Cover

Kapitel 1 Zu wenig Grüntaler

Das Buch wird ca im Herbst 2016 erscheinen. Vorab gibt es hier einige Kapitel als Leseprobe, die noch nicht endkorrigiert sind.

 

Kapitel 1 Zu wenig Grüntaler



Wassertropfen schimmerten innen am blinden Glas des Sprossenfensters. Bereits am Morgen waren Regenwinde aus der westlichen Schlucht aufgestiegen. Der feuchte Nebel hatte Shilsas’ Häuser von außen nach innen verschlungen und die Temperaturen waren stetig gefallen. Die Feuchtigkeit brachte den schwefeligen Geruch von modernden Pflanzen und Holz mit sich und drang durch jede Ritze der lehmgeputzten Häuser.

Navasirt öffnete den Mund weiter, holte tief durch die Nase Luft und legte den Kopf zurück. Die rauen Dielenbretter drückten sich in seine nackten Knie und er spürte die Kälte schon in die Knochen kriechen.

Ob die Regenwinde abermals eine ganze Woche anhielten? All seine Sachen würden klamm sein, der Geruch sich sogar in den Laken festsetzen, und er konnte sie erst waschen, wenn die Sonne den Nebelschleier wieder durchbrach und eine geringe Chance auf Trocknung bestand.

Shoghig Mooskian hielt es für Verschwendung die Zimmer in ihrem Freudenhaus zu heizen, wenn die Temperaturen das Wasser nicht gefrieren ließen. Unten in der Schankstube erhitzten ohnehin die Leiber der Gäste den Raum und in der Küche, wo sie auch schlief, glühte immer eine der Kochstellen.

Ein schmerzhafter Ruck. Finger krallten sich in Navas Haare, zogen ihn heran. Die Nägel der anderen Hand gruben sich in die Schulter. Er schloss erneut die Lider. Er würde sie nur dann öffnen, wenn sein Kunde es ausdrücklich verlangte. Mit geschlossenen Augen schmeckte diese Art von Freier immer gleich.

Das Schnaufen wurde immer lauter, die Bewegungen vor und zurück heftiger. Nur langjährige Erfahrung hielt ihn davon ab, instinktiv zu würgen und nach Luft zu ringen. Konzentriert atmete er durch die Nase. Der Penis des Kunden war nicht so groß, er hatte schon andere gehabt. Auch weniger rücksichtsvolle Kunden. Es gab weit schlimmere als diesen.

Fest presste die Hand am Hinterkopf ihn in den Schritt, seine Nase versank in den krausen Haare. Kein würziger Moschusduft. Es stank nach Bier, Schweiß, Urin und Rauch, ein Hauch bitterer Badaviafrucht dazwischen. Viele Männer benutzten einen Sud daraus, um sich vor Krankheiten zu schützen. Besonders die Sorte Männer, die seine Kunden waren, oder die eines der anderen Freudenhäuser Shilsas’.

Nava ließ seine Zunge kreiseln, entlang der Wurzel kitzeln, saugte an dem Ständer und hoffte, dass er nicht mehr lange durchhalten musste. Es gab so einige Kunden, da gefiel ihm seine Arbeit und er spielte mit ihnen, verwöhnte sie, zögerte ihren Höhepunkt gerne hinaus. Andererseits gab es eben auch jene, die er best- und schnellstmöglich befriedigte.

Dieser war so einer. Einen Kopf größer als er selbst, dunkelhaarig, breitschultrig, ohne allerdings beeindruckende Muskeln aufweisen zu können. Die haarige Brust ging in einen weichen Bauch über, der eindeutig öfter mit dünnem Bier trainiert wurde, als mit Kampftechniken. Mehrere Schnitte und verheilte Narben ließen hingegen darauf schließen, dass der Mann einem Kampf nicht abgeneigt war. Wenn Nava daran dachte, wie verdächtig seine Kleidung geklirrt hatte, verbarg er mehr als ein Messer darin. Zudem war er reichlich angetrunken.

Für einen der Wächter trug er zu viel Bart und ihm fehlte die typische, runde Tätowierung auf der Stirn, die all jene erhielten, die ihr Leben an den Stationen verbrachten. Andere offizielle Wachen gab es in der Stadt nicht. Wo Gesetze keinen Wert hatten, war auch keiner nötig, sie durchzusetzen.

Dieser Mann war wohl eher einer der Männer, die Shilsas’ Schatten bevölkerten. Einfache Mörder, Diebe, Betrüger und Assassinen; Shilsas zog sie an wie Zucker die Kakerlaken. Sie gediehen in der verwinkelten Enge der Gassen, in den düsteren Winkeln der Stadt zwischen den Schluchten.

Nava war egal, wer oder was der Mann war, solange er ihn bezahlte.

Die Kraft des Griffs ließ nach, die stoßenden Bewegungen der Hüfte wurden fahriger, die Laute heller. Gleich war er soweit, und Nava hätte zufrieden gelächelt, wenn sein Mund nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre. Laut stöhnend kam der Mann, spritzte in seinen Rachen und Nava wartete geduldig, bis auch der letzte Tropfen vergeben war, ehe er seine Zunge erneut einsetzte. Sorgfältig leckte er ihn ab und entspannte dabei vorsichtig den Kiefer. Erledigt, und es war nicht sehr schwer gewesen, ihn kommen zu lassen.

Wie erwartet, dieser Kunde schmeckte ihm nicht.

Es war ihr Geruch. Er nahm ihn als erstes wahr, wenn sie ihn in der Schankstube ansprachen oder das Zimmer betraten. Sogar über dem allgegenwärtigen Gestank der Gosse und über dem Alkoholduft. Manchmal erst schwach, und wenn sie sich entkleideten wurde es intensiver. Mitunter schnupperte er erwartungsvoll und wurde dann doch enttäuscht, wenn ihn das volle Aroma traf.

Wessen Duft ihm behagte, dessen Geschmack mochte er auch. Dezent, ein wenig herb, eine frische, vielleicht leicht minzige Note darunter, so etwas liebte er. Düfte, die die Bewohner Shilsas’, mit den dreckigen Gassen und aneinandergedrängten Häuser, aus stets zu feuchtem Holz, eher selten zu bieten hatten.

Grunzend zog der Mann sein erschlafftes Glied zurück, nicht ohne ihm anschließend damit noch einmal durchs Gesicht zu fahren. Lasziv öffnete Nava die Lider, blinzelte durch seine langen Wimpern und ließ die Zunge betont langsam über die Lippen zu den Spuren klebrigen Spermas gleiten. Er gönnte dem Kunden die Befriedigung, es scheinbar genüsslich abzulecken.

Er wusste gut, wie er ihre Wünsche erfüllen konnte, und die Augen dieses glommen noch immer vor Verlangen. Was für ein Glück, dass er so schnell keinen mehr hochbekommen würde.

„Du hast nicht zu viel versprochen. Das war wirklich gut.“ Noch einmal drückte der Kunde ihm die Eichel gegen den Mund. Gehorsam stieß Nava mit der Zungenspitze in die Vertiefung, entlockte dem Mann ein befriedigtes Schnaufen.

Der Schweißgeruch stieß ihn ab. Wenn er sich nur die Nase zuhalten könnte, den Geruch ausblenden.

Unangenehm feuchte Finger fuhren über seine Stirn und durch die Haare. Er kannte diese Neugierde zu Genüge. Tief dunkelbraune Haare, die über den Ohren in ein leuchtendes Rot übergingen. Selbst unter den vielen Menschen unterschiedlicher Völker und Länder, die es aus diversen Gründen nach Shilsas verschlagen hatte, war er ein Exot.

Sein Kunde strich durch die Haare und die Finger zupften an den roten Spitzen. Nachdenklich musterte er Nava und ließ die Zungenspitze lüstern über die Unterlippe gleiten.

„Habe schon vieles gefickt, aber noch nie eine Rotspitze. Sollte ich nachholen. Nächstes Mal.“ Er trat zurück, griff ungeschickt nach seiner Hose und stieg hinein. Seine Haut glänzte überall vor Schweiß und der Gestank drängte sich immer unangenehmer in Navas Nase.

Die Freude, diesen Kunden erneut bedienen zu dürfen, hielt sich bei ihm in Grenzen. Aber Geld war Geld.

Er unterdrückte das leise Ächzen, als er sich möglichst geschmeidig erhob und die Knie durchstreckte. Wie er diese klamme Kälte hasste. Wie alles an dieser verfluchten Stadt über den Schluchten.

„Du weißt, wo ich zu finden bin“, murmelte er gerade noch hörbar. Trotz der Gänsehaut an den Armen, griff er nicht nach seinem Hemd, sondern trat an die Waschschüssel heran. Bevor er in seine Kleidung schlüpfte, musste er erst einmal den Geruch loswerden. Das Wasser war nicht mal mehr lauwarm, nichtsdestotrotz tauchte Nava den Lappen ein und wischte sich die klebrigen Spuren vom Gesicht. Schritte hinter ihm verrieten, dass sein Kunde herantrat, noch ehe eine Hand auf seinen Hintern klatschte.

„Du gefällt mir sehr“, raunte der Mann ihm ins Ohr, drängte die Finger grob zwischen Navas Backen. Ungerührt wusch Nava sich weiter, öffnete nur ein wenig die Beine. Sollte der Kerl sich doch an ihm aufgeilen, das war nur gut fürs Geschäft.

„Wer gut bezahlt, kriegt guten Service“, warf er ihm über die Schulter zu, ließ den Lappen über die linke Schulter und den Arm hinabgleiten. Der alkoholgeschwängerte Atem des Mannes strich ihm über die andere Schulter, die Lippen berührten seine feuchte Haut. Innerlich seufzend wechselte Nava den Lappen zur anderen Seite.

Der Mann kicherte, wühlte hörbar in seinen Taschen und legte etwas rechts neben die Waschschüssel. Das klang nicht nach den 150 Grüntalern. Misstrauisch wandte Nava den Kopf. Nein, da lag nur eine einzelne, seltsam glänzende Münze. Keine der, wie mit dunkelgrünem Moos behafteten Taler, die in Shilsas und den angrenzenden Ländern die Währung darstellten. Diese war aus einem fremden Metall, dass wie das Licht des Mondes glänzte und völlig rein war. Die verschnörkelte Prägung wirkte eher wie eine Zeichnung als eine Zahl.

„Was ist das?“ Neugierig nahm er die Münze auf. Sie fühlte sich erstaunlich glatt an, die Ränder hatten keine Grate. Wer konnte Metall derart kunstvoll bearbeiten? Das war eher ein Schmuckstück als ein Zahlungsmittel. So etwas hatte er noch nie gesehen.

„Deine Bezahlung.“ Erneut kicherte der Mann, während er sich ungeschickt seinen Mantel überwarf und den Gürtel richtete. Nava wandte sich mit der Münze zwischen den Fingern um und sah gerade noch die Griffe von zwei Messern, die in dem Gewand verborgen waren. Ärgerlich runzelte er die Stirn.

„Was soll ich denn damit? 150 Grüne, das ist mein Lohn.“ Geld, dass er dringend benötigte. Was sollte er mit einer Münze unbekannter Herkunft? Shoghig würde ihn auslachen.

„Das ist der Lohn, den Azatyan seinen Männern nach getaner Arbeit zahlt“, stieß der Mann hervor und klang nicht nur verärgert, sondern sogar wütend. Die Wörter kamen leicht schleppend, die Bewegungen wirkten dennoch sicher genug.

„Schön für dich, aber ich nehme nur Grüne an.“ Auffordernd streckte Nava ihm die Münze hin.

„Wenn die Bezahlung gut genug für mich ist, ist sie es auch für dich.“ Der Mann richtete sich auf und grinste Nava herausfordernd an. „Oder willst du dich mit mir anlegen? Oder jemanden holen? Ich schneide dir schneller die Kehle durch, als das du schreien kannst. Auch wenn sie sich so gut ficken lässt.“

So ein verdammter Mistkerl, wollte der ihn echt um seinen Lohn prellen? Nein, zu betrunken war sein Kunde nicht. Nava kannte genug dieser Art von Männern um zu wissen, dass er noch immer gefährlich war.

„Ich habe dir einen prächtigen Orgasmus beschert, und wenn du wiederkommen willst, solltest du mich ordentlich bezahlen, sonst wirst du in dieses Haus keinen Fuß mehr setzen. Und du weißt auch, dass die anderen Freudenhäuser in keinem so guten Ruf stehen.“

Die Finger des Kunden schossen vor, packten ihn an den Schultern. Instinktiv wich Nava zurück, hob die Hände, war jedoch zu langsam. Ein weiterer Stoß vor die Brust und er landete rückwärts auf dem Bett.

„Verdammte Rotspitze. Du hast keine Ahnung, für wen ich arbeite. Ich bin sicher du hast von ihm gehört: Matous Azatyan. Man nennt ihn auch: Hazar Maher“, knurrte der Mann, schürzte die Oberlippe und entblößte seine Zähne.

