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Hard Metal




Claas konnte mit niemandem darüber reden. Auch den Mädels verschwieg er, was in der Bahn vorgefallen war. Ihnen entging jedoch nicht, dass er in den folgenden Wochen ungewöhnlich still und in sich gekehrt war. Natürlich versuchten sie herauszubekommen, was ihn bedrückte, doch Claas ging nicht darauf ein.
Egal wie er hin und her überlegte, er kam an der Tatsache nicht vorbei, dass er sich zu Jockel, trotz dessen offensichtlich gewaltsamer Art, hingezogen fühlte. Das war krank und pervers und er verstand es nicht.
Selbstverständlich wusste er, dass es Menschen gab, die sich gerne unterordneten, versklaven, ja sogar quälen ließen und aus dem Schmerz und der Demütigung Lust zogen. Das war bei ihm eindeutig nicht der Fall. Ihn erregte weder die Vorstellung, von jemandem geschlagen, ausgepeitscht oder eingesperrt zu werden, noch gar einem dämlichen, hinterwäldlerischen Skin die Stiefel zu lecken.
Was ihn faszinierte, war die Macht, die Jockel über ihn ausgeübt hatte, die gewisse Hilflosigkeit in seinem festen Griff, dessen Augenausdruck, sein wissendes Lächeln. Obwohl er Claas derartig gedemütigt hatte, war da etwas in diesem Lächeln und dem Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen, was Claas ein wenig daran zweifeln ließ, dass Jockel wirklich so ein Arschloch war, wie er tat.
Natürlich konnte er sich auch gewaltig täuschen. Und diese Ungewissheit bewegte sein Denken Tag und Nacht.
Dabei lockte der Sommer mit strahlendem Sonnenschein, Temperaturen über dreißig Grad und den wohlverdienten Sommerferien. Claas' Mutter hatte ihn überreden wollen, mit ihr ein paar Tage an die Ostsee zu fahren, er hatte allerdings abgelehnt.
Ihm stand gerade nicht der Sinn nach überfüllten Stränden und Quallenbegegnungen. Deswegen war sie alleine gefahren und Claas froh, dass er eine ganze Woche für sich hatte. Zeit zum Grübeln, Zeit um auf andere Gedanken zu kommen.
Kurzerhand verabredete er sich mit seinen Freundinnen, die auch ihre Freunde mitbringen wollten, zu einem Open-Air-Konzert in Schwerin. Es war ein Konzert mehrerer relativ unbekannter Bands aus dem Bereich Heavy Metal.
Die Wettervorhersage war vielversprechend und die Hitze des Tages kühlte gegen frühen Abend deutlich ab, sodass es sehr angenehm zu werden versprach.
Philipp, Sophies neue Flamme hatte ein eigenes Auto und angeboten, sie alle zu fahren. Es wurde zwar eng auf dem Rücksitz, wo sich die Mädels und Claas zusammendrängten, die gute Laune der Jugendlichen konnte das jedoch nicht trüben.
Das Open-Air-Konzert war eher mittelmäßig besucht und sie konnten ein schönes Eckchen mit einem kleinen Grashügel für sich erobern.
Philipp und Daniel, Katis neuer Freund, beäugten Claas zu Beginn ein wenig misstrauisch. Selbstredend hatten die Mädels ihre Jungs darüber aufgeklärt, dass er keine Konkurrenz war und am anderen Ufer fischte. Da Claas ihnen auch sofort versichert hatte, dass keiner von ihnen sein Typ war und er ihnen daher auch nicht an die Wäsche gehen würde, entspannte sich die Situation recht bald.
Dieses latente Misstrauen war Claas leider schon gewöhnt, umso schöner war es zu erleben, dass die beiden anderen jungen Männer noch während des Konzerts immer lockerer mit ihm umgingen. Sie waren ihm sympathisch und Claas freute sich für die beiden Mädels.
Patricia warf ihnen hingegen gelegentlich neidvolle Blicke zu, wenn die Liebespaare sich küssend in den Armen lagen.
„Bald knutscht du auch deinen Traummann in Grund und Boden“, flüsterte Claas ihr bei einer solchen Gelegenheit zu und stieß sie freundschaftliche in die Seite.
