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Englische Sünden


Dies ist die Anfangsstory zu der Geschichte "Irgendwie Anders". Es ist nicht nötig, die andere Geschichte vorher zu lesen. Vielleicht macht sie euch aber hinterher Spaß. Es wird hier mit dem Nachschub etwas dauern, da mich andere Projekte noch mit Beschlag belegen. Zumindest möchte ich die Story aber noch dieses Jahr weiterschreiben. Der Anfang ist schon ein bisschen älter und ich werde ihn wohl noch einmal überarbeiten müssen.



Laute Musik hallte aus dem Zimmer im ersten Stock durch das Haus.
„Markus?“
Die Stimme hallte etwas im Flur wieder, vermochte aber weder die Treppe hinauf zu gelangen, noch die laute Musik zu übertönen.
Der Mann unten am Anfang der Treppe seufzte, ging dann nach oben.
„Markus?“
Jemand klopfte nun heftig an die Tür. Es war dann doch auch bei der Lautstärke zu hören.
Der angesprochene Junge verdrehte genervt die Augen und erhob sich vom Bett.
„All right!“
Es klopfte nochmal.
„Is ja schon gut, ich machs grad leiser, Dad“, stöhnte er, ging hinüber zur Musikanlage, drehte den Lautstärkeregler herunter und wollte wieder zum Bett zurück schlurfen.
Erneut klopfte es. Stärker diesmal.

„Markus, ich muss mit dir reden“, erklang die Stimme seines Vaters mit dem typischen englischen Akzent, den er auch nach Jahren in Deutschland nie ganz ablegen würde. Markus runzelte die Stirn und schlurfte missmutig zur Tür.
Halb genervt, halb neugierig, öffnete er sie und ließ seinen Vater herein. Der blieb allerdings an der Türschwelle stehen, musterte die typische Unordnung im Zimmer eines Siebzehnjährigen.
Auf dem Boden lagen wild verstreut Klamotten, Chipstüten, leere Colaflaschen.
Eine Wand war völlig mit Bildern von Popstars und Bodybuildern zugepflastert. In einer Ecke stand eine Hantelbank. Es roch etwas muffig.
Stewart Dawsons Blick glitt zu seinem Sohn.

Markus sah seinem Vater nicht sehr ähnlich. Mit seinen siebzehn, beinahe achtzehn Jahren, war er hoch gewachsen und sehr kräftig, hatte breite Schultern mit starken, muskulösen Arme. Er besuchte regelmäßig das Fitnessstudio und war auch sonst sehr sportlich, was man seinem Körper genau ansah.Hellblaue Augen, die das Ebenbild seines Vaters waren, blitzten ihn misstrauisch unter den dunklen, kurzen Haaren hervor. Sein Gesicht war ebenmässig und schon männlich markant. Ein paar Bartstoppeln, verliehen ihm etwas Hartes. Nicht umsonst war er bei den Mädels an seiner Schule und auch außerhalb sehr beliebt.

„Was ist denn los?“, fragte Markus möglichst unbeteiligt, den Gespräche, die mit „Ich muss mit dir reden“ anfingen, verhießen nie eine harmlose Konversation.
Kurz rekapitulierte er seine letzten Sünden, fand aber nichts, was ein solches Gespräch rechtfertigen würde. Zumindest war er sicher gewesen, dass sein Vater von dem ein oder anderen Vergehen nichts wusste, oder etwa doch?
„Kommst du bitte kurz runter? Ich habe dir was zu sagen und das würde ich gerne in Ruhe bei einer Tasse Tee tun“, erklärte Stewart seinem Sohn.

Markus sah erstaunt und misstrauisch hoch. Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Aber dass mit dem Haschisch war doch nur ein Mal gewesen und es war auf der letzten Party gewesen. Davon konnte sein Dad doch unmöglich erfahren haben. Oder?
Was, wenn einer der Jungs gepetzt hatte? Aber so etwas würden die doch nicht tun, oder? Immerhin würden sie sich damit ja selber reinreiten. Wenn ihn einer bei seinem Dad verpfiffen hatte, würde er ihn sich zur Brust nehmen.

Stewart hatte sich schon abgewandt, ohne auf eine Antwort zu warten und ging die Treppe des Einfamilienhauses hinunter zur Küche voraus. Missmutig schlenderte Markus hinterher, nichts Gutes ahnend. In seinem Kopf suchte er nach Erklärungen, Entschuldigungen. Aber es würde schwer werden, denn sein Vater konnte ihn leider viel zu gut durchschauen.

Er drückte sich unten in der Küche an seinem Vater vorbei, schob sich auf einen Stuhl am Küchentisch. Maria, seine Mutter kochte Tee. Ihre langen, schwarzen Haare waren in einem festen Zopf geflochten. Sie schob sich ihre Brille hoch, als er sich setzte, lächelte ihn ernst an. Auch ihr ernstes Gesicht, verhieß kein einfaches Gespräch. Markus spürte, wie seine Handflächen feucht wurden.

„Tee ist gleich fertig“, sagte Maria, wandte sich dann der Teekanne zu.
Es war eine englische Angewohnheit, die in ihrer Familie völlig selbstverständlich geworden war. Alles besprach man bei einer Tasse Tee.
Markus Vater war Engländer, hatte seine Frau Maria in Deutschland kennengelernt, als er beruflich hier zu tun hatte. Er hatte sie geheiratet, war dann nach Deutschland gezogen, aber viele Gewohnheiten waren bei ihnen englisch angehaucht, weil auch Maria als Aupair zwei Jahre in England gelebt hatte. Das ganze Haus war irgendwie „englisch“.

Stewart setzte sich auf einen Stuhl und Markus bemerkte sofort die angespannte Stimmung zwischen seinen Eltern, bekam plötzlich den schockierenden Verdacht, das sich dieses Gespräch wohl nicht um ihn drehen würde. Es hatte viel eher mit dem Streit zu tun, den seine Eltern von zwei Tagen gehabt haben. Seitdem war Marias Art etwas still und steif mit der sie mit Stewart umging.
Es kam nicht so oft vor, das seine Eltern sich stritten, aber dieser Streit war wirklich heftig gewesen, auch wenn Markus nicht viel davon mitbekommen hatte, weil er einfach die Musik lauter gedreht hatte.
Er wollte so etwas nicht hören.

Meistens stritten sie und versöhnten sich gleich darauf wieder. Aber diesmal schien es schlimmer zu sein und Markus wusste nicht so recht, ob er gerade erleichtert sein sollte, dass es wohl nicht um Haschisch ging, sondern um etwas anderes.
Er rutsche unruhig hin und her, hoffte, dass sein Vater endlich was sagen würde, aber der schwieg. Maria stellte drei Tassen vor sie, drehte sich um und stellte dann Milch und Zucker dazu.
Stewart sah kaum auf, eine Hand lag unruhig auf dem Tisch und er schien um Worte zu ringen. Selten hatte Markus seinen Vater so unruhig und vor allem so unsicher gesehen.