Zischend sog Nava die Luft ein, ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. Und ob er von dem Mann der Tausend Tode gehört hatte. Wer in Shilsas nicht? Er war der uneingeschränkte Herrscher der Schattengänge.

„Ich sehe, du kennst ihn.“ Triumphierend blitzten die Augen des Mannes auf. Er setzte seinen Stiefel genau zwischen Navas Beine und drückte die Spitze von unten gegen dessen Hoden. Nava lag stocksteif, wagte nicht sich zu rühren. Nur sein Herz wummerte heftig.

Der Mann spie neben das Bett aus, rieb sich über das kantige Kinn. „Ein blutiger Job, hohes Risiko und so bezahlt Azatyan seine Männer dafür. Was gut genug für uns ist, ist es auch für eine Hure wie dich. Sei froh, dass mir dein Arschloch zu dreckig zum ficken ist. Wenn ich dir meinen Schwanz rein schiebe, du würdest tagelang nur noch kriechen können. Vielleicht mache ich das das nächste Mal.“ Er leckte sich über die Lippen, die Stiefelspitze drückte sich fester gegen Navas Hoden. Die Kälte kroch ihm in den Magen.

„Das ist nicht fair“, wagte er zu sagen und bereute es sogleich, denn der Mann drückte seinen Stiefel von oben auf seine Hoden. Verdammt, das tat weh. Wimmernd wand Nava sich, krallte die Finger in den Stoff unter sich. Dieser elendige Dreckskerl besudelte nicht nur ihn, auch die Laken.

„Ich muss davon 100 Grüne an Shoghig zahlen“, stieß er hervor, sah den Mann flehend an. Dieser grinste, spielte mit dem Druck und ergötzte sich an Navas gepeinigtem Keuchen. Schweiß rann Nava von der Stirn, der Schmerz sandte Flammen durch seinen Unterleib.

„Ich könnte dir ganz einfach die Eier und deinen prächtigen Schwanz abschneiden und sie als Tribut mitnehmen, hm? Dann kannst du gar nichts mehr verdienen.“ Der Kerl lachte grölend auf, drückte noch stärker zu, bis Nava ein Flehen über die Lippen kam. Langsam lockerte er den Druck, stieß dennoch weitere Male gegen die schmerzenden Hoden.

Nava biss die Zähne zusammen und senkte die Lider, verbarg seinen Blick. Widerstand war sinnlos. Wie er diesen stinkenden Scheißkerl hasste, wie er seine Hilflosigkeit hasste.

„Du kannst ja selbst zu Azatyan gehen und ihn bitten, dir die Münze umzutauschen. Vielleicht lässt er dich lange genug am Leben, um deinen Wunsch zu äußern.“ Grinsend zog der Mann endlich seinen Stiefel zurück und wandte sich zur Tür. Erleichtert entließ Nava einen Seufzer und richtete sich auf. Wütend starrte er dem Kunden hinterher, der die Tür schwungvoll hinter sich zufallen ließ.

Natürlich konnte er an dem Seil ziehen, mit dessen Hilfe in der Küche eine kleine Glocke läutete, die Shoghigs Leibwächter Gamsar Sevhonkian zu ihm bringen würde. Vielleicht wäre er dem Mann sogar gewachsen, in dem angetrunkenem Zustand, denn auch Gamsar hatte in den Schattengängen sein Geld verdient, ehe er in Shoghigs Dienste getreten war. Nur wenn dieser Bastard die Wahrheit gesprochen hatte, wenn er wirklich für Hazar Maher arbeitete … Dann sollte er ihn ganz schnell vergessen und seinen Verdienst auch.

Zornig ballte Nava die Faust um die Münze und hieb auf das Bett. Kein einziger Taler Verdienst! Keine 150, von denen er Shoghig noch ihren Anteil zahlen musste. Das war Betrug. Verflucht sollte der Kerl sein, verflucht dieser Matous Azatyan. Warum bezahlte der seine gedungenen Mörder nicht anständig? Warum musste ausgerechnet er den Ärger dieses Idioten darüber ausbaden?

Nava stieß frustriert die Luft aus und ließ sich auf das Bett zurückfallen. Die niedrige Decke mit ihren dunklen Holzbalken, in deren Ritzen sich Spinnen und Käfer verbargen, erdrückte ihn und er verfluchte sein Schicksal, diese verhasste Stadt, jeden dieser stinkenden Kunden.

Warum konnte er nicht wieder einen wie den jungen Aris bedienen? Das war ein Abend so recht nach seinem Geschmack gewesen.

Dessen Vater war einer der reichen Marktherren von Shilsas, die von den horrenden Gebühren für die Fläche der Stände auf den Marktplätzen lebten. Er war mit seinem Sohn in Shoghigs Haus gekommen. Das war nicht unüblich, oft bevorzugten die Väter es, ihre Söhne von erfahrenen Huren einweisen zu lassen. Der Junge musste gerade das Mannesalter erreicht haben, leichter Bartflaum zierte sein schmales Gesicht und der Blick aus großen, dunkelblauen Augen war unsicher und glitt staunend durch den Raum. Und blieb an Nava hängen.

Es war früher Abend, nur wenige Gäste hielten sich in der Schankstube auf, dafür aber alle acht Frauen und drei Männer, die Shoghig gehörten.

Während der Vater eine der Frauen nach der anderen kritisch musterte, drehte Nava sich etwas zur Seite, damit der junge Mann sein Profil und den schlanken Hals sehen konnte. Sein Hemd stand ein wenig offen und Nava zupfte wie zufällig daran herum, sodass er sicher sein konnte, dass mindestens eine seiner Brustwarzen kurz zu sehen war.

Der Junge roch so gut. Nach reiner Seife mit Blütenessenzen. Die halblangen, hellbraunen Haare wirkten gepflegt, weich und waren glatt gekämmt, die Kleidung sauber, aus edlen Stoffen geschneidert.

Während sein Vater drei der Frauen in höchsten Tönen lobte, schüttelte der junge Mann nur den Kopf und deutete schließlich entschlossen auf Nava. Sein Vater stutzte einen kurzen Augenblick, ehe sein Lachen die Gläser klirren ließ.

„Recht hast du, Sohn. Ein Mann weiß am besten, wie er einem anderen Mann Lust bereiten kann. Das ist ein wirklich hübscher Bursche, hm? Eine Rotspitze? Ihr werdet Eurem Ruf als exklusives Haus wahrlich gerecht, Shoghig.“

Diese nickte geehrt. Ihre graubraunen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. Ihr genaues Alter war ein gut gehütetes Geheimnis unter ihren Huren, die Falten in dem runden Gesicht waren jedoch gewiss durch mehr als fünfzig Dürrewinde in Shilsas entstanden. Stämmig gebaut, mit erstaunlich flacher Brust und dafür einem beachtlichen Bauch, bewegte sie sich dennoch recht geschickt auf Nava zu. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn direkt vor den Jungen. Gespielt verlegen senkte Nava die Lider und schaffte einen lasziven Blick von unten, der den Adamsapfel des Jungen wild hüpfen ließ.

„Diese Kostbarkeit ist es wahrlich wert. Mein lieber Srabion Antebian, Euer Sohn beweist, das er Euren guten Geschmack geerbt hat. Navasirt wird ihm eine unvergessliche Nacht bereiten und ihm alle Arten der sinnlichen Liebe zeigen können. Du bist ein glücklicher Junge, Aris.“ Sie lächelte diesen an. Sie sprach immer leicht näselnd, die schiefe Nase war gewiss mehr als einmal gebrochen worden und das eine Augenlid hing auch etwas tiefer. Shilsas zeichnete seine Bewohner auf die eine oder andere Weise.

Nava wusste nicht viel über sie, nur was die anderen Frauen erzählt hatten, nachdem er ins Freudenhaus gekommen war. Shoghig war vermutlich einst auch Hure gewesen. Anstatt jedoch Shilsas zu verlassen, sobald sie die Ablöse zusammen hatte, war sie geblieben und hatte aus ihrer Leidenschaft zu kochen Profit geschlagen. Diese war bei Weitem größer als ihr Talent, doch die meist einheimischen Gäste waren ohnehin nicht sehr anspruchsvoll. Solange es Bäuche und Kehlen erwärmte und füllte, war es annehmbar.

Der Erfolg der Schankstube stand eher mit dem Angebot an sauberen, gesunden Huren im Zusammenhang. Niemand durfte für Shoghig arbeiten, der auch nur einen Makel hatte und sie achtete streng darauf, dass ihre Huren stets genügend Wasser und Seife hatte. Jeden zweiten Mondtag schickte sie einen von ihren Leuten auf den Markt um Drielassamen zu kaufen. Wesentlich wirkungsvoller als der Sud aus Badavia.

Sie war stolz darauf, dass keine der Huren, die bei ihr gearbeitet hatten, je krank geworden war und berichtete nahezu liebevoll, wie sie sie mit Tränen in den Augen hatte gehen sehen, wenn sie die Summe der Ablösung beisammen hatten.

Nava kannte sie indes bereits gut genug, um zu wissen, dass sie Unliebsames schlicht verdrängte und auch, dass Drielas nicht jeder Krankheit gewachsen war. Vor allem nicht Murtaja, der Pest von Shilsas. Der schleichende Tod, der die Knochen verwesen, die Augen verdorren, das Fleisch vertrocknen ließ.

Die Winde von den Schluchten brachten den tödlichen Fluch aus der Tiefe mit sich, der sich im Dreck und den verwesenden Leichen in den Gossen einnistete, in dem schmierigen Schleim der Rinnsale auf neue Opfer lauerte. Es gab nur ein bekanntes Heilmittel dagegen und dieses war so schwer zu beschaffen und kostbar, dass es sich höchstens die reichen Handelsleute leisten konnten.

Männer wie Srabion Antebian und sein Sohn.

Seufzend dachte Nava an den jungen Aris zurück, an die erste Nacht, die er ihm geschenkt hatte, die nahezu kindliche Neugierde und die leuchtenden Augen. Wie er ihn verwöhnt, gestreichelt, geleckt und geküsst hatte. Leidenschaftlich hatte Aris alles erwidert, sobald er die erste Hemmschwelle abgelegt hatte. Jede Form von Vergnügen hatte Nava ihm gezeigt und war am anderen Morgen ebenso befriedigt aufgewacht, wie sein junger Kunde.

Dieser zärtliche Blick mit dem er ihn bedacht hatte, als er morgens ging. Nava war sich sicher gewesen, ihn wiederzusehen und hatte Recht behalten. Noch drei Mal war Aris zu ihm gekommen, dann trennten sich ihre Wege. Shoghig hatte berichtet, dass sein Vater ihn fortgeschickt hatte. Nach Oziarur, der großen Hafenstadt im Süden von Fuadares, um dort seine zukünftige Braut zu treffen.

Zum Abschied hatte Aris ihm ein kleines Kästchen in die Hand gedrückt und versprochen, dass er ihn wiedersehen würde. Das Kästchen enthielt eine winzige Phiole mit einer gelblichen Flüssigkeit. Mehrfach hatte Nava sich die Augen gerieben und zweimal das Etikett nachgelesen, um zu glauben, welch kostbares Geschenk Aris ihm vermacht hatte: Coavale, das einzige Heilmittel gegen Murtaja. Es war ein Vermögen wert und dennoch für jemanden wie ihn in Shilsas unverkäuflich. Wenn auch nur jemand ahnen würde, dass er etwas davon besaß ...

Nava lächelte wehmütig. Aris würde er sicher nie wiedersehen. Wer einmal in Oziarur gewesen war, der Seestadt mit den legendären blauen Steinhäusern und der frischen Brise, die vom Meer durch die sauberen, mit blauweißen Steinen gepflasterten Straßen wehte, der kam sicherlich nicht in den Dreck und Gestank von Shilsas’ Straßen zurück. Vor allem nicht, wegen einer Hure, die ihm ein wenig mehr Zuneigung geschenkt hatte, als anderen Kunden. Nava war längst nicht mehr so naiv daran zu glauben, dass sich einer seiner Kunden in ihn verliebte und ihn freikaufte.

Angewidert zog er die Nase kraus. Er stank so erbärmlich. Dieser Mistkerl hatte ihm die Hoden mit dem schmierigen Dreck der Straßen besudelt, sein ekliger Geruch klebte wie zäher Schleim überall an ihm.

Nava erhob sich, legte die Münze neben die Waschschüssel und rieb sich die Haut nahezu wund, in dem Versuch, den Gestank loszuwerden. Was blieb, war der Ärger über den Betrug. Und er wuchs.

Was Shoghig dazu wohl sagen würde? Besser, er setzte sich gleich mit ihr auseinander. Es war ja nicht seine Schuld.

