bereits das glitzernde Strahlen aus ihnen. Sie wirkten besorgt.
Rya wurde schlecht. Der metalerne Geruch stach ihr unerbittlich in die Nase, als sie ihn endlich wahrnahm. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Magen verkrampfte sich durch die aufwallende Säure, aber Rya unterdrückte den Impuls, der ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.
„Rya“ Sie schrak auf. Der eiskalte Arm schlang sich um ihre Schultern. Der Schmerz brannte und trieb ihr die Tränen in die Augen. Doch der Schmerz in ihr, war noch größer.
„Keine Sorge. Mir geht es gut“, flüsterte seine sanfte Stimme in ihr Ohr. Erst jetzt bemerkte sie ihr Zittern, die Gänsehaut auf ihren Armen vor Angst.
Rya beruhigte sich etwas.
„Aber…“, murmelte sie betrübt. Sie schob Aiden sanft von sich. Ihr Blick fiel wieder auf seinen Arm. Sie zuckte, als seine kalte Hand ihre Wange berührte, aber der Schmerz war erträglicher, nicht erfrierender als sonst.
„Mach dir keine Gedanken. Es tut kaum weh und wird schnell heilen…“, versuchte er sie zu beruhigen. Rya jedoch wollte es ihm nicht recht glauben. Sie zog seine Hand von ihrer Wange und stand auf.
„Ich werde etwas zum Verarzten holen“, erwiderte sie matt und verließ das Zimmer. Aiden sah ihr nach, aber schon als sie außer Sicht war, blickte er zu seiner Hand. Nachdenklich sah er sie an.
„Warm… aber nicht… heiß…“
Als Rya in das Zimmer trat, hörte sie ein so lautes Knacken, dass es sie zusammen fahren ließ. Als sie zu Aiden sah, hob er bereits seine Hand von der Wunde, aus der nun kein Knochen mehr ragte. Rya hielt sich kurz die Hand vor den Mund und schluckte heftig. Der Säuregeschmack blieb ihr aber im Mund hängen.
„Musste das sein“, sagte sie angewidert und ließ ihre Hand wieder sinken.
„Ich hab doch gesagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, erwiderte Aiden ohne sie anzusehen. Den ausdruckslosen Blick am Boden haftend. „Meine Wunden heilen schneller als die eines Menschen. Wenn auch nicht mehr ganz so schnell, wie früher.“ Er sah sie an.
Sie seufzte kurz und kniete sich einen Augenblick später neben ihn. Sie legte die Bandagen beiseite. Das Blut auf seiner Wunde war frisch und es lief in kleinen Rinnsalen den Arm entlang. Vereinzelt tropfte es zu Boden. Rya spürte wie ihr Magen eine weitere Runde drehte, aber sie griff nach dem feuchten Handtuch, das in einer Schüssel mit heißem Wasser lag, und tupfte die Wunde vom Blut frei. Anschließend griff sie nach dem Wattebausch, der neben ihr auf einem Tablett lag. Rasch öffnete sie eine kleine braune Flasche. Der stechende Geruch des Desinfektionsmittels war fast noch stärker, als der des Blutes auf dem Holzboden. Sie tränkte die Watte mit dem Desinfektionsmittel und tupfte über die Wunde. Aiden zuckte kaum merklich.
„Entschuldige“, murmelte sie. Aiden schüttelte den Kopf.
„Ich habe mich zu entschuldigen.“ Rya sah auf. „Dein Holzboden…“, wies er mit seinem Kopf neben seine Hüfte. Rya schüttelte ihren.
„Kein Ding.“ Sie wand sich der Wunde mit gleichgültigem Blick zu. In ihrem Kopf kreiste, was gerade geschehen war, aber sie konnte es nicht verarbeiten. Es kam ihr so surreal vor.
„Warum… warum hat dich der Typ mit den Narben angegriffen?“, fragte sie, als sie den Wattebausch beiseitelegte und nach einer Kompresse griff. Sie riss die Verpackung auf und zog vorsichtig den schimmernden Stoff hervor.
„Er… hat Schuld an meiner Verbannung…“, erwiderte Aiden, als Rya die Kompresse auf seine Wunde legte. Sie sah verwundert auf. „Gewissermaßen…“
„Wie-?“ Aiden aber schüttelte den Kopf resigniert.
„Es ist eine lange Geschichte.“
„Und eigentlich sollte er tot sein?“, fragte sie und drückte zu fest auf die Wunde. Aiden zuckte erneut zusammen. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm.
„Entschuldige!“, rief Rya erschrocken auf. Hastig griff sie nach der Bandage und wickelte sie aus der Plastikverpackung aus. Sie legte den Stoff vorsichtig an. Nach einigen stillen Momenten klebte sie das Ende mit Pflasterstrip fest. Sie wühlte das Verbandszeug zusammen und richtete sich bereits wieder auf, als Aiden sie am Arm festhielt. Kühle Kälte, nicht beißend. Dennoch zuckte Rya zusammen. Er zog ihren Arm zu sich und drehte ihn. Ein langer, glatter Strich fuhr ihren Unterarm hinauf.
„Was ist mit dir?“, fragte er. Seine Augen sahen sie durchdringend an. Rya konnte seinem Blick nicht erwidern. Sie wich aus.
„Ich bin okay“, antwortete sie. „Ich dachte, der Typ würde mich umbringen, als er mir mit… mit seinem Nagel die Haut aufschlitzte! Aber es tut nicht mehr weh.“ Rya hätte schockiert klingen wollen, doch stieg ihr die Röte ins Gesicht. Die Wunde blutete schon lange nicht mehr. Sie riss ihren Arm von Aiden los und brachte das Verbandszeug zurück ins Bad.
Als sie die Schranktür zuklappte, stand Aiden bereits neben ihr.
„Ich hätte nicht erwartet, dass du so hart im Nehmen bist“, sagte er.
Rya lachte skeptisch auf.
„Das ist nur der Tatsache geschuldet, dass einfach alles, was passiert ist, noch nicht in meinem Kopf angekommen ist“, erwiderte sie und wand sich ihm zu. „Willst du mir jetzt erzählen, was es mit diesem Typ auf sich hat?“
„Vielleicht wollen wir vorher den Boden sauber machen?“, entgegnete er mit einer Frage. Rya sah ihm einen Moment in die Augen, aber holte schon einen Eimer unter dem Waschbecken hervor und füllte ihn mit heißem Wasser.

„Dieser verfluchte Engel!“, schimpfte Jin.
Er schob sich in eine enge, nasse Seitengasse, in der es nach vermoderten Müll und halbverwesten Ratten stank. Blut floss aus einer Wunde an seinem Bauch, die er mühevoll mit der Hand zudrückte. Erschöpft warf er sich gegen die kalte Steinwand und sank zu Boden.
„So ein verdammter Mist“, grummelte der Schwarzhaarige und betrachtete seinen mit blutverschmiertem Arm. Er keuchte heftig auf, als er den zerrissenen Stoff von der Wunde hob.
„Toll! Jetzt lass ich michschon wieder von Engeln halb töten! Dieser verdammte Aiden!“, schrie er wütend auf.
„Beruhige dich, Jin. So schlimm sieht es doch gar nicht aus“, säuselte eine weibliche Stimme belustigt. Als Jin aufsah, erblickte er das lächelnde Gesicht einer jungen Frau über sich.
„Fyena, was willst du hier?“, knurrte der Schwarzhaarige.
Das jüngere Mädchen kicherte.
„Mutter hat mich geschickt, um Joah aufzusuchen. Aber ich wollte lieber sehen, wie es zwischen dir und dem Prinzesschen ausgegangen ist. Obwohl ich nicht gedacht hätte, das ihre Kräfte schon so ausgeprägt sind, dich zu verletzen, Bruderherz“, erwiderte sie und sprang von der Mülltonne neben Jin, auf der sie saß. Sie beugte sich über ihren Bruder, der halb auf dem Boden lag, und zog seinen Arm beiseite. „Das sieht ja sehr schön aus. Und dein Blut riecht so wild!“
Sie verzog ihr Gesicht wie im Rauschwahn und legte sich begierig seufzend auf ihren Bruder. Jin zuckte kaum merklich zusammen.
„Fyena! Das ist nicht gerade angenehm“, brummte er sie an und sein Gesicht zeichnete die Wut in seinem Körper noch stärker als den Schmerz.
„Soll ich dich heilen?“, fragte sie ihn und strich ihm mit einer Hand über seine vernarbte Wange. Sie hob ihre Hüfte und näherte ihre Lippen den Seinen.
„Mach schon!“, fauchte er sie an und sie biss auf ihre Lippe bis Blut herausrann. Dann legte sie sanft ihre Lippen auf seine. Kaum schmeckte er das Blut, vergriff er sich mit seiner freien Hand in ihren langen, schwarzen Haaren und zog sie näher. Erregung durchfuhr ihren Körper und sie intensivierte den Kuss. Erst als sich ihre Brust vor Schmerz zusammenzog, löste sie keuchend ihre Lippen von ihm. Sie sah tief in die dunklen Augen ihre Bruders.
„Besser, Brüderchen?“, fragte sie. Ein Lächeln umspielte ihre geröteten Lippen.
„Tse!“, erwiderte Jin und versuchte sich aufzurichten. Fyena wich zurück und nahm Platz im Schoß seiner gestreckten Beine, als er sich aufrecht gegen die Wand lehnte. Sie legte ihre Hände auf seine Hüfte und sah ihn verführerisch an. Jin zog das Blut verschmierte, zerrisse dunkle Shirt aus und strich das halb trockene Blut von seinem Bauch. Diesen zierte nur noch eine leicht rosafarbene Narbe.
Fyena strich verspielt mit einem ihrer Finger über seine Brust.
„Ich habe schon fast vergessen, wie sexy du doch bist, Bruderherz“, sagte sie verschmitzt.
„Und ich habe vergessen, dass dein Blut Heilkräfte hat, weil du einen Engel ausgesaugt hast“, erwiderte er scharf und stoppte ihre Hand mit einem festen Griff. Fyena sah ihn empört an und riss ihre Hand los.
„Sag es nicht so! Ich habe ihn nicht ‚ausgesaugt‘. Ich bin doch keines von diesen transsilvanischen, flatternden Hirngespinsten! Er lag auf einem Opfertisch, ist ausgelaufen und ich habe mich einfach bedient. Schließlich bekommt man nicht alle Tage frisches Engelsblut“, entgegnete sie gekränkt und verschränkte die Arme. „Aber ein ‚Danke‘ hätte auch gereicht.“
„Fyena“, sagte Jin ruhig und die Schwarzhaarige konnte ihm nicht länger böse sein. Sie schlang ihre Arme um ihn.
„Hach!“, seufzte sie. „Nie kann ich wütend auf dich bleiben, Jin. Ich liebe dich einfach viel zu sehr“, säuselte sie und rutschte hervor. Sie stahl ihm genüsslich einen weiteren Kuss, während er sie skeptisch betrachtete. Einen Augenblick später schob er sie von sich. Verwirrt sah sie ihn an.
„Danke, Fyena.“ Er hielt ihr den blutverschmierten Arm hin. Ein kleines Rinnsal floss aus einer kaum merklichen Wunde. Als sie verwundert das Blut erblickte, sah sie ihm erwartungsvoll in die Augen. Als er nickte, legte sie ihre Lippen auf die Wunde und leckte verführerisch das Blut von seinem Arm. Beide blickten sich tief in die Augen.
„Das du mich dein Blut kosten lässt, ist eine seltene, aber große Ehre, Bruderherz. Hat dich etwa irgendetwas verärgert?“, fragte sie sinnlich und strich eine Strähne aus seinem Gesicht.
„Aiden“, antwortete er grimmig. Fyena zog ihre Hand hastig zurück.
„Der Engel, den du getötet hast?“, fragte sie erstaunt. „Er lebt?“
„Ja, verdammt! Er lebt!“, fuhr er sie heftig an und griff nach ihrem Handgelenk. Es knackte fürchterlich, aber Fyena verzog nicht ihr Gesicht. „Ich habe ihn ganz sicher getötet! Wie kann er noch leben?! Ich habe ihn in Fetzen zerrissen!“
Fyena legte ihre andere Hand auf die ihres Bruders, die soeben ihr Handgelenk gebrochen hatte. Sanft löste sie seine Finger von ihrer Haut. Das Gelenk schwoll lila an, eine Sekunde später sah es wieder normal aus.