„Also, was ist los?“, fragte er nun deutlich misstrauisch nach. Und für den Sekundenbruchteil durchfuhr ihn die Angst, das sein Vater ihm eröffnen würde, das sie sich trennen wollten.
Markus schluckte schwer.
Dass konnte doch wohl nicht sein oder? Aber der Streit war echt heftig gewesen und sein Vater hatte die Nacht danach im Gästezimmer verbracht. Er war die letzten Tage viel am Telefonieren gewesen und die gereizte Stimmung hätte ihn vielleicht warnen sollen. Aber so etwas war auch schon mal vorgekommen. Dass hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten.

„Ihr...“, begann er vorsichtig, wurde unruhig, sah von einem zum anderen, hielt die angespannte Stimmung nicht länger aus.
„Ihr wollt euch doch nicht etwa scheiden lassen, oder?“, brachte er zögernd heraus.
„Nein!“, stieß seine Mutter sofort erschrocken aus und auch sein Vater, bestätigte, nach einem kurzen, merkwürdigen Seitenblick auf seine Frau: „Nein. Markus, darum geht es nicht.“

Erleichterung durchflutete Markus. Okay, was war es dann?
Maria schenkte den Tee ein, nahm sich ihre Tasse ohne sich zu setzten.

„Es ist“, begann Stewart wieder. „Ich... ich habe da einen dummen Fehler gemacht.“
Er seufzte und legte nun seine beiden schlanken Hände übereinander.
„Du erinnerst dich, dass ich früher öfters nach England fahren musste, um für die Firma dort zu arbeiten?“
Markus nickte knapp.
Naja, erinnern war wohl übertrieben, denn er war damals drei oder vier gewesen Sein Vater war oft bis zu zwei Monate drüben gewesen und hatte ihm dann aber immer tolle Geschenke mitgebracht. Zumindest hatte das ihm seine Mutter erzählt.

„Du warst wohl noch zu klein, damals. Ich war immer für ein paar Monate drüben und... “
Stewart zögerte wieder, sein Blick glitt zu Maria, die starr an den Herd gelehnt stand und ihre Tasse umklammerte, aber nicht draus trank, aber ihr Blick versank in dem Tee.
„Nun, ich... ich habe damals nicht nur beruflich in London zu tun gehabt“, sagte er zögernd, rang um weitere Worte.

„Ich... Markus, ich hatte eine Geliebte in England“, eröffnete er plötzlich, schloss kurz die Augen und krampfte die Hände fest ineinander.
Markus hörte die Worte, aber sie drangen nicht sofort in sein Bewusstsein.
Eine Geliebte? Sein Vater? Aber er hatte doch seine Maria geheiratet. Hier. Seine Mutter.

„Ihr Name war Joice und es war nur eine Affäre für ein paar Monate. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihr danach. Ich war glücklich, hier mit euch. Es war ein Fehler. Das wusste ich schon bald. Ich... ich habe es Maria damals erzählt. Sie wusste es, aber du warst zu klein. Ich...“
Er schwieg und schaute kurz zu Maria hinüber, die ihre Tasse etwas gesenkt hatte und ihn ausdruckslos musterte.
„Es war abgehakt und erledigt. Keiner von uns hat mehr daran gedacht. Bis jetzt“, fuhr er fort, pausierte wieder.
Markus sah von seiner Mutter zu seinem Vater hin und fühlte sich fehl am Platz. Warum erzählte sein Vater das jetzt, wenn es schon so lange her war?
Stewart seufzte und sah nicht auf.
„Joice ist vor fast einem Jahr gestorben. Ich wusste es nicht. Sie war sehr schwer krank und ist schließlich gestorben. Sonst hätte ich wohl nie davon erfahren.“
Wieder holte er tief Luft und Maria setzte sich plötzlich neben ihn an den Tisch, stellte ihre Tasse ab. Markus hatte seine Tasse nicht angerührt, schaute nur fragend.
Stewart seufzte, holte tief Luft und Maria legte ihre Hand plötzlich auf seine. Kurz sahen sie sich an. Der Blick machte Markus erst wirklich klar, dass von einer Scheidung sicherlich keine Rede sein würde.

„Ich habe vor drei Tagen ein Schreiben bekommen. Joice hat es mir nie gesagt, aber wir hatten ja keinen Kontakt mehr danach. Es ist wohl so, dass sie einen Sohn hat. Einen jetzt vierzehnjährigen Sohn. Er ist seit ihrem Tod in einem Heim in England und die Heimleitung hat mich erst jetzt darüber informiert, ob ich für ihn das Sorgerecht beantragen möchte.“
Markus starrte ihn fassungslos an, seine Augen weiteten sich. So ganz begriff er noch nicht, was sein Vater da sagte.
Maria lächelte leicht und sah zu ihm herüber.
„Du hast einen jüngeren Bruder, Markus“, sagte sie mit etwas verzerrtem Gesicht.

„Was?“, brachte der hervor, noch nicht immer nicht ganz begreifend, was ihm da erzählt wurde.

Stewart nickte.
„Du hast einen Bruder und ich zwei Söhne. Ich habe Maria davon erzählt und wir sind uns einig, das wir ihn nicht dort im Heim belassen wollen. Ich werde in zwei Tagen nach England fliegen und ihn hierher holen“, erklärte sein Vater und seine Stimme klang nun schon mehr nach dem Mann, den Markus kannte.

„Einen Bruder?“, fragte Markus ungläubig nach. Er konnte es einfach nicht fassen.
Maria lächelte, nickte bestätigend.
„Er heißt Timothy und ist vierzehn. Und er wird hier bei uns leben.“
„Bei uns?“, echote Markus, konnte nicht ganz fassen, was sie da sagte.
„Und... und das möchtest du?“, fragte er misstrauisch nach, seine Mutter musste doch stinkesauer auf seinen Vater sein, oder? Wieso sollte dieser Timothy denn hier leben? Er war... er war doch nicht wirklich Familie. Nicht wirklich jedenfalls.