Zwischen den Bandauftritten saßen sie im Gras und tranken Cola. Seufzend lehnte sich Patricia gegen ihn: „Wenn du das sagst. Ich muss ihn ja erstmal finden. Da laufen so wenige Traumprinzen frei herum.“
„Wer weiß, vielleicht wird es ja auch eine Traumfrau“, neckte Claas sie und zupfte an ihrem Zopf herum. Patricia fuhr kaum merklich zusammen und sah ihn mit großen Augen an.
„Wie meinst du das?“ Ihre Stimme klang etwas heller. Irritiert schaute Claas sie an und hob abwehrend die Hände. Er hatte sich dabei eigentlich nichts gedacht, ihre Reaktion verwunderte ihn.
„Hey, das war nur so dahergesagt“, beschwichtigte er sie und legte den Kopf etwas schief. Hatte er da aus Versehen ein Fettnäpfchen erwischt? War ihm etwas entgangen?
Patricia starrte auf ihre Hände und rutschte ein wenig von ihm ab. Claas war sich nicht sicher und beschloss einfach den Sprung nach vorne zu wagen.
„Fände ich sogar besser“, erklärte er mit einem Schmunzeln. „Dann muss ich wenigstens nicht neidisch werden.“ Sie antwortete nicht, warf den beiden Pärchen lediglich einen weiteren Blick zu.
Claas wollte schon eine Bemerkung machen, die die Situation entschärfen würde, da wandte sie sich ihm zu. Ihr grünen Augen glitzerten ein wenig feucht und spontan ergriff er ihre Hand.
„Ich weiß es nicht mit Sicherheit“, flüsterte sie mit einer Stimme, hinter der sich Tränen verbargen. „Aber manchmal da … sind diese komischen Gefühle und ... bei der Mathenachhilfe, da ist ein Mädchen, etwas jünger als ich und ...“
Sie schluckte hart. „Aber das geht nicht. Meine Eltern würden mich umbringen.“ Patricia hatte ihre Stimme etwas erhoben, senkte sie jedoch sofort und umarmte Claas plötzlich heftig.
„Deine Mutter stört es ja nicht, aber meine Eltern sind katholisch und mein Vater würde durchdrehen. Aber sie ist so süß und lächelt mich immer an und wir waren neulich Eisessen und da hat sie meine Hand gehalten und ...“
Feuchtigkeit benetzte Claas' Nacken. Er erwiderte ihre Umarmung automatisch und strich ihr über das dunkle Haar. Die anderen beachteten sie nicht, denn die nächste Band war auf die Bühne gekommen und die meisten hatten sich schon wieder vom Boden erhoben.
Patricia rührte sich nicht, schluchzte leise an seinem Hals. Claas' Herz zog sich zusammen und er erinnerte sich nur zu gut zurück, an seine Furcht, an seine Bedenken, den Kampf gegen die Wahrheit.
Es war kein leichter Weg gewesen und er hatte es auch erst geschafft, nachdem sein Vater verunglückt war und es nur noch ihn und seine Mutter gegeben hatte. Sein Vater war streng gewesen, hatte ihm wenig Freiheiten gelassen, das genaue Gegenteil seiner Mutter. Vor ihm wäre sein Outing wesentlich schwieriger verlaufen.
„Ganz egal, wen du liebst“, flüsterte er zurück. „Du bist derselbe Mensch. Das werden sie akzeptieren, auch wenn es schwerfällt. Mir zumindest ist es egal, mit wem du rumknutschen wirst.“
Das Mädchen brachte ein kleines, glucksendes Lachen zustande und lockerte den Griff. Verstohlen wischte sie sich über das Gesicht und sah sich verlegen um, aber die allgemeine Aufmerksamkeit galt längst der Bühne, von der die rockigen Klänge einer Metalband erklangen.
„Du bist so toll, Claas“, meinte sie, ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Wenn nur alle Kerle so wie du wären.“
„Dann wären aber verdammt viele Mädchen unglücklich. Stell dir das vor: nur schwule Männer. Ich möchte nicht mit den ganzen unzufriedenen, zickigen Frauen in einer Welt leben müssen“, flachste Claas.
Patricia knuffte ihn in die Seite. „Das meinte ich ja gar nicht. So wie du halt bist. Einfach toll, nett, mitfühlend, immer da, wenn man dich braucht. Ein echter Freund eben.“
Gerührt lächelte er sie an und nickte bedächtig. Patricia stand auf und zerrte Claas mit einem kräftigen Ruck hoch. „Los, lass uns zusammen tanzen und alle anderen neidisch machen.“
Grinsend kam er ihrer Aufforderung nach. Das war die Ablenkung, die er jetzt brauchte.