„Du solltest die Regenerationsfähigkeit von Engeln nicht unterschätzen Jin. Wenn mein Gelenk schon so schnell heilt, dann können sie so gut wie gar nicht sterben! Du hast auch überlebt. Ohne unsere Regenerationsfähigkeiten und meinem Blut wärst du gestorben“, erwiderte sie nüchtern. Ihr Bruder sah ihr scharf in die Augen. Dann wand er sich ab.
„Zumindest hat er mit mir genauso wenig gerechnet, wie ich mit ihm“, murmelte der Schwarzhaarige. „Aber was hatte er bei Ryanne verloren? Was heckt dieser alte Sack da oben wieder aus? Er kann unmöglich gewusst haben, dass ich hinter ihr her bin! Die halten mich doch für tot, dank Aiden.“ Nachdenklich legte er einen Finger unter sein Kinn. Sein freier Arm zog Fyena dicht an sich, legte sich um ihre Schultern. Zuerst betrachtete sie überrascht sein Profil, doch dann legten sich ihre Lippen auf seine Halsbeuge. Sie liebkoste ihn bis rote Flecken seinen Hals zierten.
„Aiden war seltsamerweise nicht bei voller Kraft. Er war regelrecht ein Schwächling. Dass er mich überhaupt so schwer verletzten konnte, dass ich flüchten musste…“, murmelte Jin vor sich hin. „Wieso sollte der Alte so einen schwachen Engel ausgerechnet zu Ryanne schicken? Es macht einfach keinen Sinn! Aber zumindest habe ich ihn nicht unverletzt zurückgelassen.“
Fyena löste sich von seinem Hals und sah ihm ernst in die Augen.
„Was ist mit dem Prinzesschen? Hast du ihr Blut gekostet?“, fragte die Schwarzhaarige.
Jin wich ihrem Blick aus.
„Als ich ihren Arm schon angeschnitten, ich brauchte es nur ablecken, als Aiden mich abgehalten und mir diese verdammte Wunde verpasst hat. Er scheint unsere Bräuche zu kennen, aber… nicht zu wissen,… wer Ryanne ist“, erwiderte er gereizt. „Das war die Chance überhaupt! Und dieser verfluchte Engel hat es mir vermasselt! Ich habe keinen Lust hinter meinem kleine Bruder die zweite Geige zu spielen!“ Jin schlug heftig gegen die Wand. Risse zogen sich von seiner Faust bis zum Dach. Gestein bröckelte von der Wand.
„Beruhige dich, Bruder! Solange Joah sich selbst nicht bewusst ist und auch dieser Engel nichts weiß, wird sich dir eine neue Chance bieten“, sagte Fyena und nahm Jins Gesicht in ihre beiden Hände. „So ungern ich dich auch teilen mag, du bist besser als Herrscher geeignet. Habe etwas Geduld.“ Ihre Lippen legten sich abermals auf seine und diesmal erwiderte er den Kuss von sich aus. Fyena löste kurz den Kuss.
„Lass uns in deine Gemächer gehen, so sehr ich auch den Geruch von Tod und Verwesung auch um mich herum mag“, hauchte sie auf seine Lippen und ließ ihre Zunge über sie fahren. Jin griff in ihre Haar und zog es samt ihren Kopf zurück. Sie stöhnte auf, als er ihre Kehle küsste.
„Du hast mir nichts zu befehlen“, knurrte er an ihren Hals und im nächsten Moment waren beide verschwunden.

„SO! Der Boden ist jetzt blitzblank! Kein einziger Fleck mehr! Wirst du mir jetzt bitte sagen, was da vorhin los war?!“, sagte Rya frustriert und warf das Poliertuch in ihrer Hand in einen Eimer.
Aiden seufzte.
„Ich werde wohl nicht umhin kommen, was?“, scherzte er, aber als er Ryas genervtes Gesicht sah, glitt sein Lächeln aus seinem Gesicht. „Gut. Aber mit Tee.“
„Aiden!“ Rya stemmte ihre Arme in ihre Hüften. Der Junge sah sie wehleidig an.
„Bitte…“, murmelte er. Rya war überrascht über diese verletzliche Seite an ihm, die sie noch nicht kannte.
„Na gut“, willigte sie resigniert ein und griff nach dem Eimer.
Als sie den Raum mit zwei Tassen Tee wieder betrat, saß Aiden bereits auf der hinteren Couch und sah durch die offene Balkontür zum Abendhimmel.
„Es ist schon spät geworden. Heute ist viel passiert, nicht wahr?“, fragte er sie, als sie eine Tasse vor ihm auf den Tisch stellte. Rya antwortete nicht. Sie setzte sich. Aiden seufzte.
„Es ist nicht so leicht… es auszusprechen…“, begann er. Er griff nach der Tasse und nahm einen Schluck. Sein Gesicht zeichnete die Qual in ihm. Die Trauer, die Wut. Rya fühlte sich bei diesem Anblick miserabel. Sie hätte ihn nicht drängen sollen.
„Aiden. Entschuldige! Wenn du nicht willst, dann-“
„Nein! Schon gut“, unterbrach er sie. „Du hast ein Recht darauf es zu erfahren. Also werde ich es dir auch erzählen.“
Er machte eine Pause. Rya lehnte sich zurück. Die Tasse Tee in ihrem Schoß haltend.
„Es hat alles angefangen, als ich starb“, leitete Aiden ein. Rya sah abrupt von der Tasse zu ihm.
„Du hast erzählt, dass… dein Tod deine einzige Erinnerung aus deinem Leben ist…“
„Ja. Ich war relativ jung. Vielleicht 10 oder 11. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich erinnere mich, wie meine Eltern vor mir lagen. Überall Blut. Stichwunden und Messer in ihren Körpern.“ Er hielt kurz inne. „Ich weiß nicht, was der Mörder für eine Grund hatte, das zu tun, aber ich weiß… wie ich in der Ecke hockte und weinte. Ich konnte vor Angst nicht mal mehr atmen. Meine Lunge zerriss sich fast selbst vor fehlendem Sauerstoff. Dann hat er auch mich umgebracht. Der Mörder meiner Eltern, mein Mörder…“
Rya sah Aiden erschüttert an.
„Aiden…“ Doch er winkte ab.
„Dann bin ich in den Himmel gekommen. Schon komisch. Ich weiß, dass die Seelen durch einen Brunnen gereinigt werden, aber ich kann mich nicht mehr an meine eigene Reinigung erinnern. Alles, was ich weiß, ist, dass ich aufwachte. Auf einer Blumenwiese. Meine einzige Erinnerung, wie dieser Mensch mich bei vollem Bewusstsein in Stücke zerschnitt.“ Er sah Rya an. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie schluckte. „Jetzt kannst du vielleicht meine Abneigung gegen Küchen verstehen. Ich wurde in einer getötet.“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund und wich seinem Blick aus.
„Schon okay. Du konntest es nicht wissen. Ich habe es dir nicht erzählt.
Als ich zu weinen begann, um mich herum all dies strahlenden Blumen, kam ein Engel zu mir. Ihr Name war Elaine. Sie war wunderschön. Ungefähr 20 Jahre alt. Ich war so fasziniert von ihrer Schönheit, dass ich aufhörte zu weinen. Ihr Lächeln ließ auch mich lächeln. Sie erklärte mir, wo ich war. Sie hat auf mich aufgepasst, bis ich so wurde wie jetzt. Äußerlich wie ein 19-jähriger Jugendlicher. Ich habe viel von ihr gelernt.“ Er trank einen Schluck Tee. „Aber als ich ein ausgebildete Engel war, musste ich mich von ihr verabschieden. Sie wurde zum Schutzengel erklärt. Sie wurde zu einem kleinen Junge geschickt. Ich in den Innendienst berufen. Ich durfte die Wiesen pflegen. Später aber wurde ich ein Patrouilleengel.“ Aiden grinste. „Klingt total komisch das Wort, aber ich wurde abkommandiert auf der Erde aufzupassen, dass Dämonen nicht irgendeinen grundlosen Streit begannen. Es war toll. Ich durfte Elaine wiedersehen und sie beschützen. Ihr zurückgeben, was sie mir gegeben hat.“ Er trank wieder einen Schluck.
„Hast du…“, begann Rya vorsichtig. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie wollte die Frage nicht stellen. Sie hatte das Gefühl, dass sie die Antwort schon kannte und sie sie nicht hören wollte. „Hast du sie… geliebt?“
Aiden setzte die Tasse ab. Er verflocht seine Finger, seine Ellenbogen auf seine Knie gestützt. Er dachte einen Moment nach, lächelte leicht.
„Ja. Ich habe sie geliebt. Und ich liebe sie immer noch. Sie war die wichtigste Person in meinem Leben.“
Rya spürte das Reißen in ihrer Brust. Aber es machte keinen Sinn. Warum tat es ihr so weh? Aiden war doch nur ein Junge, wie jeder andere. Sie konnte ihre heftigen Gefühle nicht verstehen. Sie wollte es auch gar nicht. Sie hatten keinen Grund zu existieren. Rya sah zum Boden.
„Sie hat sich um den Jungen gekümmert, wie sie sich um mich gekümmert hat. Ich war ein bisschen eifersüchtig. Aber eigentlich hatte ich keinen Grund dazu. Er konnte sie ja nicht sehen, nicht so, wie ich sie sah. Die Tage waren ruhig. Aber… Eines Tages war die Ruhe vorbei. Ein ganzer Trupp Dämonen tauchte im Kindergarten des Jungen auf. Einige Schutzengel waren zu gegen. Unter den Dämonen war auch Jin.“
„Jin?“, fragte Rya.
„Der Dämon vorhin.“ Aiden strich sich über den Arm. Der Schmerz hatte aufgehört, äußerlich war es so gut wie verheilt, dennoch stach es ihn wie tausend Nadeln ins Fleisch.
„Er war der Anführer. Ich war am anderen Ende der Stadt. Mein Vorgesetzter hatte mir aufgetragen dort zu patrouillieren. Als ich von dem Aufruhr hörte und hineilte… war der Kampf so gut wie vorbei. Die Dämonen hatten es nur auf eines abgesehen. Auf das Kind, dass Elaine beschützte.“ In einem Zug war die Tasse leer. Aiden stellte sie auf den Tisch. „Die anderen Engel waren alle bewusstlos. Die anderen Trupps alle zu langsam. Ich war der Einzige, der Elaine hätte helfen können. Sie hat mich gesehen, Jin nicht. Sie schützte ihren Jungen. Jin…“ Er schluckte und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht bis in die Haare.
„Er hat sie getötet. Ich wollte ihn aufhalten. Er war unglaublich mächtig. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt einige Dämonen getroffen. Aber er war der Stärkste, dem ich je begegnet bin. Und er tötete Elaine. Ich konnte in ihren Augen das Licht erlöschen sehen.“
Tränen traten aus seine Augen. Sein ganzes Gesicht, gezeichnet durch Wasser. Rot, gequält. Rya wollte ihn berühren, ihn beruhigen, ihn aufmuntern. Sie konnte sich nicht rühren.
Aiden fasste sich.
„Er war verschwunden, als ich wieder denken konnte. Aber Wut quoll in mir auf! Ich konnte sie nicht zügeln. Eigentlich sollten Engel solche Gefühle nicht haben. Sie sollten glücklich sein. Ohne Zorn, ohne Angst, ohne Trauer, ohne Rache. Aber ich konnte es nicht kontrollieren. Es hatte bereits begonnen mich aufzufressen. Einige Jahre vergingen und als ich Jin das nächste Mal traf… Habe ich sie ausgelebt. Meine Rache. Die Narben auf seinem Gesicht sind von mir. Ich habe ihn zugerichtet, wie mein Mörder mich. Und ihm noch schlimmere Dinge angetan. Ich sah, wie er direkt vor mir starb. Und ich genauso. Ich starb genauso, wie er.“
Rya stockte der Atem. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Und dann hat Gott mich bestraft. Er nahm mir meine Flügel und verbannte mich. Und danach…“ Aiden sah auf. Sah direkt in Ryas Augen. Tränen füllten und verließen sie. „Danach habe ich dich getroffen.“
Rya schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, was sie ihm damit angetan haben musste. Sie wusste, wie sich dieser Schmerz anfühlte. Die Wut, den Rachedurst. Der lebendige Tod. Wie es sich anfühlt, wenn man lebendig stirbt. Sie vergrub ihren Kopf unter ihren Armen, krümmte sich zusammen.
