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Leandros Entdeckung



„Klasse! Genau so machen wir es!“
Nils, der Sänger der Boyband „Chevaliers of Chaos“ klatschte begeistert in die Hände und schlug seinem Kumpel Leandro kräftig auf die Schulter.
„Das wird der absolute Erfolg werden. Wirst schon sehen, die Girls werden uns in Scharen nachrennen“, meinte er lachend und erntete allgemeine Zustimmung. Keyboarder Leandro grinste zurück und ließ seine Finger noch einmal spielerisch über sein Keyboard gleiten.
„Ihr werdet immer besser, Jungs. Lasst es euch nur nicht zu Kopf steigen. Ruhm ist vergänglich“ Michael Grundt, der junge Musikstudent, unter dessen Aufsicht die Band im Musikraum der Fachschule üben durfte, nickte anerkennend.
Gemeinsam verließen er und die vier Jungen den Raum und er schloss hinter ihnen ab.
„Beim Contest müsst ihr alles geben“, gab er ihnen augenzwinkernd mit auf den Weg. „Dann wird es schon klappen mit der Karriere, den schnellen Autos und … den heißen Mädchen.“ Verschwörerisch tippte er sich an die Nase. „Vielleicht lasst ihr mir eine übrig?“ Lachend verabschiedeten sie sich von ihm.
„Pass ja gut auf deine Stimme auf“, ermahnte Leandro Nils, der zustimmend brummte, bevor er hastig losstürzte. Sein Bus fuhr in wenigen Minuten und er würde sich beeilen müssen, ihn noch zu erreichen.
„Bis dann“, verabschiedete sich Leandro von den anderen Band-mitgliedern Maik und Carsten, die es kaum weniger eilig hatten. Er selbst hingegen hatte noch reichlich Zeit, denn seine Bahn in den Vorort Hamburgs fuhr nur jede Stunde und eine hatte er ohnehin schon verpasst.
Zufrieden mit sich und ihrer Band schlenderte er den Gang entlang.
Die Probe war ein voller Erfolg gewesen und er sah dem kommenden Wettbewerb zuversichtlich entgegen. Ihre Band genoss an ihrer Schule einen sehr guten Ruf und sie spielten oft auf Events rund um Hamburg. Der Band-Contest der Schulen war ein weiterer Schritt und sie würden ihn mit ihrem neuen Song bestimmt gewinnen können. Der Preis war eine professionell aufgenommene Demo und danach stand ihrer steilen Karriere im Prinzip nichts mehr im Wege.
Auf den Gängen herrschte hektische Aufbruchstimmung. Neben Musikkursen gab es an der Fachschule auch Mal- und Töpferkurse, die sich großer Beliebtheit erfreuten.
Leandros Blick glitt über die anderen Jungen und Mädchen, die mit Musikinstrumenten oder Zeichenutensilien bepackt hinauseilten. Der Geruch von Ölfarbe lag schwer in der Luft und er warf einen eher zufälligen Blick in den Raum der Kunstgruppe. Ein halbfertiges Gemälde fiel ihm ins Auge und er stockte im Schritt.
Was war das denn?
Soweit er wusste, fand in diesem Raum zur selben Zeit ihrer Proben ein Acrylmalkurs statt. Die fertigen Bilder dieser Kurse wurden oft im Flur ausgestellt, allerdings hatte er ihnen nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Bis heute.
Das Bild, welches seinen Blick angezogen hatte, war absolut ungewöhnlich. Er spähte von der offenen Tür aus neugierig auf die Staffelei.
Wow. Das war wirklich etwas Besonderes.
Auf der großen Leinwand entstand das Bild eines nackten Mannes, der schlafend auf einem Sofa ruhte. Er lag auf dem Bauch, ein Arm nach vorne gestreckt, einer hing herunter, die Hand schlaff auf dem angedeuteten Teppichboden. Sein Gesicht war bereits fertig gemalt und trug einen erschöpften und dennoch zufriedenen Ausdruck.
Dichte, schwarze Haare umrahmten das dunkelhäutige Gesicht mit dem Anflug von feinen Bartstoppeln. Das Antlitz wirkte echt, einem Foto erstaunlich nahe. Aber vor allem den Körper hatte der Maler gut getroffen. Jeder einzelne Muskel sah derartig plastisch aus, als ob man ihn tatsächlich anfassen könnte. Leandro konnte sich gut vorstellen, dass der schlafende Mann gleich die Augen aufschlagen würde, so unglaublich realistisch wirkte das Bild.
Der junge Künstler, der noch immer an dem Bild arbeitete, war ganz in sein Gemälde vertieft und bemerkte offenbar nicht, dass ihm jemand dabei zusah.
Neugierig trat Leandro in den Raum und ging auf den schwer beschäftigten Jungen zu. Er musterte ihn von hinten genauer, als er sich näherte. Ein schlaksig wirkender Körper mit langen Armen und Beinen. Die hellbraunen, sehr lockigen Haare waren im Nacken nachlässig mit einem kitschigen, rosasilbernen Haargummi zu einem winzigen Zöpfchen gebunden. Allerdings waren die Haare dafür zu kurz, sodass sie sich in kurzen, gekringelten Locken seitwärts herausgewunden hatten und bei jeder Bewegung munter tanzten.
Leandro stutze und lächelte befriedigt. Der vermeintliche Maler war wohl vielmehr eine Malerin, bemerkte er versonnen und musterte sie von hinten.
Die Figur war bei genauerem Hinsehen eher mädchenhaft und auch nicht sehr groß. In ihren Ohrläppchen glitzerten kleine grüne Ohrringe. Ihr langer Hals verlockte seine Finger, darüber zu streichen, die weiche Haut zu liebkosen, ihr diese schönen braunen Haare zurückzustreichen.
Sie trug eine enge Bluejeans, die ihre langen Beine betonte. Zu Leandros Bedauern verdeckte ein weites, burschikos wirkendes, kariertes Hemd ihre restliche Figur. Schlanke Finger hielten den Pinsel.
Das Mädchen war augenscheinlich ganz auf seine Arbeit konzentriert, denn sie bemerkte ihn nicht, selbst als er direkt hinter sie trat. Sie fügte gerade winzige Korrekturen an einem der kräftigen Beine ihres Motivs ein.
Eindeutig ein Mädchen, mit dieser schmalen Taille und vor allem dem lustigen Zopfgummi, schloss Leandro erfreut. Er schätzte sie etwas jünger als sich selbst ein. Vielleicht um die fünfzehn oder sechzehn.
Er staunte nicht schlecht über ihr Motiv. Wieso sie es wohl gewählt hatte? Einem Mädchen in ihrem Alter hätte er eher das Bild eines bekannten Schauspielers oder berühmten Musikers zugetraut. Oder ein kitschiges Engelsbild. Dieses Bild hier hingegen hatte sogar eine gewisse erotische Ausstrahlung, der er sich erstaunlicherweise auch nicht entziehen konnte und passte irgendwie nicht ganz, fand er. Andererseits war es faszinierend, dass sie einen Männerkörper derart detailliert darstellen konnte. Soweit er sehen konnte, malte sie nicht einmal nach einer Vorlage.
Sie waren ganz alleine in dem Raum, denn eigentlich waren alle Kurse bereits vor fünfzehn Minuten zu Ende gegangen. Sie schien sich hingegen nicht daran zu stören.
Um das Mädchen nicht zu erschrecken, das noch immer völlig versunken in seine Arbeit war, räusperte sich Leandro leise und trat seitlich an sie heran. Dennoch fuhr sie erschrocken zusammen, drehte sich hastig zu ihm um und erstarrte. Sie riss ihre Augen überrascht auf, öffnete ganz leicht den Mund und sog keuchend die Luft ein.
Oh je, ich habe sie wohl gerade ziemlich erschreckt. Leandro lächelte verlegen.
Sie schaute ihn so bestürzt an wie einen Geist. Bildhübsche grüne Augen unter langen Wimpern musterten ihn verblüfft.