Nava schlüpfte in die Hose und betrachtete das Hemd. Es war noch sauber und wenn er es trug, würde es durch seine Körperwärme nicht klamm werden. Seine anderen Sachen hatte er bei Ankunft der ersten Nebelschlieren doppelt in ein Laken eingewickelt und wegen des Kunden kurzfristig unter dem Bett verstaut. Rasch holte er sie hervor und packte sie unter die Bettdecke. Ein erbärmlicher Versuch, sie vor der Feuchtigkeit der nebeligen Regenwinde zu schützen.

Die grünliche Schärpe, die er vorhin über den Stuhl gelegt hatte, fühlte sich bereits unangenehm an. Dennoch band er sie um und fuhr sich mit nassen Fingern durch die schulterlangen Haare. In dem Zimmer seiner Mutter hatte es einen Spiegel gegeben, vor dem sie ihm gerne die Haare gekämmt hatte. Diesen hatte nun vermutlich eine der anderen Frauen bekommen. Vielleicht war er auch auf dem Markt verkauft worden.

Nun, Nava hatte es nicht nötig, sein Gesicht mit Schminke hervorzuheben. Er wusste, dass es ebenmäßig war, die schmale Nase und die vollen Lippen ihn attraktiv machten. Mehr als ein Kunde hatte seine Augenfarbe bewundert: ein sattes Blau mit einem helleren Ring um die Iris. Das Erbe seiner Mutter.

Das Leder der Schuhe knirschte leicht, als er hineinschlüpfte. Noch waren sie ansehnlich, bald schon würde er sich jedoch auf dem Markt nach Ersatz umsehen müssen. Ob die Händler aus Glimira, dem Land hinter der östlichen Schlucht, in der Zeit der Regenwinde zum Markt kamen? Meist eher kurz vor der Dürre, wenn der heiße Wind alles zu Zündstoff austrocknete und jeder Funken genügte, um das Holz der Häuser in lodernde Fackeln zu verwandeln.

Im Gang war es laut, zwei der anderen Huren hatten Kunden und an der Treppe zum Schankraum begegnete er Vlefta, die einen torkelnden, selig grinsenden Mann am Arm hielt. Na, ob der noch einen hochbekam? Eher schlief er mittendrin ein. Gut für Vlefta.

Sie lächelte ihn augenzwinkernd an und er wusste, dass sie dasselbe dachten.

„Oh, was für ein süßer Junge. Willst du den nicht mit zu uns nehmen, Schöne?“, lallte der Kunde und streckte die Hand nach Nava aus. „Der wäre viel besser für dich, als ich alter Mann. Aber ich bezahle dich ja dafür, nicht? Gutes Geld, sauer verdiente Grüntaler. Sollen wir ihn in das Bett einladen?“

Vlefta verzog den roten Mund. Gelegentlich kam es vor, dass Kunden solche Wünsche hatten. Nava war zweimal dabei gewesen. Keine Erfahrung, die er schätzte, ebenso wenig, wenn er Frauen bedienen sollte.

„Ich bin sicher, Vlefta wird euch bald schon jeden Gedanken an einen anderen vergessen lassen. Ihre Zunge und ihre Lippen sind weich und äußerst geschickt. Ihr seid ein glücklicher Mann, ohne dass meine Abwesenheit Euer Vergnügen schmälern würde.“ Nava lächelte und entzog sich der tätschelnden Hand.

Der Betrunkene lallte und lachte, klammerte sich fester an Vleftas Arm und ließ sich von ihr ins Zimmer bugsieren. Erleichtert stieß Nava die Luft aus. Nach dem Kunden eben hatte er wahrlich keine Lust, noch einmal Alkoholdunst zu atmen. Oder den Gestank einzuatmen.

 

Weitere Kapitel folgen jeweils Montags

Kapitel 2 Shilsas- über den Schluchten

 

Kapitel 2 Shilsas- über den Schluchten



Im Schankraum herrschte Gedränge. Die Scheiben der Sprossenfenster waren blind vor Feuchtigkeit, der Rauch der Küchenfeuer schwebte unter der Decke, die Luft war dicker als Buttermilch. Lachen und gegrölte Lieder drangen in jeden Winkel. Vor zwei Tagen hatte der monatliche Großmarkttag auf dem zentralen Platz Shilsas’ stattgefunden, dort, wo die drei Straßen der Seilbahnstationen zusammenliefen. Viele der Gäste in der Schenke waren durchreisende Händler, die Shilsas vermutlich mit weit weniger Gewinn verlassen würden, als sie sich ausgerechnet hatten.

Was ihnen Shoghig und andere nicht legal aus der Tasche zogen, dass holten sich oft genug die Schatten in den Gassen, wenn die Männer betrunken zu ihren Quartieren wankten. Wohl denjenigen, die keine Leibwächter in Shilsas anheuerten, sondern ihre eigenen dabei hatten. Diese verloren nur einen Teil ihres Gewinns an den Stationen für die Passage mit der Seilbahn über die Schluchten.

Shilsas lag auf einem Hochplateau, eingekeilt zwischen drei gewaltigen Schluchten, die sich meilenweit ins Land zogen. Einst waren sie wohl das Bett eines mehrarmigen Flusses gewesen, der sich über die Jahrhunderte in das Gestein gegraben hatte und längst in den Tiefen verschwunden war. Gut eine und drei Meilen klafften die Schluchten nach Westen und Osten, zwei nach Norden auseinander, nur durch drei Seilbahnen verbunden. Früher hatte es weitere gegeben, deren Seile zerrissen, die Gondeln auf dem fernen Grund der Schluchten zerschellt und vermodert waren.

Reisende von West nach Ost und umgekehrt sahen sich angesichts der unbekannt tiefen, gänzlich unquerbaren Schluchten zu monatelangen Umwegen gezwungen. Wer vom Süden nach Glimira reisen wollte, konnte einen Umweg von gut vier Wochen wählen, wer aus dem Norden an die Küste wollte sogar fünf Wochen. Oder die Passage über Shilsas nehmen.

Horrende Gebühren für die Nutzung Seilbahnen und die Beförderung der Fracht hielten die meisten Händler nicht davon ab, den kürzesten Weg zu nehmen. Auch wenn sie dafür die Stadt des siechenden Todes queren mussten. Der Landweg war kaum weniger gefährlich.

Shilsas, die verruchte Stadt in den Nebeln. Ihr schlechter Ruf war weit in den Kontinent gedrungen. Ein Ort, an dem jedes Gesetz wertlos war, solange man keine Waffe besaß, um es durchzusetzen. Ein Ort, an dem jedes Vergnügen, jede Ausschweifung möglich und käuflich war. So wie jeder Menschen darin, so wie Nava selbst.

Unruhig strich er sich die Haare zurück, spürte feinen Schweiß auf der Stirn perlen. Hier unten war es wirklich sehr warm. Rechts von ihm spielten sechs Männer lautstark ein Glücksspiel. Die vernarbten Gesichter und Hände verrieten sie als Männer der Schatten, deren Messer und Heimtücke ihr Einkommen sicherte. Sie spielten mit zwei Händlern, der Kleidung und dem Auftreten nach, kamen diese aus Eloris. Hinter einem von ihnen stand ein breitschultriger Mann in grünbrauner Kleidung, der grimmig zusah. Um seine Stirn schlang sich das rote Band mit dem Wappen der Westberge. Ein Thodar, berühmt für ihre Ausbildung in der Kriegskunst.

Ah, die Händler waren erfahren und hatten für ihren Schutz gesorgt. Allerdings unerfahren genug, sich stattdessen von den Männern im Glücksspiel ausnehmen zu lassen. Die schwelende Wut in Navas Bauch nahm zu. Nur zu gerne würde er einen der Männer der Schatten dafür bezahlen, seinem betrügerischen Kunden eine Lektion zu erteilen. Jedoch besaß er bei Weitem nicht genug Geld, um ihnen den Namen Hazar Maher schmackhaft zu verpacken.

Er entdeckte Shoghig auf dem Weg zurück in die Küche, die zugleich ihr Wohnbereich war. Er näherte sich seitlich und passte sie an der offenen Tür ab, versuchte sich weder Aufregung noch Unsicherheit anmerken zu lassen.

Sie lächelte ihn an, entblößte die lückenhafte untere Zahnreihe. Ein Schwall von Zwiebelduft und Fett traf ihn. Shoghig roch stets nach alten Speisen und muffigem Stoff.

„Nava, hol dir was zu essen. Die Frauen und Diradour sind beschäftigt und derzeit fragt keiner nach dir. Tsolag habe ich zum Feuerholz holen geschickt, der hat seine Mahlzeit schon bekommen.“ Shoghig sorgte für ihre Huren und man konnte geneigt sein, ihr die gespielte Fürsorge abzunehmen. Nava wusste es besser. Hinter der gönnerhaften Fassade lauerte kalte Berechnung.

Er schob sich durch die Tür und Shoghig folgte ihm. Dort waren sie ungestört. Die Küche war ein langgestreckter Raum mit niedriger Decke und kahlen Mauern. Im vorderen Bereich glühten die Herdfeuer, köchelten Suppen in großen Töpfen an eisernen Ketten. Der hintere Bereich war eine Mischung aus Lagerhaus und Wohnbereich.

„Der Kunde eben ..“ Mit flauem Gefühl im Magen zuckte Nava die Schultern. Wie sollte er es formulieren? Shoghig runzelte die Stirn, wischte sich mit einem Lappen über den schweißglänzenden Ausschnitt.

„Er war einer der Männer von Matous Azatyan“, stieß Nava aus.

Ihre Augen weiteten sich, sie trat einen Schritt zurück und hieb die Fäuste in einer Schutzgeste aneinander. „Beim Dreigehörnten! Hazar Maher“, murmelte sie.

„Genau der.“ Seufzend nickte Nava. „Und er hat mich damit bezahlt.“ Er zeigte ihr die glänzende Münze. Zögernd nahm sie diese in die Hand, hob sie in den Schein der nächsten Lampe und drehte sie hin und her.

„Was soll das für eine Bezahlung sein? Diese Währung kenne ich nicht. Das ist wertlos für mich.“ Mit einem beinahe angewiderten Ausdruck drückte sie Nava die Münze zurück in die Hand. „Du hättest ausschließlich Grüntalern verlangen sollen. Wie willst du davon meinen Anteil zahlen? Ich nehme definitiv nur Grüne.“

„Das ist nicht fair. Er hat mir nur ...“ Zornig biss sich Nava auf die Unterlippe. Das war vergeblich, er erkannte es an Shoghigs verhärteten Zügen. Oh Mann, er könnte den verdammten Kunden erwürgen. Nein, besser: diesen Matous. Tausend Flüche sollten ihn treffen, von der Kante sollte er fallen, in der Gasse vermodern.

„Das sind 100 Grüne, die ich von meiner Ablöse abzweigen muss“, wagte er noch einen verzweifelten Versuch. Der Verdienst von zwei Kunden. Nur weil dieser Bastard … Nava knirschte mit den Zähnen.

„Die verdienst du halt wieder und das nächste Mal lässt du dich gleich richtig bezahlen. Warum soll ich für deine Dummheit büßen? Du bist wirklich hübsch, aber reichlich dumm. Vielleicht bist du es anders gewöhnt, aber auch du solltest inzwischen begriffen haben, wie es in meinem Haus läuft, Navasirt Dadashian.“ Shoghigs Stimme war immer schärfer geworden und Nava senkte das Kinn. Er zitterte vor unterdrückter Wut und durfte sich dennoch nichts anmerken lassen. Mit zusammengebissenen Zähnen nickte er.

„Dann lauf, hol mir rasch mein Geld und dann komm in die Küche zum essen. Deine Rippen könnten mehr vertragen, zu dünn mögen es meine Kunden nicht.“ Schnaubend stieß ihn Shoghig zurück in den Schankraum und Nava ging mit schleppenden Schritten zurück zur Treppe.

Seine Faust landete mehrfach schmerzhaft hart auf dem Holz des Treppengeländers. Zornig ließ er die Tür zu seinem Zimmer zufallen und stand einen Moment schwer atmend in dem kleinen Raum. Irgendwann würde er dieses Haus, diese Stadt hinter sich lassen. Niemand würde ihn mehr betrügen, niemand über ihn bestimmen. 100 Grüne! Der Graue Tod in den Nebeln sollte diesen Mann holen und alle anderen Freier.

Seufzend kniete er sich vor die Kommode, auf der seine Waschschüssel stand und öffnete die Tür. Normalerweise lag seine Kleidung darin, die Bretter des unteren Fachs waren lose und darunter verbarg er sein hart verdientes Geld.

150 Tausend Grüne war die Ablösesumme, die Shoghig für ihn angesetzt hatte. Viel mehr natürlich, als sie für ihn bezahlt hatte. Sein Pech, denn sie alleine bestimmte den Preis der Ablöse. Das waren gut dreitausend Kunden. Jedem von ihnen wünschte er derzeit den Tod, aber ganz besonders dem letzten. Verflucht sei Hazar Maher.