Maria lächelte etwas gequält.
„Er ist jetzt in einem Heim. Er ist alleine und hat niemanden dort. Ich finde einfach, dass er nichts dafür kann und da Stewart sein Dad ist, ist es einfach unsere Pflicht, uns um ihn zu kümmern.“
Sie seufzte, drückte fest die Hand ihres Mannes.
„Glaub nicht, das uns die Entscheidung ganz leicht gefallen ist. Er ist der lebende Beweis für eine Vergangenheit, an die wir beide nicht gerne erinnert werden möchten, aber der Junge ist völlig alleine. Er lebt schon fast ein Jahr in diesem Heim. Warum soll er darunter leiden?“

Markus nickte automatisch. Er war noch immer völlig perplex aber er verstand durchaus, warum seine Mutter so handelte. Sie war Lehrerin. Die Vorstellung das dieser Timothy alleine in einem Heim war, musste sie schocken. Und wenn er ehrlich war, war er sich ziemlich sicher, dass er das auch nicht wollen würde. Aber hier bei ihnen? In ihrer Familie? Als sein Bruder?
„Wo soll er denn hin?“, fragte Markus pragmatisch nach, die Gedanken in andere bahnen lenkend.
Stewart lächelte erleichtert, denn den Worten entnahm er, dass Markus zumindest dem Anschein nach nicht völlig entsetzt war, dass er nun nicht mehr Einzelkind sein würde.

„Nun, wir dachten, wir geben ihm das Gästezimmer. Das ist groß genug“, sagte er und seine Hände entspannten sich sichtlich.
„Wir müssen es nur noch etwas umräumen, damit er sich drin wohlfühlen kann. So ist es ja kein echtes Jungszimmer. Ich dachte, dass du und deine Mum das übernehmen könntet, während ich drüben bin?“, fragte er nach und seine Augen sahen fragend von einem zum anderen.

Markus nickte wieder automatisch und war in Gedanken nicht ganz da. Ein Bruder. Und dann noch so ein Kind. Vierzehn. Der war wirklich noch ein richtiges, kleines Kind.

„Sicher, das werden wir tun. Es wird für ihn schon schwer genug werden, sich hier einzuleben. Er spricht ja nur Englisch“, ergänzte Maria nachdenklich. „Wir wissen ja rein gar nichts von ihm.“
Markus griff nun doch nach seiner Teetasse, nahm mehrere Schlucke daraus. Na, das konnte ja was werden. Was sollte er denn mit dem anfangen?
Einem Kind?

„Ich freue mich sehr, dass du uns dabei hilfst“, sagte sein Vater, stand auf und umarmte ihn kurz, bevor sein schon so erwachsener Sohn sich wehren konnte. Ausnahmsweise akzeptierte Markus diesmal tatsächlich die Umarmung seines Vater. Er war noch dabei, das Gesagte zu verarbeiten.
Ein kleiner Bruder. Ein quengeliger, vierzehnjähriger Junge mit dem man nicht viel anfangen konnte.
Na gut, solange keiner von ihm erwartete, dass er sich ständig um so einen Milchbubi kümmerte und der ihn in Ruhe lassen würde, konnte er wohl damit leben.

Blue Eyes


Am Flughafen herrschte starkes Gedränge.
Überall standen Menschen mit diversen Koffern oder Taschen herum, eilten hektisch durch die Hallen.
Natürlich hatten sie auch nur einen Parkplatz kilometerweit vom Flughafen weg ergattern können und mussten sogar zu Fuß hierher laufen.
Markus Laune verschlechterte sich immer mehr. Es war Freitag Nachmittag, die endlose Schulwoche endlich zu ende und eigentlich hatte er vorgehabt, mit seinen Kumpels auf eine Party zu fahren. Stattdessen hing er jetzt hier fest. Nur weil seine Mutter der Meinung war, er müsse unbedingt da sein, wenn sein „Bruder“ ankam.
Nur wegen diesem Typ, den er noch nie gesehen hatte, der von ihm aus auch gerne hätte weg bleiben können, verpasste er die Party. Okay, ihn mit abholen, dass ging ja noch, aber warum sollte er nur deswegen heute Abend zu hause bleiben?
Man, es war Freitag! Partytime. Und er war verdonnert worden, einen auf nette Familie zu machen, mit einem Bruder, den er nicht kannte, der viel zu jung war, als dass man mit ihm was anfangen konnte.

Missmutig stampfte er, die Hände tief in die Taschen seiner Hose vergraben hinter seiner Mutter hinterher, die sich sichtlich aufgeregt durch die Menschen zwängte.
Toll, warum musste sich sein Vater auch ausgerechnet den Freitag für seinen Rückflug aussuchen? Natürlich quoll der Flughafen dann über vor Menschen. Hatten die kein Zuhause?
Mehr oder weniger absichtlich rempelte Markus einen älteren Mann an, der sich gerade zu seinem Koffer hinab beugte. Der fiel beinahe hin und Markus verzog spöttisch die Mundwinkeln. Er achtete nicht auf weitere Reaktionen, ging einfach weiter hinter Maria hinterher.

„Der Flug hat zwanzig Minuten Verspätung“, warf sie ihm über die Schulter zu, als sie vor der großen Anzeigentafel stehen blieb. „Dann sind wir doch noch rechtzeitig da.“
Erleichtert ließ sie die Schultern fallen.
Markus brummte etwas unverständliches. War ihm doch egal. Hätte weder seinem Dad, noch diesem englischen Bubi wohl geschadet, wenn sie etwas hätten warten müssen.
Maria eilte bereits weiter Richtung Ankunftshalle und er folgte ihr mürrisch mit etwas Abstand.

Er hätte heute weiß Gott was besseres anzufangen gewusst, als sich hier die Beine in den Bauch zu stehen.
Anstatt sich mit ein paar Mädels zu vergnügen, konnte er sich schon lebhaft vorstellen, wie er heute mit seinen Eltern im Wohnzimmer rumsitzen durfte und sich das blöde Gelaber dieses Jungen anhören durfte.
In der letzten Woche hatte sich ja schon alles um ihn gedreht. Maria und er hatten das Zimmer für ihn hergerichtet, neu gestrichen, neue Möbel gekauft. Bei allem war er gefragt worden, was er davon halten würde.
Als ob es ihn interessieren würde. Aber er mochte seine Mutter zu gerne, um so etwas zu sagen. Also hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht, brav genickt und sich seinen Teil nur gedacht.
Die machte einen ganz schönen Aufstand um diesen fremden Jungen. Oft genug fragte sich Markus, warum sie sich so viele Gedanken machte, sich so viel Mühe gab, es für den unbekannten Sohn ihres Mannes so perfekt zu machen. Vielleicht überspielt sie damit aber auch, wie unsicher sie deswegen war.

