Die Begegnung mit dem Skin wollte Claas nicht aus dem Kopf gehen. Immer wieder rief er sich ihr Gespräch in Erinnerung.
Unleugbar, der andere Typ hatte ihn tatsächlich angemacht, auch wenn er sich vor allem vor ihm gefürchtet hatte. Claas ärgerte sich nachträglich sehr, dass er so leicht zu durchschauen gewesen war und auch sofort zugegeben hatte, was die Skins nur vermutet hatten. Er war heilfroh, dass diese bereits gegangen waren und er nicht fürchten musste, von ihnen verfolgt zu werden. Auf eine nächtliche Begegnung mit Jockel und seinen schlagfreudigen Kumpels hatte er wahrhaftig keine Lust.
Bewusst dehnte er daher die Zeit im Club aus, auch wenn er sich im Grunde tödlich langweilte. Ihm war nicht danach, alleine zu tanzen. Überhaupt war der ganze Abend ein einziges Fiasko und wenn ihm Kati und Sophie am Montag von ihrem tollen Wochenende vorschwärmen wollten, würde er sie einfach stehen lassen, beschloss er verärgert.
Nach einem weiteren Glas schaler Cola verließ Claas den Tresen und auch den Club. Er hatte genug. Er würde sich daheim ins Bett legen, sich den Laptop schnappen und einen jener stereotypen Pornovideos anschauen, die es reichlich im Internet gab und die ihm die Illusion eines erfüllten Sexlebens vorgaukeln konnten. Oder ihm gnadenlos vorführten, was er eben nicht hatte. Egal, seine Hand war immerhin an den Job gewöhnt.
Frustriert kickte er eine zusammengeknüllte McDonaldstüte davon, die jemand achtlos weggeworfen hatte. In einem Jahr hatte er hoffentlich sein Abitur, würde studieren gehen und vielleicht ergab sich in einer Großstadt wie Hamburg, Berlin oder München endlich die Gelegenheit sein Schwulsein wirklich auszuleben.
Himmel, er war ein Kerl, natürlich brauchte er Sex wie die Luft zum Atmen. Irgendwo auf dieser Welt würde es doch wohl einen Typ geben, der Gefallen an ihm fand.
In Gedanken versunken bemerkte Claas den Schatten hinter sich zu spät. Er keuchte verblüfft auf, als sich von hinten ein starker Arm um seinen Hals schlang und ihn ruckartig zurückzerrte. Claas verlor den Bodenkontakt, stolperte und krallte sich fest in den Arm. Instinktiv versuchte er dem würgenden Griff zu entkommen. Hämisches Lachen ließ ihn erstarren und er sah sich hektisch um.
Scheiße. Die Skins hatten doch auf ihn gewartet, ihm unweit des Clubs aufgelauert. Kalter Schweiß brach Claas aus und er wand sich heftiger im Griff, der ihm die Luft abzuschnüren drohte. Drei Skins traten auf ihn zu, musterten ihn überaus spöttisch. Demzufolge war es Jockel, der ihn festhielt. Claas versuchte, nach hinten zu treten, doch Jockel wich aus, lachte lediglich höhnisch über Claas' hilflos anmutende Versuche.
„Zappelt wie ein Fisch an der Angel“, bemerkte einer der anderen. „Na, Homo, damit hast du nicht gerechnet was?“
Angst lähmte Claas und er schaute die drei unsicher an. Was sollte er tun? Würde ihn jemand hören, wenn er laut genug schrie? Andererseits wollte er nicht wie ein hysterisches Mädchen wirken, das sofort loskreischte und um Hilfe rief.
„Was wollt ihr?“, brachte er mühsam hervor, Jockels Griff hatte sich minimal gelockert. Claas' Herz raste, der harte Herzschlag musste für den anderen deutlich spürbar sein.
„Hast du mir etwa doch auf den Arsch geschaut, als ich rausgegangen bin?“, fragte Jockel direkt an seinem Ohr. Die anderen lachten auf und stießen sich gegenseitig an.
Claas ließ sie nicht aus den Augen. Jockel drängte sich dicht gegen ihn, er konnte dessen Duft wahrnehmen, seine festen Muskeln gegen seinen Rücken drücken fühlen. Täuschte er sich, oder rieb sich der andere nicht sogar an ihm? Blödsinn.
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst deine Augen besser bei dir behalten, Homo?“, flüsterte Jockel. Seine Lippen berührten flüchtig Claas' Ohr. „Habe ich es dir nicht gesagt?“ Sein Griff wurde fester, der Körperkontakt noch intensiver. Claas zitterte, blanke Angst erfasst seinen Körper. Dies war kein Spiel. Diese Jungs würden ihn verprügeln.
