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Kapitel 1

Kapitel 1



Noch einmal tief durchatmen. Sirius schloss die Lider, versuchte, das Beben seiner Hand in den Griff zu bekommen. Wuchtig klopfte sein Herz und an seinem Nacken kribbelten feine Schweißperlen.

Verdammt noch mal, warum musste er immer so nervös werden? Da war doch nichts dabei. Hinter der Tür aus undurchsichtigem Glas lauerte schließlich kein Ungeheuer. In schwarzer, kantiger Reliefschrift stand dort: „Büro“ und darunter in Silber: „Jules Moreau“.

Der Griff aus stahlgrauem Metall befand sich nur wenige Zentimeter unter Sirius’ Hand, dennoch konnte er sich kaum überwinden, diesen zu berühren. Wie er solche Situationen hasste. Fest schloss er die andere Hand um das Fundstück, spürte dessen Kanten in seine Handfläche drücken. Es half nichts, er musste zu Jules Moreau und ihn abliefern. Und dazu musste er zwangsläufig mit diesem reden.

Viel zu zaghaft klopfte er gegen das Glas, erschrak selbst ein wenig vor dem lauten Geräusch, das durch den schmalen Gang zu dröhnen, jedem im „Blinded Date“ zu verraten schien, dass er gestört hatte.

„Ja bitte? Herein!“, erklang es dahinter. Hastig wischte sich Sirius die freie Hand an der Jeans ab. Während er die Finger auf die Klinke legte, holte er noch einmal gierig Luft, spürte bereits, wie sich ihm die Kehle zuschnürte und sogar seine Gedanken abgehackt zu kommen schienen. Dabei hatte er sich die Worte wieder und wieder vorgesagt. Den ganzen Weg von den Räumen herunter. Jedes Wort hatte er sorgfältig moduliert, damit sie ihm nur ja richtig herauskamen. Doch während die Tür geräuschlos aufschwang und ihn in die kühle Atmosphäre des Büros hineinsaugte, wurde sein Hals so eng, dass er bezweifelte, überhaupt etwas herauszubekommen.

„Ah, Sirius. Schön dich zu sehen. Ist alles in Ordnung? Gibt es ein Problem?“ Jules Moreau erhob sich, schaute ihn fragend an, das Gesicht makellos, ohne auch nur eine glänzende Stelle, die Augen derart hellgrün, dass sie schon ein wenig unheimlich aussahen. Wangenknochen, sowie die Nase wirkten scharf, das Kinn ein wenig spitz. Alles etwas zu perfekt geschminkt, um natürlich zu wirken. Dazu die Haare, die in einer modischen Frisur nach oben standen, um die ihn Sirius mit seinen nahezu stoppelkurzen nur beneiden konnte. Gekleidet in ein dunkelblaues Hemd, das nicht eine einzige ungewollte Falte aufwies, eine Hose, die den Namen „Jeans“ in Gegenwart ihres Designer nicht einmal zu flüstern wagen würde, und Schuhen, deren Leder so glatt und glänzend aussah, als ob sie gerade eben aus einer Vitrine genommen worden wären.

Sirius schaffte es ganze vier Schritte in den Raum hinein, gerade eben so viel, dass die Tür sich automatisch hinter ihm schloss, ehe die Starre seine Beine erfasste. Mühsam konzentrierte er sich auf den Gegenstand in seiner Hand, versuchte die Worte so zu modulieren, wie er es geübt hatte. Sorgfältig, einen Buchstaben nach dem anderen, reihte er sie in Gedanken zusammen. Nur nicht hastig herausbringen, dann stotterte er so stark, dass ihn niemand verstehen konnte. Langsam, dann wurden die Worte verständlich genug. Oh, wie er seine Behinderung hasste.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Gab es Ärger?“ Auf Jules vermutlich durch Botox geglätteter Stirn erschien überraschenderweise eine akkurat gerade Falte direkt über der Nasenwurzel.

Energisch schüttelte Sirius den Kopf, holte noch einmal durch die Nase Luft, widerstand der Versuchung, sich zu räuspern.

„Ich habe …“, brachte er glatt hervor, dann war es da, lähmte seine Zunge, hemmte die Worte, zerstückelte sie, sodass sie wie Scherben herausbrachen: „ge… ge… fu… fu… fu… nden.“ Verzweifelt holte er Luft, presste die Zunge gegen den Gaumen, als ob er so die Beherrschung zurückgewinnen könnte. Du kannst das, ermahnte er sich. Du hast es so oft geübt, du weißt, dass du langsam sprechen musst. Silbe für Silbe.

Jules legte den Kopf leicht schief, kam hinter seinem Designerschreibtisch hervor und sah ihn erwartungsvoll an. Wie gut, dass er das Problem schon kannte. Wenn Sirius da an sein Bewerbungsgespräch zurückdachte. Oh Mann, dass Jules Moreau ihn überhaupt verstanden hatte.

„Du hast etwas gefunden?“ Höflich lächelte Jules ihn an, und der Gedanke, dass er bisher immer auf Sirius’ Sprachproblem mit Freundlichkeit und Geduld reagiert hatte, machte es Sirius leichter, sein Anliegen hervorzubringen.

Entschlossen öffnete er die Hand, hielt Jules den Gegenstand hin. „Das l… lag unter dem B… B… Bett in der neun… neu… neunzehn.“

Die hellgrünen Augen wurden groß und zum ersten Mal erlebte Sirius eine direkte Emotion bei Jules, der konsterniert auf Sirius’ Hand starrte und die Uhr dann mit spitzen, manikürten Fingern hochhob. „In der 19? Das ist ja eine echte Rolex! Die ist ein Vermögen wert. Und die hast du gefunden? Und du gibst sie bei mir ab?“

Leicht verstimmt nickte Sirius, denn diese Art Verblüffung tat weh. Für wen hielt Jules ihn denn? Nur weil er im „Blinded“ die Zimmer putzte, war er doch kein potenzieller Dieb.

„Die wird vermisst werden“, brachte er hervor und reckte das Kinn herausfordernd, froh, dass er die Worte glatt herausgebracht hatte. Ging doch.

„Und ob sie das wird.“ Tief sog Jules die Luft ein, starrte auf das matt schimmernde Gold der Herrenuhr und straffte die Schultern. „Verzeih mir. Du hast mir nie Grund zu der Annahme gegeben, unehrlich zu sein. Ich entschuldige mich. Das war pietätlos von mir. Vermutlich, weil ich mich gefragt habe, ob ich in deinem Fall derart anständig gewesen wäre. Und dessen bin ich mir gerade nicht sicher.“

Wow. Das haute Sirius beinahe um. Für ihn war es nie eine Frage gewesen, die Uhr abzugeben. Sicherlich, dass sie ein Vermögen wert sein musste, war auch ihm sofort klar gewesen. Nichtsdestotrotz hatte sie doch einen Besitzer und der würde sie schmerzlich vermissen, wenn er sich von seinem Date der letzten Nacht erholt hatte.

Natürlich wusste Sirius ganz genau, was in der Zeit von 21 bis 4 Uhr in den Räumen des Clubs vor sich ging. Mehr als die allermeisten sogar, denn er putzte vormittags sämtliche Spuren fort und sorgte dafür, dass die Räume für die nächsten Gäste in tadellosem Zustand waren. Jules Moreau hatte ihm ganz genau das Konzept des Clubs erklärt, als er sich für den Job beworben hatte. Ein Pluspunkt war gewesen, dass er selbst schwul ist und versichert hatte, er hätte kein Problem mit dem, was hier vor sich ging.

Die Bezahlung war gut und auch wenn er anfangs ein wenig pikiert gewesen war, dass sein neuer Chef auf regelmäßigen HIV Tests bei ihrem Arzt bestanden hatte, so hatte er sich im letzten Jahr gut eingefunden und mochte den Job.

Vor irgendetwas ekeln durfte man sich natürlich nicht. Kondome und Sperma gehörten noch zu den harmlosen Spuren, die er beseitigen musste. „Alles geht, nichts muss“, war das Motto des exklusiven Clubs. Die strengen Regeln, nach denen die Zusammenkünfte hier abliefen, kannte auch Sirius, denn zusätzlich zu Hinweisen neben den Türen der Zimmer, lagen diese auch noch auf den Nachttischen aus.

„Wie auch immer.“ Jules unterbrach seine abschweifenden Gedanken. „Danke, dass du sie abgeliefert hast. Ich hoffe, du bist sonst zufrieden? Benny freut sich noch immer, dass du so zuverlässig bist. Wir hatten ja ein wenig Pech mit den vorherigen Reinigungskräften.“ Hinter vorgehaltener Hand erklang ein gekünsteltes Hüsteln, und Jules schritt zurück zu seinem Tisch, platzierte die Uhr übertrieben vorsichtig auf der Unterlage. „Zimmer 19 sagtest du? Gut, ich gehe die Besetzung dann mal durch. Da wird sich der Eigentümer schon finden lassen. Danke.“ Seine schlanken Finger flogen über die Tastatur seines MacBooks.