Klasse, dachte Markus. Da setzt Dad ihr jetzt den lebenden Beweis vor die Nase, das er eine Andere gefickt hat. Ich hätte ihm wohl eher eine gedonnert und ihn rausgeschmissen. Aber Maria war nicht so. Sie war harmoniesüchtig. Immer ging es darum, eine gute Familie zu sein.
Okay, er beschwerte sich ja nicht wirklich darüber, denn sie war schon echt eine tolle Mum. Eigentlich konnte er immer mit allem zu ihr kommen. Sie machte ihm wenig Vorschriften, er durfte am Wochenende auch wirklich spät, oder früh, heimkommen.
Markus seufzte. Eigentlich waren seine Alten wirklich ganz okay. Da hatten ein paar seiner Kumpel weitaus mehr Probleme. Gero bekam Prügel, wenn er besoffen heimkam und Andy musste immer genau sagen, wo er mit wem hin ging und durfte nie länger als eins Uhr nachts heimkommen. Da begannen die meisten Partys ja erst interessant zu werden.
So wie die, die er nun verpassen würde.
Dabei waren die drei Mädels vom letzten Wochenende wieder dabei. Mit der Sarah hatte er schon letztes Mal nett rumgefummelt, sie hätte ihn vielleicht sogar diesmal mehr zum Zuge kommen lassen.
Naja, so wirklich aufregend waren seine letzten Erlebnisse mit den Mädels nicht wirklich gewesen. Irgendwie törnten die ihn nicht mehr so recht an. Die waren alle so albern, wollten ständig nur viel rumknutschen, bis er mal mehr durfte.

„Da vorne ist es“, unterbrach seine Mutter seine Gedankengänge. „Am besten stellen wir uns gleich da hin, dann können sie uns gleich sehen.“
Als ob Dad uns nicht erkennen würde, murrte Markus, blickte über die anderen Menschen hinweg zu der Glastür, aus der sein Dad und sein neuer Bruder kommen würden.
Wie der Bubi wohl aussehen würde? Ob er Dad ähneln würde?
Ach, war ja auch egal. Markus stellte sich ihn insgeheim ohnehin so wie einen dieser typischen, dicklichen englische Schuljungen mit Brille, Uniform, Pullunder und womöglich sogar einer Krawatte vor.
Wie diese nervigen Sechs- bis Achtklässler die dauernd den Schulhof mit ihrer Anwesenheit verpesteten.
Markus nahm sie nicht ernst. Die waren so kindisch. Er war bestimmt nie so gewesen.

„Freust du dich schon?“, wandte sich Maria an ihn. Ihr Gesicht war etwas rot angelaufen, weil sie so schnell gegangen waren oder vor Aufregung, konnte Markus grad nicht sagen.
Ja, klar freue ich mich auf so einen nervigen Balg, dachte er wütend, lächelte aber etwas gezwungen, brachte immerhin ein: „Naja...“, hervor.
Kurz musterte sie ihn, legte dann ihren Arm um ihn.
„Mir fällt es auch nicht so leicht, Markus“, sagte sie. In ihren Augen sah er, wie unsicher sie sich fühlte und spürte plötzlich, eine tiefe Verbundenheit mit ihr.
„Schaffen wir schon“, brummte er, ließ es zu, dass sie ihn kurz, nur ganz kurz, immerhin war er fast erwachsen, an sich zog.
Das brauchte sie jetzt wohl, außerdem war hier ja niemand, der ihn kannte. Dann machte er sich aber doch wieder von ihr los, lächelte sie an.
„Der beißt bestimmt nicht. Und wenn doch, in England gibt es doch keine Tollwut“, bemerkte er möglichst cool und lässig, erntete ein breites Lächeln von ihr.
„Ich finde es toll, dass du es so locker siehst“, sagte sie beinahe bewundernd, aktivierte damit sofort sein schlechtes Gewissen. „Immerhin wird es für uns alle eine Umstellung sein und bestimmt nicht ganz einfach werden. Besonders für Timothy natürlich nicht. Aber wenn du ihm ein so ein guter Bruder bist, wird er sich bestimmt ganz schnell einleben.“

Shit, sie erwartete doch nicht wirklich, dass er sich dauernd mit dem abgab, oder? Darauf hatte er ja nun so gar keine Bock. Aber gut, es war für sie schon schwer genug, da würde er sich eben zusammen reißen müssen. Für sie.

„Da, da kommen sie!“, rief sie plötzlich aufgeregt, deutete auf die Glastür.
Hinter dem Glas konnte Markus sofort die aufragende Figur seines Vater sehen, aber er brauchte eine Weile, bis er die kleine Gestalt ausmachte, die halb hinter ihm ging.
Der ist ja echt klein, war sein erster Gedanke, noch bevor er mehr von ihm sehen konnte. Sie passierten die Glastür und nun konnte er seinen neuen Bruder erst wirklich sehen, der sich fast hinter der großen Gestalt seines Vaters zu verstecken schien.

So klein? Der ist doch niemals schon vierzehn, der sieht aus, als ob er mal gerade zehn wäre oder so, dachte Markus verblüfft. Dunkelblonde, viel zu lange Haare fielen ihm in die Stirn, als er mit gesenktem Kopf heran kam. Er wirkte sehr schmächtig, dünn, so als ob er gleich einfach verschwinden würde.
Er sah auch so aus, als ob er dass am liebsten machen würde.
Er trug eine Jeans, Turnschuhe und eine grüne Jacke drüber, die ihm beinahe zu groß schien und ziemlich weit über die Schultern hing.

Stewart Dawson winkte seiner Frau und seinem Sohn zu, als er näher kam, rutschte sich seine Reisetasche auf der Schulter zurecht. In der einen Hand trug er einen Koffer. Er wandte sich um, sah sich nach dem kleinen Jungen um.

„Greet! Hello, my Love“, lächelte er, küsste Maria auf die Wange und hieb Markus einmal kräftig auf die Schulter.
„Welcome in Germany“, sagte seine Frau lächelnd zu dem Jungen hinter ihm, der den Blick weiterhin gesenkt hielt, direkt hinter seinem Vater stehen geblieben war, als ob dessen Rücken ihn vor den Blicken der Anderen schützen würde.

Markus konnte den Blick nicht ganz von ihm abwenden, starrte ihn weiterhin an. Er entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen. Das war sein Bruder? Halbruder, okay. Aber so ein Winzling?

„This is Maria“, stellte Stewart vor, schob den kleinen Jungen an den Schultern vor sich.
„Hello Timothy!“, sagte sie leise, beugte sich etwas vor, aber Timothy hob den Kopf nicht hob, blieb einfach so stehen.
Ein sehr leises: „Hello“ kam von ihm, aber er sah nicht auf, noch kam er näher.
Beinahe enttäuscht richtete sich Maria wieder auf, lächelte ihren Mann aber sofort wieder verständnisvoll an.