„Ja“, würgte er. Zwecklos, es zu leugnen und hektisch stieß er hervor: „Hör auf damit. Lass mich los.“ Er rang nach Luft, kämpfte darum, freizukommen, doch Jockel lockerte den Griff nur soweit, dass Claas besser atmen konnte. Dessen Augen brannten, die Angst wollte ihn flehen lassen, zerrte an seinem Stolz. Er würde nicht heulen, er würde gar nichts sagen. Er konnte nur hoffen, dass es schnell vorbei sein würde.
Gänzlich unerwartet ließ Jockel ihn jedoch los. Keuchend rang Claas nach Atem, rieb sich den Hals und blickte unsicher von einem zum anderen. Die vier Skins hatten in umkreist, standen grinsend um ihn herum und musterten ihr Opfer. Sie waren alle nicht extrem kräftig von der Statur, eben Jugendliche wie auch er. Nicht wesentlich größer als Class. Bis auf Jockel, der eindeutig breitschultriger war.
„Der gibt es auch noch zu“, meinte einer der Skins verächtlich und spuckte vor Claas aus.
„Wir sollten ihn vermöbeln“, schlug ein anderer, etwas kleinerer mit Aknenarben vor und verzog das Gesicht verächtlich. „Schwuchtel.“ Er spuckte ebenfalls aus. Claas' Körper spannte sich an. Seine Knie zitterten, aber er bemühte sich um einen festen Stand. Wenn die glaubten, er würde sich nicht wehren, hatten sie sich geschnitten. Er hatte keine Chance gegen alle vier, allerdings würde er sich verteidigen, solange er konnte. Zugleich wusste er, wie dumm das war, denn er würde sie damit nur noch mehr provozieren.
„Ja, lass uns einfach seine dämliche, schwuchtelige Fresse polieren“, schlug einer der Skins vor und schlug sich mit der Faust erwartungsvoll in die Hand. Jockel lachte auf und schüttelte den Kopf.
„Und ihm sein hübsches Gesicht ruinieren?“, meinte er in tadelndem Tonfall. „Ach Mann, Benny, danach kriegt der ja nie einen ab.“
„Mir doch egal“, zischte Benny zurück und trat bedrohlich auf Claas zu, der jedoch nicht zurückwich, lediglich versuchte, sie alle im Blick zu behalten. „Ist doch nur ein Schwanzlutscher.“
„Ein Arschficker“, warf ein anderer verächtlich ein. „Oder lässt du dich lieber ficken, Schwuchtel? Bist du das Mädchen?“ Grölendes Lachen war die Antwort, nur Jockel behielt sein undeutbares Lächeln bei.
„Schlägst du etwa gerne kleine Mädchen, Heino?“ Jockel lachte und stieß den kleineren Skin an. „Bist du so mutig?“
„Quatsch“, wehrte dieser sofort ab. „Nein, ich schlage keine Mädchen, aber das ist ein Kerl.“
„Eine Schwuchtel ist doch kein Kerl“, wandte Jockel grinsend ein und maß Claas mit einem langen Blick, aus dem dieser nicht schlau wurde. „Sieht der für dich etwa aus wie ein Kerl?“ Jockel trat auf Claas zu, der nicht ausweichen konnte und ihn abwartend ansah. Der Skin stieß ihn vor die Brust, sodass Claas einige Schritte zurücktaumelte und von den anderen wieder nach vorne geschubst wurde.
„Der hat zwar keine echten Titten“, erklärte Jockel spöttisch. „Aber wenn du den schlägst, heult der wie ein Mädchen los, wetten?“ Er machte ein entsprechendes Geräusch und schubste Claas erneut, gerade, als dieser den Mund aufmachen wollte. Der Stoß war jedoch weniger stark als vorher. Jockels Blick aus den graublaue Augen ließ Claas augenblicklich verstummen. Da war etwas in ihnen, was ihn irritierte. Ärgerlich kniff Claas die Lippen zusammen.
Es sind nur Beleidigungen, die schmerzen nicht. Du kannst das schlucken. Lass dich bloß nicht provozieren, ermahnte er sich.
„Willst du etwa zugucken, wie der anfängt zu flennen und sich in die Hosen macht?“, wandte sich Jockel nun direkt an Heino. Er verdeckte diesen ein wenig mit seinem Körper, stand zwischen Claas und dem anderen Skin. Dennoch konnte Claas sehen, wie Heino augenblicklich den Kopf schüttelte und etwas unsicher mit den Schultern zuckte.