„Es tut mir so leid, Aiden! Ich hätte dich… nicht dazu treiben sollen…“, schluchzte sie. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie konnte es nicht abschütteln. Sie spürte wieder die Hände über ihren Körper fahren. Mit der Gewalt, die sie gebracht hatten. Ihre Augen waren weit geöffnet. Der dunkle Raum, das hämische Grinsen, die Messer, die ihre Sachen zerschnitten. Die Wut. Und die Angst diese Wut zu fühlen. Rya fühlte sich verloren in sich selbst. Alles war dunkel. Ihr ganzer Körper schmerzte.
„Ryanne? Ist alles in Ordnung?“ Aiden sah sie besorgt an. „Es ist bereits passiert. Du brauchst dir keine Gedanken machen, Rya-“
„NEIN!“, schrie sie auf. Er wollte sie berühren, aber sie hatte seine Hand weggeschlagen. Ihn von sich gestoßen. Sich in die hinterste Ecke der Couch geflüchtet. Ihr Körper bebte. Ihr Gesicht von Angst zerfressen. Sie verlor sich ganz. War fort. Schloss ihre Arme vor ihrem Gesicht.
Sie lachte. Rya lachte höhnisch auf. Aiden sah sie entsetzt an. Was passierte mit ihr? Er war doch derjenige, der hätte wahnsinnig werden sollen. Nicht sie.
„Du bist so dumm, Engel“, säuselte Rya. Ein Kichern drang durch ihre Hände. „Du solltest Dämonen nicht unterschätzen. Du wärst nie in der Lage einen der hochrangigen Dämonen wie Jin zu töten!“, spottete sie. Sie nahm ihre Hände von ihrem Gesicht. Rote Augen stachen Aiden entgegen. Er wusste nicht, was es war, aber…
„Du bist nicht Ryanne“, sagte er ruhig. Er konnte sie spüren. Die dämonische Aura, die sie umgab. Rya lachte auf und klatschte. Sie erhob sich. Er wich zurück, stand ebenfalls auf.
„Du bist anscheinend doch nicht ganz so dumm, wie ich vermutete.“ Rya grinste ihn an. „Aber du solltest merken, wen du vor dir hast.“ Sie umgriff seine Kehle, zog ihn an sich. Sie wirkte betörend. Selbst auf ihn, der ein Engel war. Die Anziehungskraft von weiblichen Dämonen war das Intensivste, was er jemals gefühlte hatte. Es versenkte seine Haut. Er roch die verbrannte Haut an seinem Hals. Rya ließ ihn nicht los, doch der Schmerz stoppte. Aiden sah sie verwirrt an. Rya kicherte abermals.
„Du hattest wohl nicht erwartet, dass ich das kann, nicht wahr? Ich muss dir aber leider deine Illusion nehmen. Dämonen meines Ranges können entscheiden, ob sie einen Engel mit bloßen Händen verbrennen wollen oder es ohne diesen kleinen Berührungsvorteil tun.“ Sie grinste breit.
„Wer bist du?“, fragte Aiden, umfasste Ryas Handgelenk.
„Ryanne. Wer sonst?“, lachte sie. „Ich und sie sind die gleiche Person. Ich bin aber der Teil, der später herrschen wird. Wer weiß, wie viel Zeit ich ihr noch lasse? Wo ich sie nur wegen dir so belasse. Ich kann ihre Anziehung zu dir durchaus nachvollziehen.“ Sie lächelte sanft, fuhr mit der anderen Hand über Aidens Wange. „Du bist wirklich süß, Kleiner. Und gewissermaßen, gehört sie dir schon. Aber du wirst sie leider nicht behalten können.“ Aiden weitete die Augen. Das Blut!
„Bingo! Als du ihre Schnittwunde heiltest, ist ein Teil von ihr in dich übergegangen. Was glaubst du, warum ihre Berührungen auf einmal weniger schmerzhaft waren.“ Das Lächeln umspielte ihr Lippen, die seine Lippen umspielten. Jedes Wort konnte er fühlen. Ihr Kuss war heiß, verbrennend heiß. Aiden fühlte, als würde sein ganzer Körper in Flammen aufgehen. Als sie von ihm abließ, keuchte er heftig. Er umfasste seinen Hals. Er konnte kaum atmen ohne Schmerz und Stiche in ihm.
„Du…“, krächzte er. Rya lachte auf. Sie hockte sich vor ihn, dem Häufchen Elend, dass er noch war. Das Grinsen auf ihrem Gesicht bösartig und verführerisch zu gleich. Aiden spürte den Hass und die Sehnsucht.
„Keine Sorge. Noch werde ich dich nicht töten. Außerdem glaube ich, dass Jin das viel lieber tun würde. Allerdings muss ich dir auch danken, Kleiner.“ Sie zeichnete Kringel auf seiner Wange. Er schwitzte vor Schmerz. Ihre Aura erdrückte ihn. „Dank dir, hat nicht Jin die Oberhand gewonnen. Niemals könnte ich diesen Typen über die Unterwelt herrschen lassen. Joah ist besser dafür geeignet.“ Sie seufzte erleichtert auf. „Also danke, Schätzchen.“
„Wa-?“ Seine Hals barst.
„Na, na, na. Du solltest lieber nicht reden. Sonst wird dein schöner Hals dich noch selbst umbringen. Aber ich kann es dir gern erklären.“ Sie lächelte verspielt. Rya beugte sich zu ihm hinunter, zu seinem Ohr. „Wer mich heiratet, wird der neue Herrscher der Unterwelt. Mich - die Tochter Satans“, flüsterte sie in sein Ohr. Dann fiel sie zur Seite. Die Aura verschwand. Aiden konnte spüren, wie der Schmerz nachließ. Die Luft füllte seine durstigen Lungen. Ryanne lag bewusstlos vor ihm.
„Rya“, flüsterte er. Strich ihr durchs Haare. Sie sah erschöpft aus, aber friedlich. Das war die Rya, die er kannte. Er lächelte matt. Lachte leise auf. „Da habe ich mir ja genau die Richtige ausgesucht, als ich hier landete.“
Er schüttelte den Kopf. Erhob sich. Nahm Rya in die Arme und trug sie zu ihrem Bett. Sein Hals brannte noch leicht, sein Arm stach ihm ins Fleisch. Aiden legte sie auf das weiße Leinen, deckte sie zu. Seine Augen blickten sie traurig an. Er wand sich ab und wollte den Raum verlassen, als er innehielt. Er drehte sich Rya wieder zu.
„Es gibt eine Regel unter Dämonen. Wenn sie der Person, nach der sie sich sehnen ihr Blut geben….“ Aiden stockte, biss sich auf die Unterlippe. Blut rann über sein Kinn. Rya schlief ruhig. Ihr Mund leicht geöffnet. ‚Was glaubst du, warum ihre Berührungen auf einmal weniger schmerzhaft waren‘, hallte es in seinem Kopf.
„Sie versprechen einander durch ihr Blut. Ob Engel und Dämonen auch…?“, murmelte er. Seine Lippen berührten ihre. Es war nicht wie vorher. Er verbrannte nicht. Seine Sehnsucht war größer. Größer als zuvor. Und als sich ihre Lippen wieder lösten, spürte Aiden keine Hitze mehr mit jeder Berührung. Sah keine Erinnerungen mehr. Fühlte die ganz normale Wärme einer Frau. Verließ das Zimmer.

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Seltsame Begegnungen



Sie fühlte den weichen Stoff der Decke, aber keine Wärme. Sie zog ihre eisigen Beine an sich, während sie sich zur anderen Seite rollte. Kälte stieg ihren Körper hinauf. Eisig biss sie sich durch ihre Adern. Ihre Muskeln verkrampften sich mit jeder Bewegung, die sie versuchte, um sich zu wärmen. Das Zittern konnte sie nicht stoppen. Schauer fuhren unaufhörlich über ihren Rücken.
Ryanne schrak auf. Sie setzte sich so heftig auf, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Die Sonne strahlte durch die gläserne Balkontür. Es war Montag.
MONTAG! Rya wandte sich ihren Wecker zu. Es war halb 10.
„Nein! Ich habe verschlafen!“, heulte sie verzweifelt auf. Seufzend stellte sie den Wecker an seinen ehemaligen Platz. Ein Schauer suchte sie abermals heim. Sie schlang ihre Arme um sich, aber das Zittern wollte trotzdem nicht stoppen. Rya hatte ihren Körper gar nicht richtig unter Kontrolle. Sie spürte die Wärme ihrer Haut unter ihren Fingern, aber ihr Blut zog sich zäh durch ihren Körper. Noch einmal schielte sie zur Uhr, schlang die Decke um sich. Seufzte.
„Ich bleib heute lieber im Bett.“ Sie sah sich um. „Wo ist mein Handy?“
Sie entdeckte es auf dem Couchtisch und sprang aus ihrem Bett. Sie griff ihr Handy und erblickte die leeren Tassen, in denen sich letzte Schaumreste eingetrocknet hatten. Rya erstarrte. Ihr fiel wieder ein, was geschehen war.
Aiden, dachte sie traurig. Die Gedanken an seine Geschichte hinterließen ihr einen bitteren Nachgeschmack. Sie ließ sich auf die Couch fallen und griff nach der Decke, die über der Lehne lag. Als sie sich hineingeschlungen hatte, tippte sie auf ihr Handy ein. Joahs Name erschien auf dem Bildschirm, als sie seine Nummer auswählte.
Sie atmete tief durch. Joah würde sie bestimmt ausschimpfen. Er tat das immer, wenn sie zu Hause blieb und nicht einen Arzt aufsuchte, wenn sie sich schlecht fühlte. Mit Ärzten konnte sich Ryanne noch nie wirklich anfreunden. Sicherlich verstanden sie ihr Handwerk und sie studierte schließlich selbst Biologie, aber trotzdem ging sie zu keinem Arzt, wenn es nicht zwingend nötig war.
Das Zittern in ihren Gliedern ließ langsam nach. Die Kälte zog sich aus ihrem Körper zurück. Ryanne fühlte sich erschöpft. Sie hatte nicht viel Ruhe bekommen, obwohl sie geschlafen hatte.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
„Was ist nach Aidens Geschichte passiert?“, murmelte sie. Sie fuhr mit ihrer Hand an ihre Schläfe. „Ich kann mich nicht erinnern, ins Bett gegangen zu sein.“ Sie sah an sich hinab unter die Decke. Immer noch trug sie die Kleidung von gestern. Abermals zuckte sie zusammen. Der Stich war genauso schnell wieder verschwunden, wie er sich durch ihren Arm gezogen hatte. Die Narbe auf ihrer Haut schimmerte leicht.
Ryanne drehte sich um und starrte auf die Wand, hinter der Aidens Bett stand. Sie streckte ihre Hand aus. Ihre Finger berührten die Wand. Sie spürte etwas. Wie ein elektrischer Schlag, aber nicht unangenehm. Sie wusste, dass Aiden nicht mehr schlief. Sie hatte keine Ahnung, warum es so war. Sie wusste es einfach. Jede Bewegung, die er machte. Ihre Finger glitten von der Wand. Das Gefühl verschwand.
Ryanne fühlte sich unwirklich. Fehl in ihrem eigenen Körper. Sie war sich selbst so fremd. Die Kälte war nicht gänzlich verschwunden. Ein kleiner Rest blieb hängen.
Rya sah zur Tür. Diese öffnete sich und Aiden erschien.
„Guten Morgen“, murmelte er und wich ihren Augen aus.

Joahs Handy summte, als sein Professor an seinem Pult gerade mit seinen Blättern raschelte. Er ließ seinen Stift sinken und schob die gesellschaftliche Lage der Weimarer Republik beiseite. Säuerlich zog er es aus seiner Tasche. Er konnte sich schon denken, wer ihm da eine SMS geschickt hatte.