Es wurde spät und feuchtfröhlich. Philipp und Claas waren die einzigen, die sich zurückhielten, die anderen sprachen dem mitgebrachten Bier gut zu.
Claas trank nur zwei mit Orangengeschmack und fühlte sich dennoch leicht angeheitert, als ihn Philipp am Bahnhof absetzte, von wo aus er heimlaufen wollte. Es war nicht weit und er kannte zudem eine Abkürzung zu Fuß, so musste Philipp keinen Umweg durch die verwinkelten Einbahnstraßen fahren.
„Bis morgen.“ Claas winkte den anderen hinterher und wandte sich um. An der Bushaltestelle saß ein Mann mit einem schweren Koffer, der wohl mit der Bahn wenige Minuten vor ihm angekommen war und auf jemanden zum Abholen wartete. Er beachtete Claas nicht weiter und dieser machte sich auf den Weg.
Der Wind raschelte in den Bäumen und die Luft war angenehm kühl, voller sommerlicher Gerüche und dem allgegenwärtigen Duft von Grillfeuern.
Claas fröstelte leicht. Angesichts der warmen Tagestemperaturen trug er nur ein kurzärmeliges Hemd und kein Unterhemd darunter. Auch an seinen Beinen, die in Jeansshorts steckten, war es ein wenig frisch. Nun, er war ja gleich daheim und konnte ins warme Bett kriechen. Morgen dann noch schön lange ausschlafen; das Leben war herrlich.
Die Abkürzung führte ihn durch die Garagen eines Wohnblocks, ein vertrauter Weg zu seiner Straße. Wenn er seine Sporttasche nicht schleppen musste, nahm er immer diesen Fußweg. Sonst war das Fahrrad praktischer, mit dem er allerdings einen weiteren Weg hatte.
Claas summte vor sich hin, den Kopf noch voll mit der Musik und dem spaßigen Abend. Der Sommer versprach doch noch wunderbar zu werden.
Offenbar war er nicht der einzige nächtliche Heimkehrer, denn vor ihm lief noch jemand, der wohl die gleiche Abkürzung kannte. Er schien es nicht besonders eilig zu haben. Es dauerte dennoch eine Weile, bis Claas nahe genug heran war und erschrocken erkannte, wer da vor ihm lief. Sofort verharrte er im Schritt.
Jockel. Das war ganz eindeutig der Skin. Das orangene Licht einer fernen Straßenlaterne beleuchtete ihn gut genug, um auch von hinten dessen Gestalt und den Kopf mit den kurz rasierten Haaren zu erkennen. Er trug eine Jeans und die typische Jacke aus blauem Nylonstoff mit dem Schriftzug der Kleidungsmarke Pitbull.
Augenblicklich raste Claas' Puls los und er drückte sich hastig in den nächsten Schatten. Was tat der denn hier? Wieso war Jockel hier? Waren seine Kumpels auch irgendwo? War dies eine Falle?
Angstschweiß ließ Claas das Hemd am Körper kleben. Alle Sinne angespannt lauschte er. Hatte der Skin ihn ebenfalls bemerkt? Was zur Hölle tat er hier?
Claas hatte ihn noch nie zuvor in dieser Gegend gesehen. Hatte Jockel womöglich herausgefunden, dass er hier wohnte und wollte ihm auflauern? Quatsch. Dann würde er kaum seelenruhig vor ihm gehen, sondern hätte ihn schon geschnappt.
Claas rief sich zur Ordnung und zwang sich dazu klar zu denken. Ganz offensichtlich war Jockel auch mit der letzten Bahn angekommen und nun auf dem Weg … Egal, wohin auch immer ein Skin nachts halt gehen konnte. Unglücklicherweise bewegte er sich allerdings direkt in dieselbe Richtung, in die auch Claas musste.
Das war noch lange kein Grund zur Panik. Claas atmete betont langsam ein und aus. Er benahm sich total lächerlich, wie ein verschrecktes Huhn. Dies hier war purer Zufall und Jockel war ganz offensichtlich alleine.
Irgendwo hatte Claas mal gelesen, dass besonders die Menschen schnell zu Opfern wurden, die sich entsprechend verhielten. Er war kein Opfer, ganz gewiss nicht. Und dieser blöde Skin solle ja nicht denken, er hätte Angst vor ihm.