„Ich ge… ge… gehe wieder a… an die Arbeit“, brachte Sirius einigermaßen befriedend hervor. Die Nervosität war verflogen, und auch wenn ihm Jules geschniegelte Persönlichkeit immer ein wenig unheimlich war und er das sterile, abweisende Büro ebenso ungern betrat, war er stolz, dass er es doch hinbekommen hatte.

„Hm? Ja, danke“, murmelte Jules, bereits in die Daten auf seinem Bildschirm vertieft, die linke Hand tastete nach den Kopfhörern. Sirius erinnerte sich, dass Jules erwähnt hatte, die Zimmer würden akustisch überwacht werden. Vermutlich auch per Video, auch wenn er bisher beim Putzen der Zimmer keine Kamera hatte entdecken können.

„Oh, und Sirius?“ Die Stimme traf ihn in den Rücken, als er schon beinahe die Tür erreicht hatte. Augenblicklich schoss der Puls in die Höhe und der Druck in seiner Kehle wuchs. Hatte er doch etwas falsch gemacht?

„Selbstverständlich zeigt sich das ‚Blinded Date‘ erkenntlich. Du wirst dann die doppelte Monatsentlohnung auf deinem Konto finden. Ich hoffe, das ist angemessen?“ Der Blick der hellgrünen Augen, deren Intensität eigentlich nur von Kontaktlinsen herrühren konnte, bohrte sich in Sirius, der keinen Ton herausbringen, lediglich nicken konnte. Doppeltes Gehalt? Wahnsinn, das war … enorm großzügig.

Mit einem letzten Lächeln winkte Jules ihn hinaus, während er bereits die Kopfhörer aufsetzte. Geräuschlos schloss sich die Glastür und Sirius stand einen Moment im Gang, rekapitulierte, was geschehen war. Doppelt? Das war Geld, was er wunderbar gebrauchen konnte. Damit konnte er den neuen Reifen für seinen alten Golf kaufen. Und vielleicht ein paar neue Jeans? Hach, er würde sich eine Liste der Dinge machen, die wirklich notwendig waren und wenn dann noch etwas von dem Extra übrig war, dann würde er sich etwas gönnen.

Beschwingt kehrte er an die Arbeit in Zimmer Zwanzig zurück. Um 14 Uhr war er mit allen Räumen fertig, inklusive der Duschen und des Umkleideraums. Dieser Raum war ihm immer ein wenig unheimlich mit seiner düsteren Atmosphäre. In ihm entkleideten sich die Kunden des Clubs und nahmen die Utensilien an sich, die zu ihren jeweiligen Rollen des Abends passten. Als Jules es ihm erklärte, hatte er mühsam ein Grinsen unterdrücken müssen, so affig war es ihm erschienen. Da waren also die Männer in den Bademänteln, die als Mister X unterwegs waren, und sich im Gang zwischen den Räumen durch die Fenster die Y-Typen anschauen konnten. Wie bei einem Schaufensterbummel. Diese wiederum trugen Augenbinden und sonst nichts. Fleischbeschau. Ein Sklavenmarkt. Oder eine hochmoderne lediglich getarnte Sexmeile.

Das waren so Sirius’ erste Gedanken gewesen, die er bald schon revidiert hatte. Auch wenn es in dem Club, wie in vielen anderen auch, um anonymen schwulen Sex ging, so war es hier doch anders, als in den Darkrooms, die er gelegentlich aufgesucht hatte. Die Bedürfnisse der Y-Typen standen eher im Vordergrund als die der X-Männer. Ein Ort, an dem sich nahezu alle sexuellen Vorlieben und Wünsche erfüllen ließen, eingebettet in den scheinbar sicheren Rahmen von Regeln und Überwachung.

Natürlich waren vor allem die BDSM-Räume stets hochfrequentiert und anhand der Hinterlassenschaften aus Sperma, Blut und mitunter auch Urin, konnte er sich durchaus so einiges über diese Spielart zusammenreimen. Selbst war er damit noch nicht in Kontakt gekommen und war definitiv nicht masochistisch genug veranlagt, um sich auf diese Spiele einzulassen.

Seufzend ließ Sirius den Blick durch den letzten Raum für heute schweifen. Ein einfacheres Zimmer. Die obligatorischen Ösen am Bett und Lederfesseln und an der Wand neben dem Bett das gut gefüllte Toyregal. Wie immer konnte er sich nicht verkneifen, die Reihe der Sexspielzeuge noch einmal durchzugehen. Nach jedem Date fielen ihm auch diese in die Hände, um sorgfältig gereinigt, desinfiziert und inspiziert zu werden. Jules verließ sich darauf, dass er gründlich arbeitete, alles musste picobello sein.

Nachdenklich rieb sich Sirius über das stoppelige Kinn und nahm einen der einfacheren Dildos aus dem Regal. Zugegeben, die Funktionsweise einiger Toys war ihm zu Beginn seines Jobs noch unbekannt gewesen und auch wenn Jules und sein Assistent Benny angeboten hatten, ihm diese zu erklären, so hatte er sich doch lieber auf eigene Recherchen im Internet verlassen.

Seine Finger strichen über die samtige, leicht gewellte Oberfläche, ertasteten jede Welle, die sich von vorne nach hinten vertieften. Fast schon ein Plug. Seine Fingerspitzen vibrierten und rasch legte er das Spielzeug zurück. Er sollte das nicht tun, sich nicht der Vorstellung hingeben, wie dieses Toy langsam im Innern … Verdammt!

Rasch drehte er sich weg, schnappte sich seine Utensilien und verließ hastig den Raum. Diese reiche Auswahl an Dildos, Plugs und weiteren Accessoires zog ihn unwiderstehlich an. Sicher, er hatte auch daheim ein paar davon, nicht allerdings in der Auswahl des „Blinded Dates“. Seit er zurückdenken konnte, faszinierten ihn diese Spielzeuge. Anfangs hatte er sich für recht pervers gehalten, dass ihm einer abging, wenn er Fotos oder einen Porno anschaute, in dem ein Dildo zum Einsatz kam. Noch mehr, als er mit seinem ersten Freund Erfahrungen sammelte, eines Tages zaghaft das Thema ansprach und ihm pure Entrüstung entgegenschlug.

Nichtsdestotrotz hatte er sein Taschengeld gespart und klammheimlich seinen ersten Dildo gekauft, ein grünes, recht wabbelig anzufassendes Gummiteil. Schmunzelnd dachte er daran, während er seinen Wagen zum Lift hinunter in die unteren Räume des „Blinded“ schob. Das Ding war so instabil gewesen, dass er, flüsternd fluchend, damit niemand ihn hörte, mehrere Anläufe gebraucht hatte, um es in sich zu schieben. Und dann hatte vor allem Schmerz vorgeherrscht, weil er natürlich kein vernünftiges Gleitgel, sondern, wie in den Pornos auch, es mit Spucke versucht hatte. Immerhin hatte er daraus gelernt und die Neugierde war geweckt worden. Allerdings eher, wie es sein würde, wenn er mit so einem Toy seinen Partner beglücken durfte.

Mit seinem zweiten Freund, den er mit 19 über das Internet kennengelernt hatte, war er mutiger geworden und hatte ein wenig ausprobiert. Der stand indes weder so sehr auf Anal als auf Toys und hatte es letztlich nur ihm zu Gefallen über sich ergehen lassen. Vor gut einem Jahr war die Beziehung dann auseinandergegangen. Ob das daran gelegen hatte, dass er zu der Zeit den Job im „Blinded Date“ bekommen und nun eine Fülle von derlei Spielzeugen zumindest in den Händen halten durfte? Gut möglich, denn natürlich hatte er davon geschwärmt. Sicher, er hatte auch davon fantasiert, diese an Linus auszuprobieren. Auch wenn einige der Spielzeuge weit über seinem Budget für derlei Spielkram lagen. Fantasien, die Linus nicht recht teilte.

Es war für Sirius überraschend gekommen, dass er die Uni gewechselt hatte und fortziehen wollte. Erst da war ihm klargeworden, wie stark ihre Beziehung bereits abgekühlt war.

Sorgfältig verstaute Sirius alle Utensilien in dem eigens dafür vorgesehenen Putzraum, zog sich die Handschuhe aus und warf sie in den Mülleimer, dessen Beutel er gleich mit hinausnehmen würde. Für gewöhnlich traf er dabei noch einmal Benny, der durch alle Räume ging und dafür sorgte, dass alles am rechten Platz und gut gefüllt war. Selten hatte er an Sirius’ Arbeit etwas zu beanstanden. Diese Art von Kontrolle war jedoch typisch für Jules und das „Blinded“. Alles musste perfekt sein.

Mit den Fingern fuhr sich Sirius noch einmal vor dem Spiegel über dem Waschtisch über die kurzen Stoppeln. Zu blass wirkte er, die dunkelbraunen Augen zu groß und sie lagen recht tief, weswegen ihm mancher auf der Straße einen zweiten, misstrauischen Blick zuwarf. Der Eindruck wurde natürlich durch seine Vorliebe zu enger, schwarzer Kleidung verstärkt. Mitunter hielt ihn einer für einen Dealer der Süchtigen, wenn er über den Hamburger Hauptbahnhof musste. Schon dreimal war er dort kontrolliert worden.