Leandro starrte zurück, konnte sich sekundenlang nicht von dem faszinierenden Gesicht lösen. Sie war vielleicht keine klassische Schönheit, hatte eher etwas herbes in ihren jugendlichen Zügen. Ja, man hätte sie durchaus auch für einen Jungen halten können, wären da nicht die tollen Haare und die zu vollen Lippen gewesen. Ihre großen, wunderschönen Augen lösten in Leandro in jedem Fall ein unglaublich erregendes Prickeln aus und das passierte ihm ganz gewiss nicht bei einem Jungen.
„Was schleichst du dich denn hier so an?“, blaffte sie ihn schließlich mit erschrocken klingender Stimme an. Diese war weniger hell, als Leandro erwartet hatte, passte jedoch absolut zu ihrem burschikosen Aussehen.
Leandro stutzte dennoch, zweifelte noch einen winzigen Moment.
Nein, er war sich sicher. Dies war definitiv ein Mädchen. Solche Augen mit so langen Wimpern konnte nur ein Mädchen haben. Zudem diese niedliche Stupsnase und ihre weichen Lippen. Da wollte man sie sofort küssen. Und welcher Junge würde sich die Haare schon mit einem derartig kitschigen Haargummi zum Zopf binden? Zudem hatte sie diese kleinen, grünen und funkelnden Ohrringe. Nein, befand er, sie war vor allem einfach viel zu süß, um ein Junge zu sein.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, brachte Leandro zerknirscht hervor, konnte allerdings - verflucht noch einmal - nicht den Blick von ihren Augen lassen.
Wow, so toll. Tiefgrün und nach außen hin heller werdend. Das war mit Abstand das faszinierendste Mädchen, welches er seit Langem gesehen hatte.
„Habe ich da etwa was im Gesicht?“, fragte sie ihn überrascht, als er sie unentwegt anstarrte. Vorsichtshalber wischte sie sich mit dem Ärmel ihres zu großen, farbverschmierten Hemdes über die Wange.
„Äh, nein. Entschuldige!“, antwortete Leandro schuldbewusst und löste endlich mühsam den Blick von ihren Augen und den geschwungenen Wimpern.
Unsicher irrte sein Blick umher und er war um weitere Worte verlegen. So etwas passierte ihm höchst selten. Er war zwar kein echter Draufgänger oder Aufreißer, trotzdem fiel ihm sonst immer ein guter Spruch ein. Heute klappte es irgendwie nicht.
„Wow, total toll!“, stieß er schließlich hervor und nickte zu dem Bild hin. „Ein echt perfekter Männerkörper. Hast du genial hingekriegt.“ Das Mädchen blickte ihn äußerst misstrauisch an und er beeilte sich hinzuzufügen: „Echt! Ich finde es total gut gelungen. Sehr plastisch. Man sieht alles, kann es fasst anfassen, so echt wirkt es.“
Noch immer ruhte ihr Blick abschätzend auf ihm, als ob sie sich fragte, ob er sie nur veralbern wollte. Oder als ob sie nicht recht fassen könnte, dass er mit ihr redete. Sie war gewiss nicht der Typ Mädchen, den jeder Junge sofort wahrnehmen würde. Andererseits ...
„Hat dir dafür etwa jemand Modell gestanden oder malst du nach Fotovorlage?“, fragte Leandro neugierig nach, wagte es abermals sie genauer anzusehen.
Nun, ein echtes Mauerblümchen war sie aber auch nicht. Nur eben keine auffällige Schönheit.
Wie niedlich: Sie hat kleine Grübchen direkt neben ihrem schönen Mund und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Mann, die Kleine ist ja echt total süß. Da würde ich auch gerne mal Modell stehen. Ganz privat natürlich.
Verlegen wandte er den Blick von ihr ab, denn seine ungebührlichen Gedanken sandten heiße Schauer über seine Wirbelsäule. Und tiefer.
Sie schien über seine Worte ein wenig nachdenken zu müssen und belustigt bemerkte er, dass sie bei dem Kompliment tatsächlich rot anlief.
„Nein! Dafür hat mir keiner Modell stehen müssen“, gab sie zögernd zu, wirkte nun plötzlich recht verlegen, als sie sich umdrehte und ihren Pinsel auswusch, den sie noch immer in der Hand gehalten hatte. „Und ich brauche kein Foto dafür.“
Der Geruch der frischen Farbe drang in Leandros Nase und er nutzte die Gelegenheit, um das Mädchen nochmal ungestraft eingehend zu mustern.
„Dann scheinst du auf jeden Fall eine große Fantasie zu haben“, fuhr er bewundernd fort. „Klasse Leistung, einen solchen Körper nur aus der Vorstellung zu zeichnen, ohne jede Vorlage. Ich meine, das ist ja nicht selbstverständlich. Da muss man ja zumindest … anatomische Kenntnisse haben.“ Er stockte und lachte auf. „Also für ein Mädchen ist das schon toll.“
Ruckartig drehte sie sich zu ihm um und starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. Leandro schluckte, lächelte sie jedoch nur weiterhin freundlich an.
„Also nicht, dass ich es dir nicht zutrauen würde ...“, ergänzte er unsicher und rang nach weiteren Worten.
Er wollte nicht wie ein Macho erscheinen, der Mädchen nichts zutraute. Aber genau so hatten seine Worte wohl geklungen.

Sie wirkte nunmehr eher irritiert, starrte ihn extrem misstrauisch und abweisend an.
Vertrug sie etwa keine Komplimente? Oder war er ihr womöglich sogar unsympathisch? Aber verflixt nochmal, sie war echt total knuffig, absolut sein Typ. Er musste sie auf jeden Fall näher kennenlernen.
Los frag sie schon, ermahnte er sich. So eine Gelegenheit bietet sich dir nicht jeden Tag. Das ist was anderes als diese aufdringlichen Mädchen bei den Konzerten, die dich offen ansabbern.
Leandro gab sich einen Ruck.
„Äh, wie heißt du denn?“, fragte er ein wenig unbeholfen nach. Normalerweise war er Mädchen gegenüber nicht schüchtern. Er traf allerdings auch selten auf eines, welches ihn derart faszinierte, wie diese Malerin hier.
Sie war etwas kleiner als er. Genau die richtige Größe, um sie gut zu küssen und im Arm zu halten, dachte er schmunzelnd, sah sich einen Moment lang tatsächlich schon mit ihr Händchen haltend spazieren gehen.
Ein wenig schüchtern schien sie hingegen zu sein, denn sie musterte ihn noch immer eher ablehnend.
„Ich bin auf jeden Fall Leandro“, stellte er sich daher erst einmal mutig vor und reichte ihr seine Hand. Beinahe automatisch ergriff sie diese und drückte sie erstaunlich fest.
„Hen … ny“, antwortete sie zögernd und fügte hastiger hinzu: „So nennen mich meine Freunde. Henny.“
„Hallo, Henny. Schön dich kennenzulernen“, meinte Leandro erfreut.
Habe ich gerade richtig gehört? Also habe ich durchaus Chancen ihr Freund zu werden, wenn ich sie schon mit ihrem Kosenamen ansprechen darf? Prima, das lief doch gut. Vermutlich hieß sie eigentlich Henriette oder Hendrike. Aber Henny passte gut zu ihr.
„Ist ein sehr schöner Name. So wie … du“, probierte er mutiger das nächste Kompliment aus. Seine Wangen brannten ein wenig und er lächelte sie einfach direkt an.
Augenblicklich ließ sie seine Hand los, starrte ihn groß an. Leandro biss sich verschämt auf die Lippe.
War er etwa gleich zu weit gegangen? Aber sie war wirklich anders als andere Mädchen. Sie gefiel ihm ausnehmend gut, da konnte er ruhig ein bisschen flirten.
„Was?“, fragte sie überrascht nach, tat, als ob sie sich verhört hätte. Ihre halblangen Haare hatten sich jetzt fast alle aus dem Zopf gelöst und umrahmten in lustigen Locken ihr schmales Gesicht.