„Nee, das muss ich echt nicht haben“, erklärte der kleinere Skin, richtete sich auf und hakte die Daumen in den Bund seiner Hose. „Ich schlag mich nur mit echten Männern, sonst macht es ja keinen Spaß.“ Abermals lachten die anderen, inklusive Jockel, laut auf.
Claas musste an sich halten, damit ihm keine passende und damit eher unpassende Antwort von den Lippen kam. Wenn er Glück hatte, würden sie ihn vielleicht wirklich in Ruhe lassen. Ganz vielleicht konnte er heil hier rauskommen. Jockel tat ihm unbeabsichtigt einen Gefallen mit seinen Beleidigungen.
„Der ist es nicht wert, sich die Hände schmutzig zu machen“, meinte Benny abfällig, spuckte Class auf die Füße und wandte sich ab. „Lassen wir die Schwuchtel laufen, bevor der sich noch vor Schiss einpinkelt.“
„Meint ihr, der ist gut im Schwanzlutschen?“, warf Heino hingegen ein, betrachtete Claas skeptisch, ein wenig lüstern und trat auf ihn zu. „Hey, Schwuchtel, willst du nicht mal einen echten Männerschwanz lutschen?“ Hart schluckte Claas, versuchte sich weiter aufzurichten. Lieber ließ er sich zusammenschlagen, als einem von denen freiwillig einen zu blasen. So tief würde er nie sinken.
„Bist du jetzt auch schwul oder was?“, wandte sich Jockel an Heino und grinste diesen herausfordernd an.
„Blödsinn.“ Heino war sichtlich empört und schaute Jockel verärgert an.
„Warum willst du dir dann von einem Homo einen blasen lassen? Findest du etwa kein Mädchen, das das besser kann?“ Jockels Stimme war ruhig, enthielt jedoch einen winzigen, kaum hörbar schärferen Unterton, der Claas aufhorchen ließ. Verwirrt starrte er auf den Rücken des Skins. Täuschte er sich, oder machte Jockel das absichtlich? Wollte er ihm etwa indirekt helfen? Das war Unsinn. Er hatte ihn sich doch geschnappt. Er war es doch, der ihm verboten hatte, ihn anzustarren.
Heino funkelte Jockel wütend an, trat drohend auf diesen zu und zischte aufgebracht: „Niemand nennt mich einen Homo, kapiert?“
„Man könnte dich aber für einen halten“, gab Jockel kühl zurück und deutete auf Claas. „Wenn du dir schon von dem da einen runterholen lassen willst.“ Heinos Faust schoss nach vorne, doch Jockel war schneller, schlug sie beiseite und verdrehte Heino gleich darauf den Arm auf den Rücken. Fluchend schimpfte dieser, kämpfte einen Moment, gab es schließlich jedoch auf. Die anderen lachten lediglich, als Jockel Heino von sich stieß, der sich missmutig den Arm rieb.
„Gegen Jockel hast du nie eine Chance“, erklärte Benny grinsend und klopfte Heino tröstend auf den Rücken, was ihm beinahe einen derben Schlag in den Magen einbrachte.
„Pack mich nicht an“, zischte Heino ihn an.
„Lasst uns verschwinden“, erklärte Jockel ruhig und ohne sich noch einmal nach Claas umzudrehen. „Die Nacht ist noch lang. Wir finden für Heino schon noch ein Mädchen, die ihm einen bläst und wenn wir eins schmieren müssen.“
Laut lachend und herumalbernd machten sich die Skins davon und Claas atmete erleichtert auf. Noch nachträglich zitterten seine Beine und er schwankte einen Moment. Die Skins waren weit genug weg, konnten ihn nicht mehr hören. Heiße Tränen brannten in seinen Augen und er flüsterte heiser: „So ein Arsch.“
Claas schämte sich für seine Erleichterung, ärgerte sich über die verletzenden Worte allerdings noch viel mehr. Arschlöcher, allesamt. Er richtete sich auf und sah ihnen hinterher, das Herz noch immer wild klopfend, Adrenalin kreiste aufrührerisch in seinem Blut.
„Und ich schaue dir doch drauf, ob es dir passt oder nicht“, flüsterte er und erlaubte sich ein leises, sehnsüchtiges Seufzen. „Du hast nämlich einen verdammt geilen Arsch.“
Texte: CPR
Bildmaterialien: (C) Coverbild unter Verwendung eines Fotos von Lisa Spreckelmeyer pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2012
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