Entschuldige, Joah!>__<
Ich komme nich in die Uni. Mein Körper spinnt total rum. Mir ist heiß und kalt.
Vlt. hab ich mir iwas eingefangen>>
Ich bleib lieber im Bett! Bitte schreib für mich mit!>()



Joah sah mit hochgezogener Braue auf die Zeilen. Sein Mundwinkel zuckte leicht. Ein paar Mal schweiften seine Augen noch über die Worte, bevor er die Nachricht wegdrückte und sein Handy wieder in seine Hosentasche steckte. Er seufzte.
„Sie braucht mich nicht darum bitten. Ich schreib auch so für sie mit…“, grummelte er leise. Martin und Steve wandten sich ihm zu. Martin hatte bemerkt, dass Joah die Nachricht nicht beantwortet hatte.
„Rya?“, fragte er flüsternd. Joah brummte nur kurz auf.
Steve sah zu Martin hinüber. Er zuckte mit den Schultern und warf ihm einen fragenden Blick zu. Martin wusste genau, was sein Freund dachte, doch er war genauso ratlos. Joah war nur schwer aufzumuntern, wenn Rya an seinem genervten Zustand Schuld war.
Eine knappe halbe Stunde und keinen Deut besserer Laune später, stopfte Joah seine Schreibutensilien in seine Tasche. Sein Gesicht schrie geradezu hinaus: Ich bin wütend! Sprecht mich nicht an!
Martin und Steve beäugten ihren Freund mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie waren sich einig, dass Joah jetzt anzusprechen, viel zu riskant war. Zumindest wenn sie ohne Schmerzen in die nächste Vorlesung gehen wollten.
„Mir reicht’s“, knurrte Joah und warf sich die Tasche über die Schulter. „Ich geh nach Hause! Schreib du mit, Mart.“ Joah stürmte bereits zur Tür, als Martin auch nur eine Andeutung einer Antwort machen konnte. Er warf Steve einen genervten Blick zu. Dieser zuckte nur kurz mit den Schultern.
Joah war derweil bereits am anderen Ende des Flurs und stürmte die Treppe hinunter. Vorbei an Mitstudenten, die ihn verwundert ansahen, da er in genau die entgegengesetzte Richtung als sie steuerte, über den Hof und zur nächsten Tramhaltestelle. Keine 20 Minuten später drehte er den Schlüssel im Schloss um und schlug die Tür hinter sich zu. Resigniert atmete er aus und bog um die Ecke zu seiner Zimmertür. Nur kurz stieß er sie auf, um seine Tasche hineinzuwerfen. Dann wandte er sich um und öffnete die Badezimmertür. Wasser strömte aus dem Hahn, als er die Hand von ihm nahm. Seufzend sank er an der Wand neben der Wanne zusammen und lauschte dem Prasseln. Einen Arm schlang er um seinen Kopf.
„Ob sie etwas mit Aiden anstellt?“
Leise hatten sich die Worte über seine Lippen gestohlen. Vor seinen Augen war es dunkel. Sein Arm verdeckte sie vollkommen. Aber sobald er die Worte ausgesprochen hatte, stahlen sich die Bilder vor seine Lider. Ryanne - wie sie in Aidens Armen lag. Ryanne - wie sie Aiden tief in die Augen sah. Ryanne – wie sich ihre Lippen Aidens näherten. Joah zog seinen Arm von den Augen und starrte auf das dampfende, einlaufende Wasser, bevor er weiter denken konnte.
Er war es so müde, über die Beziehung zwischen Ryanne und diesem unbekannten, in SEINEN Sachen herumlaufenden Typen nachzudenken.
Ein weiterer Seufzer und Joah kniete sich vor die Wanne. Über das Wasser hinweg griff er nach dem Badezusatz. Eigentlich war er nicht der Typ, der es duftend mochte, aber er hatte das Bedürfnis seine anderen Sinne bis zur Betäubung zu beanspruchen, bevor seine Gedanken ihn in den Wahnsinn trieben.
Er drehte den Hahn zu, als der Schaum drohte über die Wannenränder zu treten. Dampfschwaden zogen sich durch den weißgefliesten Raum, der kein Fenster besaß. Joah streifte sein T-Shirt von sich. Er hielt inne, als sein Blick auf sein Spiegelbild fiel, welches zunehmend unkenntlicher wurde im sich beschlagenden Glas.
Er knurrte grimmig.
„Tut mir leid, dass ich nicht so ein verfluchtes Six-Pack wie dieser Ausreißer habe!“
Wütend warf er den Stoff gegen den Spiegel und hockte sich vor die Wanne. Genervt fuhr er sich durch die Haare.
„Verdammt!“
„Na, na. Wer wird denn gleich anfangen zu fluchen. Obwohl ich schon bessere Flüche gehört habe“, ertönte eine unbekümmerte Stimme. Entsetzt fuhr Joah herum und verlor das Gleichgewicht. Unsanft landete er auf dem kalten Vorleger und stierte in das grinsende Gesicht eines schwarzhaarigen Mädchens. Diese musste über seine Unbeholfenheit kichern.
„Nette Drehung“, spottete sie und lachte.
Joah hatte keine Ahnung, woher sie kam, aber vor ein paar Sekunden hatte definitiv noch niemand auf dem zugeklappten Klodeckel gesessen. Und die Tür hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Dennoch galt sein nächster Blick dieser, bevor er erschrocken zu dem Mädchen zurückblickte.
„Du bist ja putzig! Ich brauche doch keine Tür, um hier zu erscheinen“, lachte sie und lehnte sich in ihre Arme zurück.
„Wie-?“
„Ein Schnippen. Oder ein Wink mit der Hand. Es gibt viele Möglichkeiten für uns zu verschwinden und den Ort zu wechseln. Rauchschwaden sind nämlich nicht so mein Ding.“ Sie sprach so natürlich darüber, dass Joah für einen Moment dachte, sie habe Recht. Was für ein Unsinn!
„Willst du mich verarschen? Erzähl nicht so einen Müll! Wie bist du hier reingekommen?“, fuhr er sie an. Das Grinsen glitt aus ihrem Gesicht. Ein beleidigter Ausdruck trat an dessen Stelle.
„Ich will dich nicht…‘verarschen‘, wie du es nanntest. Ich hab gar keinen Grund dazu“, erwiderte sie schnittig. Ihre Augen funkelten.
Joah zog sich am Wannenrand hoch. Er wollte nicht sitzen, wenn es sich anfühlte, als würde sie auf ihn herabsehen. Als er stand, sah er bildlich auf sie herab. Einen kurzen Moment blieb ihr Blick fest, dann schlich sich abermals ein Grinsen auf ihre Lippen und sie fuhr mit ihrer Hand zum Mund. Ein Kichern entrann ihren Lippen. Verspielt wanderten ihre Augen über seine nackte Haut. Doch bevor sich Joah dieser Tatsache vollkommen klar wurde, erhob sie sich bereits und legte einen Arm über seine Schulter.
Die Schwarzhaarige war etwas kleiner als er. Vielleicht eine halbe Elle. Verführerisch lächelte sie ihn an. Joah fühlte sich gefesselt. Er konnte keinen Muskel rühren. Die klaren grüngrauen Augen wanderten von seinen Augen über seine Brust und wieder zurück. Verspielt biss sich das Mädchen auf die Unterlippe.
„Also…“, begann sie und ihr Zeigefinger malte Kreise über seine Brust. „Ich finde gar nicht, dass du kein so attraktives Six-Pack hast. Vielleicht nicht eines wie Jin, aber definitiv nicht verächtlich.“ Sie schmiegte sich mit jedem Wort näher an ihn. Ihre Finger fuhren spielerisch über seinen Bauch. Gänsehaut schlich sich über seine Arme, über seine Brust, seinen Nacken. Er stieß sie von sich. Keuchend griff er nach dem Waschbecken. Die Schwarzhaarige kicherte.
„Du bist ja so süß“, säuselte sie. „Hast du noch nie Spaß mit einem Mädchen gehabt? Dann bist du allerdings das genaue Gegenteil von Jin. Er lässt sich nie eines entgehen, das ihm auch nur einen neugierigen Blick zuwirft.“ Ihr verschmitztes Lächeln hatte sich in ein nachdenkliches Gesicht verwandelt. Ihre Aussage unterstrich sie durch ein rhythmisches Tippen auf ihre Wange.
Joah fasste sich.
„Wer bist du?“, fragte er und sah sie an, als wäre sie eine Illusion, die sich in seinen Kopf geschlichen hatte. Hineingeschlichen hatte, weil er nicht mehr an Ryanne denken wollte. Aber das Schaumbad enthielt doch keine Halluzinogene!
„Wie unhöflich! Hättest du diese Frage nicht schon ganz am Anfang stellen müssen!“ Vorwurfsvoll stemmte sie ihre Hände in die Hüften. „Na gut“, seufzte sie. „Ich will mal so tun, als wären wir am Beginn unserer Unterhaltung. Mein Name ist Fyena. Schön dich endlich mal kennenzulernen, Joah.“
Nicht nur das sie seinen Namen kannte, auch ihre breites, freudestrahlendes Grinsen irritierten ihn mehr, als Joah lieb war.
„Woher kennst du meinen Namen? Und was soll das „endlich“ bedeuten?“, fragte er sie verwirrt. Er wich zurück, hielt sich am Waschbecken fest, als er es berührte. Dieses Mädchen war ihm unheimlich. Ihr schwarzes Haar glänzte mit einem lila Schimmer, wie er es zuvor nie gesehen hatte.
„Ich denke, es wird eine Weile dauern, es dir von Anfang an zu erklären“, sagte sie und schien zu überlegen, wie sie am besten beginnen konnte. Das Grinsen kehrte auf ihr Gesicht zurück. „Aber vielleicht willst du zuerst baden. Oder ich erkläre es dir beim Baden.“
Entsetzt sah Joah sie an.
„Spinnst du?!“
„War ja nur ein Vorschlag. So wirklich Lust auf diese Aussicht habe ich auch nicht. Schließlich bist du nicht Jin“, erwiderte sie gelangweilt. Aber bei dem Namen, den Joah nicht kannte, stahl sich ein seltsam verliebter Ausdruck auf ihr Gesicht. Wie es aussah, stellte sie sich die Situation mit diesem Jin vor.
Resigniert seufzte Joah auf.
„Würdest du bitte die Güte besitzen, mir zu erklären, was du von mir willst“, bat er sie freundlicher. Ihm war es lieber, wenn dieses Mädchen so schnell wie möglich wieder verschwand. Sie erwachte aus ihrer Vorstellung und sah ihn forschend an. Das Grinsen auf ihrem Gesicht galt nun definitiv ihm. Ein kalter Schauer fuhr Joahs Rücken hinunter. Sie lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
„Um es kurz und knapp zu machen: Ich bin deine Schwester!“

Sie richtete sich auf. Ihr Fuß schwebte über dem Boden, nur ihr Zehn berührte kaum merklich die Oberfläche der Dielen. Sie konnte es spüren. Ganz genau spüren, wie jede seiner Fasern in seinem Körper sich zusammen zog und wieder löste. Die Spannung erfasste ihren Körper. Sie wusste nicht mehr, ob sie bevor sie sich aufgesetzt und die Decke zur Seite geschoben hatte, angespannt hatte oder nicht.
Rya fühlte die Spannungswellen, die durch seine Beine zogen. Jeder Faser verriet es ihr. Er war unentschlossen. Sollte er auf sie zu gehen oder nicht. Ryanne schluckte als sich ihre Augen in Aidens verflochten. Kalte Schauer fuhren durch ihren Körper, seit seine Augen ihre gefesselt hatten. Dann wagte er doch den ersten Schritt. Den Nächsten und den Nächsten und einige wenige später stand er bereits vor ihr.
Rya atmete tief durch. Die Spannung in ihrem Körper ließ kurz nach, schnell aber war sie wieder in ihre Glieder gefahren. Aiden erging es nicht anders.
„Guten Morgen“, murmelte Rya. Sie hob ihre Füße und zog sie auf die Couch. Ihren Körper durchzog ein Schwall der Entspannung. Sie hielt überrascht inne. Das Gefühl war aus ihrem Körper verschwunden. Aiden wirkte ebenso überrascht wie sie. Beide sahen sich verwirrt an. Doch er wirkte unentschlossener als zuvor.