Energisch stieß er sich ab und straffte sich, auch wenn sein Herz nicht mit seinem Mut übereinstimmte und auch seine Finger kaum merklich zitterten.
Er würde jetzt einfach weitergehen. Durch die Garagengasse hindurch, dem dunklen Trampelpfad etwa fünfzig Meter folgen, dann erreichte er wieder eine beleuchtete Straße und war auch schon fast zuhause.
Dann ging Jockel eben vor ihm. Sollte er doch. Claas konnte es ihm schlecht verbieten. Er hatte mit dem Skin nichts zu schaffen und würde ihn einfach ignorieren.
Entschlossener ging er vorwärts. Jockel war schon nicht mehr zu sehen und unwillkürlich atmete Claas erleichtert auf. Seine Schritte verlangsamten sich dennoch. Vielleicht, wenn er langsam genug ging, würde ihn der andere gar nicht bemerken? Wer wusste schon, wo Jockel um diese Uhrzeit hin wollte. Ging ihn ja nichts an. Vielleicht wollte er hier jemanden besuchen? Wen mochte er kennen?
Ein kühler Wind wehte zwischen den Garagen hindurch und Claas fröstelte stärker. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen und Beinen.
Es roch nach Regen und er glaubte es auch entfernt Grummeln zu hören. Vermutlich zog ein Gewitter heran. Claas wollte nur schnell nachhause kommen. In Sicherheit sein.
Angespannt lauschte er auf die Schritte vor sich, irgendein Geräusch, das ihm verriet, das Jockel noch in der Nähe war. Nichts war zu hören, außer dem Zirpen von Grillen, entfernter Musik und fröhliche Stimmen aus einem der Wohnblocks hinter den Garagen.
Sein eigener Herzschlag war viel lauter. Claas ertappte sich bei dem Gedanken, Jockel einmal alleine begegnen zu wollen. Aber definitiv im Tageslicht und irgendwo, wo er sich sicher fühlte, am besten noch in Gesellschaft.
Würde der Skin sich dann genau so mies verhalten, wie letztes Mal? Immerhin konnte er ihm dann mal gehörig die Meinung sagen, ohne befürchten zu müssen, eine gebrochene Nase zu kassieren.
So viele Fragen warf Jockels komisches Verhalten auf, die Claas nur zu gerne beantwortet bekommen würde. Auch die Frage, warum er sich zu dem Skin hingezogen fühlte, obwohl er ihn im Grunde nur hassen müsste. Vielleicht, wenn sie sich alleine begegneten, mal wirklich miteinander reden konnten ...
Ein dummer und unsinniger Wunsch. Der andere hatte ihm mehr als deutlich klargemacht, wie wenig er von ihm hielt. Und wenn er zufällig hier herumlief, sollte Claas lieber froh sein, wenn sie einander nicht trafen und Jockel seine Meinung über den Schwanzlutscher handgreiflich untermalen konnte.
Claas bog um die Ecke der Garagen und erstarrte. Direkt vor ihm stand Jockel. Mitten auf dem schmalen Trampelpfad, der zur nächsten Straße führte. Er hatte die Daumen in die hinteren Taschen seiner Jeans eingehackt und offenbar auf ihn gewartet. Er musterte Claas mit seinem typischen, selbstgefälligen Grinsen.
Für einen Sekundenbruchteil überlegte dieser tatsächlich, umzudrehen und einfach wegzulaufen, so schnell und weit, wie er konnte. Irgendwo in Richtung des Häuserblocks, wo mehr Licht, andere Menschen waren.
„Verfolgst du mich etwa, Homo?“ Selbst in dem matten Licht vermeinte Claas die graublauen Augen gefährlich blitzen zu sehen. Seine Gänsehaut verstärkte sich und sein ganzes Rückgrat begann zu kribbeln. Seine Füße fühlten sich plötzlich tonnenschwer an, sein Körper wie gelähmt.
Nur keine Furcht anmerken lassen. Bleib cool, ermahnte er sich. Zeig ihm keine Schwäche. Gib ihm keinen Grund zu glauben, er würde mit dir leichtes Spiel haben. Mutig reckte Claas das Kinn und sah Jockel direkt an, während er flach ausatmete.