Als ob er je Drogen nehmen würde. Es reichte doch schon, dass er seine Stimme nicht immer im Griff hatte. Unter Drogen, selbst Alkohol, war der Kontrollverlust definitiv zu hoch.

Mit einem letzten Kontrollblick durch den Raum, schnappte er sich seine Lederjacke und den Müllbeutel und machte sich auf den Heimweg. Sein Magen spekulierte bereits auf einen Döner und er wollte ihn ungern enttäuschen. Und dann war da noch der Gedanke an das doppelte Gehalt. Ja, dieser Tag war echt einer der wirklich guten.

Kapitel 2

 

Kapitel 2



Schwungvoll warf Sirius die Heckklappe seines Golfs zu. Mist, klappte nicht. Noch einmal. Dieser verdammte Verschluss hakte immer wieder und nur, wenn man die Klappe mit genügend Kraft zuwarf, schnappte er zu. Der ältere Herr, der neben seinem Auto auf dem Pennyparkplatz geparkt und seinen Einkaufswagen mit einem Netz Äpfel beladen hatte, bedachte ihn skeptisch. Noch einmal. Ah, mit einem vernehmlichen Klick rastete der Verschluss endlich ein. Zufrieden klopfte Sirius auf das Dach seines Autos und stieg ein.

Die Einkäufe für das Wochenende hatte er erledigt und freute sich schon auf einen geruhsamen Abend daheim. Was lief eigentlich im Fernsehen? Oder sollte er lieber ein weiteres Level seines Computerspiels versuchen? Na, wenn ihm die altersschwache Technik wieder genau beim letzten Punkt abrauschte, würde er den Kasten endgültig aus dem Fenster werfen. Vielleicht konnte er etwas von der Extrazahlung zur Seite legen und auf einen neuen PC sparen?

Langsam fuhr er in die Spielstraße vor dem Wohnblock ein, in dem er seit gut drei Jahren wohnte. Kunterbunte Kreidezeichnungen auf dem Asphalt ließen ihn besonders aufmerksam werden, denn gerade in den noch warmen Tagen des Spätsommers spielten Dutzend Kinder der umliegenden Wohnhäuser in den Grünstreifen und Straßen zwischen den Blocks. Lächelnd winkte er einer Gruppe zu, die mit einem Hüpfspiel beschäftigt war und schmunzelte, als er auf den Parkplatz einbog. Eine größere Gruppe Jugendlicher lungerte auf dem schmalen Grünstreifen. Der bemalte Stromkasten gegenüber war ein begehrter Treffpunkt für Pokemon Go Spieler, die gedankenversunken auf ihre Handys starrten und virtuelle Monster fingen. Auch Sirius hatte das Spiel ausprobiert, als es neu erschien, war dessen aber bald überdrüssig geworden. Dennoch erkannte er noch immer im Alltag andere Spieler von Weitem.

„Sirius! Hey, Alda, alles klar?“, rief ihm einer der Spieler zu. Ah, Farid, der Sohn der Nachbarin, die auf dem gleichen Stockwerk wohnte. „Ey, ich habe gerade ein Glumanda gefangen! Noch ein paar und ich kann entwickeln.“ Freudig schwenkte Farid sein Handy, war gleich darauf wieder ins Spiel vertieft.

Mit belustigtem Schnauben wuchtete Sirius die Einkaufskiste aus dem Kofferraum und spielte erneut das Verschließdich-Spiel mit seinem Auto. Anfangs hatte ihn der Junge stets misstrauisch beäugt, wenn sie sich im Treppenhaus begegnet waren und wohl gedacht, Sirius würde ihn veralbern, wenn er stotterte. Nachdem sie sich jedoch näher kennengelernt hatten, war eine lockere Freundschaft daraus geworden, die auch darin begründet lag, dass Sirius’ Bruder in Farids Augen „voll cool“ war. Immerhin machte er Musik.

Am Eingang zum Wohnblock stellte Sirius die Kiste ab, um den Schlüssel aus der Hosentasche zu nesteln. Klingeln hatte meist wenig Sinn.

„Hey! Siri! Warte auf mich!“ Das kam von der Straße her und Sirius lächelte erfreut. Hellblonde Haare und ein herrlich stoppeliger Bart zierten ein weiches Gesicht, dass über sein Alter nur lachte. In der engen Jeans mit schwarzen Cowboystiefeln und einer passenden Lederjacke, wirkte Aaron wie der verruchte Rockmusiker, der er war.

„Hey, wir hatten di… dich schon gest… gestern erwartet“, begrüßte Sirius ihn mit kumpelhaftem Handschlag.

„Ich weiß, ich hätte ja schon mit den Jungs und Tarius fahren können, musste aber noch einen Abstecher zu meinen Eltern machen, ehe wir wieder auf Tour gehen und sie mich monatelang nicht sehen.“ Aaron hob die Einkaufskiste hoch, während Sirius aufschloss und sie das muffige Treppenhaus betraten. Im Eingangsbereich hatten diverse Künstler ihr mangelhaftes Talent durch eine Vielzahl von Kritzeleien unter Beweis gestellt. Die Zeichnungen und Schmierereien zogen sich auch teilweise an der Treppenwand entlang hoch, ehe sie im ersten Stock endeten.

„Schön, dich zu sehen“, brachte Sirius hervor, dessen Herz freudig schlug. Verdammt, Aarons blaue Augen faszinierten ihn immer wieder. Dabei war er leider stockhetero und nur ein extrem guter Freund.

„Du klingst gut. Fleißig weiter geübt?“, warf Aaron ihm über die Schulter zu, während sie die Treppe hinaufstiegen.

„Klar!“ Es klang stolz und das war Sirius auch. Als er mit acht angefangen hatte, zu stottern, war seine frisch geschiedene Mutter damit völlig überfordert gewesen. Zwar hatte sie ihn zu einigen Ärzten gebracht, jedoch stets darauf beharrt, dass seine Sprachstörung durch ein, von ihrem Ex-Ehemann ausgelöstes Trauma resultierte. Sie war durch niemanden davon abzubringen gewesen, dass Stottern diverse Ursachen haben konnte. Nach zwei Jahren hatte sie ihn aus allen Behandlungen genommen und jedem erzählt, dass ihr Exmann die Schuld dafür trug, dass sie ein sprachbehindertes Kind aufziehen musste. Tatsächlich war Sirius’ Handicap zu ihrer Entschuldigung geworden, was auch immer in ihrem Leben nicht gelingen wollte und sein Stottern eine Masche, um bei anderen Mitleid für sich selbst, die arme Mutter mit einem behinderten Sohn, zu ergattern.

Auch wenn die häusliche Situation Sirius’ Stottern eher verschlimmerte, als verbesserte, hatte er sich selbst immer an der Aussage, es gäbe durchaus auch Selbstheilung, festgehalten und verbissen an den wenigen Elementen weitergearbeitet, die er in den Therapiesitzungen erlernt hatte. Leider ging mit dem Stottern natürlich die Angst einher, in bestimmten, besonders stressigen Situationen, nicht flüssig sprechen zu können, manifestierte sich über die Jahre in Prüfungsangst und Probleme, vor mehreren zu sprechen. Vor allem jedoch, wenn er mit einem Mann alleine in einem Raum war, dann wurden seine Beine starr, die Kehle schnürte sich zu und nur, wenn er sich ganz stark konzentrierte, brachte er halbwegs vernünftige Sätze heraus. So wie heute bei Jules.

Das war auch der Grund gewesen, warum er nach der Realschule aufgehört hatte und sich mit diversen Jobs über Wasser gehalten, aber nie eine Lehre begonnen hatte. Allein der Gedanken an ein Vorstellungsgespräch hatte Panikattacken ausgelöst. Mittlerweile war er zum Glück deutlich sicherer geworden.

Nach wie vor hatte er kein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter, die nicht müde wurde, auch sein scheinbares Versagen im beruflichen Bereich auf ihren Exmann zu schieben. Von diesem Feindbild würde sie wohl nie abkommen. Folglich war der Kontakt zu ihrem Vater früh abgebrochen und er hatte sich auch nie selbst besonders um seine beiden Söhne bemüht.

Wenn Sirius den schwarzen Fleck auf der Seele seiner Mutter darstellte, dann war sein jüngerer Bruder Tarius deren Lichtblick gewesen. Seine Singstimme brachte ihm schon früh viel Lob und Anerkennung ein und dass er Sänger werden wollte, war nur die logische Konsequenz gewesen. Durch seinen Gesangsunterricht hatte Sirius schließlich auch Aaron kennengelernt, der sich sofort für ihn interessiert hatte. Oder eher für sein Stottern. Als Logopäde in Ausbildung traf Sirius’ Problem genau seinen Nerv. Wenn Tarius bei ihm übte, dann war danach immer noch eine Stunde für Sirius übrig gewesen, in der Aaron ihm mit unendlicher Geduld und noch mehr Ehrgeiz Sprechtechniken beigebracht hatte. Erst mit seiner Hilfe war auch Sirius’ Sicherheit gewachsen und zum ersten Mal hatte ihn jemand ernstgenommen. Über die Jahre war Aaron wie ein weiterer Bruder für ihn geworden.