Es schmerzte, das Geld entnehmen zu müssen, es wühlte in seiner Seele, in den Eingeweiden. Missmutig betrachtete er die 100 Grünen. Sie wogen nicht viel, wirkten plump, dünn und billig gegen die glänzende Münze. Nava drehte sie zwischen den Fingern.

Wie wunderschön sie war. Wie fing man wohl den Glanz des Mondes am klaren Himmel in einem runden Stück Metall ein? Eine nutzlose Schönheit, selbst wenn sie etwas wert sein sollte.

Ob er jemanden finden konnte, der sie ihm eintauschte? Ha, ja, Matous Azatyan. Er sollte hingehen und das Geld von diesem Mann einfordern. Sagte man nicht, dass er jede Schuld beglich? Ja, mit einem Messer zwischen den Rippen.

Navas Finger schlossen sich um die Münze. Er drückte sie so hart, dass sich das Metall in seinen Handballen grub. Seinem Kunden schien sie nicht viel wert gewesen zu sein. Wieso bezahlte dieser Kerl seine Mörder mit einer solchen Münze? Hatte sie eine besondere Bedeutung? Oder machte er sich einen Spaß daraus? Großartig, dann hatte er diesen ausbaden müssen.

Schwerfällig erhob er sich, ließ die Münze in die Tasche seiner Hose gleiten und betrachtete wehmütig die Grüntaler in seiner Hand. So viele. Er nahm einen Lappen und wickelte sie darin ein. Sollte Shoghig daran ersticken.

Der Lärm in der Schankstube hatte zugenommen. Einer der Händler tanzte mit einer der Huren, während sein Leibwächter mit finsterer Miene zusah. Instinktiv umklammerte Nava die Taler stärker und drückte den improvisierten Beutel fest an sich. Shoghig werkelte in der verräucherten Küche, der saftige Duft von Braten durchdrang Navas Wut. Sein Magen knurrte leise, während er sich an dem winzigen Tisch neben dem gestapelten Feuerholz niederließ und den Beutel auf die Platte legte. Auf der anderen Seite neben dem Herdfeuer schnarchte Gamsar, der Leibwächter Shoghigs, den kahlen Kopf in den Nacken gelegt. Die kleinen Glocken an der Wand rührten sich nicht, ihre dumpfe Oberfläche spiegelte kein Licht wider.

So ganz anders war das Metall der fremden Münze. Nava spürte sie durch den Stoff.

„Hier.“ Shoghig stellte ihm einen gut gefüllten, wohlduftenden Teller hin, nahm den Beutel und schüttete die Taler auf dem Tisch aus um nachzuzählen. Jeder davon schien Nava höhnisch anzusehen und er senkte den Blick, starrte auf das Essen, stocherte zornig darin herum. Shoghig war nicht geizig gewesen, sie hatte ihm eine große Portion gegeben. Das änderte nichts daran, dass er das dumpfe Klirren hasste, mit dem sein Geld in ihre Taschen glitt.

„Mach dir nichts draus, Nava.“ Sie strich ihm mit nach Bratenfett riechenden Fingern über die Haare. „Unrecht stößt immer denjenigen zu, die sich nicht wehren können. Wenn es ein Gesetz in Shilsas gibt, dann dieses: Wer das Messer am besten zu führen weiß, hat das Recht auf seiner Seite. Sei froh, dass du in diesem Haus unter meiner Obhut sicher bist.“

Nava schluckte eine Entgegnung hinab, vermochte jedoch das Essen nicht wirklich zu genießen. Die Einnahmen von zwei Kunden verloren und diesen Bastard auch noch umsonst bedient. Er wischte sich mit der Ecke eines Tuchs über den Mund und entkam der stickigen Hitze der Küche in den Schankraum. Vielleicht war einer der Männer dort draußen geil genug, ihm wenigstens den Verlust auszugleichen.

Tatsächlich kam nur kurze Zeit später einer der Männer grinsend auf ihn zu, legte eine Hand auf seine Hüfte, die andere grapschte entschlossen nach seinem Hintern, presste ihm einen Kuss auf, den Nava erfahren erwiderte.

„Ich habe gehört, du bereitest ein besonderes Vergnügen mit der Zunge und diesem Mund? Zeig es mir, Rotspitze.“

„Gerne doch.“ Lächelnd leckte sich Nava über die Lippen und nickte zur Treppe. Wenigstens stank dieser Kunde nicht zu sehr nach billigem Bier. Sein Geruch war erträglich.

Nava hatte Glück, die Gewinne des Markttages auf allen Seiten steigerten die Lust der Männer und seine Nacht wurde kurz und anstrengend.

Kein Sonnenstrahl kitzelte ihn wach, stattdessen eine unterkühlte Nasenspitze, klamme Feuchtigkeit und ein wundes Gefühl zwischen den Backen. Murrend drehte er sich auf die Seite, vergrub das Gesicht im schlafwarmen Kissen. Fünf Kunden von denen drei sich nicht mit seinem Mund zufriedengeben wollten. Wenn er daran dachte, wie viel Grüntaler er seiner Ablösesumme hätte zufügen können, wenn er nicht Matous’ Mann hätte bedienen müssen …

Grollend biss er ins Kissen und seufzte. Shoghig hatte Recht, er sollte sich endlich daran gewöhnen, das Leben war hart und nie fair. Nichtsdestotrotz ärgerte ihn diese Art von Ungerechtigkeit. So sehr, dass der Gedanke ihn den ganzen Tag weiter verfolgte. Der nächste Abend bescherte ihm genug Gelegenheit dazu, denn die meisten der Gäste bevorzugten die Frauen und außer, dass ihn der eine oder andere rüde anfasste, kam es nicht zu mehr. Missmutig starrte Nava die halbe Nacht an die dunkle Decke.

Was hatte der Kerl noch gesagt? Er solle selbst zu Azatyan gehen und die Münze eintauschen? Das wäre fair, das wäre gerecht. Nava griff nach der Münze, die er unter das Kissen gelegt hatte und ertastete ihre Konturen. Welches Geheimnis umgab sie? Zu gerne würde er das erfahren. Derjenige, der die Antworten hatte, wollte diese Münze vielleicht sogar zurück haben.

Ach, das war Gedankenspielerei. Auch wenn er tagsüber in die Schattengänge ging, war es ein Risiko und wie sollte er diesen Matous Azatyan dort finden? Vergiss es, Nava.

Zwei Tage später beauftragte Shoghig ihn, zum kleinen Markt am Wassertempel zu gehen und Drielassamen zu kaufen. Die Nebel hatten sich etwas gelichtet, lungerten um die höheren Geschosse, Dächer und Schornsteine, wollten jedoch die Sonnenstrahlen nicht passieren lassen.

Schweren Herzens hatte Nava eine kleine Summe von seinem Geld genommen, um sich neue Schuhe zu kaufen. Eine weise Entscheidung, wie er schon nach kurzer Strecke anhand der Feuchtigkeit an seinen Zehen spürte. Er hatte Glück, der Händler, der ihm die letzten verkauft hatte war zugegen und verkaufte ihm lächelnd ein neues Paar.

„Das Leder ist noch dicker, schau dir nur die Nähte an. Da geht kein Tropfen durch“, versprach er und rieb das dunkelbraune Leder extra für Nava mit einer dicken Schicht Fett ein, ehe er sie in ein Tuch einschlug und ihm überreichte. Gerade wollte sich Nava bedanken, als das Lächeln des Händlers erlosch und seine Züge einen etwas ängstlichen Ausdruck annahmen.

Zögernd wandte Nava den Kopf. Drei Männer waren an den Nebenstand getreten, der vielerlei Stoffe anbot. Die dunkle Kleidung, die finsteren Gesichter, zu viele Narben: eindeutig Männer aus den Schatten. Nava schauderte unwillkürlich und wich etwas zur Seite, während er das Geld abzählte. Sein Händler steckte es eilig ein, warf einem Mann, der schräg hinter ihm an den Stand gelehnt stand einen bezeichnenden Blick zu und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Der bullige Leibwächter richtete sich auf, behielt die drei Männer genau im Blick, die sich mit dem Stoffhändler unterhielten.

Nava hatte sich schon halb abgewandt, als er stockte. Hatte einer der Männer etwa gerade den Namen „Azatyan“ genannt? Seine Finger begannen zu beben, dennoch blieb er stehen und tat so, als ob er sich nur die Gürtel ansehen würde, die Ohren in die Richtung des Nebenstandes gespitzt. Tatsächlich, einer der Männer fragte: „Sind das alle Waren für Azatyan? Sechs Stoffballen sollten es sein.“

„Moment, werter Herr.“ Der Händler gestikulierte mit den Händen zu einer verhärmt aussehenden Frau, die unter der Last zweier schwerer Ballen heran wankte. Hastig nahm der Händler ihr einen ab und rollte etwas davon aus. „Bester Stoff, ganz dicht gewebt. Die dunkelste Farbe, die ich zu färben vermag. Fühlt nur, wie fest er ist.“

„Gut. Hier der vereinbarte Preis.“ Der Mann warf dem Händler einen Beutel zu, den dieser geschickt und breit grinsend auffing. Mit flinken Fingern zählte er nach, verbeugte sich und bedankte sich überschwänglich. Die Männer beachteten ihn indes nicht weiter, schulterten die Ballen und wandten sich zum Gehen.

Noch immer bebten Navas Finger und er ließ den Gürtel zurückgleiten. Sein Herz klopfte hart als er ihnen verstohlen nachsah. Ob sie die Ware direkt zu Azatyan brachten? Wenn er ihnen folgte …

Seine Kehle zog sich zusammen, der Mund wurde trocken und instinktiv ließ er die Hand in die Tasche zu der Münze gleiten, die er immer bei sich trug. Los, sei mutig, so eine Gelegenheit kommt nie wieder.

Mit gesenktem Haupt schlenderte er der Gruppe hinterher, blieb gelegentlich an anderen Ständen stehen, verlor sie jedoch nie aus den Augen. Noch einmal zögerte er, als sie hinter dem Gebäude des Wassertempels in einer Gasse verschwanden. Die steinernen Säulen, in die fließendes Wasser zu Ehren eines Gottes gemeißelt worden war, der längst nicht mehr verehrt wurde, boten Nava etwas Deckung, als er um die Ecke schielte. Sollte er ihnen wirklich folgen? Was, wenn sie ihn bemerkten? Was, wenn sie ihn wirklich zu ihrem Herrn führten? Zu viele Fragen, zu viele Unsicherheiten, am besten, er handelte einfach.

Die klamme Kälte kroch von seinen Zehen die Waden hoch und bescherte ihm eine Gänsehaut, während er die Kapuze seines Wams hochschlug und weiter in die Gasse ging.

Hinein in die Schatten.

 

Nä Sonntag/Montag geht es weiter. Ich freue mich über eure Rückmeldungen.

Kapitel 3 In den Schattengängen

 

Kapitel 3 In den Schattengängen



Torbögen überspannten die Gasse in regelmäßigen Abständen. Früher hatte Shilsas über ein flächendeckendes Netz an Frischwasser verfügt. Längst waren diese Aquädukte verdreckt, oft auch eingestürzt oder hatten anderweitig als Baumaterial gedient. Hier jedoch standen noch einige davon und er zählte sieben, während er tiefer und tiefer in Shilsas’ Eingeweide ging.

Genug andere Menschen bevölkerten die Gassen, sodass er weder auffiel noch zu besorgt war, er könne zum Opfer werden. Andererseits wusste er nicht, ob es überhaupt jemanden bekümmerte, wenn eine weitere Leiche am Rand lag. Gelegentlich bemerkte er zusammengesunkene Gestalten an den Hausmauern, war jedes Mal erleichtert, wenn ein trockener Husten, ein gemurmelter Fluch oder eine torkelnde Bewegung ihm verriet, dass sie noch am Leben waren.

Kurz hinter dem siebten Torbogen hielten die Männer vor einem zweistöckigen Haus, dessen Fenster dunkel verhängt worden waren und vor dessen Eingangsstufen zwei bullige Männer in ebenfalls dunkler Kleidung standen. Sie grüßten die anderen mit kurzen Sätzen oder einem Nicken. Rasch drückte Nava sich hinter den Torbogen. Hatte man ihn bemerkt? Hatte sich einer von ihnen zu ihm umgedreht? Nein, die Gruppe wurde eingelassen und die zwei Wachen blieben auf ihrem Posten zurück.

Und nun? Eng an den feuchten Steinbogen gedrückt beobachtete er die Männer, die sich unterhielten, gelegentlich ein Stück die Gasse hinabgingen, Vorbeigehende grüßten. Niemand nahm Notiz von ihm und doch fühlte Nava sich beständig beobachtet. Diese Gasse stank noch widerlicher als die davor, er musste weit am Rand, nahe der Kante sein. Zu weit fort von den sichereren Bereichen. Seine Haut juckte, die Nasenflügel flatterten und am Allerliebsten hätte er sich etwas über Nase und Mund gezogen. Er sollte gehen, zurück zum Markt, zurück zu Shoghigs Haus. Dies war zu gefährlich.