„Ich verfolge dich nicht. So ein Unsinn“, gab er ein wenig scharf zurück. Immerhin zitterte seine Stimme nicht.
Jockels Jacke stand offen und er trug ein weißes Unterhemd mit den typischen, schwarzen Hosenträgern darüber. Seine Haare waren seit ihrer letzten Begegnung ein wenig gewachsen und bedeckten als dunkle, mehrere Millimeter lange Stoppeln seinen Kopf. An der Stirn war eine rötliche Spur, eine verheilende Verletzung zu sehen.
Bestimmt hat er sich mit jemandem geprügelt, schoss es Claas durch den Kopf. Er und seine Kumpels. Wahrscheinlich irgendeinen armen Kerl, der die Farben des falschen Fußballvereins getragen hatte. Oder ein Ausländer, der ihnen quer gekommen war. Oder ein … Schwuler.
Jockel zog die Augenbraunen skeptisch nach oben und Claas fühlte sich bemüßigt hastig nachzuschieben: „Ich wohne zufällig hier. In der Lindenallee. Ich bin auf dem Heimweg.“ Kaum waren ihm die Worte herausgerutscht, da bereute er sie auch schon.
Wie dumm von ihm, dem Skin zu verraten, wo er wohnte. War er denn völlig bescheuert? Dämlicher ging es ja wohl nicht. Immer wenn ihm der Skin zu nahe kam, konnte er kaum noch klar denken. Das war doch verrückt.
Claas bewegte sich unruhig auf der Stelle. Der Stoff seines kurzärmeligen Hemdes rieb ihm unangenehm über den klammen Rücken. In den Achseln war es bereits feucht vor Schweiß. Auch seine Hände fühlten sich rutschig an.
Verdammt, er war schrecklich nervös und konnte es kaum verbergen. Jockel sah nicht so aus, als ob er ihn einfach passieren lassen würde.
Ob er sich einfach an dem Skin vorbeidrängeln konnte? Er konnte schnell laufen. Wenn er jetzt lossprintete, konnte er Jockel vielleicht entkommen. Und würde sich damit der Lächerlichkeit preisgeben, wenn er in Panik davonlief.
Verflixt noch einmal, er durfte sich nicht einschüchtern lassen. Jockel war nicht größer als er selbst und nur ein wenig breiter in den Schultern. Normalerweise wurde ihn so jemand nicht beeindrucken. Aber Jockel war ein Skin.
Und er ist Kampfsportler, erinnerte sich Claas mit einem mulmigen Gefühl. Er kann dich fertigmachen, ehe du auch nur eine Hand gehoben hast. Er hat schon mal jemanden verprügelt. Kati hat es doch gesagt: deswegen ist er von der Schule geflogen.
„In der Lindenallee. Aha“, machte Jockel, dessen Grinsen noch breiter wurde. Claas verfluchte sich und ihn zu gleichen Teilen.
Was ging es Jockel an, wo er wohnte? Der sollte ihn endlich in Ruhe lassen.
Mühsam verbarg er seinen schnellen Atem. Nur nichts anmerken lassen, selbstbewusst auftreten, ganz souverän. Du bist mitten in einem Wohngebiet, jemand wird dich schreien hören, wenn er dir wirklich was tun will.
Der Skin machte einen Schritt auf ihn zu und Claas wich sofort zurück. Nervös kaute er an seiner Unterlippe. Es wäre vernünftig jetzt abzuhauen, in jedem Fall sicherer, nur sein dämlicher Stolz verbat es ihm. Er war ein Kerl, schwul oder nicht, so leicht ließ er sich nicht einschüchtern.
„Lass mich einfach in Ruhe“, zischte er und nahm all seinen Mut zusammen. Sein Magen war ein kalter Klumpen und er wollte nur noch weg.
Wortlos wollte er sich an Jockel vorbeischieben und glaubte auch schon, es geschafft zu haben, als der Skin ihn am Arm ergriff und diesen blitzschnell verdrehte. Ehe er sich versah, hatte Jockel ihn mit den Armen auf dem Rücken fixiert.
Keuchend entwich Claas der Atem. Viel zu verblüfft, um zu reagieren, fand er sich plötzlich extrem nahe an Jockels Körper wieder, der ihm im selben Moment die Hand auf den Mund presste.