Es war auch Aaron gewesen, vor dem er sich geoutet hatte und natürlich hatte er sich in den gut aussehenden Sprachtherapeuten verguckt, dessen Leidenschaft für Musik ihn eng mit Tarius verband. Aber selbst damit war Aaron relativ locker umgegangen. Wenngleich er keinerlei homosexuelle Neigungen verspürte, hatte er Sirius nichtsdestotrotz unterstützt, war mit ihm in die ersten Clubs gegangen und hatte das Anbaggern zahlreicher Männer lachend hingenommen. Seit einigen Jahren spielten er und Tarius in ihrer Band „Supreme Sphere“.

„Wow. Mann, er kann es einfach“, stieß Aaron verzückt aus, als sie das erste Stockwerk passiert hatten.

„Oh Mann, dieser Idiot!“, stöhnte Sirius und beschleunigte seine Schritte. Von oben erklang fetzige Musik, gemischt mit einer dröhnenden Stimme, die zweifelsfrei Tarius gehörte. „Verdammt! Er weiß genau, dass er die An… Anlage nicht so laut aufdrehen soll. Das gibt wieder Ärger.“

„Die sollten sich freuen, dass sie ihn noch kostenlos hören dürfen.“ Schmunzelnd ließ ihn Aaron vorbei, summte mit, während Sirius hastig aufschloss.

Sehr zum Leidwesen seiner Mutter hatte sich Tarius für eine Gesangskarriere in der Metalszene entschieden, war bereits mit fünfzehn mit häufig wechselnden Bands durch die Provinzstädte getingelt und hatte schließlich auch die Schule abgebrochen. Seit drei Jahren waren er und seine jetzige Band „ Supreme Sphere“ mäßig erfolgreich. Zwar hatten sie durchaus einige Auftritte bei größeren Festivals und auch eine CD herausgebracht, zum Leben reichte es aber oft hinten und vorne nicht. Wenn Tarius also nicht unterwegs war und in seinem Bandbus campierte, dann zog es ihn immer wieder zu seinem Bruder, der ihm gerne ein Zimmer freihielt und ihn finanziell, so gut es ging, unterstützte.

„Tarius!“ Sirius schnaubte. Es war reichlich sinnlos, gegen den Lärm anzuschreien. Verärgert hastete er ins Wohnzimmer, in dem sein Bruder lautstark den Refrain sang und dazu tanzte. Energisch hieb Sirius auf den Ausschalter, funkelte Tarius wütend an: „Leiser! Du wei… w… weißt genau, dass …“

„Ach Mann, Sirius! Komm runter. Es war gar nicht so laut. Es hat sich doch gar keiner beschwert.“ Grinsend legte Tarius seinen Arm um ihn, knuffte ihn gegen den Kopf. Oh Mann, wenn Sirius etwas an ihm nicht leiden konnte, dann war es Tarius’ Eigenheit, seine Sätze nicht abzuwarten, sondern zu vervollständigen. Geduld war keine von Tarius’ Stärken und schon gar nicht, wenn es um das Stottern ging. Ruppig machte er sich frei, schnappte sich die Kopfhörer und hielt sie seinem Bruder demonstrativ hin. „Benutze die. Reg… Regler ni… nicht höher als …“

„Aaron! Hey, Kumpel. Du siehst scheiße aus. Wie immer.“ Tarius drängelte sich an ihm vorbei, umarmte seinen Freund herzlich, während Sirius enttäuscht und zornig: „Die rote Markierung!“, ausstieß. Hoffnungslos. Tarius würde sich niemals ändern. Der lebte in seiner eigenen Musikwelt. Ganz sicher würde die nächsten Tage wieder ein Schreiben der Hausverwaltung kommen. Hoffentlich hatte er keine Konsequenzen deswegen zu tragen.

Mit gemischten Gefühlen betrachtete er die beiden bei ihrer Begrüßung. Wie er auch, war Tarius ein eher blasser Typ, die schwarzen, wirren, halblangen Haare und die dunkle Kleidung bestärkten diesen Eindruck noch. Auch wenn er ein wenig größer und breitschultriger war, ähnelten sie einander doch sehr. Bis auf die Augen, die bei Tarius braungrün waren, die Piercings und die großen Tunnel. Ein Piercing in der Augenbraue war alles, was Sirius hatte haben wollen. Sein Bruder hingegen hatte nahezu alle Vierteljahr ein neues.

„Wenn du dich schon wieder bei deinem Bruder durchfrisst und durchschnorrst, solltest du dafür sorgen, dass die hier keinen Grund haben, ihn oder dich rauszuschmeißen“, bemerkte Aaron, stieß Tarius eher freundschaftlich von sich und deutete auf die Einkaufskiste. „Los, pack mal mit an, damit der Kram eingeräumt wird.“

„Ja, gleich, aber vorher müsst ihr euch das anhören. Ich habe es etwas verändert und das ist so geil geworden.“ Mit flinken Fingern schob Tarius den Regler hoch, natürlich weit über die von Sirius angebrachte rote Markierung. Energisch schob Sirius ihn wieder herab, stellte sich demonstrativ davor und verschränkte kopfschüttelnd die Arme vor der Brust.

„Ach Mann, Sirius. Komm ey, das ist Musik, die man laut hören muss“, jammerte Tarius, legte mit bettelndem Blick den Kopf schief. Etwas, was er sehr gut konnte und was viel zu oft auch bei Sirius zog. Nicht heute.

„Wenn der Regler ni… nicht da bleibt, dann pennst du heu… heute Nacht woan…“

„Brüderchen! Mann, es ist arschkalt im Bus. Das Gas ist doch alle und die Heizung wahrscheinlich eh kaputt. Okay, okay. Ich rühre ihn ja nicht an.“ Seufzend nickte Tarius und unter Sirius’ strengem Blick schaltete er die Anlage wieder ein. Seine Stimme verwandelte die harte Musik gleich darauf in eine wundervolle Gesamtkomposition, der Sirius nur zu gern lauschte. Und ihn aus vollstem Herzen für sein Talent beneidete. Wie gerne wäre er in der Lage gewesen, so zu singen, mit der Stimme derart viel auszudrücken, sie so gekonnt einzusetzen.

Mit wachsendem Stolz und schwindendem Ärger lauschte er seinem Bruder, in dessen Gesang Aaron einfiel und ihn perfekt ergänzte. Auch wenn die beiden kaum gegensätzlicher sein könnten, so mochte Sirius doch jeden von ihnen. Sie waren der Kern seines Lebens geworden.

Ganz leise die Melodie mitsummend, machte er sich an das Einräumen der Einkäufe in der Küche, während Aaron und Tarius Musikstück für Musikstück durchgingen. Er kannte das schon: Sie würden die Zeit, alles um sich herum vergessen und darüber hungrig werden. Weiterhin ohne Worte mitsummend, begann Sirius mit dem Kochen. Wenn er die Extrazahlung bekam, konnte er sicherlich Tarius’ Gasheizung reparieren lassen.

Kapitel 3

Kapitel 3



Mit der Kaffeetasse in der Hand stand Sirius am Fenster und schaute der Sonne beim Aufgehen zu. Seine Wohnung lag hoch genug, damit er über die Dächer schauen konnte. Wie sehr er diesen Moment liebte, wenn der rosafarbene Hauch des Himmels sich in ein sattes Goldrot wandelte. Früh aufstehen machte ihm nichts aus, ganz im Gegenteil, er mochte es, sich morgens Zeit zu nehmen.

Es war am letzten Abend natürlich recht spät geworden, denn sie hatten Aarons Besuch mit einer kleinen Kneipentour verbunden und gebührend ihre Wiedervereinigung und die Geburt eines neuen Songs gefeiert. Nicht nur für ihn war Aaron wie ein älterer Bruder, auch Tarius betrachtete ihn oft so. Und wenn es einen gab, von dem er sich etwas sagen ließ, dann war es Aaron.

„Du bist ja schon wach.“ Hinter Sirius erklangen schlurfende Schritte und er wandte sich um. Mit herrlich verstrubbelten Haaren und vom Schlaf verknautschtem Gesicht, kam Aaron herein, mit nichts weiter als einer Jogginghose bekleidet.

Au verdammt.

„Mann, zieh dir doch ein T-Shirt über“, murrte Sirius, ließ den Blick dennoch ungeniert über die Brust zum Bauchnabel gleiten. Wenn er nur nicht hetero wäre. Aaron war so sexy.

„Ach was. Du wirst schon nicht über mich herfallen“, brummte Aaron auf dem Weg zur Kaffeemaschine, drehte kurz davor den Kopf seitlich und runzelte die Stirn. „Oder doch?“

„Sei dir nicht so sicher. Wenn deine Ho… Hose nur etwas tiefer rutscht, garantiere ich für nichts“, stieß Sirius hervor, leckte sich anzüglich über die Lippen, was nur zum Teil gespielt war. Sollte ihm Aaron nur je ein winziges Zeichen von Interesse signalisieren, würde er ihn todsicher flachlegen.