„Er wird Tim genannt.“ Er sah sie entschuldigend an.
„And this is your brother, Markus“, stellte Stewart dann auch diesen vor.
Markus zögerte kurz, hob dann kurz die Hand und machte ein: „Hey!“

Ganz kurz hob der Kleine seinen Kopf, sah ihn von unten her scheu an. Blaue Augen trafen Markus. Dads Augen, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Eindeutig.

Tim hatte ein schmales Gesicht, eine regelrechte Stupsnase mit ein paar Sommersprossen drauf, die sich auch auf seinen Wangen tummelten. Sein Mund war weich geschwungen und Markus fühlte einen Sekundenbruchteil das Bedürfnis, diese Lippen zu berühren. Sie sahen so weich aus.
Was für einen Scheiß dachte er denn da gerade?
Er riss sich zusammen, lächelte etwas gezwungen, aber da hatte der Kleine den Kopf schon wieder gesenkt.
Wieder erklang ein leises: „Hello.“

„Er ist noch ein bisschen schüchtern und verunsichert“, entschuldigte ihn Stewart. „Ist alles ein bisschen viel für ihn.“
In Englisch fuhr er dann an Tim gerichtet fort.
„Es war dein erster Flug, nicht wahr?“
Tim nickte unmerklich, reagierte aber nicht weiter, hielt den Blick noch immer gesenkt und Markus sah, wie er seine Hände fest in den Stoff seiner Jacke krallte.
„Na, wir fahren jetzt erstmal nach Hause“; sagte Steward. „Nimmst du meine Tasche?“, fragte er, an Markus gewandt, nahm diese von der Schulter und sein Sohn nahm sie ihm sofort ab.
Lächelnd sah Stewart zu, wie sich Markus die Tasche lässig über die Schulter warf.
„Du wirst immer kräftiger, du Muskelprotz“, meinte er bewundernd, als Markus Muskeln klar hervortraten.
„Gebe mir Mühe“, grinste Markus zurück. „Tägliches Training eben.“

„Sind das alle seine Sachen“, fragte seine Mutter etwas überrascht. „So wenig?“
Stewart nickte.
„Wir werden ihm hier noch ein bisschen was kaufen müssen. Wir haben nicht alles mitgenommen.“
Er zuckte die Achseln, ergriff Tims Hand und beugte sich zu ihm runter.
„Come on, Tim. Let's see something of your new Country.“

Er wandte sich um und gemeinsam gingen sie zum Parkplatz ihres Autos zurück. Seine Eltern gingen irgendwann vorweg und so fand sich Markus neben seinem Bruder gehend vor. Er sah ein paar Mal zu ihm hin, aber Tim schien nur auf den Boden zu starren, lief wortlos neben ihm her, die Hände fest in den unteren Teil seiner Jacke gewickelt.
Neben ihm kam sich Markus plötzlich sehr groß vor. Seine Mutter muss ja ganz schön zierlich gewesen sein, überlegte er, betrachtete die schmale Gestalt genauer. Maria war groß, ebenso wie sein Vater. Aber Tim wirkte wirklich klein und zart. Außer den typischen blauen Augen, die auch Markus geerbt hatte, war da so wenig Ähnlichkeit.
Irgendwie ist er ja ganz niedlich, dachte er plötzlich, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Kleine Jungs waren nicht niedlich. Sie waren nervig. Aber dieser hier, schien wenigstens keine Quasselstrippe zu sein. Im Gegenteil, er sagte kein einziges Wort. Naja, was sollte er auch groß sagen?

Sie luden die Tasche und den Koffer in den Kofferraum ihres Autos. Markus hielt Tim die Tür auf, als dieser zögernd davor stand. Der Kleine kletterte hinein und er setzte sich neben ihn.Tim schnallte sich sofort an, dabei sah er wieder ganz kurz zu Markus hoch, senkte aber sofort den Blick wieder, blickte dann nur aus dem Fenster. Markus warf ihm noch unsicher einen Blick zu, aber er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Mit dieser Altersklasse wechselte er selten Worte. Wenn, dann solche, die seine Eltern und wohl auch Tim nicht unbedingt hören wollten. Alle Jungen unter seiner Brusthöhe ignorierte er normalerweise geflissentlich.

Auf der ganzen Autofahrt sah Tim nur aus dem Fenster, seine Hände hatte er wieder in die Jacke geschlungen. Vorne unterhielten sich Maria und Stewart, aber Markus hörte nicht zu. Er fühlte sich unwohl hier neben dem Jungen, den er so gar nicht kannte, mit dem er nichts anzufangen wusste. Das würde ja ein spaßiger Abend werden. Missmutig dachte er an seine Freunde, die heute ohne ihn feiern würden, nur weil er hier feststeckte.
Vorne drehte sich das Gespräch darum, dass sie noch bei einen Supermarkt anhalten wollten, um Milch zu kaufen.
Maria fuhr auf den Parkplatz, drehte sich um und lächelte zu den zwei Jungs hinter sich.
„Wir sind gleich wieder da“, sagte sie auf Englisch, damit es Tim auch verstand. „Markus bleibt hier bei dir, Tim.“
Damit verschwanden sie und sein Vater auch schon aus dem Auto.
Ja, lasst mich mit dem hier ruhig alleine, dachte Markus, warf wieder einen Blick hinüber, aber der Kleine, starrte noch immer aus dem Fenster.
Markus Blick glitt zu seinen Händen, die ganz in dem grünen Stoff der Jacke verschwunden waren. Er überlegte einen Moment, räusperte sich dann und versuchte sich dann an den englischen Worten.
„You' re cold?“
Obwohl er mit der Sprache keine Probleme hatte, da er sich früher oft nur Englisch mit seinem Vater unterhalten hatte, erschienen ihm die Worte aus seinem Mund fremd.
Tim wandte den Blick vom Fenster ab, blickte aber nicht zu ihm auf, hielt den Kopf weiterhin gesenkt, als er ihn schüttelte. Beinahe erschrocken löste er dann seine Hände aus der Jacke.
„I'm fine“, sagte er leise. „Thanks.“

Markus zuckte die Schultern, lehnte sich zurück und verfluchte sich, das er sich seinen Mp3-Player nicht mitgenommen hatte. Das wäre auf jeden Fall unterhaltsamer, als dieser schüchterne Zwerg da neben ihm. Er wälzte ein paar englische Sätze in seinem Kopf hin und her, unschlüssig, was er sagen sollte, schwieg dann aber. Er war ja schließlich nicht sein Babysitter.