Überaus intensiv nahm Claas Jockels Geruch wahr, die Wärme, die harten Muskeln des anderen Körpers gegen den er gedrückt wurde. Kurz streifte ihn die raue Wange.
Der Griff war hart, machte ihm unmissverständlich klar, dass er keine Chance hatte. Der Schock ließ Claas einige Sekundenbruchteile lang erstarren, bevor er begann sich heftig zu wehren.
Wie wild wand er sich in dem unnachgiebigen Griff und versuchte schließlich sogar in Jockels Hand zu beißen. Keine Chance; der andere hielt ihn fest, egal was er versuchte und zerrte ihn rückwärts mit sich. Voll Panik trat Claas um sich, versuchte sich fallen zu lassen, dem Griff zu entkommen. Vergebens.
Jockel blieb unbeeindruckt, schleifte ihn einfach mit sich zwischen die dunklen Garagen. Für einen kurzen Moment war die Hand auf seinem Mund weg und Claas holte keuchend Atem. Noch immer konnte er sich nicht überwinden, wirklich um Hilfe zu schreien. Stattdessen wandte er den Kopf, versuchte zu erkennen, was Jockel tat.
Dieser hantierte im Dunkeln herum, stieß eine Tür auf und zerrte Claas gleich darauf auch schon mit sich hindurch. Noch ehe dieser etwas sagen konnte, war die Hand erneut auf seinem Mund.
Er wurde ein Stück weit in den Raum geschleppt und urplötzlich lockerte sich der Griff. Jockel gab ihn vollends frei. Verblüfft stürzte Claas zu Boden und rang nach Atem. Hastig sah er sich nach ihm um. Wo war der Skin?
Es war völlig dunkel und Claas hob abwehrbereit die Hände. Er erwartete einen Schlag, einen Tritt, wappnete sich instinktiv gegen den kommenden Schmerz.
Er würde nicht wimmern, er würde nichts sagen, Jockel würde ihn auch nicht heulen sehen, schwor er sich. Sein lauter Atem füllte den Raum, der wummernde Herzschlag seine Ohren.
Mit einem Mal flackerte eine Neonröhre über ihm auf und blinzelnd schirmte er seine Augen ab.
Was hatte Jockel mit ihm vor? Wo war er hier?
Hastig sah Claas sich um und kam stolpernd auf die Beine. Er war in einer beinahe leeren Garage. An einem Ende gab es eine Werkband. Diverse Kartons waren davor gestapelt worden. In einer anderen Ecke lagen zerbrochene Gartenstühle und eine alte Matratze. Daneben ein Sessel mit zerrissener Polsterung und ein kleiner Tisch mit Büchern darauf.
Noch während er sich verwirrt orientierte war der Skin heran, packte Claas mit einer Hand grob in den Haaren und bog ihm den Kopf nach hinten, zwang ihn dazu ihn direkt anzusehen. Die andere Hand krallte sich in dessen Hemd und zog ihn dicht zu sich heran.
Der Schmerz schoss feurig über die Haarwurzeln das Rückgrat hinab. Claas stöhnte auf und klammerte sich Halt suchend an der Jacke des Skins fest. Der Stoff war rutschig, seine Finger wollten an dem Nylon abrutschen.
Jockels Gesicht war unmittelbar vor ihm, die kalten Augen sahen ihn an, nahmen ihm jede Sicherheit, jeden Funken Hoffnung. Claas' Knie drohten nachzugeben.
Jockel würde ihn zusammenschlagen. Hier und jetzt. Ohne Mitleid mit ihm und niemand würde es mitbekommen. Niemand ihn hören. Kalte Todesangst ergriff Claas, sein Herz wummerte so hart, dass ihm übel wurde und seine Augen brannten. Kein Ton kam indes durch seine zusammengeschnürte Kehle.
Die Welt schrumpfte zusammen, gewann nur einen Fokus. Da waren diese Augen, nur wenige Zentimeter entfernt, warmer Atem, der hektisch über sein Gesicht strich. Schmale Lippen, die leicht geöffnet waren, kein Lächeln mehr. Ein entfernter Duft von Zigaretten und Bier. Finger, die sich auf seiner Kopfhaut bewegten, Stoff, der sich eng an seinen Körper drückte.
Jockel tat nichts weiter, als ihn anzustarren, näherte sich kaum merklich immer weiter. Ihre Nasen berührten sich beinahe. Der Skin blinzelte nicht, die Augen fixierten sein Opfer unverwandt, der Griff hielt ihn in der Postion gefangen.