„So?“ Feixend zupfte Aaron am Bund herum, hob in einer abwehrenden Geste die Arme, als Sirius knurrte und lachte auf. „Ich schrei ganz laut um Hilfe. Tarius! Schnell, dein Bruder vernascht mich zum Frühstück!“

„Da kannst d… du lange schreien. Wenn Tarius pennt, hört der nix. Den weckt ni… nicht mal seine eigene Musik auf voller Lautstärke.“

„Verdammt.“ Gespielt erschrocken zog sich Aaron die Hose hastig ganz hoch und grinste von einem Ohr zum anderen, während die Kaffeemaschine die ersten glucksenden Lebenszeichen von sich gab. Oh, er war schon so eine Marke für sich.

„Also schließe ich daraus, dass dein Liebesleben gerade reichlich brachliegt?“ Sirius zuzwinkernd schnappte sich Aaron seine Tasse und ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Noch immer sah er zum Anbeißen aus. Seufzend gönnte sich Sirius eine zweite Tasse.

„Und nicht nur das“, murmelte er.

„Chronisch untervögelt, ich verstehe. Na, sei froh, dass du diese Vollpfeife von Linus losgeworden bist. Der taugte nichts.“

„Hm, und das kannst du beurteilen?“ Mit seiner vollen Tasse setzte sich Sirius Aaron gegenüber. Schon verrückt, er fühlte für Linus eigentlich nichts mehr, dennoch empfand er Aarons Aussage als Angriff.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen lehnte dieser sich vor, stellte die Tasse ab und umklammerte sie beidhändig. „Das kann ich. Denn ich kenne dich gut genug, Sirius Kaulbach. Verdammt, jeder will dir einreden, dass du Schuld hast. An deinem Stottern, an dem Scheitern der Ehe deiner Eltern, daran, dass deine Mutter ihren Job verloren hat und ihren Hintern nicht mehr hochkriegt, was anderes zu finden. Am Ende der Welt, der Klimakatastrophe und am Scheitern deiner Beziehung. Bah, lass mich ausreden!“ Eine unwirsche Geste unterband Sirius’ Versuch eines Einwands. „Seit ich dich kenne, scheinst du dich für alles verantwortlich zu fühlen, was anderen so passiert. Soll ich dir was ganz Neues sagen: Du bist es nicht. Dieser Linus war nett, passte aber null zu dir. Wenn der meint, er muss nach München ziehen und dir davon erst was sagt, als er schon die ersten Umzugskartons runtergeschafft hat, dann scheiß auf ihn. Mann, dasselbe würde ich dir sagen, wenn es eine Tussi mit Körbchengröße D wäre. Oh, und natürlich ihre Telefonnummer haben wollen. Für alle Fälle.“

„Danke für diesen Rat, großer Bruder.“ Lächelnd prostete Sirius Aaron zu, während dessen Worte wie eine warme Welle durch ihn ran.

„Das bin ich. Irgendwie.“ Bekräftigend nickte Aaron. „Aber sag mal. Du arbeitest doch in diesem Schwulenclub. Da muss es doch vor geilen Kerlen nur so wimmeln. Und da findest du keinen?“

„Zum einen kommen die nicht dahin, um die Liebe ihres Lebens zu finden. Zum anderen kriege ich von ih… ihnen nicht viel zu sehen. Also schon so einiges. Hi… hinter… an Hinterlassenschaften.“

„Stopp! Keine Details bitte. Denk an meine unschuldige Heteroseele. Na, aber im Ernst? Du bekommst die nie zu Gesicht?“

„Nein. Weißt du noch, was ich dir von dem Konzept des Clu… Clubs erzählt habe?“

„Irgendwas von Augenmasken und dergleichen. Ah, der hieß „Blind Date“, oder?“, fragte Aaron, leerte seine Tasse in einem Zug.

„Blinded Date. Weil sich die Besucher nicht blenden lassen sollen, oder so. Dieser Ju… Jules hat es mir mal erklärt. Auf jeden Fall läuft da alles an… ano… anonym ab. Keiner weiß, mit wem er da zugange ist oder war.“ Sirius schob Aaron den Brotkorb zu, machte sich selbst eine Toastscheibe mit Marmelade.

„Krasser Scheiß. Tja und du hast nie Lust bekommen, da mal mitzumischen?“ Zentimeterdick strich sich Aaron die Butter auf die Brotscheibe.

„Schon. Kann ich mir aber nicht leisten und …“ Geräuschvoll stieß Sirius die Luft aus, fuhr sich über die kurzen Haare. „Du weißt doch, dass ich … Na ja, ist nicht so mein Ding halt.“

„Weil du stotterst. Scheiße Mann, Siri, du bist manchmal so ein Ömmel, dass ich dich hauen möchte. Übrigens stotterst du kaum noch. Und selbst wenn: Du willst einen von denen durchvögeln, keine gepflegte Konversation führen. Alles, was da zu hören wäre, läuft unter Stöhnen. Und das klingt abgehakt immer echt geil.“

Ob er wollte oder nicht, Sirius musste lachen. Genau deswegen liebte er Aaron so. Mit ihm konnte er sich wirklich unterhalten. Tarius hatte an sich kein Problem mit seiner Homosexualität, wusste damit jedoch auch nicht recht umzugehen. Nicht auf Aarons lockere natürliche Art und Weise.

„Denkst du, du kriegst keinen hoch, wenn du mit einem von den Kerlen alleine bist? Wegen der Angst? Das Problem meinst du?“, hakte Aaron nach.

„Oh, etwas wird da sicher steif. Meistens meine Beine“, schnaubte Sirius, noch immer schmunzelnd.

„Du weißt, dass das nur eine Kopfsache ist. Du hast es schon so oft überwunden. Aber okay, wenn das so ein teurer Exklusivclub ist, warum dann nicht mal einer der anderen Clubs? Ein Kumpel von mir schwärmt von diesem „Gaytronic“. Soll ich wieder als Alibi mitkommen?“, schlug Aaron zwischen den Bissen kauend vor.

„Bloß nicht. Die reißen sich u… um dich und ich muss dich nachher da raus… hauen.“

Auf dem Flur erklang ein Fluch und polternde Schritte. Ah, Tarius war aus dem Bett gefallen und auf dem Weg zum Klo. Definitiv hatte er mehr als sie beide getrunken. Voller Mitgefühl stand Sirius auf, holte ein Glas Wasser und löste darin eine Aspirin auf. Das würde Tarius nötig haben. Vermutlich würde er eh danach wieder ins Bett verschwinden. Oder Aaron schleppte ihn ins Studio.

„Boah Mann, was habe ich gestern getrunken?“ Ein äußerst elend dreinschauender Tarius taumelte durch die Tür und fiel auf Sirius’ Platz. Die Augen wirkten glasig, die Bewegungen fahrig und unkoordiniert.

„Zu viel.“ Direkt vor ihn stellte Sirius das Glas ab, bekam ein dankbares Lächeln geschenkt.

„Siri, mein Retter.“ Gierig schluckte Tarius, schaffte kaum die Hälfte, ehe er das Glas abstellte und mit der Hand vor dem Mund aus dem Raum stürzte.

„Ihn hat es erwischt.“ Feixend verspeiste Aaron eine weitere Scheibe, während Sirius ein neues Glas vorbereitete.

„Mein Mitleid hält sich in Grenzen“, bemerkte Sirius, auch wenn es ihm schwerfiel, den Ärger der letzten Nacht wieder zu fühlen. So war es meist: Er ärgerte sich und lenkte wieder ein. Gestern war ihm der Kragen geplatzt, als Tarius wiederholt seine Sätze für ihn beendet hatte. Gut erinnerte er sich an den betroffenen und leicht verwirrten Ausdruck, mit dem ihn Tarius bedacht hatte, ehe er seinen Kopf an die Brust zog und ihn mit den Knöcheln knuffte. Das war so seine typische Beschwichtigungsart und sie verfehlte selten ihre Wirkung.

„Das Anpflaumen war wohl mal nötig, denke ich“, meinte Aaron, wirkte ein wenig nachdenklich und deutete mit dem butterverschmierten Messer Richtung Badezimmer. „Dir ist aber schon mal der Gedanke gekommen, dass Tarius das nicht nur aus Ungeduld tut? Dein famoser Linus hat das übrigens auch mal gemacht.“

„Kann schon verstehen, wenn es zu lange dauert“, murmelte Sirius, versuchte die erneute Spitze gegen seinen Ex zu überhören.

„Ich glaube ja eher, dass Tarius es macht, weil er dir eigentlich damit helfen will.“ Bedächtig nickend, holte Aaron sich noch eine Tasse Kaffee. „Fälschlicherweise denkt er, er macht es dir damit leichter, indem er für dich sagt, was du nicht sofort herausbringst.“

„Es nervt aber“, wandte Sirius ein, fühlte einen bekannten Anflug von schlechtem Gewissen.

„Nachdem du schon eine Weile an der Technik des Fluency Shaping gearbeitet hast, hat Tarius mich damals ganz aufgeregt angerufen. Er hat mir ganz stolz erzählt, dass du deinen ersten Satz ohne jedes Stottern herausgebracht hast. Er kriegte sich gar nicht wieder ein. Weißt du, was er noch gesagt hat?“ Genießerisch kostete Aaron Sirius’ Neugierde aus, der inzwischen wieder auf seinem Stuhl Platz genommen hatte und Aaron mit gerunzelter Stirn musterte.