Tim hatte den Blick wieder auf das Geschehen draußen gerichtet, langsam wanderten die Hände wieder in die Jacke, umschlangen den Stoff, bis sie ganz drin verschwunden waren.
Wirklich irgendwie niedlich, diese Stupsnase, schmunzelte Markus innerlich, als er sein Profil betrachtete. Und diese Haare. Die sehen voll strubbelig aus, als ob er gerade aufgestanden wäre. Irgendwie verlockten die dazu, sie ihm zu verwuscheln, wie bei einem kleinen Hund. Markus grinste kurz. Musste plötzlich an Tim und Struppi denken.
Mühsam unterdrückte er ein Kichern.

Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Maria und Stewart wieder kamen, aber Markus fühlte sich zunehmend unruhig neben dem Kleinen, weil sein Blick ständig zu ihm glitt und er irgendwelche Kleinigkeiten an ihm bemerkte.
„So, wir haben jetzt alles“, verkündete Stewart zufrieden, während sie vom Parkplatz rollten.
Bis zur Wohnung schwiegen sie alle.

Vor dem Haus mit den Rosenbüschen hielt Maria den Wagen an, sie stiegen aus, luden die Tasche, den Koffer und das Einkaufen aus und gingen dann hinein.
„Ich bringe die Sachen eben in die Küche“, sagte Maria und verschwand auch schon mit dem Karton in selbiger.
„Markus zeigt dir bestimmt gleich dein Zimmer“, sagte Stewart auf englisch zu Tim, der verloren im Flur herum stand.
Markus war schon halb die Treppe hinauf, wandte sich dann um und setzte ein Lächeln auf. So schnell konnte er nicht einfach auf sein Zimmer verschwinden, nun hatte er den Kleinen an der Backe.
„Na, dann komm“, sagte er, erinnerte sich daran, dass Tim ja kein Deutsch sprach und wiederholte seine Aufforderung in Englisch.

Stewart sah Tim nach, als der die Treppe hinter Markus her hinaufstieg und die zwei in Tims Zimmer verschwanden und seufzte tief auf.
Einfach würde es nicht werden, Tim in ihre Familie zu integrieren.

Bald geht es weiter.

Avalon


Wirklich klasse, da hatte er den Kleinen jetzt echt an der Backe.
Markus verfluchte seinen Vater, als er nach oben ging und ohne auf Tim zu achten, die Tür zu dessen Zimmer aufstieß. Er hätte weiß Gott was besseres zu tun, als sich um den Zwerg hier zu kümmern.
Markus drehte sich zu dem Kleinen um, der hinter ihm im Türrahmen stehen geblieben war und mit großen Augen sein Zimmer betrachtete.
Wieder konnte Markus nicht umhin das helle Blau seiner Augen zu bemerken. Tims Blick huschte über die Einrichtung. Er löste seine Hände aus seiner grünen Jacke, trat zögernd in den Raum und an seinen Schreibtisch heran. An der Wand darüber hing ein großes Poster mit einer phantastischen Landschaft.

Markus hatte es im Baumarkt gesehen und seine Mutter überredet, es mitzunehmen. Es zeigte eine Insel, verborgen im Nebel und hieß bezeichnenderweise Avalon.
Da das der alte Name für England war, hatte Markus es ganz passend gefunden. Es hatte ihm irgendwie gefallen, auch wenn er nicht sagen konnte, warum.
Eine kleine, einsame, geheimnisvolle Insel, verborgen hinter dem Nebel. Man konnte ein paar Baumspitzen und angedeutete Gebäude erkennen, die durch den Nebel drangen und sich im Wasser davor spiegelten. Ebenso wie die den See umgebenden, abweisenden, hoch aufragenden, schroffen Berge.

Tim stand lange davor und schien es ausgiebig zu betrachten.
Ob es ihm gefiel? Markus war sich nicht ganz sicher, aber es interessierte ihn plötzlich, was der Kleine dachte. Nachdenklich musterte er seinen neuen Bruder von hinten.
Er war wirklich klein. Er selbst war in dem Alter größer gewesen. Ganz bestimmt.
Erneut hatte er das Gefühl, Tim durch die struppigen Haare fahren zu wollen.

„Magst du es?“, fragte er nach, als sich Tim nicht wieder von dem Anblick löste.
Der zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um, sah ihn direkt an und Markus fühlte sich plötzlich recht merkwürdig, als ihn die blauen Augen so direkt anblickten.
„Es ist nett“, sagte Tim leise in Englisch, wandte den Blick nicht ab.
„Ich habs ausgesucht“, antwortete Markus, grinste schief und biss sich gleich darauf auf die Lippe.
Als ob es Tim interessieren würde. Aber er freute sich doch irgendwie etwas, dass es seinem neuen Bruder scheinbar gefiel.
Beinahe verlegen wandte Markus den Blick ab.

Tim trat von dem Schreibtisch weg und besah sich sein Bett und die restliche Einrichtung seines Zimmers.

„Du kannst deine Sachen da in den Schrank packen“, deutete Markus auf den Ikea-Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers, sah sich nach der Reisetasche um, erinnerte sich aber daran, dass sein Vater sie unten gelassen hatte.

„Ich hole eben deine Sachen hoch“, bot er an und war schon aus dem Zimmer verschwunden.
Besonders gesprächig war der Zwerg ja nicht. Naja, gut so, dann würde er ihm wohl auch nicht auf die Nerven gehen. Er sah die Tasche am Fuß der Treppe, ging nach unten, packte sie und warf sie sich über die Schulter.
Aus der Küche drangen die Stimmen seiner Eltern zu ihm und er horchte unwillkürlich hin.

„... recht klein für sein Alter“, erklang die Stimme seiner Mutter. „Da wird er es bestimmt nicht ganz leicht haben in der Schule.“
Stewart brummte etwas unverständliches.
„Er wirkt so verschüchtert. Ist aber ja auch kein Wunder nach dem, was er durchgemacht hat“, hörte Markus seine Mutter wieder sagen.
„Markus wird ihm schon helfen, sich hier einzugewöhnen“, antwortete sein Vater.
Markus verzog sein Gesicht. Klar würde alles an ihm hängenbleiben. Hatte er etwa darum gebeten, einen Bruder zu bekommen?

„Wichtig ist ja erstmal, dass er Deutsch lernt, dann wird ihm bald schon alles leichter fallen“, sagte sein Vater.
Er schwieg einige Zeit und Markus wollt sich schon abwenden.
„Es wird für keinen von uns leicht werden, Maria“, ergänzte er und Markus konnte anhand der Geräusche genau vor sich sehen, wie er an seine Frau herantrat, sie in den Arm nahm und küsste.
Markus verzog das Gesicht, dann stampfte er wieder die Treppe hoch.