„Setz dich“, sage sie leise und wich seinem Blick aus. Einen Moment zögerte er, setzte sich aber. Als seine Hand die Lehne der Couch berührte, kehrte die Anspannung in Ryannes Körper zurück. Das Gefühl, dass auch Aiden sich anspannte. Jeden Muskel, jede Faser. Es war, als würde sie in seinen Körper stecken. Aiden war unsicher. Unsicher, was er tun sollte. Doch als seine Augen abermals ihre fanden, starrten sie einander an.
„Rya, ich…“, begann er, doch sprach nicht weiter. Er hob seine Hand, streckte sie nach ihr aus. Mit jedem Zentimeter, dem er sich ihr näherte, wuchs die Kälte in ihr an. Er stockte. Seine Hand schwebte über ihrer. Unentschlossen sah er auf ihre Haut. Aber auch Sehnsucht lag in seinem Blick. Nur wenige Millimeter trennten ihre Hände. Rya spürte den Impuls in ihm.
Kaum merklich, fast gar nicht, hatte er über ihre Hand gestrichen. Es war als würde ein Defibrillator sie zurück werfen. Sie konnte sich kaum an die Berührung erinnern, als sie sich zurückgepresst in ihre Couchkissen wieder fand. Ihr Herz raste vor Schreck. Aiden lag auf dem Boden, einen Meter von der Couch entfernt. Erschrocken richtete er sich auf, sah sie verwirrt an, fand keine Erklärung.
„Was-? Was war das?“, keuchte Rya und schob sich aus den Kissen. Aiden wich ihrem Blick aus, die Augen weit aufgerissen. Er atmete hastig und flach. Die Wut war auf sein Gesicht gezeichnet. Er blickte auf seine Hand. Die Hand, die nur kurz Ryannes gestreift hatte, in einem Anflug von Sehnsucht. Er schrie auf und schlug wütend auf den Boden. Rya zuckte auf. Aiden sank zusammen. Er starrte auf seine Hände.
„Aiden?“, fragte Rya und erhob sich von der Couch. Die Dielen ließen Aidens Wut und Verwirrtheit in ihren Körper fließen. Sie fühlte die Anziehung, aber je näher sie ihm kam, jeden Schritt den sie auf ihn zu machte, füllte sich ihr Körper mit Kälte. Ertränket ihn darin. Und als sie neben Aiden niedersank, zitterte Ryanne am ganzen Körper.
„Wieso?“, frage Aiden. Seine Hand fuhr durch seine Haare. Er sah Rya nicht an. „Wieso kann ich dich nicht… Warum…“
Rya wollte ihn berühren. Sie war diejenige, die ihre Hand nun nach ihm ausstreckte. Jeder Zentimeter zog sie stärker an. Jeder Zentimeter stieß sie mehr ab. Jeder Zentimeter ließ ihre Hand gefrieren. Aidens Gesicht wand sich zu ihr, als sie seine Schulter schon fast berührte. Er wich zurück. Rya hielt inne. Wollte ihre Hand sinken lassen, als Aiden seine hob. Näherte sie der ihren. Rya konnte die Sehnsucht in seinem Körper wachsen spüren, wie in ihr das Eis wuchs.
„Es ist… seltsam…“, murmelte sie und starrte auf die Hände, die so nah waren, aber einander nicht berührten. Aiden schluckte heftig. Fuhr mit seiner anderen Hand an seinen Hals.
„Wieso trocknet dein Hals aus?“, fragte sie. „Wieso kratzt er?“ Ryanne konnte alles genau fühlen, was in seinem Körper vorging. Konnte Aiden auch die Kälte in ihr spüren?
„Ich… Je näher ich dir komme, desto heißer wird mir“, krächzte er hervor. Schluckte ein paar Mal, dann fixierte er ihre Augen. „So gern…. würde ich sich berühren wollen“, flüsterte er.
„Ich weiß. Ich spüre es.“
„Aber nicht alles! Es ist, als würde mich alles von innen zerfressen. Heiße Flammen durch meine Adern fließen!“
Rya sah ihn verwirrt an. Sie konnte genau fühlen, wie er fühlte. Jede seiner Bewegungen vernehmen. Aber der Schmerz, der ihn heimsuchte, blieb ihr verborgen.
„Dann…. kannst du meine Kälte also nicht… Aber alles andere?“, fragte sie. Aiden sah sie verwirrt an. Er ließ seine Hand sinken.
„Was meinst du?“, fragte er. Seine Augen bedeuteten Unverständnis.
„Aber… Ich kann doch genau fühlen, wie du dich fühlst! Dein Wunsch mich zu berühren. Wie sich jede Faser in deinem Körper anspannt“, erklärte sie. Ihre Stimme klang beinahe hysterisch. Wie konnte es sein, dass er nicht so fühlte? Was war diese Verbindung, die auf einmal aufgetaucht war?
„Nein. Ich… spüre nur die Hitze.“ Er sah sie an. Ihre Lippen kribbelten. „Und es macht mich verrückt, dass ich dich nicht berühren kann, ohne von dir weggestoßen zu werden!“ Seine Hand zitterte, als er auf sie niederstarrte.
„Dann…“ Rya versuchte klar zu denken, alles zu ordnen. Sie verschränkte ihre Arme. „Dann kann ich also fühlen, wie du fühlst. Egal ob mental oder physisch und du… In dir wächst Feuer, wie in mir Eis.“
„Mit jedem Stück näher, wird es stärker. Die Anziehung, die Hitze… und die Sehnsucht. Ich kann es nicht stoppen, selbst wenn ich wollte“, murmelte Aiden. Sah sie nicht an.
„Aber wie kann das sein? Gestern-“ Rya stockte. Aiden sah auf.
„Was?“, fragte er.
„Wie bin ich… ins Bett gekommen? Ich erinnere mich an deine Geschichte, aber danach…“ Sie legte eine Hand auf ihre Schläfe. „Ich kann mich nicht erinnern. Und dieses Gefühl…“ Ihr Blick wurde verwirrter, gequälter. „Immer, wenn du da bist!“
Sie sah ihn an.
„Das ist schon das zweite Mal, dass meine Erinnerungen lückenhaft sind.“ Wut schlich sich in ihre Augen. Aiden wich zurück. Ihrem Blick aus. „Was ist passiert?“, forderte sie.
„Nichts weiter. Du bist eingeschlafen und ich habe dich ins Bett gebracht“, antwortete er.
„Ohne Verbrennungen? Ich dachte, du kannst mich nicht so einfach berühren! Und jetzt ist es noch seltsamer. Wie Magnete, die sich abstoßen!“
Er sah sie nicht an. Wich aus, als sie seinen Blick suchte.
„Aiden!“
„Das Blut“, murmelte er. Perplex hielt Rya inne.
„Wie bitte?“
„Als ich dein Blut… ableckte,… um deine Wunde zu heilen. Ich konnte dich berühren, ohne mich zu verbrennen. Du fühltest dich ganz normal an. Aber seid du wach bist… Vielleicht wirkt dieser Abstoßungseffekt nur, wenn du bei Bewusstsein bist.“
Rya klappte der Mund auf.
„Du… Wa-! Halt mal die Luft an!“, fuhr sie ihn an. Erschrocken wand sich Aiden ihr zu.
„Was?“
„Du willst mir gerade erklären, dass das Trinken meines Blutes, dich mich hat berühren lassen?! Ist das nicht etwas abgedreht? Du bist doch kein Vampir! Das…. Das ist einfach absurd! Und das soll auch erklären, dass ich dich fühlen kann bis ins kleinste Detail? Bevor du mir deine Story erzählt hast, war es nicht so! Und da hattest du meine Wunde bereits geheilt.“
Aidens Augen weiteten sich. Sie spürte, dass er etwas verbarg. Abermals suchte sein Blick lieber die Dielen auf, als ihre Augen festzuhalten. Rya wurde wütend. Klatschte mit der flachen Hand auf den Boden.
„Weich mir nicht aus! Und lüg mich nicht an! Ich merke es, wenn du mir etwas verheimlichst. Was ist das für eine Verbindung?“ Er blieb starr. Grimmig biss Rya auf ihre Unterlippe. Ungeduldig tippte sie mit ihren Fingern auf den Holzboden. Aiden schwieg.
„Aiden!“ Ungehalten schnappte sie seinen Kragen und zog ihn an sich. Sie spürte wie etwas an ihr zog, ihn von ihr wegdrückte, doch sie ignorierte es. Entsetzt sah Aiden sie an.
„La-lass mich los!“, fuhr er sie an und versuchte mit seinen Händen ihre zu lösen.
„Dann antworte!“ Sie zog ihn noch näher. Sein Körper verkrampfte. Sie spürte ihre Hände nicht mehr. Aiden sah ihr verloren in die Augen.
Dann übermannte es ihn. Seine Arme schlangen sich um ihren Körper, eine Hand krallte ihr Haar. Seine Lippen pressten sich auf ihre. Rya zuckte zusammen, als die Hitze in ihren Körper floss. Aiden drückte sie so fest an sich, wie nur möglich. Rya konnte sich nicht wehren. Wollte sich nicht wehren. Es war, als würde ihr Körper auftauen. Seine Lippen waren so weich und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihre Zungen verschmolzen und Rya fühlte die aufwallenden Schauer in ihrem Körper.
„NEIN!“, schrie sie und stieß Aiden von sich. Heftig schlug er gegen den Schrank und stöhnte auf, als er sich den Kopf rieb. Wutentbrannt sahen ihn rote Augen an. „Glaub ja nicht, dass du sie haben kannst! Du wirst sie nie bekommen! Also lass deine Finger von ihr!“, schrie sie.
Rya war entsetzt. Was war geschehen? Dieser Schrei. Es klang wie sie, aber sie hatte es nicht ausgesprochen. Ihr Kopf schmerzte wie tausend Dolchstiche. Ihr Atem ging schwer, doch kaum Luft fand sich in ihre Lungen. Aiden sah sie verwirrt an.
„Rya?“, fragte Aiden. Er war zu ihr hinüber geeilt.
„Ich… ich war das nicht! Ich… habe dich nicht weggestoßen.“ Entschuldigend sah sie ihn an. Tränen füllten ihre Augen. „Ich… versteh mich selbst nicht mehr. Was ist nur los?“
„Rya“, flüsterte er und strich die Träne von ihrer Wange. Sie legte ihre Hand auf seine. Sie war warm. Wie die eines normalen Menschen. Rya genoss die Berührung. Kein Widerstand und keine Anziehung lag in ihr. Es war, als wäre alles verschwunden. Das intensive Gefühl, wenn sie sich auch nur näherten. Die Kälte in ihrem Körper war immer noch zugegen, aber sie spürte ihn nicht mehr. Es war alles so verwirrend. Im ersten Moment dies, dann jenes. Sie fühlte sich hin und her gestoßen. Und dann dieser Aufschrei.
„Bleib ruhig, Rya“, flüsterte Aiden in ihr Ohr. „Ist schon gut.“
Erst jetzt bemerkte sie das Zittern, das ihren Körper durchfuhr. Aiden zog sie an sich. Keine Schmerzen. Es war angenehm. Rya fühlte sich fast sicher. Fast. Aber irgendetwas in ihr wollte ihn von sich stoßen. So sehr, dass er Schmerzen fühlen sollte. Und doch krallte sie sich nur noch fester an ihn.
Es klingelte. Die Mittagssonne stand bereits am Himmel. Wie lange hatten Aiden und sie so dagesessen? Sie wusste es nicht mehr. Ihr Körper fühlte sich leer an, als er sie los ließ. Langsam stand sie auf. Aiden hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Rya trottete zur Haustür. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Aiden durch einen kleinen Spalt seiner Tür sie beobachtete. Sie warf ihm einen undeutlichen Blick zu. Er öffnete die Tür weiter. Beide sahen sich in die Augen. Erneut klingelte es und Rya zuckte zusammen bei dem nahen Schrillen. Sie legte die Hand auf die Klinke, atmete tief durch und öffnete die Tür.