„Er hat gemeint, dass du vielleicht auch lernen könntest, mit ihm zu singen. Das war sein Traum: Mit dir zusammen eine Band gründen und aufzutreten.“

Uff. Verblüfft starrte Sirius Aaron an, zweifelte nur einen Moment an dessen Worten. Ja, das passte zu Tarius. Wenn er nicht sang, war er kein Meister großer Worte oder Gesten. Nichtsdestotrotz wusste Sirius, dass er ihn sehr liebte und immer ein wenig gutzumachen versucht hatte, was ihre Mutter ihm alles anlastete.

„Nur leider kann ich nicht so gut singen“, brachte Sirius ein wenig rau hervor, spürte eine winzige Enge im Hals.

„Wenn du besoffen bist schon.“ Noch immer ein wenig blass und mit glasigen Augen kam Tarius herein. Hatte er gehorcht und den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen? Auf jeden Fall griff er nach dem Glas mit dem Aspirin, trank es auf Ex und schaute Sirius dann erstaunlich ernst an. „Du bist okay, wie du bist, Siri, und ich geh nachher runter und entschuldige mich bei den Nachbarn wegen des Lärms. Wenn ich denen eine von unseren CDs schenke, finden die das bestimmt nicht mehr so schlimm, deswegen zur Hausverwaltung zu rennen.“ Schelmisch grinsend, biss er sich in die Unterlippe. „Vielleicht wollen sie dann mehr hören.“

Tja und wenn er so guckte, konnte Sirius ihm ganz gewiss nicht böse sein. So ein Charmebolzen.

„Was habt ihr heute so vor?“, fragte er, eigentlich nur, weil er einen Anflug von Rührseligkeit hatte und um die Stimmung zu verändern.

„Ins Bett verkriechen, warten, bis dieser höllische Drummer da oben fertig ist“, stöhnte Tarius, barg den Kopf in den Händen.

„Wenn dieser Jammerlappen wieder auf den Beinen ist, wollte ich mit ihm noch mal zu dem anderen Studio fahren. Die haben uns ein verdammt gutes Angebot gemacht. Oh und Siri: Heute Abend lade ich uns auf eine Runde Pizza zu einem deiner Filme ein. Du musst nicht kochen, mir lediglich verraten, wo der Zettel vom Pizzaheini ist.“ Klirrend ließ Aaron sein Messer auf dem Teller landen und grinste nur mitleidlos, als Tarius gequält aufstöhnte.

Ehe sich Sirius auf den Weg zur Arbeit machte, stellte er seinem Bruder noch ein Glas hin, wuselte ihm durch die lockigen Haare. Murrend entzog Tarius sich, schielte indes seitlich an seiner Hand vorbei und lächelte Sirius an. So viel Herzlichkeit und Liebe lag darin, dass Sirius’ Herz härter schlug. Das Gefühl begleitete ihn auf dem Weg zur Arbeit, lag wohlig warm in seinem Brustkorb und versüßte ihm die Zeit bis zum Abend. Ein gemeinsamer Filmabend mit seinen Brüdern war gerade genau nach seinem Geschmack.

 

Kapitel 4

 

Kapitel 4



Der hochmoderne Staubsauger des „Blinded Dates“ war ein funkelndes Saugwunder, zum Glück jedoch keiner der Sorte „Flüsterleise“. Mit verschmitztem Grinsen ließ ihn Sirius über den grauen Teppich vor- und zurückgleiten, während er in der freien Hand die Vibration des Sextoys spürte. Erst eine Abfolge von Impulsen, die wie immer stärker werdende Stöße wirkte, dann eine Vibration, die sich so stark steigerte, dass er sie bis auf die Knochen zu spüren vermeinte. Herrlich. Dann kam eine Pause, in der das Beben nachzuhallen schien, die Erwartung anstieg, nur um durch eine kurze Abfolge von Impulsen abgelöst zu werden. Auch beim mehrfachen Anfühlen kamen sie zu schnell und viel zu unterschiedlich, als dass er deren Art und Weise genau definieren konnte. Wundervoll.

Wie toll es sein könnte, die Reaktion eines Partners zu beobachten, während die Stöße kamen. Auf den hellgrauen Laken des Bettes, die noch von den Kunden der Nacht zerwühlt waren, sah er ihn vor sich liegen: Den Blick erwartungsfroh auf ihn gerichtet, die Hände in den Kniekehlen, die Muskeln angespannt unter der Anstrengung, die Beine oben zu halten. Und vor ihm ein fester Hintern, der nur darauf wartete, erobert zu werden.

In Gedanken strich Sirius mit dem ausgeschalteten Vibrator über die Oberschenkel bis zu den Backen, drückte ihn gegen die Hoden und schaltete ihn dabei erst ein. Das erste Beben berührte weiche Haut, ließ sie schaudern. Vielleicht kam ein leises Stöhnen? Wie würde es sein? Würden die Lider flattern, die Nasenflügel sich bewegen? Biss er sich in die Lippe? Oh ja. Während er die Spitze des Toys, die einem echten Penis nachgebildet war, langsam tiefer gleiten, ihn ahnen ließ, dass dies nur der Anfang werden würde.

Ganz viel Zeit würde er sich nehmen, die Spitze des Vibrators das glänzende Gel verteilen lassen, sie lediglich ein Stück in seinen Partner schieben. Sachte, nur ein wenig. Die Vorfreude war das Beste, die Ungeduld, das stumme Flehen in den Augen. Das Abwarten der Reaktionen. Tiefer hinein, mit jedem der Stöße ein wenig mehr. Vor und Zurück. Stöhnen, leises Keuchen, erneutes Schaudern, ein unkontrolliertes Zucken der Beine.

Der Staubsauger glitt weiter, Stück für Stück bewegte er ihn durch das Zimmer. Eine Routine, die er so stark verinnerlicht hatte, dass er nicht mehr viel darüber nachdachte und derweil seinen Fantasien nachhing. Dazu nahm er jedes Mal ein anderes Spielzeug, testete seine Funktionen, ließ Bilder entstehen, wie er es anwenden würde.

Es gab welche, die legte Sirius enttäuscht zurück, weil sie seine Fantasie nicht beflügelten. Manche von ihnen entsprachen auch nicht ganz seinem Geschmack. Dazu gehörten Dilatoren und einige Gegenstände für CBT, also Cock and Ball Tortue. Sicher konnte er gut nachvollziehen, dass ein gewisser Schmerzreiz Erregung auslöste, die Grenze zu überschreiten, jagte ihm indes Angst ein. Zwar gab es hier viele Kunden, die diese Spielarten praktizierten, für ihn selbst kam das nicht infrage. Wie gut musste man einen Partner kennen, um dessen körperliche und psychische Grenzen zu erkennen? Das war doch kaum in der anonymen Situation des „Blinded“ zu erreichen. Sicher, der Club hatte da sehr strenge Regeln, nichtsdestotrotz erschien ihm das Risiko zu hoch. Vielleicht fehlte ihm auch schlicht die sadistische Ader dafür.

Mit einem Vibrator diese Grenze zu überschreiten war weit weniger wahrscheinlich. Manche davon waren allerdings so laut, dass er sich nicht sicher war, ob sie von dem Brummen des Staubsaugers übertönt werden würden. Vermutlich war die Aufzeichnung in den Räumen außerhalb der Geschäftszeiten ohnehin ausgeschaltet. Dennoch. Schließlich wollte er keinen Ärger bekommen, auch wenn er im Grunde nichts Anstößigeres tat, als die Spielzeuge in der Hand zu halten, nachdem er sie gereinigt hatte. Selbstverständlich desinfizierte er sie auch, ehe er sie auf ihren Platz im Regal zurücklegte. Zudem kontrollierte Benny jeden Tag, ob alle Spielzeuge funktionierten, tauschte Batterien aus oder lud die Geräte auf. Keiner der Gäste sollte Grund zum Beschweren haben, weil inmitten eines heißen Dates, die Power des Toys nachließ.

Der Gedanke ließ ihn schmunzeln und gleich darauf seufzen. Aaron mochte richtig liegen, dass die Beziehung zwischen ihm und Linus nicht ideal gewesen war. Dennoch sehnte er sich nach den paar Malen, in denen er einen Ansatz seiner Fantasien mit ihm hatte ausleben können.

In seiner Jeans vibrierte das Handy. Rasch schaltete er den Vibrator ab, legte ihn auf das Bett und unterbrach auch das Staubsaugen. Ob das Tarius war? Oder Aaron, der von dem Besuch des Studios berichten wollte. Oder der fragen wollte, welche Pizza er ihm mitbringen sollte. Noch eine Stunde, dann hatte er Feierabend.

„Siri, ich bringe deinen Bruder um! Mann!“ Ah, es war Aaron.

„Gut, aber mach es un… unauffällig. Keine Blutflecken auf dem Teppich. Und ich habe leider keine Schaufel, zum Vergra… ben.“ Leise lachend schob er den Staubsauger zur Seite, nahm den Wischlappen zur Hand und fuhr in seiner Tätigkeit fort, während er das Handy an der Schulter einklemmte.