Hoffentlich erwarteten seine Eltern nicht ernsthaft von ihm, dass er das ganze Wochenende nun Kleinkind-Bespaßung machte. Auspacken konnte der Zwerg ja wohl selbst. Dann konnte er sich einfach schnell in sein Zimmer zurückziehen und wenigstens etwas an seinem Computer spielen, wenn er schon hier wegen ihm festsaß.

Als er das Zimmer betrat, wandte sich Tim sofort zu ihm um.
„Hier, deine Sachen“, sagte Markus, als er die Tasche ablegte. Der Kleine starrte ihn dabei an und er fühlte sich unter dem Blick sofort unwohl. Dieser Blick löste komische Gefühle in ihm aus.
Tim sah recht verloren in dem Raum aus in seiner zu großen Jacke, die er noch immer nicht ausgezogen hatte. Wollte der ewig damit rumstehen ?

„Thanks“, antwortete er wieder leise, trat dann an die Tasche heran, kniete sich hin und öffnete sie.
Markus sah ihm noch einen Moment zu, konnte den Blick nicht von den wuscheligen Haaren abwenden, die ihn unerklärlicherweise so faszinierten.

Als Tim anfing, seine Sachen auszupacken, stand er noch immer etwas unentschlossen herum. Irgendwann sah der Kleine wieder zu ihm auf und Markus wurde sich bewusst, dass er ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Rasch wandte er sich um und ging zur Tür.
Er zögerte im Türrahmen, drehte sich nochmal um. Tim sah nicht hoch, stapelte T-Shirts neben sich. Markus leckte sich kurz über die Lippen.

„Das Badezimmer ist da links runter“, gab er noch eine Info.
Tim warf ihm wieder einen Blick zu, nickte und ein winziges, angedeutetes Lächeln überzog sein Gesicht.
Markus starrte ihn an, fühlte es in sich kribbeln. Verwirrt sah er zu Tim hin, der sich aber schon wieder abgewandt hatte und weiter seine Kleidung auspackte.

„Äh, mein Zimmer ist nebenan“, brachte Markus noch hervor, fühlte sich plötzlich etwas angespannt. „Wenn du noch was willst, klopf einfach, okay?“
Wieder traf ihn der Blick aus den blauen Augen und er fühlte, wie er kurz schlucken musste.
Tim nickte abermals nur, kümmerte sich sofort wieder um seine Sachen. Entschlossen wandte sich Markus ab, ging die paar Schritte den Flur entlang zu seinem Zimmer.

Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte er, dass seine Handflächen sich feucht anfühlten. Sein Herz schlug schnell und hart. Aus irgendeinem Grund war er wirklich gerade etwas nervös geworden. Das war doch völlig verrückt.
Der kleinen Typ da machte ihn wirklich nervös. Dabei war er doch nur ein Kleinkind. Unbedeutend, nervig. Bestenfalls etwas, was man ignorierte.
Aber vor Markus Augen tauchte immer wieder der blonde Wuschelkopf auf. Zusammen mit den blauen Augen, die ihn so sehr an seinen Vater erinnerten.

Genervt verdrehte er die Augen, fuhr seinen Computer hoch und ließ sich etwas schwungvoller als sonst auf seinen Stuhl fallen.
Nun hatte er also einen jüngeren Bruder und zumindest dieses Wochenende würde er mit ihm rumhängen müssen. Kurz sah er zu seinem Handy hinüber, aber keiner seiner Freunde hatte ihn angerufen. Klar, die amüsierten sich jetzt schon irgendwo ohne ihn.
Seufzend startete Markus ein Spiel, war aber nicht recht bei der Sache.

Er dachte an Sarah, die sich letzten Samstag regelrecht an ihn geschmissen hatte. Sie war zwei Jahre jünger, hatte kurze, braune Haare und ein puppenhaftes Gesicht. Sie war eher flachbrüstig und daher fand sie bei den Anderen auch kaum Beachtung. So wirklich attraktiv fand er sie eigentlich auch nicht, aber sie fand es wohl klasse, mit ihm rumzuhängen. Immerhin galt er in seiner Altersstufe schon als der begehrenswerteste Typ. Er sah ja auch nicht schlecht aus, klar, wenn die Mädels da auf ihn standen.

Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild in dem Spiegel an seinem Schrank.
Er wirkte für sein Alter schon sehr groß und kräftig. Er hatte deutlich mehr Muskeln, als die anderen Jungs, dafür tat er ja auch was. Ja, die Mädchen standen auf ihn.

Seinen ersten Sex hatte er schon vor mehr als einem Jahr gehabt und seither schon ein paar der Mädchen ausprobiert, aber nie war es dabei ernster geworden. Gut, er hatte schon mal einen Monat mit dieser Mandy einen auf Pärchen gemacht, aber eigentlich nur, weil in seiner Clique zu dem Zeitpunkt irgendwie jeder gerade eine feste Freundin hatte. Also er eben auch.

Mandy war hübsch gewesen, hatte lange schwarze Haare bis zum Po und war kein bisschen prüde. Sie hatten schon Spaß miteinander gehabt.
Aber er hatte schon während dieses Monats auch mit zwei anderen Mädchen geschlafen und sie waren irgendwie dann auch stillschweigend auseinander gegangen. Sie war jetzt mit einem älteren Typ zusammen.
Vielleicht war sie auch in den verknallt, es kümmerte ihn nicht wirklich.
Eigentlich war nur noch Rico mit seiner Freundin von damals zusammen. Der Rest der Clique amüsierte sich lieber am Wochenende mit wechselnden Partnern.

In letzter Zeit hatte Markus etwas den Spaß daran verloren. Die meisten der Mädchen wollte ewig lange vorher knutschen. Vielleicht brauchten sie das, um genügend angetörnt zu sein. Für ihn war es eine einfache Sache. Er wollte möglichst schnell zum Höhepunkt kommen und oft genug hatte sich eins der Mädchen bei ihm beschwert, weil er vor ihr gekommen war.
Markus seufzte. Mann, die waren aber auch nicht immer so leicht zufrieden zustellen. Konnte er was dafür, dass er als Kerl einfach leichter und schneller zum Höhepunkt kam? Schließlich musste er nur seinen Schwanz genügend stimulieren. Ob er ihn dafür mit der Hand bearbeitete oder in ein Mädchen steckte, war ja fast egal. Mädchen waren manchmal echt anstrengend.

Markus konzentrierte sich auf sein Spiel bis sein Vater von unten zum Abendbrot rief.
„Bring doch Tim gleich mit runter, ja?“, fragte er, als Markus die Treppe runter kam.