Claas fühlte sich schwebend und hilflos, vollkommen ausgeliefert. Er schluckte trocken. Seine Wahrnehmung reduzierte sich auf das Geräusch von Jockels und seinem Atem, welches in einem seltsamen Gleichklang zu vernehmen war und von den kahlen Wänden zurückgeworfen wurde. Das Blut rauschte in Claas' Ohren und er zitterte, erwartete einen Schlag, irgendetwas, was endlich diese entsetzliche Spannung durchbrechen würde.
Der Griff in seinen Haaren lockerte sich eine winzige Nuance, entließ ihn aus der überstreckten Haltung. Jockels Mundwinkel hoben sich kaum merklich.
Gänzlich unerwartet berührten seine Lippen Claas' Stirn mit nur ganz wenig Druck. Überrascht sog dieser den Atem ein. Die Berührung war zunächst zaghaft, erstaunlich sanft und setzte sich sogleich fort.
Was zur Hölle war hier los?
Jockel küsste ihn. Auf die Stirn, auf die Schläfe, die Nase, verharrte nur einen winzigen Augenblick, bevor sich seine Lippen auf Claas' Mund senkten. Wie erstarrt ließ dieser den anderen gewähren, konnte nicht fassen, wie ihm geschah.
Das war ein Kuss. Ein verdammter Kuss.
Jockels Lippen fuhren weich über Claas', seine Zunge folgte dem Schwung der Lippen. Zeitgleich begannen sich die Finger in dessen Haaren zu bewegen, kreisten über die empfindliche Kopfhaut.
Verblüfft hielt Claas still. Seine Lippen öffneten sich beinahe automatisch, hießen die anderen willkommen.
So hatte ihn noch nie jemand geküsst.
Klar er hatte schon einmal mit einem anderen Jungen rumgeknutscht, da waren sie vierzehn gewesen und wollten es üben, um die Mädchen zu beeindrucken. Das war eher nichtssagend gewesen und nicht halb so aufregend wie er es sich vorgestellt hatte.
Claas hatte sich auch schon von den Mädels küssen lassen, auf die Wange und im Spiel auch auf den Mund. Aber nie so.
Jockel küsste ihn wirklich, mit Gefühl und einer drängenden Leidenschaft, die Claas den Atem raubte. Wärme prickelte in dessen Lippen, in den Wangen, ging von den fortwährenden, seltsam erregenden Berührungen der Finger in seinem Haar und Nacken aus.
Jockel löste die andere Hand aus Claas' Hemd. Seine Finger tasteten sich über dessen Gesicht, berührten die Wangen, wanderten zu seinem Hals hinab. Vorsichtig, als ob er zunächst die Festigkeit der Haut prüfen müsste.
Claas entkam ein winziges Keuchen. Er kam sich entrückt vor, nicht ganz Teil des Geschehens. Sein Körper fühlte sich fremd an, die Berührungen eigentümlich unwirklich. Heiße und kalte Schauer jagten über seinen Rücken, die Furcht wurde verdrängt, ersetzt durch ein Gefühl von ungläubigem Staunen.
Genau auf diese Weise hatte er berührt werden wollen, danach hatte er sich immer gesehnt. Aber nie hätte er gedacht, dass es dieser Skin sein würde, der ihn so anfasste.
Jockels Hand glitt in seinen Nacken, die Fingerspitzen kraulten durch die Haare, während er den Kuss intensivierte, seine Zunge sich in Claas' Mund vorschob. Zaghaft, mehr instinktiv, erwiderte dieser den Kuss, rechnete jederzeit mit einer Zurückweisung, mit einer Unterbrechung.
Nichts dergleichen geschah.
Jockels Küsse wurden heftiger, gieriger, er küsste sich über das Kinn tiefer, verschlang mit einem Mal Claas' Kehle mit den Lippen, fuhr mit der Zunge über dessen Adamsapfel. Seine andere Hand schob sich unter das Hemd, schob es höher.
Heiß waren seine Hände auf der Haut, entzündeten ein Feuerwerk von Empfindungen. Claas' Nacken kribbelte, sein Körper bog sich und er lehnte den Kopf zurück, gewährte Jockel freien Zugang zu seinem Hals und der empfindlichen Kuhle am Übergang zur Brust. Am Rande bekam er mit, dass Jockels Finger die Knöpfe öffneten, seine Hand sich auf seinen Bauch legte, über seine Muskeln strich.