„Henny“, wiederholte Leandro noch einmal etwas verlegener.
„Der Name passt zu dir. Ist irgendwie ...“, er zögerte, gab sich abermals einen Ruck und lächelte, „niedlich eben.“
Das bist du. Einfach echt eine Augenweide, dachte er sehnsüchtig. Oh Mann, ich habe mich noch nie verknallt, aber bei ihr hat gerade definitiv der berühmte Blitz eingeschlagen.
Ihre Augen wurden noch größer und insgeheim amüsierte sich Leandro darüber, dass sie es offenbar gar nicht gewöhnt war, dass jemand mit ihr flirtete. Ein deutlich rosafarbener Schimmer überzog mittlerweile ihre Wangen und ihr Atem hatte sich unmerklich beschleunigt. Hastig wandte sie sich ab, wusch wortlos ihre restlichen Pinsel aus und verschloss ihre Malfarben.
„Du machst diesen Kunstkurs hier mit?“, erkundigte sich Leandro völlig überflüssigerweise, nur um überhaupt etwas zu sagen, als sich das Schweigen zwischen ihnen langsam unangenehm ausbreitete.
„Ja“, antwortete sie einsilbig ohne ihr Tun zu unterbrechen.
„Ich habe dich vorher noch nie hier gesehen“, stellte Leandro fest, ohne den Blick von ihr zu lassen. Die schmal geschnittene Hose zeigte ihm ihre schlanken langen Beine. Gerne hätte er ein wenig mehr von ihr gesehen. Das Malerhemd verbarg einfach zu viel von ihrem Oberkörper. Nicht dass er prinzipiell auf gewaltige Oberweiten stand, nur bei ihr konnte er rein gar nichts erkennen. Das war schade.
Verzückt starrte er auf das halb herausgerutschte Haargummi. Leandro war echt versucht, ihr diese letzten frechen Locken aus dem Zopf zu lösen, der sich nun unweigerlich immer weiter lockerte. Ihr Nacken zog seine zuckende Hand unwiderstehlich an.
Mann, wieso ist sie mir bloß noch nie vorher aufgefallen? So eine süße Zuckerpuppe. Seine Hand zuckte stärker und wollte sich ungefragt erheben. Genau in dem Moment drehte sie sich zu ihm um, zum Glück, ehe seine Hand von alleine Dummheiten machen konnte.
„Ich bin ja auch erst seit letzter Woche dabei“, erklärte sie ein wenig schroff, ging an ihm vorbei und verstaute die Malutensilien in einem Schrank.
Leandro folgte ihr einfach. Vielleicht war sie wirklich nur schüchtern und deswegen kurz angebunden. Er musste nur dran bleiben, dann würde er sie schon knacken können. Sonst musste er sich eher der aufdringlichen Mädchen erwehren und wusste oft genug nicht recht, was mit ihnen anzufangen.
„Macht es dir denn Spaß?“, fiel ihm als Fortführung des einseitigen Gesprächs ein.
Verflixt, irgendwie muss ich doch mit ihr ins Gespräch kommen. Eine solche Gelegenheit will ich mir einfach nicht entgehen lassen.
„Ja“, antwortete sie erneut einsilbig. Innerlich seufzte Leandro.
Okay, so einfach machte sie es ihm wohl nicht, da musste er sich schon mehr einfallen lassen. Leandro kniff nachdenklich die Lippen zusammen. Er könnte ihr ja erzählen, dass er in einer ziemlich bekannten Band Keyboard spielte. Nur, ob sie das beeindrucken würde? Nachher stand sie gar nicht auf Rockmusik oder würde ihn für einen blöden Angeber halten.
Schweigend sah er ihr zu, wie sie den Schrank schloss, an das Waschbecken herantrat und ihre farbverschmierten Hände abwusch.
Wie sich diese schmalen, langen Finger wohl auf ihm anfühlen würden, träumte Leandro und ermahnte sich sofort. Womöglich hatte sie schon einen Freund und war deshalb derart abweisend zu ihm?
Ein eisiger Schauer lief über sein Rückgrat. Zum Glück wandte sie ihm den Rücken zu und konnte die plötzlich aufkommende Eifersucht und Furcht nicht bemerken.
Na, wenn schon, dann muss ich sie eben für mich gewinnen. Das wäre doch gelacht.
Nur wie?
Sie trocknete sich die Hände ab, griff nach ihrer Tasche und schwang sie sich über die schmale Schulter. Irgendetwas sollte er sich einfallen lassen und zwar schnell, sonst war sie weg und er wusste gerade mal ihren Vornamen.
„Hast du ...“, begann er zögerlich, dennoch wild entschlossen. Als sie sich ihm fragend zuwandte, brachte er ein viel zu hastiges: „Hast du noch etwas Zeit?“, hervor.
„Zeit?“, fragte sie ihn irritiert, runzelte verblüfft die Stirn. Sie zog sich das Zopfgummi aus den Haaren und fragte misstrauisch: „Wozu denn?“
„Naja, also ich ... also kann ich dich vielleicht noch zu einem Kaffee oder so einladen?“, stieß Leandro hastig hervor, lächelte schief, als sie ihre Augen abermals erstaunt aufriss.
„Fünf Minuten von hier, in der Innenstadt ist ein nettes Café, die haben auch Kaffee und Kuchen, wenn du was magst?“, schlug er unsicherer werdend vor, denn ihr Ausdruck war unverändert überrascht und wirkte weiterhin mehr ablehnend als begeistert.
Vielleicht war er wirklich gar nicht ihr Typ? So irre toll sah er ja nun auch nicht aus. Er war nur mäßig groß, einigermaßen schlank und mit dunklen, fast schwarzen Haaren gesegnet. Seine braunen Augen waren öfter von einigen Fanmädchen schön genannt worden, aber die schmierten ihm ohnehin dauernd Honig um den Bart. Er hatte sich ihnen gegenüber ein gesundes Misstrauen angewöhnt.
Vielleicht wollte gerade dieses besondere Mädchen gar nichts mit ihm zu tun haben? Weitere Zweifel regten sich in ihm, während sie ihn bestimmt eine Minute lang nur ansah. Hilflos zuckte er die Schultern.
Was sollte er denn sonst zu einem Mädchen sagen? Ihm fiel nichts mehr ein. Es war immer schwer, sich mit ihnen zu unterhalten. Mit Jungs war es bedeutend leichter.
„Ich würde dich halt gerne ein bisschen kennenlernen“, fügte er leiser, fragend hinzu.
Bitte gib mir eine Chance, bat er stumm, hoffte, sie würde in seinen Augen lesen können, dass er es ernst meinte.
Henny schluckte, schien mit sich zu ringen und nickte schließlich zu Leandros großer Erleichterung. In seinem Bauch stieg prompt der berühmte Schwarm Schmetterlinge auf und flatterte wild durcheinander.
Bingo, sie geht mit mir! Er konnte sein Glück kaum fassen.
„Ja, okay!“, antwortete Henny entschlossener, lächelte schüchtern und unglaublich süß, sodass Leandro regelrecht dahinschmolz. „Ich habe noch etwas Zeit, meine nächste S-Bahn geht in einer Stunde.“

Hennys Date



Nebeneinander gingen sie durch die Einkaufpassage. Henny warf Leandro immer wieder verstohlene Blicke zu. Es war falsch, furchtbar falsch hier neben diesem tollen Typen zu gehen. Leandro hatte ihn tatsächlich auf einen Kaffee eingeladen.
Ihn!
Oh Mann, er war völlig perplex gewesen, dass ihn ausgerechnet Leandro angesprochen hatte. Ob ihm sein leichtes Zögern aufgefallen war, als er seinen Spitznamen genannt hatte? Offenbar nicht.
Henny.
Einige seiner Freunde nannten ihn wirklich so, nur seine Schwester nannte ihn Ricky. Henny war die Abkürzung für Hendrik. Nicht, wie Leandro vermutlich glaubte, für Hendrike.