„Sag das doch gleich“, antwortete Markus genervt, drehte wieder um und ging zu Tims Zimmer. Dahinter war alles ruhig. Er klopfte und sagte auf englisch: „Abendbrot, Tim. Dad sagt, du sollst mit runter kommen.“
Hinter der Tür blieb alles still. Ob er wohl schlief?
Markus zögerte, dann öffnete er die Tür, um nachzusehen.
Tim lag tatsächlich auf dem Bett. Als Markus reinkam, richtete er sich hastig auf, wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers schnell übers Gesicht, aber es war ohnehin offensichtlich zu sehen, dass er geweint hatte, denn sein Gesicht war rot, wirkte verquollen.
Der Anblick traf Markus und er blieb erstarrt stehen. Verlegen rollte sich Tim vom Bett herunter, schniefte und wandte den Kopf ab, wohl damit ihn Markus nicht sehen konnte.

„Äh, Abendbrot ist fertig“, sagte er unsicher, wie er sich verhalten sollte. Der Kleine hatte geflennt. Wie ein Mädchen geheult. Okay, er hatte ja wohl auch guten Grund dazu, aber trotzdem bewirkte der Anblick bei Markus widersprüchliche Gefühle.
Er wollte etwas sagen, etwas tröstendes, aber in seinem Hals war so etwas wie ein Knoten und er brachte gerade nichts hervor.
Rasch verließ er den Raum, vergaß dabei die Tür zu schließen und ging hastig nach unten.
In der Küche lächelte ihn sein Vater an, als er hereinkam, sich schnell auf seinen Stuhl fallen ließ und nach dem Tee griff.
„Hast du Tim Bescheid gesagt?“, fragte Stewart unnötigerweise nach.
„Klar, hast mich doch extra nochmal hoch geschickt“, brummte Markus, dem der Anblick des Kleinen aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen machte. „Kommt bestimmt gleich.“

Tatsächlich hörte er ihn kurze Zeit später die Treppe runterkommen. Schüchtern blieb er im Eingang stehen. Maria winkte ihn lächelnd herein. Sofort sprach sie nur noch Englisch, wie auch ihr ganzes Gespräch nun selbstverständlich in Tims Sprache fortgeführt wurde.
„Setz dich, Tim.“
Markus beobachtete ihn verstohlen. Sein Gesicht war noch gerötet, sah aber besser aus. Vermutlich hatte er es sich noch gewaschen. Er versuchte sogar ein winziges Lächeln aufzusetzen, als er neben Markus Platz nahm. Jetzt trug er ein einfaches T-Shirt mit einem bunten, etwas kitschigen Aufdruck darauf und Markus wurde sich erneut bewusst, wie schmächtig er neben ihm wirkte. Die große Jacke hatte da vieles verdeckt, aber Tim war wirklich weder groß noch kräftig.

„Möchtest du lieber Tee, Kakao oder Milch haben?“, fragte Maria nach.
„Tee“, antwortete Tim noch immer mit dieser leisen Stimme. Bei jedem anderen hätte ihn diese leise Stimme wohl genervt, dachte Markus, aber bei Tim war es wohl okay, klang es irgendwie ganz nett.
Verstohlen beobachtete er ihn beim Essen.
So recht kam zwischen ihnen kein Gespräch in Gang, auch wenn sowohl Stewart, als auch Maria sich redlich darum bemühten, Tim immer wieder Fragen stellten, die dieser auch knapp beantwortete, aber es war eher eine Art Frage-Antwort-Spiel.

Nach dem Abendbrot fragte Maria Tim, ob er noch ein wenig Fernsehen wollte, aber der Kleine schüttelte den Kopf, bat sehr höflich darum, wieder in sein Zimmer gehen zu dürfen.
Markus sah ihm hinterher und hatte ebenfalls nicht wirklich Lust, bei seinen Eltern im Wohnzimmer zu sitzen und einen Film zu sehen, den er schon im Kino gesehen hatte.
Also verabschiedete er sich auch bald, ging nach oben und spielte noch eine ganze Weile an seinem Computer. Es war nach eins, als er das Gerät ausschaltete und sich fürs Bett umzog.

Leise, um keinen zu wecken, schlich er sich durch den Flur zum Badezimmer, erledigte das allernötigste und schlich sich wieder zurück. Das Haus war dunkel und still. Seine Eltern waren schon irgendwann um zehn ins Bett gegangen. An Tims Tür verhielt er plötzlich, als er leise Geräusche daraus hörte. Lauschend blieb er stehen. Er brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, was diese Laute zu bedeuten hatten.
Tim weinte.
Die Geräusche waren eindeutig, ließen keinen anderen Schluss zu. Ein leises Schluchzen und Schniefen, als ob er es in seinem Kissen ersticken würde, kam gedämpft durch die Tür.

Ein dicker Kloß bildete sich in Markus' Hals, als er sich Tim dabei vorstellte. Er erinnerte sich an das Gesicht, rot vom Weinen, die traurigen, blauen Augen. Kurz war er versucht, die Tür zu öffnen und nach ihm zu sehen, aber dann stoppte er mitten in der Bewegung ab.

Es war Tim ganz bestimmt peinlich, wenn er ihn so sah. Das letzte Mal hatte er sich ja auch rasch und beschämt die Tränen weg gewischt. Also ließ Markus die Hand wieder sinken, drehte sich rasch um und ging hastig in sein Zimmer. Leise schloss er die Tür und verkroch sich dann in sein Bett.
Der Kleine tat ihm leid. Es musste echt schwer für ihn sein. Er war ganz alleine, hatte niemanden, den er kannte in einer völlig fremden Umgebung.
Immerhin war er nur ein kleiner Junge, da war es wohl normal, dass er heulte.
Markus lauschte und konnte die leisen Laute sogar jetzt durch seine Zimmerwand hören. Der heulte da immer noch. Ist echt ein Kleinkind, dachte er abfällig. Heult da rum wie ein Mädchen.

Obwohl sich Markus doch eigentlich genervt fühlen sollte, klappte es nicht wirklich. Stattdessen sah er rotgeweinte Augen vor sich, die ihn unfairerweise sogar in den Schlaf verfolgten.
Im Traum strich er zärtlich über die struppigen Haare, murmelte tröstende Wörter.
Sanft nahm er das Gesicht zwischen seine Hände und beugte sich vor. Aber was er dann getan hatte, daran konnte er sich später nach dem Aufwachen zum Glück nicht mehr so genau erinnern.
In Träumen tat man ohnehin ständig irgendwelche verrückten Dinge.

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So, hier bin ich im Verzug mit meiner Nachlieferung, großes Sorry!

Impressum

Texte: CPR
Bildmaterialien: www.pixabay.de
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2012

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