Joah stand vor ihr. Sein Blick war ernst.
„Ich muss mit dir reden“, sagte er.
„Joah! Was machst du hier? Ist die Uni schon vorbei?“ Verwirrt sah Rya den Hellbrünetten an.
„Kann ich reinkommen?“, fragte er. „Bitte. Es ist wichtig.“
„Ja. Klar“, antwortete sie langsam. „Komm rein.“
Als er sich an ihr vorbeigeschlungen hatte, schloss sie die Tür. Joah hatte innegehalten. Verwundert sah Rya ihn an. Als sie seinen Blick folgte, erblickte sie Aiden, der in seiner Tür stand.
„Bist du immer noch hier?“, fragte Joah kalt. Sein Blick hätte Aiden zerschneiden können, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Aiden spannte sich an und erwiderte die Frage mit einem genauso intensiven Blick. Kurz nickte er.
Joah seufzte resigniert und legte erschöpft eine Hand auf seine Stirn.
„Ich dachte, du wärst schlauer. Zumindest nachdem du herausgefunden hast, wer Ryanne ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie dumm du doch bist.“
„HEY!“, fuhr Rya dazwischen. „Hast du den Verstand verloren, Joah? Wie redest du mit Aiden!“
„So wie es sich gehört mit einem Engel zu reden, der jeglichen himmlischen Anspruch verloren hat“, erwiderte er kühl. Rya stockte der Atem. Woher wusste er, dass Aiden…?
„Wie-?“
„Meine Schwester hat es mir verraten.“
Rya sah ihn entsetzt an.
„Schwester? Du hast keine Schwester!“, murmelte sie verwirrt. Abermals seufzte Joah.
„Das spielt jetzt sowieso keine Rolle. Ich bin nur hier, um diesen Typen zu sagen, dass er sich verziehen soll“, entgegnete Joah schroff und funkelte Aiden an.
„Und wieso sollte ich das tun?“, fragte dieser herausfordernd. Beide starrten einander finster an. Dann schlang Joah einen Arm um Ryas Hüfte.
„Weil sie mir gehört“, antwortete Joah. Er umfasste Ryas Kinn und drehte es zu sich. Seine Augen fixierten ihre. Ein leichter Rotschimmer huschte über die Iris. Er näherte sich ihr. Seine Lippen legten sich auf ihre und Rya erstarrte. Er löste sie wieder. Schielte zu Aiden. „Und das wird sie auch bald bergreifen.“

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(Un)Vergänglicher Blutsband



„Was soll das bitte bedeuten?“, fragte Rya entsetzt und wand sich aus Joahs Arm. Nie hatte sie erwartet, dass einmal ihr bester Freund sie küssen würde. Es war so absurd. Doch da fiel ihr wieder ein, wie Aiden festgestellt hatte, dass Joah in sie verliebt sein musste. Und jetzt machte er einen auf besitzergreifenden, eifersüchtigen Freund vor ihr. Sie wurde rot – vor Scham, aber auch vor Wut. Wie konnte er es sich nur einfach so herausnehmen, sie…
„Das würde ich ebenfalls gerne wissen“, sagte Aiden kühl. Er und Joah starrten einander in die Augen. Joah seufzte und verschränkte seine Arme.
„Ist das nicht offensichtlich? Ich dachte, hiermit wäre klar, dass ich Anspruch auf Ryanne Stelle und du dich verziehen sollst“, erwiderte Joah kalt. Eiskalt. Noch nie hatte Rya erlebt, dass er so mit jemanden sprach. Nicht mal mit Leuten, die er abgrundtief verabscheute. Er wirkte so verändert. Aber Halt!
„Anspruch?!“, keuchte Rya überrascht. „Was für einen Anspruch?“
Joah löste den Blick von Aiden. Als würden die Blitze, die sie austauschten, abgebrochen. Er sah zu Rya. Lächelte sie an. Er hob seine Hand und strich Ryanne über die Wange. Sanft und zärtlich.
Rya fuhr ein Schauer über den Rücken. Dieses Lächeln. Diese Berührungen. Ihr Herz schlug schneller. Raste beinahe. Aber es war Joah, der vor ihr stand. Und sein ungewohnt verschmitztes und zugleich verführerisches Lächeln warf sie aus der Bahn. Ein Kribbeln durchfuhr sie, als er beide Arme um ihre Hüfte schlang und sie näher an sich zog. Er strich Rya eine Strähne aus dem Gesicht und seine Lippen näherten sich ihrem Hals. Sie spürte seinen heißen Atem.
„Den Anspruch, den ich auf meine Verlobte besitze“, flüsterte er in ihr Ohr.
„Verlobte?“, keuchte Rya.
„Rühr sie nicht an!“ Aiden zog Joah an seinen Haaren zurück. Zorn funkelte auf Joah hinab. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und gelangweilt sah er in Aidens auf. Eine seiner Hände lag immer noch ruhig auf Ryas Hüfte.
„Was sagte der Engel? Ich habe ihn nicht ganz verstanden“, züngelte Joah. Er griff nach Aidens Hand. Der Geruch von verbrannter Haut stieg auf. „Ich denke nicht, dass du mir was zu befehlen hast.“ Ruckartig zog er die Hand von seinen Haaren und wand sich Aiden zu. Kam ihm ganz nahe. Rya konnte erkennen, wie sich das Muster verbrannter Haut auf Aidens Arm ausbreitete. Zugleich wurde Joahs Hand von der Kälte tiefgefroren.
„Du bist doch bloß ein gerupftes Huhn. Du besitzt keinerlei Macht mehr. Dass Jin trotzdem verletzt wurde… Er muss ja echt schwach sein“, flüsterte Joah verächtlich. Sein Gesicht wenige Zentimeter von Aidens entfernt. Er machte keine Anstalten, Aidens Arm loszulassen, während sich die Hitze weiter an ihm hinauf fraß und der Gestank von verbrennenden Fleisch immer beißender wurde. Aiden blinzelte auf seinen Arm.
„Glaub nicht, dass mich das beeindrucken kann. Dein Feuer ist nicht mal halb so schmerzhaft, wie das der Tochter des Satans“, bemerkte er unberührt. Joahs Augen verfinsterten sich. Sein Griff wurde fester.
„Lass ihn los!“, brüllte Rya und riss seine Hand von Aidens Arm los. Böse funkelte sie Joah an. „Tickst du noch ganz richtig? Was ist bloß in dich gefahren, Joah?“ Sie wandte sich Aiden zu und besah seinen Arm. Sanft strich sie über das verbrannte Fleisch über das sich bereits neue Haut zog. Sie sah ihm in die Augen. „Alles okay?“
Aiden nickte.
„Mach dir keine Sorgen. Es tat fast gar nicht weh.“
„Aber auch nur, weil ich dich nicht ernsthaft verbrennen wollte. Aber so langsam bekomm ich Lust dazu, dich zu Asche zerfallen zu sehen“, knurrte Joah und wollte abermals nach Aiden greifen, aber Rya hielt ihn davon ab.
„Hör auf, hab ich gesagt!“ Sie brüllte ihm direkt ins Gesicht. Joah wich zurück. Als würde er ruckartig nach hinten gezerrt werden. In einem Meter Entfernung verharrte er. Rya blitzte ihn an, griff nach Aidens Hand und zog ihn direkt hinter sich.
„Ich hab absolut keine Ahnung, was du hier abziehst, Joah, und ich weiß auch nicht, ob ich es wirklich wissen will. Wieso du mich deine Verlobte nennst, oder weißt, dass Aiden ein gefallener Engel ist. Ich will nur, dass du sofort aus meiner Wohnung verschwindest!“ Rya wurde mit jedem Wort lauter, dass sie aussprach. Das letzte Wort schrie sie ihm entgegen und umfasste Aidens Hand noch fester. Doch Joah wirkte nicht so, als würde es ihn interessieren, was sie zu ihm sagte. Teilnahmslos sah er sie an. Dann glitten seine Augen an ihren vorbei.
„Du kannst sie berühren.“ Seine Stimme klang frostig.
„Ja“, erwiderte Aiden knapp, löste seine Hand aus Ryas und umschlang sie. Seine Nasenspitze fuhr über ihre Wange. Rya wurde kalt und heiß zugleich „Ja. Das kann ich.“
Joahs Finger knackten. Er krampfte sie so sehr zusammen, dass das Weiße auf seinen Knöcheln hervortrat und seine Sehnen sich beinahe durch die Haut reißend spannten. Seine Augen flackerten Rot auf.
„Wie kannst du es wagen“, flüsterte er. Seine Stimme war genauso gespannt wie sein ganzer Körper. Die Wut zügelte regelrecht durch die Worte zu Rya und Aiden hinüber. Rya konnte spüren, wie die Umgebung sich langsam aufheizte. Der Raum um Joah flimmerte durch die Hitzeschwaden. Aiden drückte sie nur noch fester an sich. Rya griff nach den Armen, die sie zu schützen suchten.
„Wie kannst du es wagen, ein Blutsband mit ihr einzugehen!“, schrie Joah und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Rya spürte, wie die Spannung in Aidens Körper durchfuhr allein an seinen verkrampfenden Armen. Joah wirkte wie ein angriffslustiger Panther, der nur auf seine Gelegenheit wartete. Rya sah zu Aiden auf.
„Lass mich los“, sagte sie ihm ins Gesicht, das von ihr abgewandt zu Joah starrte. Doch bei ihren Worten richtete sich Aidens gesamte Aufmerksamkeit auf sie. Seine Augen waren weit aufgerissen, als würde er sie für verrückt halten.
„Schon okay. Joah wird mir nichts tun…“ Sie sah zu ihrem besten Freund. „…und dir auch nicht!“ Energisch sah sie in die grüngrauen Augen des Hellbrünetten. Er schien verstanden zu haben und entspannte sich. Die Wut durchfuhr immer noch seinen Körper, aber er gab nach. Aiden drückte Rya noch einmal fest an sich, als sie wieder zu ihm blickte, ließ sie aber los. Joah zuckte, aber Rya hob abrupt die Hand, so dass er versteinerte.
„Du wirst ihm nichts tun, verstanden?“ Ihre Stimme klang fast genauso eisig wie seine zuvor. Joah warf den Kopf zur Seite, als wäre er beleidigt worden, aber nickte. Seine Augen fixierten sich auf Ryanne und versuchten den jungen Mann neben ihr auszublenden. Rya sah wie das Rot in Wellen über seine Iris flackerte. Schauer liefen über ihren Rücken, doch sie holte tief Luft und atmete laut aus.
„Würdest du mir BITTE erklären, was hier los ist?“ Rya Stimme klang gepresst, da sie versuchte, sich unter Kontrolle zu halten und Joah nicht sofort rauszuschmeißen. „Ich denke, dass bist du mir schuldig, Joah.“
Dieser sah ihr intensiver in die Augen, doch kurz zuckten seine Augen neben sie. Allerdings konnte er es gerade noch ertragen, dass Aiden neben ihr stand. solange er sie nicht berührte, und ignorierte ihn. Dann lächelte er Rya an. Doch sein Lächeln wirkte keinesfalls charmant. Eher gehässig.
„Ist es nicht eher so, dass du mir etwas schuldig bist?“, grinste er sie an und trat einen Schritt näher an sie. Rya sah zu Boden, ließ ihn noch einen Schritt näher treten, während Aiden immer angespannter wurde. Joah hob ihr Kinn an und sah ihr tief in die Augen. „Oder?“
Er machte ihr keine Angst. Sie wusste ganz genau, dass er ihr nichts tun würde. Joah hat ihr niemals wehgetan. Und damals hat er sie gerettet.
„Ja, das stimmt“, antwortete sie leise. Das Rot in seinen Augen biss sich immer intensiver mit der grüngrauen Färbung. Langsam schien sie abzunehmen. Rya fühlte sich seltsam schuldig, als sie das Rot beobachtete, doch andererseits durchfuhren sie Wellen wohliger Spannung, die Sehnsucht ausstrahlten. Danach, in seinen Armen zu liegen. Danach, seine Lippen zu berühren. Danach, mit ihm zu…
Rya stieß seine Hand von sich. Sie löste ihre Augen von seinen. Es fühlte sich wesentlich angenehmer an nicht in das hypnotisierende Rot zu starren.