Shit, der hält mich echt für ein Mädchen!
Natürlich hätte er es ihm gleich sagen können. Das wäre nur fair gewesen. Sorry, ich bin kein Mädchen, ich bin nur ein Junge und zudem auch noch schwul. Allerdings hätte ihn Leandro danach natürlich nicht mehr irgendwohin eingeladen. Er hätte sich umgedreht und wäre gegangen, hätte ihn keines weiteren Blickes mehr gewürdigt.
Bestenfalls.
Oder er hätte ihn beschimpft. Auch das kannte Hendrik zu Genüge. Nicht jeder Junge stand darauf, wenn ihn ein anderer toll fand. Auf diese Weise war schon eine langjährige Freundschaft zerbrochen und Hendrik hatte seither nur noch wenig wirkliche Freunde.
Woher sollte Leandro auch wissen, dass Hendrik ihn die letzten Wochen heimlich beobachtet hatte. Bei sämtlichen Auftritten von Leandros Band in den letzten zwei Monaten war er dabei gewesen. Jedes Mal, seit er ihn das erste Mal bei jenem Auftritt an seiner eigenen Schule gesehen hatte.
Leandro von Rundorf, der coole Keyboarder der „Chevaliers of Chaos“. Er war der Traum schlechthin, er, der immer im Hintergrund stand, dessen rabenschwarze Haare mit dem dunklen Background der Bühne zu verschmelzen schienen, sodass sein schönes Gesicht aus dem Dunkel geheimnisvoll herausleuchtete. Leandro, der oft mit halb geschlossenen Augen, völlig versunken in die Musik, sein Instrument spielte.
Hendrik wusste haargenau genau, wie er sich bewegte, wie er sich vorbeugte, sich die Haare aus der Stirn strich, einen Schluck Wasser trank, lächelte. Er kannte jede seiner Bewegungen, hatte sie studiert, in sich aufgesogen, ihn sich nachts vorgestellt. Zum Glück ahnte Leandro nicht im Geringsten, was er sich mit ihm alles vorgestellt hatte.
Hendriks Atem ging unwillkürlich schneller.
Leandro. Allein der Name zerging auf der Zunge wie zart schmelzende Vollmilchschokolade und hinterließ das erregende Prickeln hochprozentigen Alkohols.
Er war ein absoluter Traumtyp. Sein Traumtyp.
Größer als er selbst, etwas kräftiger mit dunkler Haut. Ein echter Sonnyboy, der unglaublich nett lächeln konnte, sodass seine braunen Augen buchstäblich strahlten.
Ein einziges Mal hatte er Hendrik direkt angesehen, als dieser ziemlich weit vorne an der Bühne gestanden hatte. Leandro hatte wirklich zu ihm hingesehen, gelächelt, und auch wenn es nur Zufall gewesen sein konnte, für Hendrik war es der Himmel auf Erden gewesen und hatte ihm eine unruhige Nacht mit sehr erotischen Fantasien beschert. Danach hatte er sich jedoch lieber weiter nach hinten gestellt, dort, wo ihn Leandro nicht sehen konnte, denn er hatte furchtbare Angst gehabt, dass dieser womöglich erkennen konnte, was er für ihn empfand. Hendriks Augen hätten todsicher sofort sein kleines Geheimnis offenbart, wenn er nicht höllisch aufgepasst hätte, Leandro nicht mehr zu nahe zu kommen.
Jede Nacht träumte er von ihm, seinem Gesicht, seinen wunderschönen Augen, seinen Lippen, seinen Händen, wie er riechen würde. Tagsüber malte er sich aus, wie es wäre, ihn als Freund zu haben, gemeinsam zu lachen, Händchen zu halten, sich anzulächeln und natürlich mehr.
Und heute an diesem grauen Sommertag ging er wahrhaftig mit Leandro zusammen zu einem Café, um mit ihm zusammenzusitzen, sich näher kennenzulernen.
Oh Mann, wenn der nur wüsste, dass ich gar kein Mädchen bin. Zudem noch schwul und absolut auf ihn stehe, dachte Hendrik verzweifelt. Ich konnte doch vorhin nicht einfach „Nein“ sagen. Niemals hatte er auch nur zu hoffen gewagt, Leandro einmal derart nahe zu kommen, um ihm mehr als ein schüchternes „Hallo“ zu sagen. Und dann sprach dieser ihn wahrhaftig selbst an.
Egal, dann hielt er ihn eben für ein Mädchen. Wenn er deswegen nur ein wenig Zeit mit ihm verbringen durfte, nur ein wenig davon träumen durfte ...
„Du bist ein wenig schüchtern, oder?“, unterbrach Leandro abrupt Hendriks sehnsüchtige Überlegungen und lächelte ihn freundlich an. In Hendriks Hals wurde es noch enger. Sein blödes Herz schlug ohnehin schon derart schnell, dass es ein Wunder war, dass Leandro es nicht hören konnte.
„Eigentlich nicht“, gab Hendrik viel zu leise zu, sich bewusst, dass er vermutlich wirklich schüchtern klang, aber er hatte Angst, dass seine Stimme ihn verraten würde. Es war eben keine helle Stimme und kichern konnte er auch nicht besonders gut. An ihm war eigentlich nur sehr wenig Mädchenhaftes.
Okay, er war ein wenig schmaler als andere Jungs in seinem Alter und sein Gesicht nicht so männlich kantig wie er es gerne gehabt hätte. Es wirkte einfach noch zu unfertig.
Ab und an hatte ihn deswegen tatsächlich auch schon zuvor jemand für ein Mädchen gehalten. Vermutlich aber vor allem wegen seiner dummen, kringeligen, viel zu langen Haare.
Er trug sie jetzt offen, hatte das kitschig gruselige Zopfgummi seiner Schwester tief in seiner Jeanshosentasche verstaut.
Klar, seine Haare waren für einen Jungen wirklich zu lang. Wenn er sie allerdings kürzer schneiden ließ, lockten sie sich noch viel mehr und er sah aus wie eine dieser blöden, kitschigen Amorfiguren oder Engelchen. Voll niedlich und süß. Bäh!
Zumindest fanden Erwachsene ihn damit goldig. Er hingegen hatte schon in den ersten Schuljahren erfahren, dass „niedlich“ und „süß“ Begriffe waren, die einem als Jungen nur Hohn und blaue Flecke einhandeln konnten.
Daher ließ er seine Haare einfach lang wachsen. Er mochte es lieber, band sie nur beim Malen zurück.
Seine Schwester würde ihn umbringen, wenn sie herausfand, dass er sich heute Morgen heimlich an ihrem heiligen Vorrat bedient hatte, weil ihm sein eigenes, schwarzes Haargummi zerrissen war. Zu seinem Leidwesen hatte sie jedoch nur diese fürchterlichen Mädchenzopfgummis gehabt. Rieke stand auf diesen Kitsch, obwohl sie älter als er war.
Hendrik fuhr sich grübelnd durch seine ungeliebten Haare. Hielt ihn Leandro deswegen vielleicht für ein Mädchen? Offenbar ja. Und scheinbar gefiel ihm, was er sah. Sonst hätte er ihn bestimmt nicht eingeladen.
Vorsichtig blickte Hendrik erneut zu ihm hinüber und schaute prompt direkt in Leandro strahlende Augen.
„Deine Haare sehen offen viel schöner aus“, bemerkte dieser bewundernd, lächelte verlegen und fügte zögernder hinzu: „Du solltest sie immer so tragen! Steht dir besser. Sie sind wirklich schön.“
Hendrik zuckte zusammen, senkte augenblicklich den Blick auf seine Füße und hoffte inständig, dass er nicht zu verdächtig rot angelaufen war. Er hatte es geahnt. Es waren diese unseligen Haare.