Feigling, schimpfte er mit sich. So weit bist du gekommen, nur um jetzt umzukehren? Noch einmal wirst du den Mut nicht aufbringen, also voran.

Seine Hand umschloss die Münze. Tief holte er Luft, unterdrückte den Würgereiz und hielt das Bündel mit seinen Einkäufen fest unter dem Arm eingeklemmt. Es gelang ihm, einen Teil des Ärgers erneut heraufzubeschwören, wenn er an den Kerl dachte, der ihn betrogen hatte. Vermutlich war er auch irgendwo dort in dem Haus. Wenn er ihm begegnete? Hach, der würde dumm gucken, denn immerhin hatte er selbst ihm den Rat gegeben. Also los.

Nava stieß sich ab, ging energisch und federnden Schrittes direkt auf den Eingang zu und hielt erst an, als einer der beiden Wachen ihm den Weg vertrat.

„Was willst du hier?“ Grob packte der Mann ihn am Arm und wischte Nava in derselben Bewegung die Kapuze hinab. Er stutzte beim Anblick der roten Haarspitzen und runzelte fragend die Stirn.

„Ich möchte zu Matous Azatyan“, brachte Nava mit fester Stimme hervor und ihm gelang es, sich ein wenig mehr aufzurichten.

„So?“ Der andere Mann, ein grobschlächtiger Kerl mit kahlem Schädel und einer hässlichen roten Narbe darauf, musterte ihn abfällig. „Warum sollte er dich wohl empfangen wollen?“

„Weil ich etwas tauschen möchte.“ Entschlossen öffnete Nava die Hand. Selbst in dem diesigen Licht der Nebelwinde schimmerte das Metall wie der Mond. Überrascht öffnete der Kahlköpfige den Mund, starrte die Münze mit aufgerissenen Augen an.

„Beim Dreigehörnten!“, murmelte der andere, ließ Nava sofort los und trat zurück. „Komm mit, ich bringe dich zu ihm.“ Im ersten Moment war Nava viel zu verblüfft, beeilte sich jedoch, ihm die Stufen hinauf zu folgen. Die schwere Holztür schwang auf, die Wache nickte zwei weiteren zu, die dahinter standen und marschierte voran, ohne sich zu Nava umzublicken.

Mit leicht weichen Knien und viel zu trockenem Mund folgte Nava ihm, blickte sich verstohlen, mit wild klopfendem Herz um. Die Tür fiel zu und ihm war nur zu bewusst, dass er sich nun in einer unentrinnbaren Falle befand.

„Bleib hier. Warte“, befahl ihm die Wache und deutete auf einen kahlen Raum ohne Tür mit nur einem kleinen Fenster. Mit gemischten Gefühlen sah Nava ihm hinterher. Das ging zu einfach. Sollte er deswegen erleichtert sein? Nein, der schwerste Teil stand ihm noch bevor und es war zu spät zu fliehen, das Fenster zu klein, der Ausgang zu gut bewacht. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Unruhig wanderte er auf und ab, presste sein Bündel an sich und tastete mehrfach nach dem kleinen Messer in seiner Schärpe. Mehr eine symbolische Waffe, die ihm Sicherheit vorgaukeln sollte.

Er schrak zusammen, als er schwere Schritte vernahm und wandte sich rasch um, bemüht ein gelassenes Gesicht zu zeigen. Die Wache kam zurück, baute sich vor ihm auf und musterte ihn grimmig.

Navas Knie wurden noch weicher und er schaffte es nicht länger, seine latente Furcht zu verbergen. Beinahe hätte er darum gebeten, einfach gehen zu dürfen. Zu spät.

„Leg dein Bündel und alle Waffen hier ab, Azatyan erwartet dich.“

Verblüfft schluckte Nava, befolgte jedoch gehorsam die Anordnung und legte alles auf den Boden.

„Komm.“ Erneut marschierte der Mann voraus und Nava folgte ihm zögernd den Gang entlang. Der Mann stieß eine weitere schwere Holztür auf und sie betraten einen Bogengang. Überrascht schaute Nava in den sorgfältig angelegten Garten hinab, dessen Grün den ganzen Innenhof erfüllte. Nie zuvor hatte er so viel Grün, derart viele Pflanzen gesehen. Hier und da blitzte die satte Farbe von Blüten hervor, Leuchtkraft und Duft streichelten seine Sinne. Das war atemberaubend und ein Wunder inmitten dieser dreckigen Stadt.

Staunend umrundete er auf dem Bogengang den Garten, der sogar ein steinern eingefasstes Wasserbecken enthielt. Die nächste Tür und dahinter erstreckte sich ein weiterer Gang, dessen Dunkelheit ihn regelrecht verschlang. Wie weitläufig war dieses Haus? Von vorne hatte es nicht so verwinkelt ausgesehen. Es musste sich weit nach hinten erstrecken und auch zu den Seiten. So prächtig lebte also Hazar Maher, getarnt hinter den Fassaden einfacher Häuser.

Hinter der nächsten Tür traf ihn scharfer Wind und klamme Kälte streckte ihre nebeligen Finger nach ihm aus. Ein weiterer Bogengang, nur dass dieser offenbar direkt an der Kante der Schlucht entlangführte. Nava blieb instinktiv dicht an der Wand, wagte kaum einen Blick hinab in die wogenden Nebel, unter denen sich die endlos erscheinende Tiefe verbarg. So nahe war er ihr noch nie gekommen.

Endlich öffnete die Wache die Tür zu einem Gang, an dessen Wänden Teppiche hingen und der von sanft leuchtenden Öllampen erhellt wurde. Vor einer schlichten Tür blieb er stehen und wartete, dass Nava zu ihm aufschloss.

„Er erwartet dich.“ Der Mann stieß die Tür auf und nickte auffordernd. Wie aus Stein fühlten sich Navas Füße an, kaum vermochte er, sie nach vorne zu setzen. Kälte kroch ihm über den Rücken, als er den dämmerigen Raum betrat. Sein Atem flog und er hatte Mühe, das vage Zittern seiner Hände zu kontrollieren. Der schwere Geruch von Leder und gebeiztem Holz traf ihn. Vage Spuren von Zigarrenrauch, winzige Noten von Schwefel und der typische Geruch von vielen Menschen, der sich in Teppichen und Vorhängen festgesetzt hatte.

Vor ihm lag ein spärlich mit dunklen Möbeln eingerichteter, fensterloser Raum. Die Wände säumten Lampen, die das Licht im vorderen Bereich direkt hinter der Tür bündelten. Es war daher schwer, in dem Dämmerlicht dahinter mehr auszumachen, doch Nava entdeckte einen Schreibtisch ihm gegenüber.

Hinter ihm schloss sich die Tür wie der Deckel einer Kiste in der er gefangen war. Vorsichtig blickte er sich um und starrte in die Gesichter mehrerer Männer, die im Halbdunkel verborgen seitlich standen oder saßen und ihn finster musterten. Erschrocken fuhr er zusammen. Schwere Düfte, keiner davon angenehm. Asche, Elend, Bier. War da etwa die diffuse Note von geronnenem Blut?

Es gab kein Zurück. Kein Entkommen. Er war ins Herz der Schatten vorgestoßen, nun würde er darin umkommen.

Verzweifelt mutig hob er das Kinn und trat weiter vor. Keine Angst zeigen, keine Schwäche. Welcher von ihnen war wohl Azatyan? Gefährlich wirkten sie alle.

„Er hatte nur ein Messer, Drielassamen und ein paar Schuhe dabei.“ Die Wache schritt an ihm vorbei und gesellte sich zu den anderen. Vier oder fünf konnte Nava ausmachen, die ihn misstrauisch und lauernd betrachteten. Es war schwer, ihren Blicken zu begegnen, die auf ihm brannten, an ihm zerrten und er fühlte sich widerlich schutzlos.

„Er ist keine Gefahr.“ Die Stimme kam von der anderen Seite. Ah, dort verbargen sich zwei weitere Männer, deren Duftnoten angenehmer waren. Seltsam, diese Art Geruch sagte ihm nichts.

„Das ist gewiss kein Assassine, nur ein junger Bursche, dessen Angstschweiß ich bis hierhin riechen kann.“ Dumpfes Lachen folgte und die anderen stimmten mit ein. Es war ihr Lachen, dass Nava noch weiter vortreten ließ, das Kinn trotzig erhoben.

„Ich kam, um bei Matous Azatyan Schulden einzufordern“, erklärte er mit fester Stimme. Abermals lachte einer der links stehenden Männer glucksend auf, doch Navas Blick wurde von etwas anderem angezogen. Hinter dem Schreibtisch bewegte sich jemand. Es wirkte, als ob die Schatten sich verdichten würden. Eine Gestalt schälte sich aus dem Dunkel hervor und kam auf ihn zu.

Navas Atem stockte. Dieser Duft! Würzig wie das frisch geschlagene Holz, gemischt mit trockenem Laub und der Ahnung vergangener Sonnentage, dass die Händler zum Markt brachten. Es lag noch faszinierend mehr darunter, ein frischer Duft, der seine Nerven vibrieren ließ. Beinahe sehnsüchtig sog er den Geruch ein. Wie wundervoll, wie exquisit, er könnte ihn ewig inhalieren und kosten.

Ein schlanker Mann, komplett in Schwarz gekleidet, trat ins Licht. Lange Stiefel gingen am Knie in eine enganliegende Hose mit einem sehr breiten Gürtel über, der weit über die Hüften reichte. Das Hemd betonte die hagere Figur zusätzlich und auch das lederne Wams darüber war nicht wie üblich weit, sondern enganliegend geschnitten. Schwarzbraunes, fast schulterlanges Haar, das von den Schläfen zu den Ohren zurückgeflochten war, umrahmte ein dunkelhäutiges, scharf geschnittenes Gesicht mit leichtem Bartschatten. Die Augen unter den dünnen, schwarzen Brauen, wirkten düster, glühten aus ihren Höhlen hervor, und um ein Haar hätte Nava eine Schutzgeste gewoben. Rasch presste er die Fäuste gegen seine Oberschenkel.

Unfug, das war kein Schattengeist, das war ein Mensch. Allerdings eine der beeindruckendsten Erscheinungen, denen er je begegnet war.

„Was sollte ich dir wohl schulden?“ Die raue Stimme traf ihn, rollte wie eine feurige Welle durch all seine Nerven und ließ ihn schaudern. Noch näher kam der Mann. Bei den verschwundenen Göttern! Diese Lippen, diese Augen, wie geschmeidig er sich bewegte, diese Art ihn anzusehen. Nava schauderte erneut, doch dieses Mal zuckten seine Lenden, sein Herz pochte heftig, die Kehle war viel zu eng. Selten hatte er einen Mann gesehen, der seine Sinne derart stark ansprach.

„Nicht Ihr direkt. Ein Kunde, der behauptet für Euch zu arbeiten“, brachte Nava hervor, blinzelte und versuchte seine schnelle Atmung zu verbergen. Unmöglich, den Blick von diesem Mann abzuwenden. Augen von der Farbe des Schwarzbiers, das Shoghig für besondere Gäste bereithielt. Wie alt mochte er sein? Jünger als er vorher angenommen hatte. Beim Dreigehörnten, nein, er hatte sich den Herrn der Schatten ganz gewiss anders vorgestellt.

„Einer Eurer Männer. Er bezahlte mit einer glänzenden Münze anstelle der geforderten Grüntaler.“ Bei den verschwundenen Göttern, wieso nur war er hergekommen? Das war Wahnsinn. Egal, was er vorbrachte, dieser Mann würde ihn nicht gehen lassen. Auch wenn keine Tätowierung, kein Stirnband davon zeugte, das war ein Assassine von der Sohle seiner Stiefel, hin zu dem schwarzen Band, das seine Haare durchwob.

„Er hat dich mit einem Blucloris bezahlt?“ Der Unglaube in der Stimme passte zu dem unwilligen Gemurmel der anderen. Azatyan blieb zwei Schritte vor Nava stehen, zog die schmalen Brauen über der langen Nase zusammen und wirkte mit einem Mal wie ein lauerndes Tier, dass sich gleich auf ihn stürzen würde.

„Mit der Münze, die er“, Nava deutete auf die Wache, „mir abgenommen hat. Euer Mann meinte, wenn ich mein Geld haben möchte, solle ich selbst zu euch gehen.“ Die Worte kamen rasch, zu eilig, verrieten zu viel von seiner Furcht. Ob Azatyan seinen Herzschlag hörte? Seinen fliegenden Atem auf jeden Fall.

Und dieser wunderbare Duft erschlug ihn, machte ihn benommen.