„Was meint er damit?“, fragte Aiden. Rya sah nicht zu ihm, doch merkte, wie Joah ihm einen finsteren Blick zuwarf. Sie griff nach seinem Arm und bedeutete ihm, sich nicht vom Fleck zu rühren.
„Hast du es nicht in meinen Erinnerungen gesehen?“, fragte sie. „Als ich 15 war?“ Aiden blieb einen Moment stumm.
„Ich kann deine Erinnerungen nicht mehr sehen…“ Seine Stimme klang matt. Rya wandte sich um.
„Aber du hast mich heute so oft-“
„Seit gestern Nacht. Ich kann sie nicht mehr sehen“, unterbrach er sie. Rya war verwirrt. Hatte das etwas mit ihrer Gedächtnislücke zu tun? Sie spürte, wie Joah seinen Arm anspannte.
„Wegen des Blutbandes…“, knurrte er hervor. Seine Augen waren zornesentbrannt. Sie sah kurz in sein Gesicht, wandte sich wieder Aiden zu.
„Ist das auch der Grund für dieses…Eis? Diese Kälte? Die Gedächtnislücke?“, fragte sie drängend und deutete auf ihre Brust. Aiden sah sie traurig an. „Was ist dieses Blutsband?“ Er wich ihrem Blick aus. Dann merkte Rya, wie die Luft um sie herum sich aufheizte. Sie drehte sich Joah zu, dessen Wut abermals aufkeimte.
„Willst du es ihr nicht erklären?“, fauchte er Aiden an. Dieser schloss seine zu Boden gerichteten Augen. Joah schnaubte verächtlich. Verwirrt blickte Rya zwischen dem Brünetten zum Schwarzhaarigen hin und her.
„Ich denke, du wirst es ihr besser erklären können“, sagte Aiden, sah Rya und Joah aber nicht an. „Schließlich ist das ein dämonisches Ritual.“
„Genau, dämonisch!“, sagte Joah mit erhobener Stimme. „Die Betonung liegt auf DÄMON! Wie kann ein verfluchter Engel wie du es nur wagen?!“
„Joah!“ Rya hielt ihn zurück, als er auf Aiden lostürmen wollte. Wie ein schmollendes Kind wand er wütend das Gesicht von Aiden zu Rya. Diese sah ihn mit fragenden Augen an.
„Tse!“, stieß er aus. „Gut. Ich werde es dir erklären.“ Er erwiderte ihren Blick und versschränkte die Arme. „Es ist ganz einfach. Da Dämonen sehr lasterhafte Wesen sind, um es nett auszudrücken, sind Sex oder Ehe und dergleichen keine bindenden Beziehungen. Mal abgesehen, dass Dämonen sich eines Gefühls wie Liebe nicht verschreiben. Sie verlangen nur.“
Rya sah ihn verwirrt an. Toll. Märchen, die mehr als wahr sind. Sie sind gelebt.
„Und was soll mir das jetzt sagen?“, fragte sie skeptisch und legte eine Hand auf die Taille.
„Wenn Dämonen eine Bindung eingehen, dann durch einen Blutsband. Dieser ist unumstößlich und kann nicht getrennt werden. Er wird durch einen Blutsaustausch während eines Kusses geschlossen. Beide müssen dabei die Bindung wollen. Für einen Dämon gibt es nichts Intimeres als das Trinken des Blutes eines anderen Dämons. Man gibt sich vollkommen preis. Es ist durchaus möglich das Blut anderer Dämonen zu trinken, aber ein Blutsband wird nur mit der ersten Person, deren Blut man schmeckt, geschlossen. Es ist im Prinzip wie ein Versprechen dem andern mit Leib und Seele bis zum Tod zu gehören. Eine innere Verbindung, die immer spürbar ist.“
Joah fixierte Ryas Augen. Ihr fiel der Mund auf. Das erklärte so einiges, dachte Rya. Sie sah zu Aiden. Dieser schien ihre Reaktion genau zu beobachten.
„Wieso hast du mir das nichts gesagt?“, fragte sie, aber konnte sich die Antwort sogleich denken. Sie spürte das Blut in ihre Wangen steigen. Ihr Herz klopfte wild, als sie an ihn dachte. Wie sie ihn gefühlt hatte. „Aber…“ Sie ließ ihre Augen aufblitzen. „ Warum ist dieses Gefühl dann verschwunden, dass ich zuvor hatte?“
Joah sah sie abrupt.
„Welches Gefühl?“
Doch Rya ignorierte ihn. Sie starrte Aiden an, der ihren Blick erwiderte.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich ein Engel bin…“
„Welches Gefühl?!“
„Wenn es wirklich ein Blutsband wäre, dann hätte ich doch… Wir haben uns doch vorhin zum ersten Mal geküsst, oder?“ Rya sah Aiden verwirrt an. „Aber ich konnte dich schon vorher berühren. Doch diese Abstoßung… und dieser Aufschrei… und diese Kälte in mir.“
„WELCHES GEFÜHL?!“, brüllte Joah zwischen beiden.
„Schrei hier nicht so rum“, fuhr sie ihn an und er wurde gegen die Wand geschleudert. Erschrocken zuckte einer ihrer Hände zu Ryas Mund. „Wie-?“Ihr Kopf drehte sich. Ihre Knie gaben nach und sie sackte zusammen. Erschöpft rang sie nach Luft. Es war, als würde ihr innerlich die Lunge zerdrückt.
*Kommandier ihn nicht herum!*
Erschrocken über die wütende Stimme in ihrem Kopf riss Rya die Augen auf. Sie klang nach ihr und doch wieder nicht. Es war nicht ihre Stimme. Wie dieser Schrei. Langsam verstand sie gar nichts mehr. Sie fühlte sich betäubt von ihrem eigenen Körper.
„Rya.“
Sie wand sich Joah zu, der neben sie geeilt war. Aber warum er? Verwirrt sah sie zu Aiden. Doch sobald sie ihn erblickte, spürte sie die Abstoßungskraft. Noch intensiver als zuvor. Aiden versuchte es, aber konnte sich ihr keinen Zentimeter nähern.
„Wieso?“ Rya richtete sich auf. Doch bevor sie auch nur ansetzte zum Aufstehen, schlangen sich Joahs Arme um sie. Er drückte seine Lippen auf ihr Haar. Ein schummriges Gefühl durchfuhr sie. Wellende Schauer aus Wärme.
Warum?
Sie sah auf zu Joah. Ihre Lippen kribbelten.
Warum?
Sie sah zu Aiden. Spürte die Anziehung zu ihm, streckte ihre Hand aus, aber sie wurde zurückgestoßen.
Warum?
Joah griff nach ihrer Hand und ein Blitzschlag durchzog ihren Körper. Dieser spielte total verrückt, sie konnte es nicht kontrollieren. Nie hatte Joah in ihr ein so intensives Gefühl ausgelöst. Ihr Körper wollte mehr von ihm berührt werden, aber ihr Herz sehnte sich nach dem, den sie nicht erreichen konnte. Sie warf Aiden einen verwirrten Blick zu. Sah seinen entsetzten Ausdruck und spürte das Lächeln an ihren Lippen, das sich auf Joahs Lippen gelegt hatte. Aiden streckte die Hand nach ihr aus, lief auf sie zu, dann wurde alles Schwarz und die Luft schien in Ryas Lungen zu Stein zu werden.

Rya blinzelte. Ihre Brust tat immer noch von der plötzlichen Luftverhärtung in ihrer Lunge weh. Sie musste husten und der Schmerz wurde noch stechender. Sie krümmte sich auf die Seite. Als das Stechen etwas nachgelassen hatte, öffnete sie die Augen. Es war dunkel. Ihre Augen mussten sich erst an das dämmrige Licht, das durch schwere Vorhänge gemächlich hindurchsickerte, gewöhnen. Sie lag auf einem großen, weichen Himmelbett. Als sie aufzurichten versuchte, stach es abermals in ihrer Brust, aber sie ignorierte den Schmerz und sah sich weiter um. In dem Raum war nicht viel mehr. Ein Schrank, eine Kommode, ein Spiegel gegenüber dem Bett.
„Bist du wach?“, ertönte eine bekannte Stimme. Abrupt wand Rya sich um und bemerkte Joah, der gegen das Kopfende des Bettes gelehnt saß. „Alles okay?“
Rya war über den besorgten Ton in seiner Stimme überrascht. Hatte er nicht noch gerade den total eifersüchtigen, besitzergreifenden Verlobten gemimt? Obwohl die seltsame Aura um ihn herum verschwunden zu sein schien.
„Joah? Wo bin ich?“, fragte Ryanne. Der Junge sah sich um und beugte sich zu ihr vor. In dem schwachen Licht konnte Rya erkennen, dass seine Augen eine Farbe zu besitzen schienen. Allerdings konnte sie nicht feststellen, ob sie normal aussahen oder rot waren.
„Ich hab keine Ahnung. Als ich aufgewacht bin, lag ich hier. Aber…“ Er unterbrach sich selbst und wich ihrem Blick aus. „Tut mir Leid, wegen vorhin. Ich weiß auch nicht, was los war. Aber immer wenn ich auch nur daran denke, was Aiden und du- Es fängt einfach an in mir zu grummeln und… ich verlier die Kontrolle…“ Er seufzte. „Das ist echt die mieseste Erklärung ever, stimmt‘s?“
Rya musste schmunzeln und konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Das klang nach dem alten Joah. Nach ihrem besten Freund.
„Zumindest scheinst du dich wieder eingekriegt zu haben. Das ist schon mal ein Anfang. Trotzdem löst das das Problem nicht, dass wir hier in irgendeinem dunklen Raum sitzen und nicht wissen, wo wir sind. Oder besser noch: wie wir hier her gekommen sind.“
„Ich weiß es nicht mehr. Ab den Moment, als du auf die Knie gesackt bist und ich zu dir ging, ist alles weg. Es wird einfach schwarz.“
„Ja. Ich erinnere mich auch nur, dass es schwarz vor meinen Augen wurde und dann bin ich hier aufgewacht.“ Nachdenklich legte sie einen Finger an ihr Kinn. Rya dachte daran, dass Joah sie umarmt hatte. Wie er einen Kuss auf ihre Haare gedrückt hatte. Ein warmer Schauer kroch ihren Arm hinauf. Sie versuchte ihn abzuschütteln, aber so recht wollte es ihr nicht gelingen.
Sie musste an Aiden denken. Wie weit sie wohl von ihm entfernt war? Aber abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als eine Hand über ihre Wange glitt und eine Strähne hinter ihr Ohr strich. Sie richtete ihren Blick auf Joah. Er saß direkt neben ihr. Seine Knie berührten ihren Oberschenkel. Seine Augen wirkten traurig, als seine Finger an ihrem Hals verweilten.
„Joah?“, flüsterte Rya.
„Du sagtest… ihr habt euch geküsst…“ Ein Stechen. Noch intensiver und tiefer als das Stechen in ihrer Lunge, als sie aufgewacht war. Joah wandte seinen Blick ab. Er konnte sie nicht direkt ansehen. Bevor seine Finger gänzlich von ihrer Haut streiften, legte sie ihre Hand auf seine. Joah sah auf. Seine Augen wirkten hoffnungsvoll, aber auch schrecklich enttäuscht. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Er war ihr bester Freund und er bedeutete ihr sehr viel. Aber seine Gefühle konnte sie nicht teilen.
Sie senkte ihren Blick und nickte. Sie spürte das Zucken seines Körpers durch die unkontrollierte Bewegung seiner Finger.
„Also du… er… ihr...“ Er riss die Hand aus ihrer. Sah sie nicht an. Starrte auf seine Hand, die Augen weit aufgerissen. Sein Atem wurde schwerer. Tränen rannen auf seine Wangen. „Aber… Aber ich war doch zuerst…! Ich…“ Er sah sie an, die Augen verzerrt durch die Wut und Enttäuschung. „Ich hab dich gerettet!“ Er beugte sich vor. Richtete sich auf.
„Ich hab dich-! Diese Vergewaltiger! Warum-“ Seine Stimme wurde immer lauter, immer erstickter. „Wie konntest du dich in so einen dahergelaufenen Typen verlieben?!“ Er schrie sie an. Rya wich zurück. Er schlug mit den Fäusten auf die Decke neben ihr. War ihr ganz nahe.