Mann, wieso musste Leandro auch noch so verdammt nett sein und so toll aussehen. Hendrik schwieg hartnäckig, kaute auf seiner Unterlippe herum und überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Er kam sich neben Leandro unglaublich dumm vor und musste jeden seiner Schritte genau überlegen, um sich nicht zu verraten.
Sie schwiegen weitere Minuten und irritiert bemerkte Hendrik, dass Leandro dichter neben ihm ging. Ihre Schultern berührten sich beinahe. Abermals lächelte Leandro ihn an, als er ihm einen verstohlenen Blick zuwarf.
„Bist du etwa das erste Mal von einem Jungen eingeladen worden?“, hakte dieser neugierig nach. Hendrik schluckte hart und würgte rasch ein simples, wirklich mädchenhaft quietschiges: „Ja“, hervor.
Natürlich nicht. Einen Jungen lud man normalerweise nicht in ein Café zu einem Kaffee ein. Schon gar kein anderer Junge. Erst recht keiner wie Leandro.
Dieser strahlte ihn weiterhin beinahe verliebt an, schien sich ganz offenkundig darüber zu freuen, dass er der Erste war, der dieses vermeintliche Mädchen ausführte.
Insgeheim stöhnte Hendrik verzweifelt auf.
Verdammt, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen, dass kann doch niemals gut gehen.
Was, wenn Leandro mir auf die Schliche kommt?
Was wird der tun?
„Komisch, eigentlich. Du siehst doch total niedlich aus. Du hast ein wirklich hübsches Gesicht. Ich hätte gedacht, dass du bestimmt schon ganz oft zu einem Date eingeladen worden wärst“, erklärte Leandro verschmitzt lächelnd und rückte noch näher. Seine Finger streiften Hendriks Handgelenk.
Niedlich? Hübsch?
Innerlich rollte Hendrik genervt die Augen. Er war nicht niedlich. Und ein ... Date?
Verflucht, er wollte so gerne nach Leandros Finger greifen, der war nur noch Zentimeter von ihm entfernt. Aber wie würde das wohl wirken? Machte der das womöglich mit Absicht?
Hendrik schluckte abermals und ihm kam ein böser Verdacht: Wollte ihn Leandro eventuell nur veralbern?
Insgeheim befürchtete er argwöhnisch, dass der andere Junge ihn bereits durchschaut hatte und nur ein böses Spiel mit ihm, dem dummen, verliebten Schwulen spielte.
Lass mal sehen, wie weit der geht und dann lass ihn voll auflaufen. Das kam vor.
Andererseits … wie Leandro ihn ansah? Nein, der flirtete ganz offen mit ihm. Er hielt das hier wirklich für ihr erstes Date.
Der Gedanke verursachte ein flaues Gefühl in Hendriks Magen.
Ich habe wahrhaftig ein Date mit Leandro … dem Leandro. Scheiße, jetzt benehme ich mich echt auch schon so, dachte Hendrik seufzend, dessen Beine sich tatsächlich wackelig anfühlten.
Er brachte keinen Ton heraus. Schüchternes Mädchen bei ihrem ersten Treffen mit ihrem heimlichen Schwarm. Och nee!
Hendrik riss sich zusammen. So schüchtern war er nun auch wieder nicht. Er war schließlich kein Mädchen.
„Ich bin noch nie von einem Jungen ins Café eingeladen worden“, gab er überzeugend von sich. Stimmte ja auch. Er war zwar auch mal mit ein paar anderen schwulen Jungs unterwegs gewesen, aber eingeladen, „gedatet“ hatte ihn noch keiner. Nicht wie Leandro es gerade tat.
„Na dann habe ich ja verdammtes Glück gehabt, dass ich mich getraut habe und du auch noch „Ja“ gesagt hast“, freute sich Leandro glücklich lächelnd und griff augenzwinkernd nach Hendriks Hand.
Sofort schlug dessen Herz noch schneller, obwohl das eigentlich gar nicht mehr möglich war. Instinktiv wollte er die Hand zurückziehen, beließ sie jedoch mit angehaltenem Atem in Leandros Griff. Es fühlte sich warm und einfach nur gut an.
Wahnsinn: Leandro hält meine Hand. Boah, war das toll! Ein absolut geniales Gefühl. Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er es sich derart wunderbar vorgestellt. Leandro ging mit ihm aus und flirtete offensichtlich. Mit ihm!
Nein!
Mit ihr. Mit Henny, ermahnte er sich nüchtern.
Bleib cool. Er ist hetero, er hält dich für ein süßes, schüchternes Mädchen, nur deshalb ist er so zuvorkommend und freundlich zu dir.
Aber es tat gut. Es war einfach nur ein geniales Gefühl und er würde es genießen, solange es eben ging. Scheiß auf die Konsequenzen.
Sie betraten das Café und Leandro wies sogleich auf einen freien Tisch weiter hinten.
„Da ist noch Platz“, meinte er und ließ Hendriks Hand los. Dieser nickte und ging voraus, sah sich vorsichtshalber sichernd um. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er hier jemandem begegnete, den er oder der ihn kannte, denn er stammte aus einem Vorort von Hamburg und kam nur nachmittags zu dem Kunstkurs her.
Es war purer Zufall gewesen, dass Leandro genau dort seine Proben abhielt. Letzte Woche hatte er ihn dort das erste Mal gesehen und wäre fast vor Schreck gestorben. Leandro war mit den anderen Jungs seiner Band an ihm vorbeigegangen, natürlich ohne ihn zu bemerken.
Zum Glück auch nicht den sehnsüchtigen Blick, den Hendrik ihm zugeworfen hatte. So nahe war er ihm noch nie zuvor gekommen. Ansonsten kannte er ihn ja nur von seinen Auftritten mit der Band und ihrer Internetseite.
Leandro trat neben ihn, als sie den Tisch erreicht hatten.
„Soll ich dir die Jacke abnehmen?“, fragte er höflich nach, gerade als sich Hendrik hinsetzen wollte. Dieser verhielt augenblicklich in der Bewegung. Sekundenlang schaute er ihn verblüfft an und zog rasch seine Jacke aus. Leandro half ihm, sie von den Schultern zu streifen und hängte sie zusammen mit seiner Tasche an die Garderobe.
Scheinbar ist Leandro echt bestrebt, einen auf Kavalier zu machen, dachte Hendrik ein wenig belustigt. Er hat ja auch einen adeligen Namen. Vielleicht deshalb? Ist er so erzogen worden?
Lächelnd nahm Leandro ihm gegenüber Platz und Hendrik fühlte seinen prüfenden Blick auf sich ruhen. Prompt wünschte er sich seine Jacke oder wenigstens sein Malerhemd zurück, um seine viel zu flache Brust besser verdecken zu können. In diesem Jeanshemd würde Leandro doch sofort sehen, dass er rein gar keine weiblichen Rundungen hatte.
Ihm wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, was Leandro wohl tun würde, wenn er erkannte, dass Henny nur ein Junge, kein süßes Mädchen mit lockigen Haaren war. Im besten Fall schrie er ihn nur an, beschimpfte ihn als Schwuchtel, das kannte er immerhin schon zu Genüge. Schlimmstenfalls schlug er ihn auch zusammen. Auch darin hatte Hendrik schon seine Erfahrungen gemacht. Seither war er vorsichtiger mit anderen Jungs geworden, offenbarte sein Geheimnis nur wenigen.
Leandro jedoch lächelte weiterhin. Sein Blick schien hauptsächlich an Hendriks Augen zu hängen. Schließlich löste er sich leise seufzend, sandte mit diesem kaum hörbaren, bedauernden Geräusch feurige Glutwellen durch Hendriks Körper. Dessen Hände zitterten kaum merklich und er griff automatisch nach der Karte, die ihm Leandro zuschob.
„Was möchtest du denn haben, Henny?“, erkundigte dieser sich fürsorglich. „Einen Cappuccino oder noch was anderes? Vielleicht ein Stück Kuchen dazu? Ich lade dich natürlich ein, also such dir was aus.“ Hendrik schüttelte den Kopf, um sich ganz auf Leandros Worte zu konzentrieren und nicht auf das furchtbare Flattern in seinem Magen und das Beben seines Körpers.