Abermals entkam Claas ein Stöhnen. Seine Lenden zuckten, er spürte die Erregung darin, fühlte wie sich das Blut sammelte, wild durch seinen Körper pulsierte.
Scheiße, der Skin küsste irre gut.
Es fiel Claas schwer, zu denken, zu handeln, sich zu besinnen, was hier geschah. Verwirrung hatte ihn erfasst, zirkulierte beinahe ebenso schnell wie die zunehmende Lust in seinem Körper.
Jockel streifte ihm nebenbei das Hemd über die Schultern, seine Zunge erfasste geradezu gierig eine der Brustwarzen. Keuchend zuckte Claas zusammen. Sein Glied schwoll immer stärker an, seine Haut wurde feucht vor Schweiß, während Hitzewelle um Hitzewelle durch seinen Körper jagte. Was machte Jockel mit ihm?
„Was …?“, brachte Claas hervor, versuchte energischer die lustvolle Benommenheit abzuschütteln. Augenblicklich legte sich ein Daumen fest auf seinen Mund und Jockels Gesicht tauchte unmittelbar vor ihm auf.
„Kein Wort“, raunte der Skin, nicht bedrohlich, aber mit Nachdruck. Sein Daumen bewegte sich über Claas' Lippen, verstrich den dünnen Speichelfilm darüber. Im nächsten Moment lagen seine Lippen erneut darauf, küssten wilder, verlangender, die Hand erneut in Claas' Nacken geschoben.
Dieser erwiderte den Kuss, ließ sich staunend hineinfallen. Dies war so gut, fühlte sich einfach nur klasse an. Jockels Hände auf seinem Körper, seine Lippen, seine Zunge, seine Nähe. Er wollte mehr davon, aber er verstand es nicht.
Hatte Jockel ihn nicht vor Kurzem noch gedemütigt? Ihn Homo genannt, ihn vorgeführt? Was trieb ihn nun an? War das bloß ein Scherz? Wollte er ihn verarschen?
„Was … soll das? Ist das … ein Scherz?“, brachte er stockend hervor. Sein Blick suchte Jockels Augen, er versuchte darin zu lesen, zu verstehen. Der Ausdruck war anders als sonst, weicher … zärtlicher.
„Kein Scherz“, erwiderte dieser, verschloss Claas' Mund jedoch sofort wieder mit seinem Finger, als dieser nachfragen wollte.
„Kein Wort“, flüsterte Jockel in dessen Ohr. „Sag nichts mehr.“
Das Hemd war Claas vollends von den Schultern gerutscht und Jockel zog es ihm aus. Er küsste ihn erneut, umschloss dessen Oberarme und zog Claas auf die Beine. Sehr bestimmt schob er ihn in Richtung der Matratze.
„Aber ...“, versuchte dieser es noch einmal und wurde erneut von einem Kuss daran gehindert, weitere Fragen zu stellen.
„Kein Wort mehr“, raunte Jockel ermahnend. Seine Hand glitt tiefer, legte sich fest auf Claas' Erektion und vernichtete den letzten Rest Widerstand mit auflodernder Wärme und dem elektrisierenden Gefühl an dieser intimen Stelle berührt zu werden.
Verwundert, gefangen in der seltsamen Faszination, die Jockel ausstrahlte, seiner unerschütterlichen Bestimmtheit, ließ sich Claas rückwärts auf die Matratze sinken.
Sein Herz klopfte so hart und weit oben im Hals, dass er ständig schlucken musste. Jockel zog seine Jacke aus und ließ sich vor Claas auf die Knie nieder. Er lächelte, seine Augen blitzten vor innerem Feuer, waren ganz dunkel trotz des harten Lichtes. Eine unübersehbare Gier stand darin, die Claas schaudern ließ.
Während Jockels Lippen sich auf seine legten, ließ Claas sich an den Schultern auf die Matratze drücken. Er hatte keine Ahnung, was Jockel vorhatte, dieser sich über ihn beugte. Aber er wollte es herausfinden.


Impressum

Texte: CPR
Bildmaterialien: (C) Coverbild unter Verwendung eines Fotos von Lisa Spreckelmeyer pixelio.de
Lektorat: Mel Finjon/Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

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