„Wofür schuldet er dir das Geld?“ Azatyan hatte die Stimme bedrohlich gesenkt. Navas Kehle war plötzlich so eng, dass ihm kein Wort herauskommen wollte, jeder Herzschlag klopfte im Kehlkopf, die Hände waren schlüpfrig vor Schweiß.

Matous Azatyan trat noch näher, hob die Hand und Nava war wie paralysiert, vermochte nicht einmal auszuweichen. Er berührte ihn mit dem Handrücken rechts an der Wange, drückte Navas Kopf energisch nach links. Seine Halsseite wurde entblößt und Azatyan zupfte den Stoff noch weiter zur Seite.

Nava schluckte hart. Die Tätowierung. Er hatte sie schon so lange, dass er es gerne vergaß. Genau deswegen trugen er und die anderen sie: Jeder wusste sofort, wohin sie gehörten.

„Ah, für solche Dienstleistungen?“ Klang Azatyan höhnisch? Das Blut rauschte zu laut in Navas Ohren. Aber natürlich würde er ihn verachten. Jeder Mann tat das, wenn er einer männlichen Hure außerhalb des Freudenhauses begegnete.

Heißer Zorn flutete seine Adern, wischte die Furcht fort. Er wich zur Seite, sodass Matous Azatyans Hand hinabsank und zog den Kragen hoch.

„Was denn sonst?“ Nava kräuselte ebenso verächtlich die Oberlippe und wagte es, ihm direkt in die Augen zu sehen.

Ein Fehler. Dunkelstes Braun, ein gelbgrüner Schimmer um die Iris. Und sein Duft … Holzig, würzig, auf eine Weise betörend, die ihm unbekannt war und ihn schwindeln ließ.

Die harten Züge wurden eine Spur weicher. Hoben sich die Mundwinkel etwa spöttisch an? Prompt war da wieder der alte Groll, der Nava hergetrieben hatte und er funkelte Matous Azatyan herausfordernd an.

„Wie alt bist du?“, fragte dieser und musterte ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß.

„Zu alt, um durchs Rasieren noch die Kinderficker zu täuschen“, stieß Nava hervor, presste gleich danach die Kiefer aufeinander. Was tat er? War er denn verrückt?

Die anderen Männer murmelten im Hintergrund, doch Nava war ganz auf Matous konzentriert. Der beobachtete ihn eine ganze Weile nachdenklich und trat schließlich zurück.

„Du behauptest also, einer meiner Männer hat deine Dienste in Anspruch genommen und nicht dafür bezahlt? Vielleicht warst du ihm nicht gut genug?“

„Ich bin verdammt gut.“ Bemüht hochnäsig starrte Nava ihn an.

„Hm, dein legendärer Ruf ist noch nicht bis zu mir gedrungen.“ Eindeutig: Azatyans Mundwinkel zuckten. Verhöhnte er ihn? Verflucht sollte er sein, ihn hatte ja auch keiner um seinen Lohn betrogen.

„Vielleicht, weil Ihr bisher in den falschen Bordellen verkehrt habt?“

Links neben ihm zischten die anderen Männer empört und einer von ihnen trat drohend auf Nava zu, die Hand zum Schlag erhoben. „Sei vorsichtig, Bursche, was du …“

Wie die sirrende Sehne eines Bogens durchschnitt Azatyans Stimme die abgestandene Luft: „Dein Eifer in allen Ehren Hayasdan Kezerian. Wenn ich die Worte dieses Jungen als bedrohlich empfinden würde, glaubst du nicht, ich könnte mich selbst darum kümmern?“ Der Angesprochene zuckte zusammen und wich augenblicklich zurück, senkte das Haupt.

„Natürlich, verzeiht.“ Er zog sich zu den anderen zurück, deren Gemurmel abrupt verstummte.

„Welcher meiner Männer war es denn, den du … bedient hast?“ War da ein winziges Zögern gewesen? Vielleicht, aber Navas Gedanken kreiselten um ganz andere Dinge. Beim Dreigehörnten, dieser Matous war einfach eine Augenweide. Diese unglaublich langen Beine gehörten verboten. Diese Lippen, die dunkle Haut. Was er alles mit ihm anstellen könnte … Verdammt, solche Gedanken sollte er echt beiseite schieben. Nicht, dass man ihm etwas ansah.

„Er hat mir seinen Namen nicht genannt und mein Mund war zu beschäftigt, um nachzufragen. Er war groß und kräftig, halbe Glatze, Bart um den Mund, bis hoch zu den Ohren, das rechte Ohr seitlich geritzt, eine lange Narbe über dem Handrücken links. Die meisten der Details, die ich genauer gesehen habe, werden Euch wohl eher nicht helfen, ihn zu identifizieren“, erklärte Nava.

Zu seinem Erstaunen nickte Matous Azatyan schon während der ersten Worten. „Bringt Yeranos her.“

„Bist du dir sicher?“ Das kam von einem der Männer auf der anderen Seite. Ein großer Mann, der einen merkwürdigen Geruch verströmte. Ein wenig erdig, nach Holz, Moos und darunter eine unbekannt fruchtige Note. Seltsam. Das Gesicht blieb im Halbdunkeln und er rührte sich nicht von der Wand fort. Matous machte sich nicht die Mühe zu antworten, noch ihm einen Blick zuzuwerfen.

„Ich hole ihn“, erklärte die Wache, die Nava hereingebracht hatte, warf ihm im Vorbeigehen einen finsteren Blick zu und verschwand durch die Tür.

Azatyan wandte sich um, kehrte zum Schreibtisch zurück, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tischplatte, blieb jedoch im Licht.

Erneut kehrte die Furcht lauernd zurück, bereit, Nava zu überwältigen, wenn er es zulassen würde. Er wusste nicht, welche Empfindung ihm derzeit lieber war: Angst oder die zittrige Erregung, wenn er Matous ansah, ihn erschnupperte. Dieser Mann war in mehr als einer Hinsicht gefährlich für ihn.

 

Ich freue mich über eure Rückmeldungen. Nächsten Sonntag/Montag geht es weiter.

Kapitel 4 Schulden werden beglichen

 Und hier kommt schon das nächste Kapitel :-) Viel Spaß damit und ich freue mich über Rückmeldungen.

Kapitel 4 Schulden werden beglichen



Unendlich lang erscheinende Zeit stand er in Matous Azatyans Fokus. Der betörende Duft schlich sich immer wieder in Navas Nase, ließ ihn von aneinander reibenden, schwitzigwarmen Körpern, unterdrücktem Stöhnen, feuchten Lippen fantasieren. Dieser Blick drang unter seine Haut, wanderte in Hände und Beine, juckte an den Knochen. Beinahe wünschte er sich schon den erlösenden Stich ins Herz herbei. Ein kurzer Schmerz und ein Ende all dieser Verwirrung. War er noch bei Sinnen? Nein, von dem Moment an, wo er dieses Haus betreten hatte nicht mehr. Wie sollte dies anders enden als mit seinem Tod?

„Man sagt Rotspitzen nach, besonders temperamentvoll zu sein. Bezieht sich das auf alle Bereiche?“ Schmunzelnd verschränkte Matous Azatyan die Arme vor der Brust. Spielte er mit ihm? Forderte er ihn heraus? Na warte, das konnte er haben.

Nava zuckte betont lässig die Schultern. „Muss was Wahres dran sein. Ihr solltet es herausfinden.“

Abermals dieses Zucken um die Mundwinkel. Nava konnte nicht anders, er musste lächeln, obwohl sein Rücken sich schweißnass anfühlte. Er war natürlich dumm. Er sollte sich nicht täuschen lassen, vermutlich war das genau, was Matous Azatyan beabsichtigte: ihn in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen. Er konnte ihm nicht trauen.

„Wie kommst du hierher? Die Rotspitzen sind keine Einwohner Shilsas’. Ich kenne keinen, der freiwillig die Weite der Heimat gegen die Enge unserer Gassen eintauschen würde.“

„Gäste sind sie schon. Mein unbekannter Vater war vermutlich auf der Durchreise und musste bestimmte Gelüste befriedigt wissen, ehe er seine Reise fortsetzte“, gab Nava zurück. Keinesfalls würde er Unsicherheit zeigen. Nicht vor diesem Mann.

Bedächtig nickte Matous, beobachtete ihn unablässig. Die angespannte Stille zog den Raum zusammen, machte die Luft schwer zu atmen. Nervös verlagerte Nava das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Spielte man mit ihm oder nahm Azatyan sein Anliegen wirklich ernst? So recht wollte er es nicht glauben und erwog seine Chancen, durch die Tür zu entkommen, wenn die Wache mit diesem Yeranos zurückkam.

Ein sinnloser Gedanke, wie er erkannte, als die Tür sich abermals öffnete und sein Kunde herein geschoben wurde, die Wache direkt hinter ihm.

Yeranos stockte, als er ihn erkannte, der Mund öffnete sich und er schloss ihn hastig, kniff die Augen drohend zusammen.

„Yeranos Chakmakian.“ Wie sanft Azatyans Stimme klang. Ein Streicheln über Samt, doch darunter verborgen war die Schärfe einer Klinge. Nava schauderte und wich minimal von Yeranos ab, dessen Finger verdächtig fest auf seiner Schärpe lagen.

„Hazar Maher.“ Yeranos deutete eine Verbeugung an, ließ den Kopf leicht gesenkt. Zornige Blicke trafen Nava seitlich unter den gesenkten Lidern hervor.

„Dieser Junge hier behauptet, du hättest ihn um seinen Lohn betrogen.“

„Er lügt. Eine dieser gierigen Huren, die sich an die Freudenhäuser verkaufen, weil sie leichtes Geld wittern.“ Schnaubend spie Yeranos vor Nava aus, seine linke Hand halb in der Schärpe vergraben. Er wirkte in die Enge getrieben und Nava gönnte es ihm von ganzem Herzen.

„Du hast mich nur mit einer Münze bezahlt, die ...“, stieß er wütend hervor, doch Matous schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Einer der Männer links trat bedrohlich auf ihn zu, sodass Nava hastig alles Weitere hinabschluckte.

„Schuldest du ihm seinen Lohn?“

Erneut schnaubte Yeranos, verzog das Gesicht verächtlich. „Er war schlecht. Ich habe selten jemand derart Unbegabtes erlebt. Ich ...“

„Du bist so heftig gekommen, dass du mir in den Rachen und bis in den Magen abgespritzt hast! So schlecht scheint es also nicht gewesen zu sein“, zischte Nava wutentbrannt. Dieser miese Verräter, er würde ihn …

Neben ihm wuchs ein Schatten heran und erschrocken drehte er sich zur Seite. Der Mann war sehr groß, die blanken Unterarme wesentlich dunkelhäutiger als Azatyans und sein Gesicht bis auf die Augen hinter einer schwarzen Binde verborgen. Instinktiv duckte Nava sich, zog die Schultern ein. Der Mann stand reglos, seine Drohung war dennoch deutlich und Nava presste die Kiefer hart aufeinander und schwieg.

„Du bist also bei ihm gewesen. Welches der Freudenhäuser war es?“

„Shoghigs Schenke. Die Huren dort haben den besten Ruf, nur dieser ...“ Rasch brach auch Yeranos ab, als der große Mann seinen Blick von Nava auf ihn richtete. Ha, immerhin ließ der sich ebenso einschüchtern. Es gab Nava eine gewisse Befriedigung.

„Seltsam. Er wusste einen Blucloris vorzuweisen mit dem ihm Einlass gewährt wurde. Wie mag er wohl in den Besitz dieser kostbaren Münze gekommen sein, die nur wenige Auserwählte der Schatten besitzen?“

„Verzeiht Azatyan, ich war angetrunken und er muss sie mir entwendet haben, als ich zu abgelenkt ...“ Yeranos schluckte hart und deutete ein schiefes Lächeln an. Matous verzog keine Miene, dennoch vermeinte Nava zu erkennen, dass er sich anspannte. Von links erklang ein leises Knirschen und Schaben, die Spannung im Raum war zum Greifen nahe.

„Du hast mich mit diesem Blucloris entlohnt, was immer das sein mag.“ Nava ignorierte den Mann an der Seite und funkelte Yeranos an. Er würde ihn nicht mit dieser Lüge davonkommen lassen. Merkte Matous nicht, dass er ihn anlog? Was, wenn er seinem Mann glaubte und nicht ihm? Verdammt, wieso nur war er so dumm gewesen herzukommen?

„Lügner, ich habe dich bezahlt, du dreckige Hure.“ Yeranos ballte die Faust, ließ sie jedoch hastig sinken, entspannte die Finger.