Der zieht hier echt das volle Flirtprogramm mit mir durch, mit allem Drum und Dran. Das ist so ein geiles Feeling.
„Kakao ist ganz okay“, brachte Hendrik hervor und beglückwünschte sich dazu, dass seine Stimme deutlich heller und extrem mädchenhaft klang. Auf diese Weise nahm Leandro ihm das Mädchen vielleicht sogar wirklich ab.
Mann, ihm war viel zu heiß. Wenn ihn Leandro auf diese Weise ansah, schien seine ganze Wirbelsäule zu kribbeln und sein Unterleib zuckte verdächtig.
„Keinen Kuchen?“, fragte Leandro offenbar enttäuscht nach. „Wie wäre es mit einem leckeren Stück Erdbeertorte? Magst du so etwas nicht?“
„Klar“, rutschte es Hendrik viel zu hastig heraus. „Ist okay, ja.“
Ihm war alles egal, wenn er nur hier mit Leandro sitzen durfte, dessen wundervolle Blicke genießen, sich der Illusion hingeben durfte, dieser irre tolle Junge wäre an ihm interessiert. Von so etwas hatte er immer geträumt.
Verdammt, warum nur bin ich kein Mädchen?
Verstohlen sog er die Luft ein, um sein Herz endlich zu beruhigen und auch, um einen Hauch von Leandros Geruch zu erhaschen.
Der Typ duftete irre gut. Nach diesem dunklen Duschgel aus der Werbung. Hendrik kannte den Duft, sein älterer Bruder Hannes benutzte das gleiche. Er hatte sich daran auch ab und an heimlich bedient, wenn seines leer gewesen war.
Scheiße, nun würde er immer an Leandros warmen Händedruck und sein Lächeln denken müssen, wenn er ins Badezimmer kam. Unter der Dusche hatte er ihn sich immerhin schon oft genug dazugeträumt. Wenn Leandro ahnen würde, was er sich vorgestellt hatte ...
„Prima.“ Leandro nickte ihm zufrieden zu, winkte eine Bedienung heran und gab die Bestellung auf. Hendrik fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Es war eine gefährliche Situation und er fürchtete die Stolpersteine, die es in der ungewohnten Rolle eines Mädchens reichlich geben musste.
„Kommt gleich“, versprach ihnen die Bedienung augenzwinkernd und verschwand auch schon wieder. Hendrik sah ihr misstrauisch nach, fragte sich unwillkürlich, ob sie ihn durchschaut hatte.
Hatte sie ihn nicht gerade länger angesehen? Was hatte ihr Ausdruck wohl zu bedeuten gehabt?
Als er sich umdrehte, fand er sich augenblicklich in Leandros Blick gefangen.
Wie kann ein Typ nur derart schöne, tiefbraune Augen haben? Darin kann man total versinken.
Oh Mann, verboten gehört so etwas. Zumindest wenn er nur Mädchen damit anschaut.
Hendriks Knie fühlten sich ganz weich an.
„Wo kommst du denn eigentlich her?“, begann Leandro ihr, doch recht einseitiges Gespräch. Hendrik musterte ihn unsicher.
Wie viel durfte er verraten? Auf gar keinen Fall konnte er Leandro seine Adresse geben. Nachher kam der noch vorbei oder er fand heraus, wer er wirklich war.
„Maschen“, gab er knapp an und fügte hinzu: „Ich komme nur für den Kurs einmal in der Woche hierher.“
„Ah“, sagte Leandro und meinte nickend: „In Maschen habe ich vor zwei Monaten mal einen Auftritt mit meiner Band gehabt.“
„Ja. Ich habe dich gesehen“, entkam es Hendrik ungewollt und er biss sich gleich darauf auf die Lippen. Mist, so viel sollte er besser nicht sagen.
„Echt?“, antwortete Leandro sichtlich erfreut. „Du hast mich gesehen?“
„Naja, den Bandauftritt halt“, wiegelte Hendrik sogleich ab und fügte zaghaft hinzu: „Ihr seid wirklich gut. Tolle Musik.“
„Danke“, freute sich Leandro. „Schade, dass ich dich da noch nicht entdeckt habe.“
„Ich stand ganz weit hinten“, schwindelte Hendrik. „Du konntest mich gar nicht sehen, da waren ja viel zu viele andere … Mädchen.“
„An dich hätte ich mich ganz bestimmt erinnert“, meinte Leandro versonnen und lächelte erneut ein wenig unsicher. Ganz so selbstsicher, wie Hendrik im ersten Moment gedacht hatte, schien Leandro doch nicht zu sein. Vielleicht war er auch noch nicht oft mit einem Mädchen unterwegs gewesen? Quatsch, die liefen ihm doch scharenweise hinterher. Hendrik hatte es ja gesehen. Nach jedem Auftritt stürzten sie sich auf ihn und den Sänger Nils. Ihre Band war in und um Hamburg eine echte Berühmtheit.
Leandro hatte ihn bei dem Konzert natürlich nicht wirklich angesehen. Oder zumindest hatte er nur einen Jungen bemerkt, der dumm herumgestanden und ihn angehimmelt hatte. Hendrik lief dennoch mädchenhaft rot an. Shit, wie peinlich.
Es war daher recht beruhigend, dass auch Leandro sich nicht ganz so sicher war, wie er sich weiter verhalten sollte. Wie viele solcher Dates er wohl schon gehabt hatte? Ganz bestimmt einige. Er konnte schließlich jedes Mädchen haben. Und trotzdem hatte er ihn, Henny, eingeladen.
Sie schwiegen weitere Minuten.
Unruhig rutschte Hendrik auf seinem Sitz hin und her und zum Glück erlöste ihn die Bedienung, die ihnen den Kakao und zwei Stück Erdbeertorte brachte.
„Guten Appetit ihr beiden“, wünschte sie ihnen freundlich lächelnd und abermals fühlte Hendrik seine Ohren brennen.
Hielt sie ihn wirklich auch für ein Mädchen? Sie ließ sich zumindest nichts anmerken. Oder dachte sie, hier saßen zwei schwule Jungs bei ihrem ersten Date?
Wenn es nur so wäre! Vielleicht wäre ich dann nicht derart schrecklich nervös.
„Lass es dir schmecken, Henny“, forderte ihn Leandro auf, machte sich auch schon selbst mit sichtlichem Appetit über seine Torte her, nicht ohne Hendrik immer wieder zufriedene, offenkundig verliebte Blicke zuzuwerfen.
Es war gar nicht so einfach, die Torte durch den engen Hals hinunterzuwürgen. Seine zittrigen Finger wollten kaum die Gabel halten und noch schwerer war es, dieses Beben auch noch zu verbergen. Hendrik spülte die Bissen einfach mit kleinen Schlucken des heißen Kakaos hinunter, vermied es tunlichst, Leandros braune Augen anzustarren. Dennoch wanderte sein Blick wie magisch angezogen immer wieder zu ihm.
„Wie alt bist du eigentlich?“, eröffnete Leandro irgendwann erneut ihr Gespräch, als sie nur noch unentschlossen an ihren Tassen nippten.
„Noch darf ich dich das ja fragen, oder?“, schob er augenzwinkernd und lachend hinterher. Hendrik musste ebenfalls schmunzeln.
Wenn Leandro lachte, strahlte sein ganzes Gesicht, die Augen blitzten und seine Nase zog sich dabei total lustig in Falten. Hach, er könnte ihn den ganzen Tag lang beobachten.
„Siebzehn“, gab Hendrik zu und wurde mutiger: „Und du?“
„Oh?“, machte Leandro verblüfft. „Siebzehn, echt? Ich bin erst sechzehn, also sogar jünger als du.“
„Na und?“, konterte Hendrik cool. „Ist ja höchstens ein Jahr.“
Leandro grinste verlegen und zuckte die Schultern.