„Ich habe dich gesucht, als du entführt wurdest. Ich habe dich gefunden. ICH HABE DICH GERETTET! Ich… ich… nicht er“ Sein Schluchzen wurde lauter und erstickte seine Stimme. Er griff nach dem Saum ihres Tops. „Ich war doch immer da.“
„Joah“, murmelte Rya. Ihr bester Freund weinte. So sehr wie er es noch nie getan hatte. Nicht einmal an dem Abend, als sie mit zerrissener Kleidung in einer dreckigen Gasse lag und ihr ganzer Körper schmerzte. Sie hob ihre Hand. Wollte über seinen Kopf streichen, aber stockte, bevor sie auch nur ein Haar berührt hatte. Streckte ihre Finger aus, aber zog sie wieder zurück. Sie sammelte ihren Mut und versuchte es ein letztes Mal, doch bevor sie ihre Hand nur einen Millimeter bewegte hatte, griff Joahs Hand nach dieser. Fest drückte er zu, hob seinen Kopf.
Ein Grinsen umspielte seine Lippen. Rya zuckte zurück, doch Joah hielt sie eisern fest.
„Hast du wirklich gedacht, ich würde hier rumflennen wie ein kleines Mädchen?“ Joah lachte auf. Hielt sich bereits den Bauch, aber ließ ihre Hand nicht frei. Verwirrt sah Rya ihn an. Dann zuckte sein Gesicht an ihres. Wenige Millimeter trennten ihre Lippen. „Du hast das wirklich geglaubt, nicht wahr?“
Seine Lippen pressten sich auf ihre und sie riss ihre Augen auf. Joah umschlang ihre Taille. Ihre Körper schmiegten sich an einander, aber Rya versuchte mit aller Kraft ihn von sich zu drücken. Doch er war stärker, presste sie zurück in die Decke und lag schwer auf ihr. Der Kuss raubte ihre den Atem. Sie wollte nach Luft schnappen, aber Joah ließ ihr nur einen kurzen Moment, bevor sich seine Lippen wieder auf ihre legten und seine Zunge mit ihrer verschmolz. Er griff nach ihrer anderen Hand, die versuchte Abstand zwischen beide zu bringen, zog sie mit der anderen über Ryas Kopf und drückte ihr Handgelenke mit einer Hand zusammen. Seine freigewordene Hand glitt an ihrer Seite entlang und Rya zuckte zusammen. Er ließ eine Hand unter den Saum ihres Tops gleiten und schob es einige Zentimeter hinauf, sanft über ihren Bauchnabel streichend. Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus. Joah löst seine Lippen von ihren und rote Augen grinsten sie an, während Rya nach Luft rang.
„Du bist noch genauso empfindlich wie damals“, lächelte er und hauchte einen Kuss auf ihre Kehle. Ein gedämpftes Geräusch erklang durch ihre zusammengepressten Lippen und erneut breitete sich Gänsehaut über ihren Körper.
„Wie… meinst du das?“, keuchte sie hervor. Sobald sich seine Finger bewegten, spürte sie blitzende Wogen durch ihren Körper fließen. Und sie hasste es! Sie wollte nicht so fühlen, aber sie konnte es nicht verhindern. Joah lachte auf und richtete sich auf. Er ließ ihre Hände los, aber setzte sich auf ihre Hüfte, so dass sie nicht fliehen konnte.
„Glaubst du wirklich, diese alten, dreckigen Säcke hätten dir etwas angetan?“ Er lachte nur noch lauter, als er mit einer Hand seine Haare zurückstrich. Dann beugte er sich zu ihr vor. Das hypnotisierende Rot seiner Augen hinderte sie daran sich zu bewegen. „Du musst doch selbst gestehen, dass du total psychisch am Ende sein müsstest, wenn dich drei solcher Kacker vergewaltigt hätten. Erinnerst du dich überhaupt daran?“ Sein Grinsen war breit. Er fuhr mit seiner Hand durch ihr Haar und ließ seine Lippen über ihren Nasenrücken wandern.
„Hör auf damit!“, fuhr Rya ihn an und stieß ihn von sich.
„Als ob ich es zu lassen würde, dass man meine Ryanne anrührt! Obwohl du daran nicht ganz unschuldig warst…“
„Was willst du damit sagen? Dass ich mich freiwillig habe entführen lassen, damit diese Typen mit mir machen konnten, was sie wollten?“ Rya Stimme klang hysterisch heiser. Sie konnte nicht glauben, was hier gerade vor sich ging. Aber eins wusste sie ganz genau. Dieser Junge, der sie nötigte, konnte nicht Joah sein!
„Wer bist du?!“
„Man muss dir wirklich viel erklären.“ Joah stieß einen tiefen Seufzer aus und richtete sich abermals auf. „Wo fange ich am besten an?“ Er dachte einen kurzen Moment nach.
„Du bist nicht Joah!“ Rya hob sich auf ihre Ellenbogen. Versuchte sich unter dem Jungen hervor zu ziehen, aber dieser Joah war viel kräftiger als der, den sie kannte. Er kratzte sich am Kinn. „Da hast du wahrscheinlich nicht mal ganz Unrecht. Ich bin Joah, aber auch wieder nicht…“
„Dann ist er von dir besessen?“, unterbrach sie ihn. Joah sah sie verdutzt an. Dann breite sich ein Grinsen auf seinen Lippen aus und musste losprusten. Vollkommen perplex starrte Rya ihn ungläubig an.
„Du bist ja echt süß! Nein… Ich und Joah, wir waren von Anfang an eins.“ Er konnte ein weiteres Lachen nicht unterdrücken. „Von Geburt an. Sein Körper ist mein Körper. Ich bin eher eine Art dämonisches Ich.“ Ein breites Grinsen auf dem Gesicht, näherte er sich ihrem. „Obwohl ich nicht vor habe, ihm die Kontrolle wieder zu überlassen. Und es ist nicht nur bei mir so.“
Rya fiel der Mund auf. Aiden hatte Recht gehabt. In Joahs Ader floss wirklich dämonisches Blut. Aber was sollte diese Andeutung? Ryas Kopf drehte sich vor Informationen.
„Willst du es wissen?“ Er grinste breiter und ließ seine Hände zum Saumen seines T-Shirts fahren. Gleitend zog er über seinen Kopf. Der Anblick ließ Rya den Atem stocken. Das war wirklich nicht Joah. Zu viele Muskeln! Dieser ihr vollkommen fremde Joah nahm eine ihrer Hände und zog sie an sich. Als er seinen Arm um ihren Rücken legte, spürte sie jeden seiner Muskeln. Dann näherten sich seine Lippen ihrem Ohr. „Du bist genauso.“
„Wie bitte?!“ Rya wurde langsam wütend. „Kannst du bitte aufhören, mich ständig zu verwirren?! Ich hab‘s langsam satt!“ Joah kicherte über ihre Rage.
„Du bist genauso dämonisch wie ich. Die Tochter des Satans.“
Jegliche Wut verflog. Rya erstarrte. Ihre Augen waren bis zum Bersten aufgerissen, jegliches Licht daraus verschwunden.
„Oder warum glaubst du, konnte dich Aiden nicht berühren? Dieses Erfrieren kann ein Engel nur bei Dämonen auslösen.“ Er kicherte abermals, bevor mit seiner Nasenspitze über ihre linke Schläfe fuhr. „Und dann auch noch so eine äußerst mächtige. Ich wünschte mir, dass endlich meine Rya erscheint mit der ich damals ein Blutsband geschlossen habe.“
„Was?“ Es war mehr ein Hauchen als ein Flüstern. Rya fühlte sich leer. Ausgelaugt. Nur ein leichtes, warmes Zippen zog sich durch ihren Bauch, ausgelöst durch Joahs Zärtlichkeit.
„Ich sagte doch, dass dich diese Wichser damals nicht vergewaltigt haben. Diese Nacht hast du mit mir verbracht. Unsere Verlobungsnacht.“ Er küsste ihre Stirn und ließ einer ihrer Strähnen durch seine Hand gleiten. „Diese Nacht, als du 15 warst. Das war die Walpurgisnacht. An diesem Abend werden alle Jungdämonen in den Kreis der Volldämonen aufgenommen. Ab diesem Abend kann man ein Blutsband eingehen, spürt man zum ersten Mal das unglaubliche Verlangen, das deinen Körper jede zukünftige Minute in deinem Leben heimsuchen wird.“ Sanft drückte er sie zurück auf die Decke. Rya wirkte entsetzt. Das war alles so absurd, so abgedreht. Sie hatte das Gefühl wahnsinnig zu werden. Sie musste verzerrt grinsen.
„Klar. Also eine riesige Orgie! Wie es sein soll.“ Sie musste Lachen. Doch es klang keineswegs fröhlich, eher gequält, stockend.
„Du bist wirklich oberflächlich. Ich sagte doch bereits, dass Sex für Dämonen keine Bedeutung hat. Nicht so, wie für Menschen.“ Seine Lippen wanderten langsam von ihrer Wange ihren Hals hinab zu ihrem Schlüsselbein. Kalte Schauer fuhren durch Ryas Körper. „In dieser Nacht bist auch du ein vollwertiger Dämon geworden. Deine dämonische Seite, meine Rya, ist zum ersten Mal in Erscheinung getreten. Das Verlangen, dass sie in allen auslöste, war größer als das jedes anderen Dämons, der bei der Walpurgisnacht anwesend war. Und wie intensiv es erst auf Menschen wirkte. Daher haben dich diese Ratten sich gekrallt.“ Seine Lippen formten ein Lächeln auf ihrer Haut. „Sie glaubten wirklich, sie könnten alles mit dir anstellen.“
*Hahaha. Diese Törichten!*
Das Lachen hallte in Ryas Kopf wieder. Diese Stimme. Wie ihre und doch vollkommen anders. Sie klang vertraut und doch fremder als alles, was Rya kannte. Das intensive Gefühl von Joahs Berührungen nahm zu und Ryas Lippen entfuhr ein tiefer Seufzer. Abrupt hielt er inne und sah ihre direkt in die Augen. Sein Gesicht wirkte gespannt.
„Du warst es auch, die sie so zugerichtet hat. Allerdings waren deine Kräfte unkontrolliert und du hast dich selbst verletzt“, sagte er langsam und fixierte fest Ryas Augen. Sie fühlte sich immer ferner. Als würde ihr Körper betäubt von der heißen Glut in ihr.
„Aber die blauen Flecken und-“ Ryas Stimme versagte. Sie spürte wie ihr Mund sich bewegte, aber kein Ton entfuhr ihm.
*Ich würde mich nie von solchem Gewürm anrühren lassen!* Die Stimme hallte in ihrem Kopf, dass ihr die Ohren dröhnten. Ryas Kehle war wie zugeschnürt. Alles wurde heiß um sie. *Doch Joah ist sehr wild* Ein samtiger, verführerischer Ton.
„Du hast dich mir hingegeben. Erinnerst du dich, Rya?“, flüsterten seine Lippen nah in ihren. Seine Augen wirkten sanft und er strich über ihre Wange. Aber alles fühlte sich, als würde Rya in Wasser schwimmen. Und dann hob sie ihre Hand und legte sie auf Joahs. Aber sie war das nicht.
„Ja“, entfuhr es ihrem Mund, aber sie hatte es nicht gesagt. Bilder von einem dunklen Raum und ihr und Joah liefen vor ihren Augen ab. Aber es waren nicht ihre Erinnerungen.
*NEIN!*
Das riss jemand die Tür zu dem dunklen Raum, in dem sie sich gerade befanden, auf und Joah wurde unsanft an das andere Ende des Bettes geschleudert. Das betäubende Gefühl verschwand und Rya richtete sich schwer atmend auf. Als sie sich umsah, erblickte sie eine Gruppe von schwarzgekleideten Männern in der Tür stehen. Sie teilten sich und hinter ihnen erschien ein älterer Mann mit silbernem Haar. Sein fester Blick fixierte Rya. Als seine roten Augen ihre trafen, keuchte Rya noch heftiger.
„Vater!“

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Tag der Veröffentlichung: 26.12.2010

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