„Du hast mir gesagt, ich könne diese Münze ja selbst bei deinem Herrn eintauschen. Da bin ich“, stieß Nava hervor und fügte mit wild klopfendem Herzen hinzu: „Du schienst ihren Wert nicht sonderlich hoch einzuschätzen und mit deiner Bezahlung zu hadern.“

Das Gemurmel der Männer war Lohn genug für seinen Wagemut und letztlich: Was hatte er schon zu verlieren? Wenn Azatyan ihm nicht glaubte, war er tot. Wenn er ihm glaubte vermutlich ebenso. Er hatte sich in Dinge eingemischt, von denen er nie etwas wissen wollte. Nun steckte er in dem Sumpf und würde versinken.

Matous Azatyan hob die linke Hand, bewegte die silbrige Münze geschickt zwischen seinen Fingern. Ein flirrendes Spiel aus Lichtreflexen. „Diese Münze hat eine spezielle Bedeutung. Wer damit für seine Arbeit entlohnt wird, genießt einen besonderen Status.“ Er sah nicht Yeranos an, sondern Nava, dessen Atem sofort stockte. Hitze rann über seinen Rücken, gleich darauf von Kälte abgelöst.

„Herr, ich ...“, begann Yeranos.

„Ich werde dir vorerst nicht erlauben, dich weiter dazu zu äußern“, unterbrach ihn Azatyan scharf, machte mit der rechten Hand eine wegwischende Geste. Augenblicklich wich Yeranos zu den anderen Männern zurück. Ihr Murmeln erklang noch gedämpfter, Nava konzentrierte sich jedoch ausschließlich auf Matous. Die Münze wirbelte wie ein silbriger Schemen um seine Finger, er warf sie hoch und fing sie auf.

„Ich werde dich bezahlen. Was schuldet er dir?“

Ein winziges, überraschtes Keuchen entkam Navas Lippen. Ungläubig starrte er Matous an. Konnte es wahr sein?

„150 Grüne.“ Er stieß er hervor, war sich seiner bebenden Stimme nur zu bewusst. Egal, wenn Azatyan ihn bezahlte, dann würde er das Geld nehmen und so schnell verschwinden wie es nur ging.

Bedächtig nickte Matous, seine Finger spielten erneut mit der Münze. „Nicht gerade wenig.“

„Angemessen“, brachte Nava grimmig hervor. Wollte der jetzt etwa noch mit ihm handeln?

Die Münze verschwand so blitzschnell, dass Nava verblüfft blinzelte. Matous legte die langen Finger links und rechts an die Kante des Schreibtisches.

„Zieh dich aus.“

Nava schluckte. Wie hatte er nur so naiv sein können? Dies war noch nicht vorbei.

„Wozu? Ihr habt mir noch nicht einmal die vorherige Leistung bezahlt und wollt eine gratis Zugabe?“ Jedes bisschen Arroganz legte er in sein Auftreten, kampflos würde er nicht klein beigeben.

„Dann nenne mir deinen Preis dafür.“ Mit leicht schräg gelegtem Kopf und süffisant angehobenen Mundwinkeln schaute Matous ihn an.

Betont langsam und abschätzend ließ Nava seinen Blick über die anwesenden Männer schweifen. Was auch immer er tat, er war verloren. Es waren zu viele, um ihnen zu entkommen. Sie würden ihr Vergnügen mit ihm haben und wenn er Glück hatte, bekam er ein Messer in die Rippen und landete in der Gasse. Nein, sie würden ihn eher hinab in die Schlucht werfen. Als ob je einer nach ihm fragen oder ihn vermissen würde. Nichtsdestotrotz würde er sich teuer verkaufen. Nichts anmerken lassen.

„Wie viele wollen denn zuschauen?“

Matous lachte auf. Ein so unerwarteter Laut, dass Nava heftig zusammenfuhr. Schmunzelnd machte Matous eine Bewegung mit dem Kopf und wortlos entfernten sich die Männer allesamt zur Tür. Der große Mann neben Nava blieb noch einen Moment, wartete ein weiteres Zeichen seines Herrn ab, dann verließ auch er den Raum.

Sie waren alleine. War das gut oder schlecht? Nervös biss sich Nava in die Unterlippe. Sein Magen flatterte, die Hände bebten, während er Matous anstarrte, dessen Mund noch immer dieses Schmunzeln zeigte. Wenn er nur nicht so attraktiv wäre, nicht so wundervoll duften würde. Nur einmal die Nase in den Nacken drücken, nur einmal ...

„Kann ich es mir nun leisten?“ Eine rote Zungenspitze fuhr von links nach rechts über die Lippen und Matous ließ ihr den Daumen in einer nachdenklichen und abwartenden Geste folgen, die Navas Hormone rotieren ließ.

Vergiss nicht, wer er ist. Vergiss es nur ja nicht, ermahnte er sich.

„Wenn Ihr 100 Grüne zahlt.“ Nava zwang sich dazu, die Hände zu lockern. Dies war sein Gebiet, er konnte Männer verführen, er wusste sich in Szene zu setzen. Vielleicht konnte er seine Freiheit und sein Leben auf diese Weise erkaufen. Wenn nur eine geringe Chance bestand, er würde sie nutzen, der Preis war nicht zu hoch dafür.

Geschmeidig stieß sich Matous vom Schreibtisch ab, umrundete ihn und verschwand in den Schatten dahinter. Das scharrende Geräusch einer Schublade erklang, das dumpfe Klirren von Münzen, dann tauchte er wieder im Licht auf. Ein kleines Säckchen hielt er hoch, schüttete die Grüntaler auf dem Tisch aus und ließ jeden davon sorgfältig in den Beutel zurückgleiten, sodass Nava mitzählen konnte.

„150 und 100.“ Matous zog den Beutel zu und legte ihn neben sich auf die Tischplatte. Erwartungsvoll sah er Nava an, noch immer die Spur eines Lächelns auf den schmalen Lippen. Nava zögerte. Normalerweise hatte er keine Probleme damit, sich vor anderen nackt zu zeigen. Diese Scham hatte er früh abgelegt. Sich hingegen vor diesem Mann zu entkleiden, war wirklich wie sich zu entblößen. Er würde alles an ihm sehen können, die Gänsehaut an den Armen, das leichte Zittern seiner Knie. Womöglich sogar, dass alleine seine Gegenwart, die intensiven Blicke ihn erregten.

Sei es drum, er war eine Hure und dies sein Handwerk. Matous war ein Kunde wie jeder andere auch und wenn es ihm gelang ihn zu verführen, vielleicht würde er dies wirklich überleben. 250 Grüne waren eine gute Summe.

Tief holte Nava Luft, füllte seine Lungen so stark er konnte und hob den Brustkorb an. Seine Zunge glitt hervor, benetzte die trockenen Lippen. Die Finger nestelten an den Verschlüssen seines Hemdes, knöpften es Stück für Stück auf. Er ließ es auseinanderfallen und legte die Hände an die Schärpe, die Daumen wanderten unter dem Stoff bis zum Knoten, der sie hielt. Ein leises Rascheln und der Stoff glitt zu Boden.

Nava stellte sich ein wenig breitbeiniger hin, während er den Gürtel öffnete. Es fiel ihm erstaunlich schwer, ruhig und gleichmäßig zu atmen, noch schwerer, sicher zu wirken. Das war sonst nie der Fall, er beherrschte dieses Spiel mit Erwartungen und Gelüsten perfekt. Erneut kamen jedoch die Zweifel hoch, machten seine Bewegungen zu fahrig, zu ungelenk. Er war mitten in Hazar Mahers Reich eingedrungen, er hatte Informationen erhalten, die ganz gewiss niemand außerhalb erfahren sollte. Konnte und würde er ihn gehen lassen?

„Langsamer, ich will doch etwas davon haben.“ Matous’ Stimme war eine Spur rauer geworden und auch er schien ein wenig die Beine geöffnet zu haben. Erregte ihn der Anblick eines Mannes oder eher die Tatsache, dass er mit einem Opfer spielte?

Vielleicht beides. Was auch immer Matous nun mit ihm trieb, es würde seinen Tod nur hinauszögern. Selbst wenn er gehen durfte, die Gassen waren stets voller Schatten, einer würde ihn einholen.

Der Gürtel glitt hinab, das Klirren auf dem Holzfußboden wirkte bedrohlich laut. Nava richtete den Blick auf den Bereich hinter Matous, versuchte den Kopf freizubekommen, sich auf seinen Körper, auf jede einstudierte und perfektionierte Bewegung zu konzentrieren. Verdammt, er konnte verführen, er konnte sich präsentieren. Warum nur fiel es ihm vor diesem Mann so schwer?

Weil er ihn durchschaute. Weil sein Blick ihn nicht nur auszog, nicht nur voll Begehren war, sondern lauernd, besitzergreifend, tief in ihn drang. Er wusste um seine Furcht, er wusste um seine Hilflosigkeit, er wusste um seine eigene Gefährlichkeit.

Nava streifte die Schuhe ab, der Stoff der Hose glitt über seine Hüftknochen und er ließ ihn langsam hinabgleiten, zog jedes Bein elegant heraus. Tänzerisch, weiche Bewegungen. Verführe dein Gegenüber, lass ihn träumen, was dein Körper alles mit ihm tun kann, lass ihn deine Leichtigkeit sehen, deine Grazie, deine Schönheit. Wie gut erinnerte er sich an die Worte. Und doch: Heute hatten sie keine rechte Bedeutung.

Das letzte Stück Stoff glitt hinab und Nava nahm die Schultern zurück, die Arme leicht nach hinten , die Hände einladend geöffnet, hob er das Kinn an und blickte Matous direkt an.

 

Nächsten Sonntag geht es weiter.

Kapitel 5 Ein perfides Spiel

 

Kapitel 5 Ein perfides Spiel



Dunkles Feuer. Es brannte in den Augen, loderte in dem tiefen Schwarzbraun. In dem Licht der Öllampen schimmerte Matous’ Teint wie dunkel gebeiztes und geöltes Holz. Edel und kostbar. Die Haare wie schwarze Seide, die Lippen glänzend. So betörend sein Duft.

Navas Fingerspitzen kribbelten, er wünschte sich, ihn zu berühren, ein Finger, der über die Kehle, die Brust hinab glitt. Würde sich dieser wundervolle Duft noch intensivieren, wenn er Matous’ Hose öffnete? Wie würde er schmecken, wie sich anfühlen?

Matous bewegte sich. Dicht vor ihm blieb er stehen, dort, wo Nava jeder Atemzug traf, wo er sehen musste, wie Navas Lippen bebten, wie der Adamsapfel hüpfte. Ein dünner Schweißfilm bedeckte Navas Stirn, Schultern und den gesamten Rücken. Matous’ Blick strich wie kühler Wind über seine erhitzte Haut.

Er hob die Hand. Langsam strich der Daumen über Navas Wange, glitt über die Halsseite zur Schulter. Die Finger legten sich fest darauf, umschlossen die Schulter und ihr Gewicht ließ Nava beinahe schwanken.

Beim Dreigehörnten, er fühlte sich schwebend und fallend zugleich, erfüllt von Lust und Furcht im stetigen Wechsel.

„Anschauen. Anfassen war nicht im Preis inbegriffen“, stieß er leicht krächzend hervor, ballte die Fäuste und entspannte sie hastig wieder. Hatte er denn keine Selbstbeherrschung mehr? Das heiße Blut floss mächtig schnell in seinen Unterleib und Matous musste schon blind sein, wenn er nicht erkennen würde, was er ihm antat. Das war falsch, das war Verrat an sich selbst. Er war derjenige, der führte, der die Lust wecken sollte. Dafür war sein Körper geschaffen, dazu war er ausgebildet worden.

„Dann zahle ich dir mehr.“ Kaum lauter als ein Flüstern, zu nahe an seinem Ohr. Schnupperte Matous an ihm? Weshalb war er so dicht gekommen?

Nava versagte die Stimme, ein Stöhnen wollte sich heraus schummeln, als Matous’ Finger über die Schulter den Oberarm hinabglitten. Wenig Druck, eher tastend, eine federleichte Berührung, die nur die Härchen bewegte. Zu leicht, zu fein. Schaudernd stand Nava still, gefangen in Duft und Berührungen.

Finger streiften flüchtig sein Handgelenk, dann legte Matous sie an seine Brust, der Zeigefinger fuhr die Körpermitte entlang, die anderen über die Brustwarzen, die Rippen. Beide Hände legten sich an seine Hüften. Noch immer kein Druck, noch immer diese beinahe zaghafte Berührung, die viel intensiver war, als ein fester Griff.

Blinzelnd kämpfte Nava um festen Stand, Hitze wallte auf, flutete ihn, erlosch in Kältewellen, die sein Rückgrat entlang jagten. Was für ein Wechselbad der Gefühle.

„Wie lautet dein Name?“, raunte Matous, kaum lauter als ein Windhauch, kaum mehr Stärke darin als in seinen subtilen Berührungen. Die Finger erreichten die Oberschenkel, verharrten darauf, während Navas Schaft sich unmissverständlich hob.