„Stimmt, nur ein Jahr, was macht das schon? Wir sind ja beide noch jung, da vermutet eh noch keiner, wir würden nur wegen des Geldes heiraten“, meinte er achselzuckend und schmunzelte.
Hendrik musste unwillkürlich grinsen und sie lachten gemeinsam los.
„Du bist voll süß, Henny“, stieß Leandro ganz plötzlich lachend hervor, wollte nach Hendriks Hand greifen, zögerte jedoch kurz davor und legte seine Hand nur daneben.
Schlagartig wurde Hendrik ernst. Seine Hand neben Leandros kribbelte, sein Rückgrat, alles an ihm kribbelte.
Wie gerne würde er seine Hand auf Leandros Finger legen, den Handrücken streicheln …
„Was?“, brachte er verblüfft hervor. Süß?
„Du hast ein total süßes Gesicht. Ich mag es, wie du lachst“, brachte Leandro ein wenig verlegen hervor, dafür blickte er Hendrik überaus intensiv an. „Und deine Augen sind irre hübsch, wie tiefe Seen, ganz grün.“
Fassungslos starrte Hendrik ihn an.
Hübsch? Wie grüne Seen? Was erzählte Leandro da?
Nun legte dieser seine Hand ganz langsam und sachte auf die von Hendrik und dessen Körper schien bei der harmlosen Berührung bereits in Flammen aufzugehen. In seiner Fantasie hatte er sich schon sehr vieles, auch sehr Unanständiges, mit Leandro vorgestellt, aber dass dieser nun wirklich seine Hand hielt, war etwas ganz anderes, übertraf seine Erwartungen hochhausweit.
Heiß und kalt lief es ihm den Rücken hinab und ein nur allzu bekanntes Ziehen erfasste seinen Unterleib, welches bislang seinen nächtlichen Traumtreffen mit Leandro vorbehalten gewesen war.
Shit, ich bekomme hier gleich wahrhaftig einen Ständer. Dieser Typ ist einfach zu heiß!
Hastig löste Hendrik seine Hand und sprang auf.
„Ich muss jetzt los“, würgte er hervor. „Meine S-Bahn fährt gleich.“
Leandro entglitten seine Züge, drückten ein derart offensichtliches Bedauern aus, dass Hendrik sich prompt extrem schlecht fühlte.
„Jetzt schon?“, fragte Leandro enttäuscht nach, sprang nun ebenfalls auf und kam um den Tisch heran.
Hendrik griff nach seiner Jacke und streifte sie hastig über. Als er sich umdrehte, wich er sofort zurück, denn Leandro stand unmittelbar vor ihm.
„Henny?“, fragte dieser nach, ergriff dessen Hand, ehe dieser reagieren konnte. Hendrik brach der Schweiß aus, derartig intensiv starrte ihn Leandro an.
„Bitte, darf ich dich wiedersehen?“, bat er flehentlich. „Bitte lass mich dich noch einmal treffen.“
Ich versinke in diesen Augen, seufzte Hendrik innerlich. Schau mich nicht so an, das ist mehr als unfair.
„Okay“, formten seine Lippen ohne sein Zutun.
War er denn irre? Dieses Mal war es vielleicht gutgegangen, aber ein weiteres Mal? Nie im Leben. Aber er konnte nicht anders, er wollte Leandro gerne nahe sein, ihn besser kennenlernen.
Leandro strahlte augenblicklich und abermals wurden Hendriks Knie gefährlich weich. Zu gerne hätte er Leandro jetzt einfach geküsst, aber natürlich war das definitiv keine gute Idee. Dergleichen würde wohl ein Mädchen nicht einfach so machen, oder?
„Nächsten Donnerstag, wenn du wieder hier bist, nach dem Kurs?“, schlug Leandro hoffnungsvoll vor. „Wollen wir dann vielleicht Eisessen gehen? Ich kenne einen Italiener, der tolles Eis macht.“
„Ja, gut!“, bekam Hendrik heraus, kämpfte mit seinem wild schlagenden Herz.
Wie der mich anschaut. Der hat sich wirklich in mich verknallt.
Nur nicht in mich. In Henny. In ein Mädchen, das es gar nicht gibt, korrigierte er sich augenblicklich.
„Wunderbar“, seufzte Leandro. „Ich hoffe, die Woche geht ganz schnell herum. Ich zähle jeden Tag. Du kannst mir ja deine Handynummer geben.“
Hendrik war sich durchaus bewusst, dass er ihn anstarrte, senkte hastig den Blick, bis Leandro seine Hand zögernd losließ.
Oh Shit. Das kann ich nicht machen. Am Ende findet er noch raus, wer ich wirklich bin.
„Ich … habe gerade kein Handy“, log er. Leandros enttäuschter Blick tat regelrecht weh.
„Ich muss dann los“, würgte Hendrik hervor, drehte sich hastig um, wandte jedoch noch einmal den Kopf, als Leandro ihm seine Tasche reichte.
Mist, die hätte ich glatt vergessen. Er benahm sich gerade echt wie ein verliebter Idiot.
„Also bis dann, Henny. Ich freue mich schon drauf“, verabschiedete sich Leandro .
„Bis dann … Leandro“, gab Hendrik zurück.
Dessen wehmütiges Lächeln begleitete ihn den ganzen Weg nachhause und verfolgte ihn in seine unruhigen Träume.


Geschenke



Mit Herzklopfen stand Leandro am Donnerstag vor dem Kunstraum und wartete auf Henny. Die anderen Jugendlichen gingen an ihm vorbei, warfen ihm kaum einen zweiten Blick zu. Ein paar mochten ihn vielleicht schon einmal gesehen haben, kannten ihn eventuell von den Auftritten seiner Band. Meistens hatte er hier jedoch seine Ruhe.
Henny kam als letzte heraus, warf sich ihre Tasche schwungvoll über die Schulter und bemerkte ihn sofort. Ein flüchtiges Lächeln erhellte ihr Gesicht.
„Hallo“, begrüßte sie ihn. Ihre Stimme klang tiefer, als er sie in Erinnerung hatte, doch ihre wunderschönen Augen und die langen, lockigen Haare zogen ohnehin seine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Wie es sein würde, durch diese Locken zu fahren, sie auf ihre nackten Schultern fallen zu sehen? Leandro seufzte innerlich beglückt auf.
Henny trug auch heute eine einfache Jeans und ein locker fallendes Hemd. Offenbar legte sie keinen besonderen Wert auf Kleidung, die ihre Weiblichkeit betonte. Das fand Leandro gar nicht schlecht, denn die aufreizend gekleideten Mädchen in ihren viel zu kurzen Miniröcken und tief geschnittenen Oberteilen gingen ihm bei ihren Auftritten schon gehörig auf die Nerven.
„Schön dich zu sehen“, gab er zurück und überlegte für einen Moment ernsthaft, sie auf die Wange zu küssen.
Ob sie ihn wohl gewähren lassen würde? Er wollte andererseits auch nicht zu forsch wirken. Es war offensichtlich, dass Henny nicht oft mit einem Jungen loszog und er wollte ihr gerne Zeit lassen. Verlegen nahm er seine linke Hand hinter seinem Rücken hervor und reichte ihr die Rose, die er mitgebracht hatte und vor den anderen Bandmitgliedern sorgfältig in seinem Rucksack versteckt hatte.
„Für dich“, murmelte er ein wenig verschämt. Henny starrte auf die rote Rose, als ob sie noch nie zuvor eine Blume gesehen hätte. Ihre Wangen färbten sich zusehends rosa und Leandro seufzte unhörbar entzückt auf.
Es war bestimmt eine altmodische und vielleicht auch kitschig romantische Geste, allerdings hatten ihn seine Eltern in der Hinsicht gut erzogen und Hennys ungläubig staunender, gerührter Ausdruck war Belohnung genug.
„Gefällt sie dir?“, fragte Leandro vorsichtig nach, musterte ihr Gesicht genau. Noch immer hatte sie den Blick nicht von der Blume abgewandt und nur zögernd streckte sie ihre schlanken Finger danach aus.
„Das ist … okay“, murmelte sie überwältigt, drehte die Rose verlegen in den Fingern. Ihr Mund zuckte.
„Aber das musst du nicht tun“, ergänzte sie und hob endlich den Blick zu ihm und fuhr unsicher lächelnd fort: „Ich weiß auch gerade gar nicht … wo ich damit … hin soll.“ Unschlüssig betrachtete sie ihre Umhängetasche und entschloss sich, die Rose vorsichtig hineinzulegen.
Leandro grinste zufrieden und lauschte seinem schnellen Herzschlag. Henny wirkte perplex und ihre Überraschung fand er zu köstlich.
Sein Vater hatte ihm immer dazu angehalten, sich Frauen gegenüber wie ein echter Kavalier zu verhalten und er gedachte, dem gerecht zu werden. Als er jünger gewesen war, hatte er besonders gerne Alexandré Dumas gelesen und sah sich selbst durchaus gerne in der Rolle eines echten Gentlemans.
„Der Italiener ist nur ein paar Straßen von hier entfernt“, erklärte er, während sie den Gang entlang zur Tür gingen. „Der macht echt leckeres Eis. Ich mag besonders Pistazie und Kirsche. Was sind denn deine Lieblingssorten?“
„Nuss und Pfefferminz“, gab Henny zurück und lächelte ihn an. Draußen ergriff er ihre Hand, spürte ein winziges Zögern, dann schlossen sich ihre Finger fest um seine. Innerlich jubilierte er. Es lief doch hervorragend.
Hand in Hand schlenderten sie durch die Straßen. Ihre Blicke trafen sich immer wieder und Leandro bemerkte sehr wohl, dass Henny ihn heute offener ansah, wenngleich der leicht staunende Ausdruck nie ganz aus ihrem Gesicht weichen wollte.
Sie setzten sich an einen der Tische und bestellten Eisbecher. Ein Gespräch kam nur zögernd in Gang, doch Leandro erzählte einfach drauflos und fragte Henny nebenher ein wenig über ihre Malerei aus. Langsam taute sie auf.
Über sich selbst erzählte sie nicht viel und er traute sich nicht, zu sehr nachzufragen. Sie würde ihm schon mehr erzählen, wenn sie sich besser kannten.
Die Zeit verging und irgendwann sah Henny flüchtig auf ihre Uhr.
„Ich muss leider bald los“, meinte sie zerknirscht. „Mein Vater holt mich nämlich vom Bahnhof ab. Sonst muss ich verdammt weit laufen.“
„Oh wie schade“, bedauerte Leandro, griff rasch in seinen Rucksack und beförderte ein kleines Kästchen hervor.
„Ich habe da noch etwas … für dich“, erklärte er und reichte ihr sein Geschenk. Atemlos beobachtete er, wie ihr Mund sich öffnete und sie sichtlich schluckte.
„Was … warum?“, stotterte sie verblüfft.
„Ist nur ein kleines Geschenk“, meinte er lächelnd. Die Idee war ihm gestern gekommen, als er an dem Schmuckladen im Einkaufszentrum vorbeigekommen war.
Henny starrte ihn verwundert an und nahm das Kästchen an sich.
„Danke“, murmelte sie, drehte es unschlüssig in den Fingern.
„Los, mach mal auf“, forderte Leandro aufgeregt. Hoffentlich gefiel es ihr. Mädchen waren da nicht immer leicht einzuschätzen.
Henny öffnete den Deckel und starrte sekundenlang auf den Inhalt.
„Gefällt es dir?“, erkundigte sich Leandro atemlos, beobachtete genau ihr Gesicht. Die vollen Lippen bebten ganz leicht und sie hob den Blick über das Kästchen zu ihm.
„Ich dachte, die passt prima zu deinen Augen …“, erklärte Leandro zunehmend unsicherer werdend. Die Kette hatte einen kleinen Anhänger, einen Edelstein, dessen Namen er nicht kannte, der jedoch seiner Meinung nach haargenau der Farbe ihrer Augen entsprach.
„Wenn es dir nicht gefällt, kann ich es auch tauschen“, begann er, doch sie unterbrach ihn sofort.
„Doch. Es gefällt mir sehr gut. Danke.“ Lächelnd nestelte sie die silberne Kette aus dem Kästchen.
„Gefällt mir sehr“, bestätigte sie abermals und besah sich den kleinen Anhänger.
Verzückt beobachtete Leandro, wie sie ihre Haare zur Seite strich, um sich die Kette anzulegen.
„Warte, ich helfe dir“, bot er sofort an, sprang auf und hatte den Tisch mit wenigen Schritten umrundet. Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, dann legten sich seine Hände auf ihre Schultern. Er griff er nach der Kette und legte sie um ihren schlanken Hals. Sein Atem beschleunigte sich augenblicklich, als seine Finger ihre Haut streiften und er beugte sich vor, sog tief ihren Geruch ein.
Sie trug keines dieser auffälligen Parfüms, es roch ein wenig herb, nach einem Duft, der ihm bekannt vorkam. Seine Hände bebten ganz leicht, als er den winzigen Verschluss einrasten ließ.
„Fertig“, kommentierte er und wagte es, ihre Haare über den Nacken zu breiten. Sie fühlten sich wunderbar weich an.
„Danke“, kam es ein wenig rau von Henny, die nun eilig aufsprang und ihre Tasche ergriff. „Danke … für alles.“
„Warte, ich bringe dich natürlich noch zum Bahnhof“, erklärte er hastig und schnappte sich seinen Rucksack. Henny wartete auf ihn und er warf einen flüchtigen Blick auf den kleinen Anhänger, der im Ausschnitt ihres Hemdes hingegen kaum zu sehen war.
Wenn die Kette länger gewesen wäre, würde er jetzt zwischen ihren kleinen Brüsten liegen, dachte Leandro verträumt. Dieses Bild würde ihn heute Nacht gewiss nicht mehr loslassen.
„Hast du vielleicht Lust aufs Kino am Samstagabend? In Harburg laufen ein paar neue Filme“, fragte er und ergriff wie zuvor ihre Hand. Ihre Finger schlossen sich wie selbstverständlich darum und gemeinsam schlenderten sie zum Bahnhof.
Henny nickte begeistert. „Klar, klasse Sache.“
„Ich könnte dich auch bei dir zu Hause abholen, wenn du willst?“, bot Leandro an, froh über ihre Begeisterung. Sie schüttelte jedoch augenblicklich den Kopf.
„Nein schon okay, ich bin dann rechtzeitig da“, erklärte sie und lächelte ihn entschuldigend an. „Das wäre für dich ganz schön aufwändig. Ich komme schon alleine nach Harburg. Ich bin ja schon groß.“ Sie grinste ihn breit an und er lachte, drückte ihre Hand fest.
Vielleicht wollte sie auch noch nicht, dass er wusste, wo sie wohnte. Sie war Fragen danach und nach ihrer Familie ausgewichen. Es war ihm egal, solange sie mit ihm zusammen sein, sich mit ihm treffen wollte.
„Super, ich freue mich drauf“, erklärte er.
Henny lächelte und ihre wunderschönen Augen blickten ihn offen verzückt an.
„Ich ...“, sie zögerte, gab sich offensichtlich einen Ruck und fügte zerknirscht hinzu: „Ich kann dir jetzt ja auch mal meine Handynummer geben.“
Leandros Lächeln wurde schlagartig noch breiter und er zückte hastig sein Handy.
Prima, bislang lief wirklich alles perfekt. Nicht wahr?


Das Buch ist als ebook und bald auch als Printausgabe beim deadsoft-Verlag erschienen

Impressum

Texte: Chris P. Rolls/ deadsoft
Bildmaterialien: (c) deadsoft
Lektorat: deadsoft
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine liebe Mel

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