„Echt. Wir wollten schon vor Stunden losgefahren sein. Jetzt hocke ich alleine in deiner Bude und sterbe vor Langeweile. Deine Filmsammlung ist echt dürftig, die kenne ich alle schon.“

„Wo steckt er denn? Schnappe ihn dir doch einfach u… und schleife ihn hin“, schlug Sirius vor.

„Na, er ist doch runter, zu den Nachbarn und dem alten Typ, der sich das letzte Mal über die laute Musik beschwert hat.“ Aaron stieß einen frustrierten Laut aus. „Stellte sich raus, der alte Herr hat früher mal Piano gespielt. Und du kennst doch Tarius.“

„Ähm, der Herr Knödrich? Der war mal Musiker? Wow, wusste ich gar nicht.“

„Doch. Der hat sogar mal Saxophon gespielt. Wir sind zu ihm runter, Tarius hat sich artig entschuldigt und ihm die CD in die Hand gedrückt. Du hättest den Blick sehen sollen. Dann folgte ein Vortrag darüber, was diese Art von Musik anrichten würde und dann … hat er uns glatt zum Tee reingebeten. Oh Mann, der hat immer weiter auf die moderne Musik und den ganzen Technikkram geschimpft und dann haben die beiden angefangen über Stilrichtungen und dergleichen zu quatschen.“

War das ein Stöhnen? Oh weh, Sirius ahnte, was geschehen war, fragte dennoch nach: „Was ist passiert?“

„Na, was wohl, das Übliche. Du kennst doch Tarius, der selbst einen Alien davon überzeugen könnte, seine Art von Musik zu mögen. Egal, was es für eine Art wäre. Jetzt musizieren sie schon den ganzen Vormittag zusammen. Tarius am Saxophon und der alte Herr am Piano. Ich sterbe!“

„Ähm warum machst du denn ni… nicht mit. Das ist doch sonst genau dein Ding? Oder spielen sie Klassik?“ Sorgfältig sprühte Sirius den Vibrator ein, wischte ihn sauber und legte ihn und die anderen an ihren Platz im Regal. Nach Größe aufgereiht, die Vibratoren, darüber die Dildos.

„Klassik! Ich würde es lieben. Nein, du glaubst nicht, was der Oldie früher gemacht hat: Jazz! Verfluchten Jazz. Ich habe es nur kurz ausgehalten, dann musste ich fliehen. Das verträgt mein Rock und Metal verwöhntes Trommelfell nicht. Da kriege ich Brechreiz von. Mann, Sirius, ich erwäge, die Hausverwaltung anzurufen, wegen musikalischer Belästigung. Das ist keine Musik, das ist eine Zumutung“, jammerte Aaron. Wenn er genau hinhörte, konnte Sirius tatsächlich die Klänge im Hintergrund wahrnehmen und grinste in sich hinein. Es gab nicht viel, was Aaron nicht mochte, Jazzmusik gehörte indes definitiv dazu.

„Wenn Tarius auch nur den Hauch davon in eines der nächsten Projekte einbringt, erwürge ich ihn eigenhändig“, schwor Aaron. „Wieso noch mal, haben eure Eltern euch nach Sternen benannt? Der Stern Tarius ist auf jeden Fall so kurz davor in ein Schwarzes Loch verwandelt zu werden. Oh Mann, ich hasse es. Hast du nicht Ohrstöpsel da? Und ich habe Hunger.“

„Papa hatte damals so ein Fai… Faible für Sternenbilder. Tja, sorry, alle Ohrstöpsel sind unter den Nachbarn verteilt worden. Bei Tarius’ letztem Ausrutscher. Ich bin hier in etwa ein… einer Stunde fertig, dann hole ich dich ab und wir gehen zusammen zum Pizzaheini. Lassen wir Tarius und den Piano-Knödrich einfach verhungern.“

„Siri, ich liebe dich. Ich begrabe mich jetzt unter allen Kissen und Bettdecken, die ich finden kann. Eile zu meiner Rettung.“

Lächelnd beendete Sirius das Gespräch, warf den Staubsauger wieder an, um noch die letzte Ecke zu machen. Typisch Tarius. Musik ließ ihn alles vergessen. In der Beziehung war er reichlich lebensuntüchtig. Wenn er Aaron nicht hätte …

Noch die Bettwäsche erneuern. Die alte, reichlich verklebte, warf er in den großen Wäschewagen, der auf dem Flur stand und strich die neue sorgfältig aus. Fertig. Das letzte Zimmer war bereit für neue Gäste. Zufrieden sah sich Sirius um.

Sowohl seine Mutter als auch der Rest der Verwandtschaft, rümpften die Nase, wenn sie sich erkundigten, was er arbeitete. Inklusive seines Vaters, der sich nur gemeldet hatte, wenn es um Unterhaltszahlungen ging. Und diese prompt zum erst möglichen Zeitpunkt eingestellt hatte. Dabei mochte Sirius es wirklich, zu putzen. Es befriedigte ihn, Ordnung und Glanz in die Räume zu bringen. Er schätze den sauberen Eindruck eines fertigen Zimmers, in dem noch ein leichter Duft von Reinigungsmitteln und Chlor schwebte. Besonders liebte er den Anblick makellos glatter Decken und Bettwäsche, die sorgfältig drapierten Kissen. Bevor er den Job im „Blinded Date“ bekommen hatte, hatte er überlegt, in einem Hotel eine Lehre anzufangen. Nachdem er bereits beim ersten Bewerbungsgespräch schon aus dem Stottern kaum herausgekommen war, hatte er diesen Traum aufgegeben.

Sirius zog die Tür des Zimmers zu, schob den Wäschewagen zum Aufzug und holte seinen Putzwagen nach. Was er ebenfalls schätzte, war die hochwertige Ausrüstung, mit der er arbeiten durfte. Immer wieder erkundigte sich Benny, gelegentlich auch Jules, ob er noch etwas benötigen würde.

Mit leisem Summen setzte sich der Aufzug das Stockwerk nach unten in Bewegung. Die Kunden gelangten über jeweils getrennte Treppen hinauf, die X-Kandidaten begegneten den Y-Kandidaten wirklich erst in den Zimmern. Ein ziemlich ausgeklügeltes System mit speziellen Karten, öffnete den Y-Kandidaten die Türen ihres Wunschzimmers und im Display des Ganges erschien digital die zuvor erstellte Liste der Gos und No-Gos. Jules hatte es ihm bei der Einführung mit sichtlichem Stolz vorgeführt. Überhaupt war das gesamte Konzept des Clubs, mitsamt der baulichen Einteilung und inklusive seiner Innenarchitektur und -ausstattung Jules Moreaus Werk.

Die Aufzugtüren glitten auseinander und Sirius schob seine Wagen hinaus. Der Wäschewagen kam nach rechts in einen extra Gang, von wo aus die Reinigungsfirma, die dafür zuständig war, ihn abholen würde. Auch wenn der Club nur an vier Abenden geöffnet war, war er hoch frequentiert und es gab eine lange Warteliste. Der Reiz des Exklusiven mischte sich mit Gerüchten und erzeugte eine gefragte Mischung in der schwulen Szene Hamburgs.

„Ah, Sirius. Kannst du gleich noch mal zu Jules ins Büro kommen? Er bat mich darum, es dir auszurichten.“ Benny schaute aus der Tür, sortierte frisch gebügelte und wunderbar duftende Bettwäsche in die Metallregale im Raum neben Sirius’ Putzkammer ein.

„Ja. Mache i… ich“, brachte Sirius raus, dessen Puls sich augenblicklich beschleunigte. Der Druck auf die Brust nahm noch zu, als er seine Sachen wegräumte. Hatte er etwas falsch gemacht? Ahnte Jules doch etwas von der Sache mit den Vibratoren? Warum hatte er auch davon nicht die Finger lassen können? Was, wenn er ihn rauswarf? Quatsch. Er machte einen guten Job. Es gab keinen Grund, ihn zu feuern. Nichtsdestotrotz war die Angst immer da, kroch unter die Haut. So war es immer, stets fragte er sich, was er falsch gemacht haben könnte. Verdammt, Aaron hatte so Recht, das hing ihm ewig nach.

Betont bedächtig erledigte er alles, atmete vor dem Spiegel noch mehrfach tief durch und drückte die Zunge nach oben. Wenn sie ihn nur nicht wieder im Strich lassen würde. Nichts war schlimmer, als in einer Auseinandersetzung nicht schnell genug antworten zu können und damit von Vornherein schlechtere Karten zu haben. Solche Situationen hatte er zur Genüge erlebt. Sich zu rechtfertigen, wenn man zu Unrecht beschuldigt wurde, kam stotternd verdammt schlecht an. Wie oft hatte er den Kürzeren gezogen oder es schlicht aufgegeben, weil es mühsamer war, sich verständlich zu machen, als klein beizugeben.

Früher. Heute nicht mehr. Entschlossen reckte Sirius das Kinn vor, saugte die Lippen ein und drehte sich schwungvoll um, um sich auf den Weg zu Jules’ Büro zu machen. Die weit ausgreifenden Schritte wurden indes immer kürzer, die energischen Bewegungen immer unsicherer, je näher er der Glastür kam. Direkt davor musste er sich sehr überwinden, nicht zu zögern, gleich zu klopfen, ehe die Angst seine Kehle zu eng werden lassen konnte, von seinem Körper Besitz ergriff.

„Ah, Sirius. Danke, dass du gleich kommst.“ Mit einem strahlenden Lächeln stand Jules auf, kam herum, um ihm die Hand zu schütteln. „Bitte, nimm doch Platz.“ Elegant bewegte Jules sich zurück zu seinem schwarzen Ledersessel, während Sirius auf der Kante des Besuchersessels Platz nahm. Mit klebrigen Finger griff die Unsicherheit nach ihm, strich über seinen Rücken, erzeugte winzige Perlen kalten Schweißes. Oh Mann, wie er es hasste und dennoch konnte er nichts dagegen tun.

„Oh, schau mich nicht so an, als ob ich dich des Hauses verweisen würde! Ich bitte dich.“ Entrüstet schüttelte Jules den Kopf, lächelte leicht pikiert wirkend. „Du weißt doch, wie zufrieden wir mit deiner Arbeit sind. Ahnst du, wie viele Reinigungskräfte wir schon hatten, die dem hohen Standard des Clubs keineswegs entsprachen? Du bist ein Glücksgriff. Umso mehr freut es mich, dass ich dir eine tolle Neuigkeit eröffnen kann. Der Besitzer der Rolex hat sich gemeldet und er ist dankbar. Sehr, sehr dankbar. Enorm dankbar.“ Jules’ Lächeln wurde noch breiter, während die schlanken Finger über die Tastatur seines Computers huschten.

„Wusstest du, dass diese Rolex einen derzeitigen Verkehrswert von … Püh! 55.603 Euro hat. Der Wahnsinn! Eine Rolex GMT-Master II.“

„Das ist … viel“, brachte Sirius heraus, zu verblüfft, um viel über Stottern oder nicht nachzudenken. Wer band sich eine Uhr, die so viel wert war, ums Handgelenk und ging damit in einen Schwulenclub? Nun, ein Mann, der sich des Wertes vermutlich nicht einmal mehr bewusst war.

„Nun, unser Kunde, der natürlich absolut anonym bleiben möchte, ist wie gesagt sehr dankbar, dass sie wiedergefunden und abgegeben wurde.“ Jules hüstelte gekünstelt, die Finger tippten etwas in den Computer und er lehnte sich zurück, schaute auf den Monitor und legte die Fingerspitzen aneinander.

„In meinem Club herrscht absolute Diskretion. Aus diesem Grund haben wir lange telefoniert, wie wir dir am besten den gesetzlichen Finderlohn zukommen lassen können und …“

„Finderlohn? Wieso de… denn?“ Irritiert starrte Sirius seinen Chef an. Daran hatte er nicht gedacht. Stand ihm dergleichen wirklich zu? Aber er hatte doch schon das doppelte Gehalt bekommen. Was sollte er denn noch …?

„Ja sicher. Weißt du nicht, dass dir der zusteht? Über einem Wert von 500 Euro sind das 25 Euro.“ Über die Fingerspitzen, die enervierend gegeneinander tippten, schaute Jules ihn mit seinen hellgrünen Augen forschend an. Unbehaglich rutschte Sirius zurück, kam sich wie in einem Test vor. 25 Euro. Schön. Das war nett, damit konnte er heute die Pizzen bezahlen.

„Zusätzlich …“, Jules zog das „Zu“ besonders in die Länge, „stehen dir 3% vom Warenwert zu.“ In der folgenden, bedeutungsvollen Pause musterte er Sirius, als ob er eine bestimmte Reaktion erwarten würde. Allerdings fühlte sich Sirius viel zu verwirrt und sein Hirn weigerte sich, auszurechnen, was das bedeutete. Musste er auch nicht, denn Jules formulierte es. Jede Zahl einzeln moduliert: „Das sind zusammen 1693,09 Euro.“

Was? Ohne sein Zutun öffnete sich Sirius’ Mund. Hatte er sich verhört?

„Das wäre, was dir ohnehin zusteht. Unser Kunde hat jedoch darauf bestanden, diese Summe aufzurunden und dir 2500 Euro für deine Ehrlichkeit zukommen zu lassen.“

„Wie bitte?“ Das konnte nicht wahr sein. Bestimmt verarschte Jules ihn nur. War das so eine versteckte Kamera Sache? Wollten die sehen, wie doof er glotzen konnte? Volltreffer, er musste dreinschauen wie ein Ufo.

Jules lachte, löste die Finger und beugte sich vor. „Du bist ein Glückspilz, Sirius. Und Ehrlichkeit zahlt sich eben doch aus. Natürlich kann unser Kunde dir keinen Scheck über diese Summe ausstellen.“

Also doch, da war noch ein Haken dran. Sirius war dennoch viel zu geplättet, um anders als staunend zu reagieren. Was für eine Summe.

„Wir sind übereingekommen, dass ich dir diese Summe in bar gebe, denn natürlich kann das auch nicht einfach so über die Konten des „Blinded“ laufen, du verstehst? Zudem möchte ich nicht, dass dir von dem Geld noch etwas abgezogen wird, wenn es als Extra auf deinem Konto landet. Also …“ Abermals machte Jules eine theatralische Pause, griff in die Schublade seines Tisches und holte einen silbrigen Umschlag hervor, den er nahezu ehrfurchtsvoll an Sirius überreichte.

„Ich hoffe, der Vorgang ist okay für dich?“, hakte er besorgt klingend nach, als Sirius nicht sofort danach griff. „Du verstehst, dass der Kunde auf gar keinen Fall seinen Namen preisgeben möchte und dann …“ Noch einmal hüstelte Jules, während Sirius’ bebenden Fingern der Umschlag zu entgleiten drohte. 2500 Euro. So viel hatte er noch nie in bar in der Hand gehabt. Das war der Wahnsinn.

„Ich fürchte, es war mein Fehler in der Kommunikation, dass unser Kunde, den Finder seiner Rolex für einen anderen Kunden hielt. Sei es drum, er kommt zusätzlich für die zukünftigen Mitgliedskosten in unserem Club auf. Solange du diesen nutzen möchtest.“

„Was? Ich bin doch nur …“, wandte Sirius ein, dem der Kopf schwirrte und der noch immer den Umschlag hielt, als ob er sich gleich auflösen würde.

Wie gesagt: Mein Fehler. Ich führte nicht aus, dass die Rolex von unserem Reinigungspersonal gefunden wurde. Lediglich, dass sie sich angefunden und der Finder sie abgegeben hat. Daher … Nun, das Angebot steht. Wenn du es nutzen möchtest. Dafür wäre lediglich noch der Fragebogen auszufüllen. Gesundheitlich und auch sonst steht dem ja nichts im Wege.“

„Aber ich …“ Schnaubend stieß Sirius die Luft aus. Das war doch verrückt. Er war kein Kunde. Kein X-Kandidat und noch weniger … Oder? Oh Mann.

„Kein Problem, wenn du es dir überlegen möchtest. Hier sind die Unterlagen, die Fragebögen und die Einverständniserklärung. Lies es dir in Ruhe durch und teile mir einfach mit, wenn du die Mitgliedschaft annehmen möchtest. Keine Verbindlichkeiten. Du weißt doch: Alles geht, nichts muss.“ Jules zwinkerte ihm zu, schob einen weiteren, cremefarbenen Umschlag auf Sirius zu, der das Logo des Clubs trug, ein stilisiertes Gesicht mit Augenbinde.

Wie benommen nahm Sirius ihn an sich.

„Überlege es dir. Ich würde mich freuen, dir auch einmal die andere Seite des Clubs gönnen zu dürfen. Du bist doch Single, oder? Na, da dürfte ganz sicher was für dich dabei sein. Genieße es einfach, es ist ein besonderes Erlebnis“, fuhr Jules fort, wurde von seinem Telefon unterbrochen. „Ah, das ist wichtig. Danke für deine Zeit, Sirius. Melde dich dann einfach, ja? Hallo, schön, dass Sie sich so zeitnah melden.“ Mit einer winkenden Geste verabschiedete Jules sich von Sirius, der abrupt aufstand und gerade einmal ein: „Dankeschön und guten Tag noch“, herausbrachte. Erst als die Tür sich hinter ihm sanft geschlossen hatte, starrte er erneut auf die beiden Umschläge und konnte es noch immer nicht fassen.

Wenn er das Aaron und Tarius erzählte. Nun, erst mal nur Aaron. Tarius war ja noch beschäftigt. Auf dem Weg nach draußen wurde Sirius’ Lächeln immer breiter. 2500 Euro. Er hatte 2500 Euro geschenkt bekommen. Was für eine Summe, was für ein Gefühl.

2500 Euro!

Und eine Mitgliedschaft.

 

 

Ende der Leseprobe.

Danke für euer Interesse.

 

Das Ebook erscheint am 2.2.2017, das Print zeitnah. Das Ebook kann bereits vorbestellt werden:
https://www.amazon.de/Blinded-Date-II-Second-ebook/dp/B01MT7097Q

Impressum

Texte: CPR
Bildmaterialien: CPR unter Verwendung von Bilder von www.pixabay.de
Lektorat: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2017

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