„Navasirt Dadashian“, hauchte er, die Hüfte wollte sich vorschieben, den Fingern entgegen. Wenn er seine Hände auf Matous’ Schultern legen, wenn er dessen Lippen kosten würde …? Nie zuvor hatte ihn jemand so angefasst, hatte er sich so erlesen gefühlt, so … begehrt. Warum berührte er ihn auf diese intensive und zugleich tastende Weise? Weshalb griff Matous nicht zu, wieso sagte er ihm nicht, was er tun sollte? Wieso kam er nicht zur Sache?

„Navasirt.“ Matous atmete jeden Buchstaben gegen seine schwitzige Haut, ließ sie einzeln über die Zunge rollen, wie einen exquisiten Schluck, eine Köstlichkeit. „Navasirt Dadashian.“

Beim Dreigehörnten, wie konnte sein eigener Name ihn zum keuchen und tropfen bringen? Wie würde es sich anhören, wenn Matous ihn stöhnte, wenn die Lust seine Stimme tiefer und noch voller werden ließ?

Seine Lider flatterten, hektisch benetzte Nava sich die Lippen. Dies war nicht real, dies war nur ein Spiel. Musste es sein. Wenn er sich darauf einließ, wenn er Matous verfiel …? Er durfte jemand wie Azatyan nicht trauen. Diese Augen waren undurchdringlich. Der Stoß würde kommen, sobald er sich ihm ergab, sobald er diesem intensiven Wunsch verfiel.

Das Schlucken fiel so schwer. Warme Finger legten sich von unten um seine Hoden und obwohl Nava sich nur zu gerne endgültig der zündelnden Lust ergeben hätte, wurde ihm mit einem Mal sehr kalt. Der Schweiß klebte auf der Haut, juckte in jeder Pore. Die Enttäuschung brannte Löcher in seine Seele, als er das Spiel plötzlich durchschaute.

Wie perfide, wie grausam.

Dies war Hazar Maher, der Herr der Schattengänge, der Tod auf zwei Beinen in Shilsas. Der Gebieter über seinen Tod. Sein Spiel, seine Regeln.

„Warum müsst Ihr mich demütigen?“ Es kam stockend, bebende Stimme, die Wucht der Erkenntnis verzerrte sie. Navas Augen brannten, die Kehle war wie eingeschnürt. Wie diese Scham schmerzte, wie dieses Gefühl ihn verzehrte. Für einen winzigen, unbedachten Moment hatte er geglaubt …? Dumm, einfach nur dumm.

„Wir beide wissen, dass ich das hier nicht überleben werde, also macht wenigstens ein schnelles Ende. Spielt nicht mit mir.“

Verschwunden waren die Finger, fort ihre Wärme. Matous trat einen Schritt zurück, musterte ihn eindringlich, die Stirn leicht fragend in Falten gezogen. Täuschte er das vor, oder war seine Verwunderung echt? Nie im Leben.

„Wieso glaubst du, dass ich dich töten werde?“

„Weil Ihr Matous Azatyan seid, der Herr des Torviertels. Hazar Maher, und ich … nur eine Hure. Es war ein Fehler herzukommen.“ Nava fühlte sich auf eine Weise entblößt, die viel weiter ging als sich nackt zu zeigen. Wie zuvor der Stoff, fiel jede Sicherheit von ihm ab, alles, was ihn aufrecht hielt, jede Maske, jede erlernte Fähigkeit sich zu präsentieren, sein wahres Selbst zu verbergen. Die Furcht schlug zu, machte ihn zu dem Opfer, das er war. Gefangen im Blick einer Schlange.

„Das finde ich nicht unbedingt.“ Matous’ Fingerkuppen berührten seine Brust so weich wie seine Stimme geworden war. „Du hast mein Wort, dass du gehen darfst.“

Tränen brannten in Navas Augen. Er hasste Lügen. Angst vor den Schmerzen, vor dem Kommenden ließ ihn stärker zittern. Solche Männer wie Matous kannten keine Gnade, er war extrem naiv gewesen, auch nur einen Lidschlag lang etwas anderes zu glauben. Naive Menschen überlebten nicht in Shilsas.

„Nachdem Ihr euch unbezahlt mehr genommen habt? Nur zu, Ihr wärt beileibe nicht der Erste.“ Die Worte spie er aus, lachte bitter auf.

Raue Hände packten ihn, harte Finger bohrten sich in seine Oberarme. Nava keuchte erschrocken auf, die Panik drohte ihn zu überwältigen und er spannte sich an. Fest presste er die Kiefer zusammen, zwang sich dazu, seinem Schicksal in die dunklen Augen zu sehen. Er würde nicht betteln, er würde nicht jammern, versuchen, nicht zu schreien, er würde es stumm ertragen. Dann war der Tod eine Gnade, die er nach Scham und Demütigung erwarten durfte.

Augenblicklich ließ Matous ihn los, wich zurück, das Gesicht eine starre Maske, die Lippen nur eine schmale Linie. „Mein Wort, dass du jederzeit gehen darfst, wenn du es wünschst“, stieß er hervor, wirkte mit einem Mal nicht mehr so bedrohlich und entschlossen.

Leicht taumelnd kämpfte Nava um sein Gleichgewicht. Was war das? Meinte er das ernst? Würde er ihn wirklich …?

„Mit meinem Geld?“, fragte er voll Misstrauen. Eine Falle? Ein weiteres Spiel? Lockte er ihn, wiegte ihn in Sicherheit?

„Mit deinem Geld und deinem Leben, du hast mein Wort.“ Matous’ Augen glühten, sein Atem erklang plötzlich laut in Navas Ohren, kaum weniger heftig als sein eigener. Der ausgebeulte Stoff seiner Hose verriet eine der Ursachen. Nava starrte ihn an, noch immer in der Kälte totaler Entblößung gefangen. Bot Matous ihm wahrhaftig Freiheit, einen Ausweg?

„Wie weit?“, zwang er über seine tauben Lippen, den Rückweg durch das Viertel der Schatten vor Augen. Vielleicht gab man ihm nur einen Vorsprung, vielleicht wurde das Spiel zur Jagd, wenn er sich sicher wähnte.

„Mein Wort, dass dir weder durch mich, noch meine Männer ein Leid geschehen wird. Weder innerhalb noch außerhalb dieser Mauern. Egal, wie du dich entscheidest.“ Die starren Züge wurden weicher, abermals zuckte ein spöttisches Lächeln um Matous’ Mundwinkel. Eine Welle seines Duftes durchdrang Navas Angst, durchwob die finsteren Wolken mit einem winzigen Schimmer Licht.

Eine Ewigkeit stand er reglos, starrte Matous an, wartete auf ein höhnisches Lachen, auf das Widerrufen, darauf, dass er sich nahm, was er wollte. Sie musterten sich, während Stille sie wie einen Kokon umgab, die Schatten am Rand der Lampen lauerten. Dann bückte Nava sich langsam, nahm seine Hose auf. Der Stoff fühlte sich seltsam rau an zwischen seinen feuchtkalten Fingern. Noch einmal warf er Matous einen Blick zu, zog sie hastig über und griff nach dem Hemd. Keine Regung auf dem dunkelhäutigen Gesicht, nur die Augen folgten jeder seiner Bewegungen.

Erneut zögerte Nava. Wenn er ging, würde Matous Wort halten? Wie schwer wog sein Wort wirklich? Beim Dreigehörnten, er hatte ihm nur fürs Anschauen Geld versprochen, das Anfassen war schon gratis. Für mehr hatte er nicht bezahlt, er war im vollen Recht. Es gab keine Verpflichtung. Wenn er sein Geld hatte, dann würde er gehen. Rennen, so schnell er konnte, sobald die Tür hinter ihm zu fiel und diesen Mann und alles drumherum vergessen.

Mit fahrigen Fingern kleidete er sich an, band die Schärpe um, in der das Gewicht des Messers fehlte. Ob er nach ihm und seinen Schuhen fragen konnte? Nein, er sollte sein Glück nicht überstrapazieren, sein Leben galt mehr als diese Gegenstände.

Ein winziger, beinahe seufzend klingender Laut entkam Matous, als Nava völlig angekleidet war. Er drehte sich zur Seite, nahm den Beutel auf und wog ihn in der Hand. Was ging hinter diesen dunkeln Augen, dem undurchdringlichen Gesicht vor sich? Nava wollte es nicht wirklich wissen. Alles, was er wollte, war lebend fortkommen. Mit seinem Geld.

„Dann ...“ Matous warf den Beutel in die Luft, fing ihn auf und machte eine Bewegung, als ob er ihn Nava zuwerfen wollte. Stattdessen kam er auf ihn zu. Gemessenen Schrittes, umgeben von diesem betörenden Duft, den Nava eindeutig nie vergessen würde. Nachts würde er ihn einholen, wenn er von seinem Leben nach Shilsas träumte.

Ebenso dicht wie zuvor blieb er vor Nava stehen, wog den Beutel in der Hand.

„Es gibt nicht viel, womit man mich beeindrucken kann. Mut, ist eine solche Eigenschaft. Den schätze ihn sehr an einem Menschen. Du hast viel davon, Navasirt.“ Er nahm Navas Hand, drückte ihm den Beutel hinein.

„Nava. Nur Nava.“ Waren das seine Worte? Nava schluckte verstohlen, sog das feine Lächeln in sich auf, mit dem Matous ihn bedachte. Eine weitere Erinnerung für ferne Träume.

„Komm.“ Matous ging an ihm vorbei, stieß die Tür auf und schritt den Gang voran. Rasch eilte Nava ihm nach, den Beutel fest an sich gedrückt, argwöhnisch jeden Schatten musternd. Tatsächlich löste sich nach dem Bogengang entlang der Schlucht ein solcher und trat zu ihnen: Der große Mann von vorhin. Er trat an Matous Seite und ging völlig selbstverständlich mit ihnen bis zum Innenhof.

Erneut beschlich Nava ein ungutes Gefühl und die Angst kehrte zurück, als sie in einer fremden, guttural klingenden Sprache murmelnd einige Worte wechselten. Nach der nächsten Tür blieb Matous stehen, nickte ihm zu und verschwand im Nebengang. Vage Enttäuschung begleitete Nava zurück, doch die Erleichterung überwog, als sie den Raum erreichten, in dem er seine Sachen hatte ablegen müssen. Wortlos drückte der große Mann, mit dem verborgenen Gesicht, der vielleicht Matous’ Leibwächter oder persönlicher Vertrauter war, ihm seine Einkäufe und das Messer in die Hand und wandte sich zum Ausgang.

Der große Türflügel öffnete sich und zum ersten Mal begrüßte Nava freudig den vertrauten Gestank Shilsas’ und die nebeligen Fetzen, die träge durch die Gasse trieben. Viel zu eilig nahm er die Stufen, rannte regelrecht an den Wachen vorbei und wagte erst nach dem zweiten Torbogen, langsamer zu werden.

Beim Dreigehörnten, er war wahrhaftig entkommen. Er lebte, er hatte sein Geld bekommen und noch viel mehr. So schnell er konnte ohne verdächtig zu wirken, eilte er zum Marktplatz zurück, die Schuhe und den darin verborgenen Beutel fest an sich gedrückt. Jedoch erst, als er Shoghigs Schenke erreichte, durch die Hintertür hineinschlüpfte und die Tür seines Zimmers sich hinter ihm schloss, atmete er auf. Noch einmal begannen seine Knie zu zittern, abermals spürte er die Kälte, die nach seinem Herzen gegriffen hatte, den sicheren Tod vor Augen. Tief ein und ausatmend sank er auf sein Bett, zog den Beutel hervor und schüttete den Inhalt auf die Decke. So viele Grüne. Aber das waren doch mehr als die 250. Tatsächlich: Matous hatte weitere 50 hinzugefügt. Der Lohn dafür, dass er Nava hatte berühren dürfen? Warum hatte er es dann nicht wie jeder andere Kunde getan, warum dieses beinahe zärtliche Erkunden? Und was war das denn?

Zischend sog Nava die Luft ein und starrte auf die verstreuten Grüntaler. Etwas leuchtete unter ihnen hervor, so hell wie der Mond und zugleich silbrig sanft. Da lag der Blucloris.

Warum bei allen Nebeln hatte Matous ihm diesen zurückgegeben? Hatte er nicht selbst gesagt, dass diese Münze eine besondere Entlohnung war? Nava nahm sie zwischen die Finger, ertastete ihre glatten Ränder, die Feinheit der Gravuren.

Ein vager Hauch des Duftes schien die Münze zu umgeben. Ein Lächeln eroberte seinen Mund. Nein, diese Begegnung würde er sicher nicht so schnell vergessen.

Wenn es euch gefallen hat: Ab ca dem 1.10. wird das Ebook erscheinen, das Printbuch bald danach. Ich freue mich immer über Rückmeldungen.

Impressum

Texte: CPR
Bildmaterialien: CPR - Cover by Juliane Schneeweiß
Lektorat: noch ohne
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /