Auf dem Hof des Gasthauses blieb Feyk keuchend stehen. Betont langsam atmete er ein und aus, bemüht, sein hart schlagendes Herz zu beruhigen. Jeder Atemzug tat weh, branntein seiner Lunge, während er gierig die Luft einsog. Sein Rücken schmerzte von der Anstrengung, den störrischen Holzkarren über den unebenen Waldboden zu zerren.
Obwohl er schützende Stoffbahnen um die Hände gebunden hatte und somit die Haut wenigstens nicht aufgeschürft worden war, glühten die Innenflächen wie Feuer. Schweiß bedeckte seinen hageren Leib, tropfte ihm von der Stirn, verklebte seine Haare und ließ den groben Stoff seines Hemdes unangenehm am Rücken scheuern. Selbst die Muskeln seiner Beine zitterten. Nur allmählich wollte die Anspannung aus seinem Körper weichen.
Regen hatte den Boden seit Tagen aufgeweicht und ihm seine ohnehin harte Arbeit zusätzlich erschwert. Nasses Holz wog mehr, ließ sich schwer sägen und noch viel beschwerlicher war es, den Karren durch den feuchten, rutschigen Untergrund zu zerren.
Den ganzen Nachmittag hatte er gebraucht, um genügend Holz zu finden, es in handliche Stücke zu hacken, den Karren damit zu füllen und ihn über den aufgeweichten Weg heim zum Gasthof zu ziehen. Es dämmerte bereits, das Sonnenlicht schwand rotgolden hinter den Bäumen, doch sein Tag war damit noch längst nicht zu Ende. Wenn er das Holz abgeladen hatte, gab es in der Gaststube noch genügend zu tun.
Feyk seufzte unzufrieden. Jaskor, sein Herr und der Besitzer des Gasthofes, würde gewiss nicht zulassen, dass er sich ausruhte.
Schneller als befürchtet wurde daraus Gewissheit, denn die Tür der Küche, die auf den kleinen Hof hinaus führte, wurde im selben Moment aufgestoßen. Die Küchenmagd Mirke hatte wahrscheinlich das Poltern des Holzkarrens vernommen. Feyk fluchte verhalten. Vermutlich wusste damit auch Jaskor, dass er wieder da war.
Mirke sah zu ihm herüber und lächelte mitleidig.
„Lass den Holzkarren einfach stehen“, meinte sie müde und wischte sich mit der rechten Hand Schweiß- und Rußspuren aus dem herben Gesicht. Ihr eigenes Los war Feyks ähnlich und sie zeigte als Einzige Verständnis und gelegentlich auch Mitleid. Für alle anderen im Gasthof war er lediglich eine billige Arbeitskraft.
Mirke war deutlich älter als Feyk. Ein Mädchen des südlichen Buzhavolkes, deren senffarbene Haut, im Gegensatz zu der dunkleren Farbe der Menschen hier im Nordwesten, ein wenig ungesund wirkte. Hellbraune, gelbliche Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ihr Kinn war schmal und knochig, wie der Rest ihrer Figur. Schön war sie in Feyks Augen nicht und sie wirkte nicht besonders weiblich auf ihn. Der kurz geschorene Kopf, auf dem die nur fingerbreiten, hellbraunen Stoppeln standen, verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Nicht zum ersten Mal fragte sich Feyk, ob die junge Frau mit langen Haaren attraktiver aussehen würde. Gedankenversunken strich er sich durch seine eigenen kurz geschorenen, braunen Haare. Nicht, dass Mirke ihn wirklich interessiert hätte oder er sie je anders zu Gesicht bekommen würde.
„Da ist soeben ein neuer Gast angekommen“, fuhr Mirke unterdessen fort und musterte Feyk nachdenklich. Bereits vor einiger Zeit hatte er gelernt, seinen Unmut und andere Gefühlsregungen zu verbergen. Zu oft schon hatte er die Bekanntschaft mit den harten Händen eines Knechtes gemacht, wenn sein Gesicht Widerwillen preisgegeben hatte.
„Kümmere dich besser sofort um sein Pferd“, ergänzte Mirke ernst und fügte verschwörerischer hinzu: „Dieser neue Gast sieht ziemlich reich aus. Jaskor wird ihm natürlich besonders gute Dienste bieten wollen.“ Ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Sie versteckte ihre Gefühle ebenso routiniert wie Feyk. Sie beide wussten genau, was der andere fühlte, denn diese Dienste konnten jeden von ihnen betreffen.
Feyk seufzte noch einmal, versuchte die Erschöpfung zu ignorieren und streifte sich die dreckigen Stoffstreifen von den Händen. Er trat auf Mirke zu, die ihm sofort Platz machte und zurück in den Gasthof folgte.
„Wenn du das Pferd versorgt hast, erwartet Jaskor dich in der Gaststube, also wasch dich besser vorher“, gab sie Feyk noch mit auf den Weg. Er blickte sich nicht um und schluckte seinen Unmut einfach hinunter. Resignation ergriff ihn, wie so oft. Gerne würde er sich einfach setzen oder noch besser: In sein Strohlager im Stall schleichen und erschöpft einschlafen. Allerdings würde Jaskor das natürlich nicht zulassen. Wenn dieser Gast einen vermögenden Eindruck machte, würde sein Herr alles daransetzen, ihn zufriedenzustellen und ihm so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, wie irgend möglich. Darauf verstand sich Jaskor gut.
Die große Gaststube war so früh am Abend nur mäßig besetzt. Der Rauch des Küchenfeuers sammelte sich unter der dunklen Holzdecke, an der aus Zweigen und Gräsern geflochtene Abwehrzauber gegen Dämonen baumelten und deren Balken mit Symbolen für die Gunst der Götter geschmückt war. Die schweren Gerüche von Essen und zu vielen Menschen hingen in der stickigen Luft. Durch die Sprossenfenster fiel das letzte Tageslicht spärlich in den Gastraum und Mirke, oder eine der anderen zwei Mägde, hatte bereits die dicken Talgkerzen in ihren rußgeschwärzten Halterungen angezündet. An einem Tisch nahe dem Fenster zur Straße saßen die drei bärtigen Fallensteller, die am Morgen angekommen waren, und sprachen fröhlich lachend dem selbstgebrauten Bier zu. Neben der Treppe zu den oberen Räumen saß eine Familie mit drei Kindern, die eingetroffen sein musste, während Feyk im Wald gearbeitet hatte.
Für einen Moment blieb sein Blick an der Familie hängen. Die Frau sah verhärmt und müde aus, den Kopf tief über ihre Suppe gebeugt. Ihr Mann war groß und kräftig, mit einem bärtigen, wettergegerbten Gesicht und abgetragener, überwiegend brauner Kleidung. Zwei dunkelhaarige Töchter und ein kleinerer, blonder Junge saßen dabei. Auch sie waren einfach gekleidet. Landarbeiter aus den Ebenen. Vermutlich war diese Familie wie viele andere auch auf dem Weg zur nächsten Ernte.
Feyk beobachtete den kleinen Jungen einen Moment mit gemischten Gefühlen. Vermutlich besaß er in etwa das Alter, in dem er selbst gewesen war, als er Jaskors Chiad wurde. Wie seine eigenen Eltern damals waren diese Landarbeiter unterwegs auf der Suche nach Arbeit, einer Unterkunft, einer Mahlzeit. Einem bisschen Sicherheit in ihrem Leben.
Ein Anflug von Neid überfiel Feyk, als der Vater seinem Sohn lächelnd über den Kopf strich und mit ihm scherzte. Zärtlichkeit und Liebe lagen in dieser Geste. Schmerzhaft zog sich Feyks Herz zusammen.
Ob sein Vater ihn irgendwann einmal so geliebt hatte? An Zärtlichkeiten, die von seinem Vater gekommen waren, konnte er sich nicht erinnern. Seine Mutter hingegen hatte ihn oft in den Arm genommen. Besonders in den kalten Nächten, wenn er gefroren hatte, weil der Regen durch die viel zu dünne Kleidung hindurchgedrungen war, oder seine Füße und Hände von der Arbeit auf den Feldern geschmerzt hatten.
Ohne Land und ohne jeden Besitz gab es bloß dieses harte Leben für Familien wie seine und diese hier. Sie zogen ohne ein eigenes Zuhause von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, stetig auf der Suche nach Arbeit und Nahrung. Manchmal fanden sie Unterkunft bei einem Bauern, der die Landarbeiter auch den Winter über beschäftigen konnte. Oft genug war allerdings der Himmel Feyks Dach und der moosreiche Waldboden sein Bett gewesen.
Obschon er selten satt wurde, musste er sich zumindest nicht mehr sorgen, seinen Magen zu füllen. Seit er im Gasthof lebte, hatte er immer ein Lager im Stroh des Stalls gehabt. Im Winter teilte er sich die kleine Kammer hinter der Küche mit den zwei Knechten, deren Körperwärme auch ihn warmhielt.
Die Arbeit hingegen war nicht weniger anstrengend als vorher. Nur sein Leben gehörte nicht mehr ihm selbst. Bitternis überfiel ihn, wenn er daran dachte. Er gehörte Jaskor. Alles. Sein Körper, sein Wille, seine Arbeitskraft.
Ein Chiad. Das Wort klang wie ein Schimpfwort und das war es auch. Ein Leibeigener, unfrei in jeder Entscheidung, bestimmt, seinem Herrn zu dienen, die Schuld abzutragen, für die er eingetauscht worden war. Das war aus Feyk geworden. Kein ungewöhnliches Schicksal.
Wochen, bevor seine Familie in die Grenzgebiete des Nordwestreiches gekommen war, hatte seine Mutter bereits Probleme mit den Lungen gehabt. Ihr trockener Husten hatte Feyk oft nachts durchgeschüttelt, wenn er, eng an sie gekuschelt, versucht hatte zu schlafen. Nie wäre sein Vater in einem teuren Gasthof wie diesem eingekehrt, wenn sich ihr Zustand nicht schlagartig verschlechtert hätte. Sein verzweifelter Vater hatte keinen anderen Ausweg gewusst, als sich ein Zimmer zu nehmen und nach einem Heiler zu schicken.
Ob er damals schon gewusst hatte, dass er die Schulden nicht würde zahlen können? Feyk erinnerte sich sehr gut daran, dass sein Vater vor Sorge um seine Frau fast wahnsinnig geworden war und vermutlich alles getan hätte, um ihr Leben zu retten.
Leider waren die Götter ihnen nicht gnädig gewesen, hatten das Leiden seiner Mutter viele Tage hingezogen, bis sie endlich hatte sterben dürfen. Lange genug, dass sein Vater Jaskor und dem Heiler viel Geld geschuldet hatte. Geld, das er, der mittellose Landarbeiter, natürlich nicht hatte aufbringen können.
Zur Bezahlung seiner Schulden hatte er Jaskor seinen einzigen Sohn als Chiad überlassen. Am folgenden Tag war Feyks Vater abgereist, ohne sich von ihm zu verabschieden, ohne eine Erklärung und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Feyk war jung gewesen, hatte kaum begriffen, was mit ihm geschah. An einem Tag hatte er seine Mutter verloren und am nächsten zusätzlich seinen Vater. Und seine Freiheit. Nichts war ihm geblieben, selbst das traditionelle Schutzamulett seiner Mutter hatte Jaskor ihm abgenommen.
Mühsam riss sich Feyk von dem Anblick der Familie los und ließ seinen Blick suchend durch den dunkel getäfelten Gastraum schweifen. Er konnte weder Jaskor noch den neuen Gast ausmachen. Wahrscheinlich waren sie noch draußen vor dem Gasthof. Rasch durchquerte er den Raum und öffnete die Tür zur Straße. Stimmen schlugen ihm entgegen, unter denen er sofort die harte, leicht krächzende Stimme Jaskors erkannte. Dessen Tonfall war unterwürfig und gab Feyk bereits einen Hinweis darauf, wie wichtig dieser Gast seinem Herrn war.
Ein großer, gut gekleideter Mann stand neben dem Gastwirt. Feyks Blick blieb jedoch nicht an dem neuen Gast hängen, sondern zunächst an dessen Pferd. Unwillkürlich stockte sein Schritt. Dieses Pferd war … speziell.
Er konnte nicht genau benennen, was es war, das ihn das schöne Tier mit einem eigenartigen Gefühl von Respektmustern ließ. Sein Herz schlug plötzlich so schnell wie nach der Anstrengung, den Holzkarren zu ziehen.
Dies war kein gewöhnliches Pferd. Er spürte es tief in seinem Herzen. Ehrfurcht erfüllte ihn, das Gefühl auf ein Wesen blicken zu dürfen, dessen er nicht würdig war.
Es war ein großer, kräftiger Schimmel mit guter Bemuskelung. An den Flanken und auf der Kruppe war er noch grau geäpfelt. Sein feiner Kopf wirkte edel, die breite Stirn ging in einem eleganten Bogen in die Nüsternpartie über. Große, sehr ausdrucksstarke und dennoch sanfte dunkelbraune Augen blickten Feyk merkwürdig taxierend an. Rings um das Pferd schien die Luft im weichen Abendlicht seltsam zu flimmern, als ob Feyk eine Art Luftspiegelung an einem heißen Tag beobachten würde.
Verunsichert starrte er das schöne Pferd an. Ein solches Tier hatte er noch nie zuvor gesehen. Die Pferde der Bauern waren meist schwere Kaltblüter. Vor den Kutschen, die gelegentlich hier hielten, waren ebenfalls stets gröbere Tiere angespannt und selbst den Reitpferden der Gäste fehlte diese Art Eleganz, die dieses Pferd umgab. Es wirkte edel und erhaben.
Das Tier schnaubte leise. Der Laut hallte seltsam in Feyks Ohren nach, einem Wort einer fremden Sprache ähnlich, dessen Sinn er nur annähernd fassen konnte. Der Gedanke entglitt ihm sofort und Feyk schüttelte irritiert den Kopf. Gewiss spielten ihm seine Sinne einen Streich. Das rotgoldene Abendlicht verwirrte ihn.
Entschlossen trat Feyk näher, den Kopf gehorsam geneigt, wie es einem Chiad zustand. Erneut schnaubte das Pferd. Sofort wandte sich der Gast ihm zu und ignorierte das muntere Geplapper Jaskors, der sich weitläufig über die Vorzüge seines Gasthofes ausließ. Dunkelgrüne Augen fixierten Feyk, zwangen ihn wortlos dazu, näherzutreten und dem intensiven, forschenden Blick standzuhalten.
Ganz eindeutig: Dieser Mann war kein Westländer. Er war viel größer als Feyk es je zuvor gesehen hatte. Fast schwarze Haare umrahmten sein braungebranntes, wettergegerbtes Gesicht, bildeten in ihrer lockigen Leichtigkeit einen Kontrast zu seinem kantigen Antlitz. Raue Bartstoppeln verdunkelten sein Kinn. Der Fremde wirkte muskulös, ohne allerdings bullig zu erscheinen, strahlte eher jene Art von sehniger Kraft aus, die Feyk von den Fallenstellern kannte. Unverwandt sah er Feyk an, der sich unter seinem Blick äußerst unwohl fühlte und unwillkürlich kleiner machte.
Solche Blicke kannte er zu Genüge und wusste, was sie für ihn bedeuten konnten. Ohne sein Zutun krampften sich seine Hände in die abgewetzte Hose. Manchmal täuschte er sich. Vielleicht hatte dieser intensive Blick, der den Stoff durchdrang und auf seinem Körper zu ruhen kam, nichts zu bedeuten. Doch Feyk lebte lange genug in Jaskors Gasthof, um diesbezüglich keinen Illusionen mehr zu erliegen.
„Ah, da bist du“, begrüßte ihn sein Herr ungeduldig und winkte ihn hastig heran. „Hier ist ein neuer Gast und ich möchte, dass du dich besonders sorgfältig um sein Pferd kümmerst.“ Jaskor zog Feyk am Arm heran und schob ihn vor sich, direkt vor den großen Fremden.
„Mein Bursche kennt sich sehr gut mit Pferden aus“, gab Jaskor vor dem Gast an. „Viele Bauern der Umgebung bringen ihre Tiere extra her, weil er ein spezielles Gespür für ihre Krankheiten hat.“ Tatsächlich schwang etwas wie Stolz in Jaskors Stimme mit. Feyk hatte in der Gegend einen gewissen Ruf als Pferdekenner, was seinem Herrn viele zusätzliche Gäste sicherte. Natürlich ließ sich dieser jede Hilfe, die sein Chiad einem Bauern zuteilwerden ließ, teuer bezahlen.
„Ist das so?“, erkundigte sich der neue Gast scheinbar mäßig interessiert und betrachtete Feyk dennoch eindringlicher. Seine Stimme war voll und klang befehlsgewohnt.
Vielleicht ist er ein reisender Händler, vermutete Feyk und musterte verstohlen die Kleidung des Mannes. Über den schwarzen, eng anliegenden Hosen aus einem festen, teuer wirkenden Stoff, trug er lange Stiefel mit einer aufwändigen Schnürung. Ein grünes Hemd mit gebauschten Ärmeln wurde teilweise von einer schwarzen Weste verdeckt. Über dem Arm lag ein dunkelgrüner Umhang aus einem schweren, dicht gewebten Wollmaterial.
„Gerade letzte Woche hat der Bauer unten aus dem Dorf sein Pferd hergebracht“, erzählte Jaskor beflissen. „Seit drei Wochen lahmte der Gaul und mein Chiad hat die Schulter des Tieres angehoben und schon lief das Pferd wieder wie ein junges Fohlen.“
Jaskor nickte bekräftigend. Feyks Gesicht hingegen blieb ausdruckslos. Es stimmte, was sein Herr dem Gast erzählte. Das Pferd hatte sich wahrscheinlich die Schulter gezerrt. Feyk hatte es am Bewegungsablauf gesehen, als der Bauer es auf den Hof geführt hatte. Dergleichen geschah öfters, wenn ein Pferd seitlich ausrutschte. Feyk hatte lediglich die Schulter gelockert und den vermutlich eingeklemmten Nerv befreit. Für den Bauern, der nur dieses eine Pferd hatte, war es einem Wunder gleichgekommen. Er hatte Jaskor reichlich mit Naturalien entlohnt und ein Lichtritual für die namenlosen Götter vollzogen.
Der Fremde nickte wohlwollend.
„Dann wird er sich wohl wirklich um meine Stute kümmern können. Bitte tränke sie ordentlich und gib ihr reichlich gutes Heu, Junge.“ Er drückte Feyk die Zügel in die Hand.
Wortlos führte dieser das Pferd davon, spürte den Blick des Mannes weiterhin prüfend in seinem Rücken. Jaskor redete weiterhinauf den fremden Gast ein und geleitete ihn schließlich zum Gasthaus.
„Komm, meine Schöne“, forderte Feyk das Pferd leise auf und betrat mit ihm den Stall. Hier fühlte er sich wirklich zuhause, dies war sein Reich. Staub flirrte in der Luft, leuchtete blitzend auf. Der Duft von Heu, Pferd und Leder erfüllte die Luft und durch die Ritzen der hölzernen Wände fanden Sonnenstrahlen ihren Weg in den Raum.
Routiniert sattelte und trenste Feyk die Stute ab und rieb ihr verschwitztes Fell anschließend mit einem Strohwisch trocken, während sie bereits genüsslich an ihrem Heu kaute. Rotbrauner Staub war überall in ihrem Fell, sandig, wie es ihn nicht in dieser Gegend gab. Verblüfft besah sich Feyk den feinen, rötlichen Sand auf seiner Hand.
Er kannte diese Art von Staub: Dieser Sand war typisch für die Ebenen von Lacar, seiner Heimat, sehr viele Tagesreisen entfernt. Wenn es nicht völlig unmöglich wäre, dass dieser Sand sich länger als ein oder zwei Tage im Fell eines schwitzenden Pferdes halten würde, hätte er darauf geschworen.
Unmöglich. Kein Pferd konnte eine solche Distanz in derartig kurzer Zeit absolvieren.
Kopfschüttelnd säuberte Feyk seine Hände und warf den Strohwisch in die Box. Lacar und seine ersten Lebensjahre dort lagen lange Zeit zurück. An viel mehr als die endlosen, rötlichen Sandsteppen, den warmen Wind und den staubigen Geruch konnte er sich auch nicht wirklich erinnern.
Leise unterhielt er sich mit dem Pferd, wohl wissend, dass er insgeheim versuchte, Zeit zu schinden, bis er in der Gaststube seinen Pflichten nachkommen musste. Der intensive Blick des neuen Gastes ging ihm nicht aus dem Kopf. Der fremde Mann faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen.
Woher er wohl kam und was er war? Für einen Händler erschien er Feyk zu schlank. Die meisten waren feister. Dieser Fremde wirkte vielmehr so, als ob er sich seiner Haut gut erwehren könnte. Sein Körper war trainiert, die Arme kräftig. Ein Kämpfer vielleicht? Ein Mann, der mit dem Schwert umgehen konnte? Aber was würde ihn hierher führen und warum trug er derart kostbare Kleidung? Sein Gesicht entbehrte nicht einer gewissen Attraktivität, dachte Feyk beschämt, denn dies waren Gedanken, die ihm, einem Mann, nicht zustanden. Die namenlosen Götter übersahen meist gnädig die Lusterfüllung unter Männern, doch die Dämonen lauerten in den Schatten, bereit sich desjenigen zu bemächtigen, der Anspruch auf Gefühle oder mehr erhob. Es wurde gemunkelt, dass in einigen Gebieten im Südostreich Männer mit anderen Männern den Lichtbund eingingen. Undenkbar.
Die Stute neben ihm schnaubte und stieß auffordernd gegen den bereits geleerten Wassereimer.
„Hast du noch Durst?“ Feyk machte sich gleich daran, weiteres Wasser aus dem Brunnen hinter dem Stall zu holen. Auf dem Innenhof stockte er, als er auf Jaskor und den Knecht Gutram traf, die vor dem vollen Holzkarren standen. Feyks Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, schwand in dem Moment, als Jaskor sich umdrehte und ihn natürlich sofort entdeckte.
„Beeile dich, Chiad! Wenn das Viech versorgt ist, erwarte ich dich in der Gaststube. Gutram wird deinen Karren abladen. Dieser Gast sah dich so an, als ob er dich womöglich heute Nacht noch gebrauchen kann, also streng dich an, ihm zu gefallen.“ Feyk senkte hastig den Kopf, damit sein Herr das zornige Aufblitzen seiner Augen nicht sehen konnte.
Täglich musste er körperlich viel und hart arbeiten. Das machte ihm weitaus weniger aus, als wenn er am Abend auf ein Zimmer gerufen wurde und einem der Reisenden zu Diensten sein musste. Zu seinem Glück bevorzugten die meisten Gäste Mirke oder eine der Mägde. Oft genug musste er sich jedochdazu hergeben. Meistens war nur das Geschick seiner Hände und Lippen gefragt, gelegentlich auch mehr. Dann lag er still, schloss die Augen, verschloss die Ohren vor ihren Lauten und hoffte lediglich, dass es schnell vorübergehen und die Schmerzen enden würden. Selten war einer der Gäste vorsichtig mit ihm. Als er jünger gewesen war, hatte er sich noch dagegen gewehrt. Jaskors Schläge mit dem Stock, wenn er nicht tat, was man von ihm verlangte, hatten allerdings bald schon jeden Widerstand gebrochen.
Noch war Feyk jung und sein schlanker Körper, das schmale Gesicht mit den großen Augen attraktiv genug, um die Männer zu interessieren. Irgendwann würde es damit vorbei sein und man würde ihn endlich in Ruhe lassen. Die Götter wussten wann. Dieses Leben gehörte nicht länger Feyk. Jaskor konnte nach Belieben mit ihm verfahren, jedes Aufbegehren dagegen war sinnlos.
Rasch eilte Feyk zurück in den Stall und hielt dem Pferd das Wasser vor. Gierig trank es auch den zweiten Eimer zu Hälfte leer.
„Du hast aber gewaltig Durst“, murmelte Feyk und strich dem Pferd mit einer Hand über die Stirn, zauste sanft die weißen Haare.
„War es ein harter Ritt? Hat dein Herr dich so gehetzt?“, erkundigte er sich mitfühlend. „Warte, ich hole dir gleich noch mehr Wasser.“ Zärtlich murmelnd kraulte er durch das weiche Fell und blinzelte verblüfft. Die Luft über dem Widerrist des Tieres schien erneut merkwürdig zu flirren. Unter seiner Hand vibrierte das Pferd und Feyks Rücken überzog ein leichter Schauer. Überrascht stolperte er einen Schritt zurück. Mit einem leisen, sirrenden Ton breiteten sich aus den Schultern des Pferdes nahezu durchsichtige, in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen schimmernde Flügel aus.
„Götter!“, stieß Feyk bestürzt hervor.
Was war das? Noch nie zuvor hatte er ein solches Lebewesen gesehen. Trotzdem wusste er genau, was es sein musste: ein Pegasus!
Viele Legenden berichteten von diesen Geschöpfen, von ihrer Schönheit, der Anmut ihrer Bewegungen, den magischen Flügeln, die sie über jedes Hindernis trugen, der sagenhaften Schnelligkeit dieser pferdeähnlichen Wesen. Sehr wenige Menschen hatten sie je zu Gesicht bekommen. Hinter vorgehaltener Hand redeten die Völker im Nordwestreich darüber, dass Aclodh, der Herrscher des Südostreiches, wahrhaftig einige dieser magischen Wesen in seinen Diensten haben sollte. Seine Pegasusreiter waren angeblich böse Spione, die heimlichdas Nordwestreich durchstreiften, unerkannt Zwietracht säten und Unfrieden stifteten. Saboteure, die die Ernten ungenießbar machten, Heuschober anzündeten und den Untertanen ihres Herrschers Bohrun das Leben erschwerten, wo es nur ging.
Atemlos beobachtete Feyk fasziniert den Pegasus. Die filigranen Schwingen bewegten sich leicht hin und her, waren kaum mehr als ein Schimmern in der Luft, hauchzart wie die Flügel einer Libelle. Die großen, dunklen Augen blickten ihn offen an. In ihnen flackerte eine Intelligenz, wie Feyk sie bei einem normalen Pferd noch nie gesehen hatte. Zögernd trat er vor und berührte das Tier zaghaft an der Nase.
„Du bist wirklich ein Pegasus“, flüsterte er ehrfürchtig, wagte kaum, die silbrigen Haare, oder die weiche Haut der Nüstern zu streifen. Ein leises Schnauben war die Antwort. Wärme durchflutete Feyk, eine merkwürdig neue, geradezu euphorische Empfindung. Der Pegasus schnupperte zart an seinen Fingern. Wie eine Liebkosung strich sein warmer Atem über Feyks nackte Unterarme.
„Du bist wunderschön“, raunte er kaum hörbar, völlig hingerissen von der Anmut des Tieres. Erneut erhielt er ein leises Schnauben zur Antwort. Verwirrt sah er den Pegasus an, der sein Maul sanft und zutraulich in seine Hand schob. Behutsam schmiegte sich die Schnauze des Tieres an seine Finger, als erbettle es Berührungen, weitere Zärtlichkeiten. Ein feines Prickeln ging von dem Maul des Pegasus aus, übertrug sich auf Feyks Arm, zog hinauf und erfasste dessen ganzen Körper. Kribbelnde Wärme rann durch seine Adern, erhitzte die Haut und überzog sie mit feinen Schaudern.
Tief in sich spürte Feyk unendlich wilde Lauffreude aufsteigen, unbändige Freiheit, reine Lebensenergie. Überwältigt schloss er die Augen. Starke Emotionen, fremd und extrem intensiv erfassten ihn. Stärke, Schnelligkeit, Kraft; alles schien ihm zu gehören, ein Teil von ihm zu sein. Viel mehr als sein schwacher Menschenkörper bieten konnte. So viel mehr.
Er stand nicht länger im Stall, befand sich stattdessen auf dem Rücken dieses Tieres. Der schlanke Pferdekörper schnellte mit einem gewaltigen Satz in die Luft, fühlte sich warm und fest unter seinen Schenkeln an, nahm ihn hoch hinauf in die Luft. Wind rauschte in seinen Ohren, riss an seinem Hemd und seinen Haaren. Mit federhafter Leichtigkeit übersprang der Pegasus schemenhafte Bäume und Flüsse. Rasend schnell jagten sie dahin, waren eine Einheit, verschmolzen, völlig vereint. Der Wind pfiff kühl, zerrte an Feyks Körper, war Teil ihrer Symbiose. Nicht länger ein Mensch und ein Pferd, nur noch ein gemeinsames Wesen.
Die filigranen Flügel verschwammen flirrend im Sonnenlicht, wurden zu kaum sichtbaren blitzenden Lichtreflexen, die Mähne flatterte gleißend silbern im Wind.
Frei.
So frei wie nie zuvor, fern dem Erdboden, fern aller Fesseln.
Endlich.
Ein Geräusch hinter ihm riss Feyk brutal in die Wirklichkeit des Stalls zurück. Erschrocken fuhr er herum und löste dabei den Kontakt zu dem Pegasus. Ein dunkler Schatten kam durch die Stalltür herein. Entsetzt erkannte Feyk den Besitzer des Pferdes.
Zu spät, um zu fliehen, zu spät, sich zu verbergen. Feyk trat hastig von dem Pegasus zurück.
„Was treibst du da, Bursche?“, herrschte ihn der Mann auch schon an und kam rasch zur offenen Box, die Augen misstrauisch zusammengekniffen, das Gesicht drohend verzogen. Sofort zog Feyk sich seitwärts zurück und senkte verzagt den Kopf. Sein Atem beschleunigte sich, während seine Gedanken rasten, noch gefangen in dem überwältigenden Erlebnis von Luft und Freiheit.
„Nichts, Herr“, versicherte er hastig und wich zurück, bis er die Wand im Rücken spürte.
Götter, wenn dies ein Pegasus aus dem Südostreich war, war sein Reiter vermutlich ein Spion. Wenn dieser herausfand, dass er sein Geheimnis entdeckt hatte, würde er ihn gewiss töten. Hier und jetzt. Keiner würde ihm helfen.
„Ich ... ich habe … lediglich Euer Pferd … bewundert“, stotterte Feyk ängstlich und warf einen hastigen Blick zu dem Pegasus hinüber. Die Flügel waren allerdings verschwunden und das Tier wirktewie zuvor: nichts als ein einfaches Pferd.
Bestürzt und verwirrt starrte Feyk auf die Schimmelstute, vergaß für einen Moment sogar den bedrohlichen Mann. Hatte er sich womöglich getäuscht? Gerade eben noch waren da diese schimmernden Flügel gewesen. Er hatte sie gesehen, er hatte es doch gespürt.
Der Fremde baute sich direkt vor ihm auf und sah ihn misstrauisch an. Rasch senkte Feyk den Kopf und behielt den Blick auf den halbleeren Eimer gerichtet.
„Bewundert?“, hakte der große Fremde argwöhnisch nach. Sein Blick bohrte sich in Feyk, veranlassten ihn dazu, den Kopf noch weiter zu senken.
Was sollte er tun, wenn der Mann ihn angriff? Er wusste nicht, wie er sich wehren sollte und er hatte keine Waffe. Feyk konnte nur so tun, als ob er nichts gesehen hätte. Nichts durfte er sich anmerken lassen.
„Es ist … sehr schön … und freundlich“, stammelte er, wagte es nicht, den Blick zu heben. Bei seinem Herrn hatte er schnell gelernt, dass es besser war, wenn man ihm nicht in die Augen sehen konnte.
Sein Gegenüber schwieg eine Weile und betrachtete ihn unablässig. Die Zeit zog sich zäh dahin, nur das Pferd machte raschelnde Geräusche, die in Feyks Ohren kaum weniger laut klangen als das Rauschen seines Blutes.
„Du hast sie also bewundert?“, erkundigte der Fremde sich, noch immer abweisend. „Sonst ist dir nichts an ihr aufgefallen?“ Feyk wagte es nicht mehr zu antworten, schüttelte zaghaft den Kopf.
Endlich, nach einer Ewigkeit trat der Fremde zurück und wandte sich seinem Pferd zu.
„So?“, machte er. Feyk war sich nicht sicher, ob er ihm wirklich glaubte. Doch immerhin hatte der Mann ihn nicht angegriffen. Vorsichtig hob Feyk den Kopf. Der Fremde stand neben dem Pferd und klopfte dessen Hals, seine Hände strichen prüfend über das weiche Fell. Er seufzte und lächelte urplötzlich, verlor etwas von seiner Bedrohlichkeit. Noch immer fühlte sich Feyk indes von ihm lauernd beobachtet.
„Das ist wohl wahr. Niftha ist etwas Besonderes“, meinte der Mann zärtlich und kraulte dem Pferd die Mähne.
„Sie … sie war sehr durstig“, erklärte Feyk leise, um erneut die lastende Stille zu unterbrechen. Vielleicht konnte er jetzt einfach gehen?
„Ich habe sie getränkt und ihr reichlich Heu vorgelegt.“ Er hoffte, dass der Mann endlich diesen forschenden Blick von ihm nehmen und ihn entlassen würde. Im Moment wollte er zu gerne zurück in die Gaststube, fort von dem bedrohlichen Mann und seinen bohrenden Augen.
„Du hast sie sogar gestriegelt?“, erkundigte sich der Fremde unvermittelt. Feyk hob das Kinneine winzige Kleinigkeit, um zu beobachten, wie der andere Mann prüfend über das weiße Fell strich. Feyk nickte rasch und strich sich in einer möglichst unauffälligen Geste die feuchten Hände an der Hose ab. Noch immer zitterten sie verräterisch.
„Ja, Herr. Trockengerieben und gestriegelt. Soll ich noch etwas für Euer … Pferd tun?“ Das Wort kam ihm nicht leicht über die Lippen. Es ist ein Pegasus, raunte es in seinem Kopf, und du hast ihn gesehen!
„Nein, ich denke, sie hat alles, was sie braucht.“ Der Fremde fuhr prüfend die Beine des Pferdes ab.
„Dann ... gehe ich jetzt“, brachte Feyk hervor und schob sich Richtung Tür. Wenn er die Box verlassen hatte, war er außerhalb der Reichweite des Mannes. Er musste nur weit genug von ihm wegkommen. Mühsam hielt er sich zurück, nicht zu hastig hinauszustürzen.
Den ganzen Weg bis zur Stalltür spürte er den Blick des Fremden in seinem Rücken, befürchtete, biser die Hand auf den Riegel legte, noch ein Messer im Rücken oder einen Schlag, der ihn zu Boden werfen würde. Nichts dergleichen geschah.
Rasch schob Feyk die Tür auf und war schon beinahe hindurch, als ihn die harsche Stimme des Mannes zurückhielt:
„Wie heißt du, Bursche?“
Langsam wandte er sich um, sein Blick huschte unruhig hin und her und er befürchtete, dass man ihm seine Angst nur zu genau anmerkte.
„Feyk, Herr“, antwortete er leise, die Stimme zitterte, drohte seine Schuld zu verraten. Der Fremde klopfte seine Stute noch einmal und verließ die Box. Sein Blick war unverwandt auf Feyk gerichtet und dieser wagte es nicht, sich zu rühren. Mit angehaltenem Atem sah er den Fremden näherkommen.
„Feyk also.“ Der Mann blieb vor ihm stehen.
„Dein Herr hatte recht, du verstehst dich gut mit Pferden.“ Seine Stimme hatte die vorige Schärfe verloren. „Niftha lässt nicht jeden so nahe an sich heran.“
„Danke, Herr“, antwortete Feyk. Die Nähe des Mannes ängstigte und verwirrte ihn zugleich. Ihn umgab der Geruch von Pferdeschweiß und dem Staub der Straßen. Darunter lag eine Note, die Feyk dennoch anzog: herb und männlich. Bebend sog er den Duft ein. Die Muskeln spielten unter dem Stoff des Hemdes und das kantige Gesicht war undurchdringlich. Diese Augen ... Einen Moment lang starrte Feyk ihn an. Etwas in diesen dunkelgrünen Augen weckte ungebührliche Gefühle in ihm, gemahnte ihn an seltsame Träume in kalten Nächten.
Das ist verrückt. Dieser Mann ist ein Feind des Herrschers Bohrun, ein Eindringling in das Nordwestreich, ermahnte sich Feyk und wandte den Blick ab.
„Ich ... ich muss zurück“, erklärte er, ohne den Mann noch einmal anzusehen. „Jaskor wird ärgerlich werden, wenn ich hier noch länger brauche.“ Damit drehte er sich ein wenig zu hastig um und stürzte eilig davon. Es war ihm egal, ob der Fremde es bemerkte, er wollte nur noch weg von ihm und den widersprüchlichen und verwirrenden Gefühlen, die seine Gegenwart auslöste.
Götter, ein Pegasus! Er hatte einen Pegasus gesehen und ihn berühren dürfen.
Feyks Herz schlug noch immer hart in seiner Brust, selbst als er sich hastig am Brunnen wusch und mit den feuchten Fingern durch die stoppeligen Haare fuhr. Er konnte kaum glauben, dass er unversehrt aus dem Stall entkommen war. Wie ihn dieser Fremde betrachtet hatte, war er sicher gewesen, er würde ihn töten, um sein Geheimnis zu schützen.
Unglaublich: Das Pferd hatte ihm nur aufgrund seiner Berührung sein Geheimnis offenbart. Wie seltsam und wundervoll dieses Erlebnis gewesen war! Diese filigranen Flügel waren unglaublich schön gewesen und dieses Gefühl, durch die Luft getragen zu werden, schwerelos zu sein ...
Mirke rief ungeduldig von der Küche her seinen Namen und Feyk beeilte sich, hineinzukommen. Jaskor erwartete ihn bereits mit missbilligendem Ausdruck.
„Wo treibst du dich so lange herum?“, zischte er wütend und stieß ihn grob an die Wand. „Wenn du glaubst, dass du dich wieder vor der Arbeit drücken kannst, muss ich dich wohl den Stock schmecken lassen, Chiad.“ Feyk erwiderte nichts, senkte gehorsam den Kopf. Widerworte, jede Erklärung, waren gänzlich nutzlos und würden Jaskor noch zorniger machen.
Dieser versetzte Feyk einen Stoß in den Rücken, der ihn Richtung Gastraum trieb. Jaskors Gesicht war grimmig verzogen. „Sieh zu, dass du die Gäste bedienst. Ich will nicht, dass einer unzufrieden ist.“
Feyk gehorchte und eilte bald darauf schon in der stickigen Luft des Gastraums zwischen den Tischen hin und her.
Der Raum war sehr voll, weitere Reisende waren dazugekommen. Kurz vor der Ernte kamen vorwiegend Landarbeiter, die meistens einfache Mahlzeiten und gelegentlich Bier bestellten. Zudem war eine größere Gruppe von wandernden Handwerkern eingetroffen, die johlend einen Tisch belegten und lautstark und ungeduldig nach ihrem Essen riefen.
In der Wärme des Gastraums brach Feyk der Schweiß aus, tropfte von der Stirn und klebte sein Hemd erneut an die Haut. Er war müde und erschöpft und doch durfte er sich nichts davon anmerken lassen. Bei den vielen Gästen würde es spät werden; er wusste jetzt schon, dass er heute Nacht nur wenig würde schlafen können. Dennoch musste er am nächsten Morgen früh aufstehen, um die Tiere zu füttern und die Feuer zu entzünden. Dies war sein tägliches Leben. Unabänderlich.
Die sechs Handwerker trieben die Lautstärke mit Gesprächen, Lachen und später auch mit ihrem Gesang in die Höhe. Mirke und Jaskors jüngste Magd Kiltah bedienten sie und waren daher öfter Opfer ihrer derben Späße und der frech zupackenden Hände. Feyk beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wenn er vorbei musste, verärgert über das Benehmen der jungen Männer und zugleich erleichtert, dass ihr Interesse lediglich den beiden Frauen galt.
An der Theke füllte er die Bierkrüge für zwei ruhige, ältere Kaufleute, die an einem kleinen Tisch hinten in einer Nische saßen, als er sich des Pegasusreiters bewusst wurde, der soeben dicht neben ihn an den Tresen getreten war. Der Mann überragte ihn um mehr als einen Kopf und sofort war Feyks Furcht wieder da. Vorsichtig wandte er sich um und musste erschrocken bemerken, dass der Mann ihn tatsächlich direkt ansah. Hart schluckte Feyk, konnte seine aufkommende Angst kaum verbergen. Diese dunkelgrünen Augen erforschten ihn, drangen viel zu tief in ihn. Ob der Reiter doch etwas ahnte?
„Zeige mir, wo noch ein Tisch frei ist, Feyk. Dort, wo es ruhiger ist“, verlangte der Mann, die Stimme befehlsgewohnt wie zuvor.
„Dort hinten ist noch ein Platz, Herr.“ Feyk deutete auf die Nische, in der auch die beiden Kauflaute saßen.
„Sehr gut. Führe mich hin“, forderte der Fremde ihn auf und folgte ihm durch den Gastraum zu dem abseits liegenden Tisch.
„Dort, mein Herr“, wies ihm Feyk den Platz zu. „Ich bringe das Bier an den anderen Tisch, dann werde ich Euch holen, was Ihr wünscht.“ Feyk spürte seinen Blick im Rücken, als er die Bierkrüge bei den Händlern abstellte, noch bevor er sich umwandte. Ohne jede Regung trat er zu dem großen Mann, nahm die Bestellung auf, vermied allerdings den Augenkontakt und ging rasch zurück zur Küche.
Wie zu erwarten, hatte der Fremde das beste Fleisch und einen Krug vom feinsten Bier bestellt. Auf dem Weg zurück zu dem kleinen Tisch balancierte Feyk den schwerbeladenen Teller vorsichtig aus. Seine müden Beine schmerzten und er musste sehr aufpassen, dass er nicht stolperte und womöglich Essen oder Bier verschüttete. Wie gerne wäre er jetzt im Stall und könnte einfach nur schlafen.
Jaskor war auf seinem Rundgang, wo er mit den wohlhabenden Gästen Worte wechselte. Feyk musste an ihm vorbei und der Gastwirt lächelte überaus zufrieden, als er erkannte, was der Mann in der Ecke bestellt hatte. Er nickte Feyk auffordernd zu.
„Bitte, mein Herr, Euer Essen.“ Feyk stellte seine Last vor dem Gast ab. Er wollte sich schon abwenden und mit den anderen Bierkrügen weiter eilen, als ihn der Fremde unerwartet am Arm ergriff. Erschrocken zuckte Feyk zusammen und wandte sich ihm zu. Ihm stockte der Atem, um ein Haar wäre ihm einer der Bierkrüge entglitten. Abrupt schlug ihm sein Herz hoch bis zum Hals. Die Augen fixierten ihn mit einem undefinierbaren Ausdruck. Der Griff war fest, beinahe hart. Viel Kraft steckte dahinter. Feyks Haut brannte und wohlbekannte Panik kroch tief aus seinem Magen hoch, zog ihm die Kehle zu. Mühsam zwang er sich, stillzuhalten.
„Setze dich zu mir“, verlangte der Fremde, ließ Feyk dabei nicht los. Kalte Gänsehaut überzog dessen Arm, breitete sich hoch bis auf seinen Rücken aus.
Der Mann wollte ihn an seinem Tisch haben? Feyk zitterte kaum merklich. Götter! Er ahnte also doch etwas und wollte ihn gewiss aushorchen, gar bedrohen, damit er schwieg.
„Das darf ich nicht, Herr“, stammelte Feyk beklommen, bestrebt zu entkommen und wand sich in dem Griff. „Jaskor wird es nicht erlauben.“ Er hob erklärend die Bierkrüge hoch. „Ich muss meine Arbeit machen.“ Der Fremde starrte ihn unverwandt an, ließ ihn unvermittelt los und rief laut nach dem Wirt. Jaskor eilte beflissen herbei.
„Wirt, bringt mir noch einen Krug Eures besten Gebräus“, verlangte der Fremde, schaute dabei allerdings Feyk an, schien Jaskor kaum zu bemerken. „Ihr habt ganz gewiss nichts dagegen, dass ich mich mit Eurem jungen Burschen hier ein wenig unterhalte? Ich schätze Gesellschaft beim Essen. Ich war schon recht lange alleine unterwegs.“
Abermals stockte Feyk der Atem. Er kannte diesen Ausdruck, mit dem der Fremde seinen Körper abtastete. Panik und Abscheu drohten Feyks Brust gleichzeitig zusammenzuziehen.
Nein, bitte nicht, flehte er innerlich, wohl wissend, wie unsinnig dieser Wunsch war. Er wollte nicht mit diesem Mann an einem Tisch sitzen, er wusste, worauf das hinauslaufen würde. Dieser Mann machte ihm extreme Angst. Seine Erscheinung versetzte ihn in Furcht und eine eigentümliche Bewunderung zugleich. Dieser durchdringende Blick war schwer einzuschätzen. Er musste hingegen nicht in Jaskors gierig leuchtende Augen sehen, um zu wissen, wie dessen Antwort lautete, noch bevor er sie aussprach.
„Nein, Herr. Natürlich nicht, werter Herr“, bestätigte der Gastwirt übereifrig. „Jeder weiß Gesellschaft nach einem harten Ritt zu schätzen.“ Er lachte auf und man hörte ihm die Vorfreude auf ein weiteres Geschäft deutlich an. „Kann ich Euch sonst noch etwas bringen?“ Er nahm Feyk eilfertig die beiden Bierkrüge ab, nickte ihm auffordernd zu und schaute den Gast erwartungsvoll an. Der große Mann schüttelte jedoch nur den Kopf und beachtete ihn nicht weiter.
„Setze dich“, forderte er den zögernden Feyk auf, der seine Angst mühsam hinunterschluckte. Unsicher ließ er sich auf den Stuhl nieder und streckte seine schmerzenden Beine aus. Es tat gut, einen Moment Erholung zu haben. Auch wenn es in der Gesellschaft dieses Mannes war. Unablässig musterte ihn der Fremde, während er eine Danksagung an die Götter murmelte, sich von dem Braten Scheiben abschnitt und das frische Brot aufbrach. Das Fleisch war saftig, der Geruch des Bratens und des warmen Brotes stieg Feyk in die Nase und erinnerte seinen erschöpften Körper daran, dass seine letzte Mahlzeit am frühen Morgen gewesen war. Der Duft war betörend, ließ ihm den Speichel im Mund zusammenlaufen. Dies war Jaskors bestes Essen und sein Gasthof durchaus zu Recht für seine Mahlzeiten bekannt.
„Hast du auch Hunger?“, erkundigte sich sein Gegenüber überflüssigerweise, als Feyks Magen vernehmlich knurrte. Kaum merklich nickte er. Ohne weitere Worte schnitt der Mann eine große Scheibe des Bratens ab und drehte den Teller, sodass sie vor Feyk zu liegen kam.
„Nimm dir“, forderte er ihn auf. „Es ist genug, um uns beide sattzumachen.“ Verblüfft hob Feyk erstmals den Kopf. Der harte Ausdruck im Gesicht hatte sich verändert. Im schwachen Licht wirkte es weicher, weniger bedrohlich als zuvor im Stall und noch immer eigenartig anziehend.
„Du siehst aus, als ob du durchaus etwas vertragen könntest.“ Der Fremde lächelte Feyk wahrhaftig an. „Nimm dir schon.“ Misstrauisch sah Feyk ihn an, zögerte hingegen nur noch einen kurzen Moment, griff zu und probierte zaghaft das Fleisch.
Unwillkürlich entkam ihm ein leises Seufzen. Nie zuvor hatte er etwas derart Köstliches gegessen. Weich, nahezu schmelzend zart, wie kein anderes Fleisch je zuvor, saftig und voll im Geschmack. Es war ein Fest für Zunge und Gaumen und er konnte sich kaum beherrschen, diese Köstlichkeit nicht so schnell wie möglich in seinen Mund zu stopfen.
„Es schmeckt dir offenbar“, kommentierte der Fremde lächelnd und reichte ihm ein großes Stück Brot. Feyk nickte dankbar und ein Teil seiner Angst zog sich in eine abwartende, lauernde Stellung hinter seinen Hunger zurück.
Kurz darauf stellte Jaskor den zweiten Krug auf dem Tisch ab und warf dem Gast einen überraschten Blick zu, als dieser Feyk eine weitere große Scheibe Fleisch reichte.
„Mein Bursche wird Euch jeden Eurer Wünsche erfüllen, edler Herr. Er ist sehr geschickt und willig“, bemerkte der Gastwirt mit verschwörerisch gesenkter Stimme. „Er wird natürlich alles tun, damit Ihr Euch in meinem Haus richtig wohlfühlen und entspannen könnt, Herr.“ Der wahre Inhalt seiner Worte war im Grunde klar. Auch wenn Feyk es gewöhnt sein sollte, stieg die Scham der Erniedrigung heiß in ihm auf. Seine Wangen brannten und die Finger begannen zu zittern.
Bitte nein, flehte er stumm, bitte nicht heute. Bitte nicht mit diesem Mann. Der Fremde nickte Jaskor allerdings lediglich abwesend zu, schien kaum zuzuhören und wandte sich Feyk lächelnd zu, sobald der Gastwirt verschwunden war. Nachdenklich musterte er Feyk, der sich ganz auf den Verzehr des Fleisches konzentrierte.
„Bist du hier geboren?“ Ohne Weiteres schob der Mann Feyk den anderen Krug hin und nickte ihm auffordernd zu. Zögernd griff dieser danach, nippte daran und spülte entschlossener das Fleisch mit dem Bier hinab. Bislang hatte er stets nur das dünne, mit Wasser gestreckte, Bier probieren dürfen, das Jaskor für die Landarbeiter braute. Dieses war herber, stärker und schmeckte unglaublich köstlich. Gierig trank er es in großen Schlucken.
Die meisten Männer, die sich nachts seiner Dienste versicherten, gaben sich nicht die Mühe, ihn vorher kennenzulernen. Obwohl ihm klar war, was geschehen würde, erfüllte Feyk ein widerwillig warmes Gefühl von Dankbarkeit. Wenigstens durfte er die Großzügigkeit dieses Mannes genießen, wenngleich das zwangsläufig Folgende damit nicht leichter wurde. Daran würde er sich nie gewöhnen. Es wurde nie leichter.
„Nein, Herr, ich komme aus den westlichen Ebenen“, erklärte Feyk. Der Fremde nickte zustimmend, sprach seinerseits dem Essen und dem Bier gut zu.
„Das dachte ich mir schon“, bemerkte er nachdenklich. „Dein Gesicht ist anders. Du hast die Stirn, Kinn und die Augen eines Westländers. Du gehörst zu dem Volk der Steppen, nicht wahr?“ Feyk antwortete nicht, vermutete, dass dieser Spion des Herrschers Aclodh bestimmt weit herumkam und vermutlich schon viele der anderen Völker gesehen hatte. Warum also nicht das der Ebenen von Lacar? Weswegen er wohl im Nordwestreich war? Welchen Auftrag er erfüllte? Hastig verdrängte Feyk die neugierigen Gedanken. Es ging ihn nichts an und er konnte froh sein, dass dieser Mann nicht erraten hatte, dass er um sein Geheimnis wusste.
„Wie bist du hergekommen?“, wollte der große Mann wissen. Flüchtig benetzte Feyk seine Lippen und setzte einen undurchdringlichen Ausdruck auf, bevor er antwortete: „Meine Familie war zur Ernte hier und meine Mutter wurde sehr krank. Als sie starb, konnte mein Vater die Schulden nicht bezahlen ...“ Er brach ab und steckte sich schnell ein Stück Brot in den Mund. Nach wie vor tat es weh, darüber zu reden. Die Trauer und Enttäuschung schnürten ihm noch immer die Kehle zu.
„Also warst du die Bezahlung.“ Der Fremde nickte bedächtig. „Ein Chiad, ein Schuldpfand. Du arbeitest die Schulden deines Vaters ab.“
Ich bin ein Gefangener, ein Sklave, ergänzte Feyk in Gedanken bitter. Es lag stets im Ermessen des Besitzers, wie lange er einen Chiad behielt, wann er die Schulden als bezahlt ansah. Natürlich kam es auch vor, dass ein Chiad von seiner Familie ausgelöst wurde. Feyk hatte nie wirklich damit gerechnet und Jaskor hatte ihm ebenfalls keine Hoffnung gemacht, ihn je gehen zu lassen.
„Das erklärt dein Geschick mit Pferden“, meinte der Fremde mehr zu sich selbst und klang grübelnd. „Die Völker der Ebenen von Lacar sind bekannt für ihre Pferdezucht.“ Er musterte Feyk eindringlich und ergänzte: „Und für ihr karges, unfruchtbares Land, den Hunger und die Not, die die Menschen dort verfolgt und aus ihrem eigenen Land vertreibt.“ Feyk vernahm Bitternis und einen leichten Anflug von Ärger. Überrascht schaute er den Mann an, der unterdessen auf seine Hände starrte, die um den Bierkrug lagen, ihn gar nicht mehr wahrzunehmen schien.
„So unglaublich viele Menschen, die heimatlos durch das Land streifen, denen das Nötigste fehlt. Dieses Land ist reich und doch leiden die Menschen im Nordwesten Hunger und Elend.“ Der Blick des Fremden wanderte durch den Gastraum, blieb schließlich an den Landarbeitern hängen. „Viele dieser Kinder werden nie zu Männern und Frauen heranreifen, nie die Sicherheit eines eigenen Heims erfahren, eine Heimat besitzen, eine Familie.“ Lange schwieg er, ganz in seine Gedanken versunken. Schließlich seufzte er auf und unvermittelt hielt er ihm seine Hand hin.
„Mein Name ist Vigar.“ Verhalten ergriff Feyk seine Hand. In seinem Hinterkopf rumorte die Gewissheit, was dieser Mann war, aber seine Freundlichkeit erschien ehrlich, verdrängte einen Großteil der Angst. Wären die Umstände anders gewesen, hätte er durchaus etwas Sympathie für Vigar entwickeln können.
„Nimm dir“, forderte dieser gleich darauf und schob Feyk den ganzen Teller hin. „Iss dich ruhig satt. Ich denke, du kannst es gut gebrauchen.“ Dankbar machte Feyk sich über das Essen her, froh, dass ihm keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, Vigar ihn nett behandelte und er bislang noch nicht mehr von ihm wollte als seine Gesellschaft bei Tisch.
Bald, nachdem Feyk den Teller leer gegessen hatte und die Lieder der sechs Handwerker sich mit den unflätigen Texten der Fallensteller vermischten, die sich zu ihnen gesellt hatten, erhob sich Vigar vom Tisch. Er warf den Männern einen missmutigen Blick zu, die Kiltah in ihre Mitte genommen hatten und sie von einem zum anderen Schoss wechseln ließen, nicht ohne ihre Hände dabei über ihre Hüften, Brüste und auch unter ihren Rock zu schieben.
„Danke für deine Gesellschaft.“ Vigar lächelte ihn an und entfernte sich rasch nach oben. Erleichtert seufzte Feyk auf. Für heute schien ihm Kiltahs Schicksal erspart zu bleiben. Ehe Jaskor bemerken konnte, dass der Gast sich alleine zurückgezogen hatte, sammelte Feyk den Teller und die Krüge ein und brachte sie zurück.
Noch lange danach war er in Gedanken bei dem Pegasusreiter. Vigar war ihm sympathisch erschienen, ja er hatte sich sogar ein wenig zu ihm hingezogen gefühlt. Selten sprach jemand freundlich mit ihm und er konnte sich nicht daran erinnern, je derart satt gewesen zu sein. Leider kam mit dem Gefühl des vollen Magens auch die Müdigkeit und Erschöpfung mit größerer Wucht zurück seine Bewegungen wurden schleppend. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich zu konzentrieren. Er wollte so gerne schlafen.
Es war schon spät und die Gruppe der Handwerker und Fallensteller wurde immer lauter. Das Bier floss reichlich und die anderen Gäste zogen sich bereits zurück. Feyks Augen drohten ihm ständig zuzufallen und mehr als einmal war es purer Zufall, dass er den Krug noch rechtzeitig abstellen konnte, bevor er das Bier verschüttete.
Wenn diese Männer weiterhin feierten, würde er vermutlich kaum lange genug in sein Strohlager kommen, um wenigstens etwas Erholung zu finden.
Feyk stellte die Krüge auf dem Tisch der Handwerker ab, erhaschte einen starren Blick Mirkes, die auf den Schoß eines Fallenstellers gezogen wurde. Der rothaarige, bärtige Mann lachte, während Mirke mit unbewegter Miene, die Brust bereits halb entblößt, seine Hand in ihrem Schritt ertrug. Zwischen ihren Brüsten lag ein geschnitztes Schutzamulett. Es hatte sie jedoch noch nie vor Übergriffen bewahrt.
Zorn kratzte mit harten Fingern an Feyks Brust. Wie sehr er diese Männer verabscheute, sie verachtete, für alles, was sie Mirke und Kiltah antaten. Sein Ärger und die Müdigkeit machten Feyk unachtsam und er stieß unbeabsichtigt gegen den Arm eines der Handwerker, der daraufhin einen Teil seines Biers verschüttete. Wütend fuhr der Mann auf und brüllte:
„Pass doch auf, Bursche!“ Hastig schüttelte er das Bier von seinem Hemd.
„Verzeiht mir Herr, das wollte ich nicht.“ Rasch griff Feyk nach dem Lappen am Gürtel und rieb die Tischplatte trocken. Mehrere der Männer wandten ihm nun ihre Aufmerksamkeit zu. Sein kurz geschorenes Haar zeigte ihnen seinen Stand an und der blonde Mann, den er angestoßen hatte, schnaubte abfällig.
„Sieh zu, dass du mir das Bier sofort ersetzt, dreckiger Chiad“, verlangte er und sein Mund verzog sich verächtlich. Er spuckte direkt vor Feyks Füße und beobachtete ihn mit einem gehässigen Lächeln. Die anderen Männer lachten begeistert über dieses neue Schauspiel.
„Los, wisch es auf“, forderte der blonde Mann grinsend. Kalte Wut war in Feyk und seine übermüdeten Sinne ließen ihn für einen Moment die Kontrolle über sein Gesicht verlieren. Zornig blitzte er den Mann an, der kaum älter als er selbst war, und ballte die Hände zu Fäusten.
„Oha, der Chiad mag es wohl nicht, wenn man ihm einen klaren Befehl erteilt“, warf einer der Männer lachend ein.
„Weißt du nicht, wo dein Platz ist, elendiger Chiad?“, zischte ihn nun auch der blonde Mann an „Los, runter mit dir auf die Knie und mach die Sauerei weg!“
Einen winzigen Moment kämpfte Feyk mit den verbliebenen Resten seines Stolzes. Unsinnig, er wusste es. Solche Gefühle gehörten nicht in das Leben eines Chiads. Gehorsam kniete er sich hin. Es war nicht das erste Mal, dass er in einer solchen Situation war und es würde nicht das letzte Mal sein. Stolz und Wut waren Emotionen, die er sich nicht erlauben konnte.
Die Männer lachten über ihn und der Blonde stieß ihn mehrfach grob mit dem Fuß an. Feyk reagierte nicht, betete zu den namenlosen Göttern, dass Jaskor dies nicht sah. Doch die Götter waren Feyk noch nie gnädig gesonnen. Jaskor hatte es natürlich bemerkt und kam auch schon heran.
„Entschuldigt, die Herren, entschuldigt meinen ungeschickten Burschen. Natürlich wird Euer Bier ersetzt werden“, versicherte er. Die Männer johlten laut auf, als Jaskor ihn am Arm packte und hochzerrte. Feyk war sofort klar, dass Jaskor seinen Fehler nicht ohne Strafe lassen würde. Andererseits würde er ihn nicht schlagen, solange noch Arbeit in der Gaststube zu verrichten war.
„Dafür wirst du später noch büßen, Chiad“, zischte Jaskor, während er ihn mit sich zerrte. Vor der Treppe zu den Zimmern des Gasthauses blieb der Gastwirt stehen. Zornig sah er Feyk an, der viel zu müde für irgendeine Reaktion war und ergeben in seinem Griff hing. Er wollte nur, dass es vorbei war, wollte endlich ruhen, in den Schlaf flüchten, den einzigen Zufluchtsort, den es für ihn gab. Es gab nichts, was er an seiner Strafe ändern, nichts, mit dem er Jaskor beschwichtigen konnte.
„Los, geh hinauf. Das letzte Zimmer hinten rechts“, forderte ihn der Gastwirt stattdessen auf. „Der vornehme Herr hat nach dir verlangt.“ Feyk hob ruckartig den Kopf. Sein Herz setzte aus und ein schmerzhafter Knoten blockierte seinen Hals. Nein! Nicht auch noch das. Bitte, Götter, nein!
„Mach schon.“ Jaskor wurde ungeduldiger. „Der Mann hat viel Geld. Wenn du dich geschickt anstellst, wird er sehr gut dafür bezahlen. Vielleicht lasse ich deine Strafe dann milder ausfallen.“ Energisch schob er Feyk zur Treppe. Ihm blieb keine andere Wahl, als zu gehorchen.
Voll Unbehagen, leise nagender Angst, vor allem jedoch resignierend, schleppte Feyk sich die Stufen hoch. Vigar war freundlich zu ihm gewesen. Trotzdem hatte Feyk sich nicht getäuscht und seine Liebenswürdigkeit richtig gedeutet. Diese Nacht würde er ihm also Lust bereiten müssen und er konnte bloß hoffen, dass der Pegasusreiter schnell zufrieden sein würde.
Zaghaft klopfte Feyk an. Die Tür wurde rasch geöffnet. Vigar sah auf ihn hinab und lächelte ihn an. Er trug das Hemd offen und gewährte Feyk einen Blick auf die breite, leicht behaarte Brust. Oh ja, Vigar musste ein Kämpfer sein: Zwei feine Narben verschwanden unter dem Hemdstoff. Er besaß kein Amulett.
„Komm herein.“ Er trat zur Seite und verschloss die Tür hinter ihm. Feyk schluckte hart und ließ sein Seufzen ungehört verklingen. Wenn es bloß schnell gehen würde … Er wollte endlich schlafen. Mitten im Raum blieb er stehen, behielt den Kopf gesenkt, wollte den anderen Mann nicht direkt ansehen. Seine Freundlichkeit, eine Lüge, sein Interesse – geheuchelt. Niemand interessierte sich für ihn. Sie alle wollten immer nur ihre eigene Befriedigung.
„Was soll ich für Euch tun, Herr?“ Feyk quälte die Worte mühsam heraus. Seine Hose war an den Knien noch feucht von dem verschütteten Bier und der Geruch der Gaststube hing in seiner Kleidung. Er fühlte sich elend.
Vigar ging von der Tür zu seinem Bett und nahm darauf Platz. Belustigt schaute er Feyk an.
„Was tust du sonst?“ Abermals seufzte Feyk innerlich und zog sich entschlossen das Hemd über den Kopf. Er wollte keine Spiele, er wollte es hinter sich bringen. Was auch immer Vigar verlangte, er würde seine Pflicht tun.
„Ich erweise Euch jeden Dienst, den Ihr wünscht, Herr.“ Feyk konnte die matte Traurigkeit und Resignation nicht mehr aus der Stimme verbannen.
Ich tue alles, wenn ich endlich zu meinem Lager darf. Er begann die Schnürung seiner Hose zu lösen.
„Was?“, stieß Vigar verdattert hervor und sprang auf. „Oh nein! Götter, nein! Du denkst, ich …?“ Erschrocken brach er ab, starrte Feyk bestürzt an, dessen Finger noch an dem Bund seiner Hose lagen. Verstört ließ Feyk seine Hände sinken. Vigar stand vor ihm, sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verblüffung an.
„Ist dies, was du sonst tun musst?“, erkundigte er sich mit leiser, beherrschter Stimme. Wut glitzerte in seinen Augen, allerdings war sich Feyk sicher, dass diese nicht ihm galt. Kaum merklich nickte er.
„Götter!“, stieß Vigar zornig hervor und begann aufgebracht durch das Zimmer zu wandern, die Hände zu Fäusten geballt. Unsicher beobachtete ihn Feyk. Vigar schien sich nur mühsam beherrschen zu können und kam endlich vor ihm zum Halten. Hastig bückte er sich, hob Feyks Hemd hoch und drückte es ihm in die Hand.
„Das ist nicht, was ich von dir wollte.“ Sein Blick glitt über Feyks blanken Oberkörper und er schluckte sichtlich. „Bitte zieh dich wieder an.“
Waren die namenlosen Götter eventuell doch auf seiner Seite? Aber was konnte Vigar sonst von ihm wollen? Leise Angst, eine drohende Vorahnung breitete sich erneut in Feyk aus, während er das Hemd überstreifte. Vigar hatte seine unruhige Wanderung wieder aufgenommen und umkreiste ihn.
„Ich wollte dich etwas fragen, Feyk. Etwas, was nicht für alle Ohren gedacht ist.“ Kalte Finger griffen nach Feyk, pressten sein Herz zusammen. Also doch. Der Pegasus. Dieser Mann war sein Reiter, ein Spion, ein Feind Bohruns und des ganzen Nordwestreiches.
Unsicher schaute Feyk auf seine Füße, versuchte die zunehmende Nervosität zu verbergen. Er begann dennoch leicht zu zittern.
„Heute im Stall …Was hast du da gesehen?“
„Nichts, Herr. Gar nichts“, versicherte Feyk überstürzt. Seine Hände krampften sich kurz zusammen und er drückte Zeige- und kleinen Finger zum Schutz vor Übel aneinander. Dieser Mann hatte es bemerkt. Ob er es wohl bis zur Tür schaffen konnte? Nein, denn Vigar umrundete ihn nun beständig, wie ein Raubtier.
„Das glaube ich dir nicht, Feyk. Deine Augen haben dich verraten. Wie du mein Pferd angeschaut hast ...“ Feyk schwieg, überlegte fieberhaft, wie er entkommen, was er sagen konnte. Ob Vigar ihn töten würde?
„Du hast bereits von den Pegasuspferden gehört, nicht wahr?“ Feyk zuckte zusammen, fühlte den Schweiß über seinen Rücken kriechen. Kalt und klebrig. Nervös wischte er sich die Hände an seiner Hose ab. Er vermochte kaum noch zu stehen. Götter, bitte helft mir, flehte er. Er wird mich töten, wenn ich es zugebe. Aber Lügen war ebenso zwecklos.
„Ja“, flüsterte er kaum hörbar. Vigar blieb halb hinter ihm stehen und legte ihm eine Hand schwer auf die Schulter. Angst breitete sich in jedem Teil von Feyks Körper aus. Wenn ihn Vigar umbringen wollte, würde er es ohnehin tun und er war viel zu erschöpft, um sich noch zu wehren. Wenn dies sein Schicksal sein sollte, würde er eben sterben. Er konnte nicht mehr. Es war zu viel.
„Hast du Nifthas Flügel gesehen?“, flüsterte Vigar unerwartet in sein Ohr. „Unglaublich zart, fast durchscheinend, schillernd in tausend silbrigen, grünen und blauen Farbtönen. Hast du bemerkt, wie grazil sie sie bewegt? Sie sind wunderschön, nicht wahr? Einzigartig. Magisch!“ Seine Stimme war voller Ehrfurcht und Bewunderung. Die Worte schickten Schauer über Feyks angespannten Leib, riefen die Erinnerung an die Flügel wach. Oh ja, wunderschön. Niemals hatte er etwas Schöneres erlebt. Perplex wandte er sich zu Vigar um, starrte ihn ungläubig an.
„Du hast sie gesehen“, stellte dieser befriedigt fest. Zögernd nickte Feyk und fügte sofort hastig hinzu: „Ich werde nichts sagen, Herr! Ich werde es niemandem verraten!“ Vigars Hand schien ihn zu Boden zu drücken, seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. „Wenige Menschen können einen Pegasus derartig berühren, Feyk. Ich vermag einen erweckten Pegasus dazu zu bringen, seine Flügel für mich zu entfalten. Es gibt in allen Völkern Menschen, die die Magie in sich tragen, einen Pegasus zu fliegen.“ Er machte eine Pause und musterte Feyk lächelnd. Es war ein warmes, ehrliches, sogar seltsam anerkennendes Lächeln. „Nur sehr wenige Menschen können jedoch einen Pegasus erwecken“, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Feyk starrte ihn weiterhin an. Er begriff nicht ganz, was Vigar sagen wollte.
„Ich bin ein Pegasusreiter, Feyk. Ich weiß, was man in eurem Reich über uns erzählt. Schauermärchen. Du musst mich nicht fürchten. Ich werde dir nichts tun. Ich bin nicht dein Feind. Ich komme aus dem Südostreich, wie du bestimmt schon vermutet hast“, erklärte Vigar und löste endlich die Hand von der Schulter. „Ich diene dem Herrscher Aclodh. Es gibt viele von uns: Pegasusreiter, die in seinen Diensten stehen, Botschaften überbringen und die Custore, die im Land für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen. Unser Herrscher züchtet diese spezielle Rasse, die Pegasuspferde hervorbringt. In seiner Feste bilden wir sie aus, trainieren sie. Wir kreuzen sie miteinander und hoffen jedes Mal, dass unter den Fohlen ein Pegasus dabei sein wird. Es ist nicht leicht, sie in jungen Jahren zu entdecken.“ Ein hörbares Seufzen entkam seinen Lippen, während er sich auf das Bett setzte. „Ich vermag ihre magischen Flügel zu sehen, einen Pegasus zu fliegen, wenn er einmal erweckt wurde. Eine magische Begabung, die wir trainieren, bis wir sie beherrschen. Jeder mit der Veranlagung kann es lernen. Aber die Ausbildung eines Pegasus dauert lange und braucht viel Geduld.“ Erneut machte er eine Pause. „Es bedarf jedoch einer besonderen, einer machtvolleren Magie, um einen unausgebildeten Pegasus zu erwecken. Bei einem ganz jungen Pferd ist es noch keinem von uns gelungen, die Flügel zu entfalten.“ Vigars Blick blieb an Feyk hängen, der wie erstarrt dastand und fasziniert zuhörte. Das klang so unwirklich. Nichtsdestotrotz hatte er die Flügel selbst gesehen. Vigars Stute war kein gewöhnliches Pferd. „In früheren Zeiten gab es Menschen mit dieser besonderen Magie. Sie konnten jeden Pegasus dazu bringen, sein angeborenes Geheimnis zu offenbaren und ihn in jedem Alter erwecken. ‚Citare‘ nannte man sie. Ich glaube, du bist ein solcher Erwecker, Feyk. Du bist ein Pegasuscitar!“
„Ich?“, stieß Feyk fassungslos hervor.
„Ja. Du hast Niftha berührt und sie hat ihre Flügel gezeigt. Du hast keinerlei Ausbildung, wusstet nicht einmal was du getan hast und dennoch entfaltete sie ihre Flügel für dich. Das habe ich noch nie erlebt.“ Lächelnd erhob er sich und kam auf Feyk zu.
„Hör mir gut zu“, verlangte er mit eindringlicher Stimme. „Ich hatte einen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Ich wurde entdeckt und werde deshalb verfolgt.“ Seine Hände legten sich auf Feyks Schultern.
„Ich würde dich sofort mit mir nehmen, wenn ich es könnte. Ich würde dich freikaufen. Aber ich muss zügig reisen und Niftha kann lediglich einen Reiter tragen.“ Vigar schnaubte ärgerlich.
Freikaufen? Ihn mitnehmen, fortbringen? Feyk wollte seinen Ohren nicht trauen. Sein Kopf schwirrte von all dem, was ihm Vigar erzählte. Konnte es angehen? Hatte Vigar recht? War er ein besonderer Mensch? Der Gedanke war abwegig, zu unwirklich. Genau wie der, das Gasthaus, dieses Elend zu verlassen. Frei zu sein ...
Feyks Knie knickten ein. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut und sein ermatteter Körper sackte zu Boden. Vigar griff nach ihm und zog ihn hinüber zum Bett.
„Herr?“, flüsterte Feyk. Vor seinen Augen flimmerten graue Punkte und sein Herz schlug seltsam langsam. Ihm war kalt und er wusste kaum, wie er die Lippen bewegen, wie er Worte formulieren sollte.
„Mein Name ist Vigar“, vernahm er die warme Stimme und eine Hand strich ihm behutsam über die Stirn. Lange schon hatte Feyk solche Zärtlichkeiten vermisst, sich verzehrend nach ihnen gesehnt. Nach ein wenig Hoffnung.
Erschöpft schloss er die Lider. Es tat gut, es war schön, sich einfach diesen Berührungen zu überlassen. Er wollte schlafen, vergessen, träumen ...
„Ich werde deinem Herrn mitteilen, dass ich dich über Nacht hier behalten werde. Du kannst in Ruhe schlafen und dich erholen. Zumindest das kann ich für dich tun“, versprach die Stimme im Nebel. Mühsam öffnete Feyk die Augen und erkannte Vigar, der sich über ihn gebeugt hatte.
„Ich weiß, es ist sehr viel Neues auf einmal und du weißt nur einen Bruchteil dessen, was du wissen solltest.“, Vigar lächelte nachsichtig. „Ich werde dir alles erklären. Später. Ich werde dich zu uns holen, in die Pegasusfeste. Mehr darf ich dir nicht sagen, denn es wäre nicht gut, wenn du zu viel weißt.“ Kühle Finger strichen behutsam über Feyks Gesicht. Vigars Ausdruck war mitfühlend. „Schlaf jetzt, mein Junge. Hab keine Angst. Ich werde dich weder anrühren, noch zulassen, dass es ein anderer tut. Schlaf.“ Die warme Stimme umhüllte Feyk, die Berührungen lullten ihn ein und er schloss die Lider, überließ sich endlich dem ersehnten Schlaf.
„Hab keine Angst, ich kehre zurück“, flüsterte Vigar. „Ich werde dich befreien. Ich komme dich holen, Feyk.“
Feyk öffnete verschlafen die Augen und gönnte sich ein paar träge Momente, um in das helle Sonnenlicht zu blinzeln, welches durch die Ritzen der Scheune hereinfiel. Das Stroh war angenehm warm auf dem Heuboden, auf dem er sein Lager hatte. Unter sich vernahm er die beruhigenden, mahlenden Kaugeräusche der zwei Kutschpferde der Händler, die gestern angekommen waren.
Der Sonneneinstrahlung nach war es früh am Morgen, seine Glieder noch schwer, und obwohl Feyk wusste, dass ihm abermals ein harter, arbeitsreicher Tag bevorstand, lag ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen.
Sein Körper war schmerzfrei und sein Magen knurrte nicht. Er war wahrhaftig satt und fühlte sich einigermaßen wohl. Gestern Abend hatte er sogar die Reste der Mahlzeit der Händler, die auf dem Weg in die Handelsstadt Coneoh im Gasthof übernachtet hatten, aufessen dürfen. Ein Privileg, welches sonst ausschließlich Jaskor und dessen ältesten Knechten zustand.
Es waren reiche Tuchhändler und entsprechend gut war das Essen gewesen. Feyk hatte für Mirke etwas von dem flachen, mit verschiedenen Kräutern gewürzten Brot unter seinem Hemd verborgen und es ihr später zugesteckt, als er zum Schlafen in den Stall gegangen war. Dankbar hatte sie ihn angelächelt und das Schutzzeichen ihres Volkes über seinem Kopf in die Luft gezeichnet. Er wusste genau, wie hungrig sie war und nur zu gerne hätte er ihr auch von den anderen Köstlichkeiten etwas zukommen lassen. Zum einen war jedoch Jaskor stets in der Nähe gewesen und zum anderen war es zu schwierig, unauffällig etwas von dem Fleisch mitzunehmen.
Feyk räkelte sich wohlig. Es ging ihm deutlich besser als noch vor einer Woche. Seit Vigar bei seiner Abreise zu Jaskor getreten war und diesem Anweisungen gegeben hatte, für alle Anwesenden deutlich zu vernehmen.
„Euer Bursche hat seine Sache sehr gut gemacht. Aber ist er viel zu mager“, hatte er verkündet, das Gesicht hochmütig. Jaskor hatte der intensiven Musterung kaum standhalten können. „Ich komme in etwa zehn Tagen wieder und würde seine Dienste gerne erneut in Anspruch nehmen.“ Vigars Blick schweifte kurz zu Feyk, der die Stute am Zaumzeug hielt und den Kopf senkte. Er musste ein feines Lächeln verbergen.
Feyk hatte sein Glück kaum fassen können, denn Vigar hatte ihn tatsächlich bei sich schlafen lassen und sogar darauf bestanden, dass er am nächsten Morgen in der Gaststube mit ihm frühstückte. Sehr zum Missfallen Jaskors, der allerdings schnell versöhnt gewesen war, als Vigar ihm eine respektable Summe Geld, mit den Worten: „Für die guten Dienste und die Gesellschaft Eures Burschen“, in die Hand gedrückt hatte. Geld änderte immer schnell Jaskors Meinung.
„Zu dürr und knochig. Er war körperlich zu erschöpft, um ein echtes Vergnügen für mich zu sein. Ich zahle Euch jetzt bereits das Doppelte, wenn Ihr ihn bis dahin besser ernährt und ein wenig mehr schont, Wirt.“. Schon bei der Erwähnung der Summe, die er bereit war, dafür zu zahlen, nickte Jaskor eifrig. Dieser Gast war absolut nach seinem Geschmack.
„Es wird geschehen, wie Ihr es wünscht, mein Herr. Ich fühle mich geehrt, dass Ihr uns schon bald wieder besuchen werdet.“
Vigar meinte es also wirklich ernst. Er wollte ihn nicht nur herausholen, er sorgte auch dafür, dass er bis dahin besser behandelt werden würde. Warme Dankbarkeit erfüllte Feyks Herz und wachsende Zuneigung zu dem großen Mann aus dem Südostreich. Er erinnerte sich lediglich schemenhaft an dessen warme, streichelnde Hände in seinem Gesicht, aber es waren die zärtlichsten Berührungen, die er seit Langem erlebt hatte. Er wünschte sich mehr.
Vielleicht wenn Vigar wiederkam … Die meisten Männer, die ihn angefasst hatten, waren ihm zuwider gewesen, ihre Hände kalt und unangenehm. Sie hatten ihm oft Schmerzen bereitet und ihn gedemütigt. Vigar erschien ihm verständnisvoller, seine Berührungen anders, freundschaftlich, behutsam, einfühlsam. Es hatte keine andere Absicht dahinter gesteckt, als ihm Wärme und Trost zu schenken, dessen war sich Feyk sicher.
Ein Teil von Feyk wünschte sich zu erfahren, wie es sein konnte, mit einem Mann zusammen zu sein, der Rücksicht nahm, der auch ihm Lust bereiten wollte. Sein Wissen diesbezüglich war gering und überlagert von unschönen Erinnerungen. Rasch vertrieb er den Gedanken und rieb sich schaudernd über den Rücken.
Solche Wünsche waren Träume. Nichts weiter.
Wenn Vigar wirklich zurückkam, sein Versprechen erfüllen und ihn fortbringen würde in eine hoffentlich bessere Zukunft, konnte Feyk froh und glücklich sein. Diese Hoffnung begleitete ihn täglich.
Im Hof unten schepperte ein Eimer und Feyk wusste, dass Mirke bereits am Brunnen war und Wasser für die Küche holte. Hastig stand er auf und stieg zu den Pferden hinab, um sie zu füttern und zu tränken. Der Tag war erfüllt von seinen Pflichten, wenngleich ihn Jaskor nicht mehr schwer arbeiten ließ. Das gefiel jedoch den beiden Knechten Gutram und Sanbet nicht wirklich. Sie wussten, warum Jaskor seinen Chiad derart großzügig behandelte. Sie waren freie Männer und gewiss wollte keiner von ihnen mit Feyk tauschen, wenn der reiche Gast zurückkam. Trotzdem ließen sie ihn ihren Unmut spüren. Früher hätte Feyk ihre Abneigung, die knappen bösen Worte getroffen. Mit der Aussicht, all dies bald hinter sich lassen zu können, ertrug er es hingegen schweigend. Wenn er an Mirke dachte, bekam er dennoch ein schlechtes Gewissen. Er hatte weder ihr noch sonst jemandem von Vigars Versprechen erzählt, noch von dem, was er im Stall entdeckt hatte. Mirke würde zurückbleiben. Aber es wäre wohl zu vermessen, Vigar zu bitten, auch sie freizukaufen.
Es war früher Nachmittag und Feyk dabei, den Stall auszumisten, als er Hufgetrappel auf der Straße vernahm. Rasch lehnte Feyk die Mistgabel an die Wand, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zur Tür des Stalls, um zu sehen, wer herankam.
Es waren fünf Reiter, alle in das dunkle Rot des Herrschers Bohrun gekleidet. Vorweg ritt ein Mann mit langen, blonden Haaren, die er zu einem seitlichen Zopf gebunden hatte, der ihm auf die Brust fiel. Die Sonne ließ seine Haare gleißen, wie Schnee aufleuchten.
Ein Nordmann, bemerkte Feyk überrascht. Ein Akylongin. Man sagte von ihnen, dass ihr Haar heller als das Sonnenlicht sei und munkelte, ihre Augen könnten Blitze schleudern. Es war das erste Mal, dass Feyk einem aus dem Nordvolk begegnete. Also waren sie keine Legenden, sondern real.
Der Mann war groß und schlank, wirkte sehr elegant in der schwarzen Hose und dem dunkelroten Hemd, als er seinen Schimmel vor dem Gasthof zum Stehen brachte. Das Pferd gehorchte sofort und verhielt bewegungslos. Feyks Blick streifte seine Augen und blieb sogleich an ihnen hängen. Sie waren fast schwarz und wirkten derart leblos, dass Feyks Herz einen harten Satz machte.
Er hatte schon zuvor erschöpfte Pferde erlebt, Tiere, die über ihre Grenzen hinausgetrieben worden waren und dennoch taten, was man ihnen befahl, die sich mit letzter Kraft in das Geschirr stemmten. Nie zuvor allerdings hatte er einen derartig leblosen Ausdruck gesehen.
Nein, diese Augen sind völlig ausdruckslos, korrigierte er sich benommen. Das Tier schien nicht einmal zu leben, wirkte wie tot, ohne jene kleinen Regungen, die ein lebendiges Pferd ausgemacht hätten. Es trug eine dunkelrote Decke über dem ganzen Leib, die vor der Brust geschlossen war. Deutlich prangte das gelbe Symbol Bohruns darauf. Die anderen Männer waren dunkelhaarig, typische Nordwestreichbewohner mit Bart und kantigem Kinn. Sie alle trugen Waffen bei sich; es handelte sich also eindeutig um Wachen Bohruns. Die stämmigen Pferde waren braun und fuchsfarben, wirkten müde und verschwitzt.
Feyks Herz begann härter zu klopfen, von den Männern ging eine eigentümliche Aura von Gefahr aus, die nahezu greifbar schien.
Was die Wachen wohl wollten? Es geschah selten, dass sie hierher kamen, denn die Feste Bohruns lag mehrere Tagesreisen entfernt, viel weiter im Nordwesten. Irgendetwas hatte diese fünf Männer bis in das Grenzgebiet des Reiches geführt. Unvermittelt kam Feyk ein Verdacht.
Waren sie womöglich wegen Vigar unterwegs? Waren dies die Verfolger, von denen er gesprochen hatte? Götter, wenn sie herausfanden, was er wusste …
„Willkommen, Ihr Herren.“ Jaskor begrüßte die Gruppe und eilte über den Hof auf den Nordmann zu, den er auf Anhieb als Anführer ausgemacht hatte. „Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem Gasthof willkommen zu heißen. Bohruns Wachen gebührt unser aller Respekt und Dank.“ Tief verbeugte sich Jaskor, schaute sich hektisch um, entdeckte Feyk in der Stalltür und winkte ihn eilig heran. Ebenso schnell drehte er sich zu dem Akylongin um. „Eure Pferde können im Stall übernachten und für Euch, meine Herren, gibt es weiche, bequeme Betten. Ich werde Euch das Beste auftischen lassen, was mein Gasthof zu bieten hat.“
Der Nordmann stieg nicht ab, im Gegensatz zu seinen Männern, die sich mit erschöpften Gesichtern aus den Sätteln gleiten ließen. Feyk bemerkte beim Näherkommen den Staub und Schweiß auf ihren Körper und der Kleidung, ebenso wie ihre müden Bewegungen. Diese Wachen waren schon lange unterwegs und hatten sich nicht geschont.
„Nenn mir deinen Namen“, verlangte der Akylongin mit befehlsgewohnter, scharfer Stimme von Jaskor. Feyk nahm derweil zwei Pferde am Zügel und bemerkte erleichtert, dass auch Gutram und Sanbet herankamen, um mit den Pferden zu helfen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Feyk verstohlen den Nordmann, der seine erhöhte Position wohl mit voller Absicht beibehielt. Er hatte seine langen, ungewöhnlich schlanken Hände übereinander vor sich auf den Sattel gelegt und musterte den Wirt mit unbeweglichem Gesicht.
„Jaskor, mein Herr“, beeilte sich selbiger zu antworten. „Mir gehört dieser Gasthof.“ Der Akylongin nickte und ließ seinen Blick nachdenklich über das Anwesen, das Gasthaus, den Lichtstein für die Götter, den Stall und die beiden Nebengebäude schweifen.
„Dies ist der letzte Gasthof an der großen Straße gen Südosten“, stellte er fest und Jaskor bestätigte eifrig. Diese Tatsache und die Nähe zur reichen Stadt Coneoh, zu deren Markttagen, auch Händler aus dem Südostreich über die Grenze kamen, verhalf ihm immerhin zu einem ständigen Besuch von Reisenden. Etwas weiter gen Süden gab es eine Furt in dem breiten Grenzfluss Maloson, der die beiden Reiche teilte, die bei den Händlern sehr beliebt war. Der nächste Grenzübergang lag mehr als zwei Tagesreisen im Süden oder noch weiter weg, im Nordosten, in den Ausläufern des Gelsikgebirges. Ohnehin erlaubte man Reisenden nur die Querung der Furt.
Feyk führte die Pferde mit zum Stall und vernahm hinter sich einen Teil des weiteren Gesprächs.
„Vor ein paar Tagen ist ein Reiter auf einem Schimmel vorbeigekommen“, stellte der Nordmann halb fragend fest: „Ein ungewöhnlich großer Mann, schwarze Haare, braune Haut, grüne Kleidung.“
Feyk sog erschrocken die Luft ein und zwang sich, flach auszuatmen, weiterzugehen und sich nichts anmerken zu lassen. Angespannt lauschte er auf die weiteren Worte.
„Ich denke schon, ja, Herr. So ein Gast war da. Er ist vor etwa fünf Tagen abgereist.“ Jaskor machte eine Pause und nun beeilte sich Feyk, außer Hörweite zu kommen, denn er ahnte, was folgen würde.
„Ihr könnt meinen Chiad fragen, Herr“, bot Jaskor eifrig an und rief ihn auch schon mit einem Pfiff heran. „Sanbet, nimm du die beiden Pferde, der Chiad kann sich um das Pferd des edlen Herrn kümmern.“ Feyk blieb nichts anderes übrig als zu folgen. Mit gesenktem Kopf stand er vor dem Nordmann.
Ob der Mann wirklich Blitze aus seinen Augen schleudern konnte? Das war sicherlich eine Legende. Wie die der Pegasus ...
„Schau mich an, Junge“, verlangte der blonde Mann mit erstaunlich freundlicher Stimme. Feyk folgte seinem Befehl überrascht und hob den Kopf. Blassblaue Augen musterten ihn, so hell, dass sie wie die Spiegelung von Sonnenlicht auf einer Wasseroberfläche wirkten. Unwillkürlich schauderte Feyk, der sich plötzlich sehr gut vorstellen konnte, wie diese Augen Blitze schleudern würden.
„Wie lautet dein Name?“
„Feyk, mein Herr.“ Das edle Gesicht des Nordmanns wirkte seltsam sympathisch. Sein Kinn wies einige weißblonde Stoppeln auf, der fein geschwungene Mund, die gerade, schmale Nase und die hellen Brauen gaben ihm ein attraktives Aussehen.
„Mein Chiad hat sich um das Pferd dieses Gastes gekümmert“, beeilte sich Jaskor zu berichten, machte eine bezeichnende Pause und ergänzte mit unmissverständlicher Bedeutung: „Und um die weiteren Bedürfnisse auch.“ Alles in Feyks zog sich ärgerlich zusammen und wütend ballte er die linke Faust. Er hasste Jaskor dafür und er hasste, zu was er ihn machte, wie er ihn anpries. Verstohlen suchte er in dem Gesicht des Nordmanns nach Verachtung oder Belustigung. Dieser zog jedoch lediglich eine Augenbraue ein winziges bisschen nach oben und musterte ihn unverwandt. Eine ganze Weile sagte er nichts, betrachtete Feyk überaus nachdenklich.
Was dachte dieser Mann wohl von ihm? Der Nordmann wirkte eigentümlich gefährlich auf ihn, gerade weil er wenig bedrohlich aussah. Es war allerdings etwas Lauerndes in seiner Art, über die sein schönes Gesicht nicht hinwegtäuschen konnte.
„Dann wird er sich gewiss auch gut um mein Pferd kümmern können.“ Der Akylongin stieg ab. Feyk ergriff das Pferd am Zaumzeug. Das Tier bewegte sich nicht, stand ergeben, schien nicht einmal zu blinzeln. Seine Ohren hielt es leicht seitwärts gedreht, vollkommen still. Ganz anders als andere Pferde, die beständig Geräusche in ihrer Umgebung mit den beweglichen Ohrmuscheln wahrnahmen.
„Mein Name ist Thyon.“ Der Nordmann blieb neben Feyk stehen. Hellblaue Augen hielten seinen Blick gefangen und verursachten einen unangenehmen Druck in seinem Hals. Thyon kam ihm sehr nahe und er konnte dessen Duft wahrnehmen, eine Mischung aus Pferde- und Männerschweiß und etwas, dem er keinen Namen geben konnte. Thyon roch frisch und … kalt. Wie der scharfe Wind im Winter strahlte er eine Kühle aus, vor der Feyk unwillkürlich zurückwich.
„Du kannst mein Pferd versorgen, es tränken und füttern, aber belasse ihm die Decke“, ordnete Thyon an und seine Finger legten sich auf Feyks Schulter. Kühl und schwer war sie, sandte unangenehme Kälte durch den dünnen Stoff der Kleidung, die Feyk schaudern ließ. Thyons Hand war feingliedrig, aber sein Griff zeugte von viel Kraft.
„Zeige mir den Stall“, verlangte er, ohne seine Hand von Feyks Schulter zu nehmen. Das Pferd folgte ihm sofort. Außer seinen Beinen bewegte sich nichts, lediglich die Nüstern blähten sich leicht, Feyk konnte den Atem hören.
Thyon ließ die Hand von der Schulter fallen. Er blieb im Stall stehen und Feyk spürte den Blick der hellen Augen bei jedem seiner Schritte auf sich ruhen. Rasch sattelte er das Pferd ab. Er ließ die Decke auf dem Rücken, auch wenn er sich sehr wunderte, denn es war warm und das Pferd hatte eindeutig geschwitzt. Stattdessen holte er zwei Eimer mit Wasser, froh, Thyons Aufmerksamkeit für einen Moment entkommen zu können. Während er das Pferd tränkte, wusch er ihm den Schweiß von Hals und Beinen.
Thyon löste sich nach einer gefühlten Ewigkeit von seinem Platz und ging hinaus, um mit den Männern und Jaskor weitere Worte zu wechseln. Feyk achtete nicht darauf, wunderte sich umso mehr über das seltsame Verhalten des Pferdes. Es hatte den Kopf gesenkt und trank, ansonsten rührte es sich nicht, schlug nicht einmal mit dem Schweif die Fliegen weg.
Feyk beugte sich hinab, kniete sich vor die Hinterbeine und wusch den mit grauem Staub vermischten Schweiß von der Innenseite der Beine. Thyons Pferd war ein Hengst, er erkannte die Hoden; und dennoch verhielt er sich wie ein Wallach, als ob ihn die anderen Pferde nicht interessieren würden. Der Gedanke verursachte eine Gänsehaut und Feyk wandte den Kopf, vorsichtig, um ein eventuelles Ausschlagen rechtzeitig zu bemerken. Erschrocken sog er zischend die Luft ein. Unter der Decke hingen seltsame Gebilde von der Schulter des Pferdes herab. Sie wirkten wie verdorrte Äste, ein wenig verdreht, dennoch erkannte Feyk, was sie waren. Was sie sein mussten: Flügel. In keiner Weise mit den flirrenden filigranen Flügeln zu vergleichen, die der andere Pegasus ihm gezeigt hatte. Diese hier wirkten skurril und falsch, verdreht, nahezu verkümmert und doch waren es zusammengefaltete Schwingen.
Ein weiterer Pegasus!
Feyks Verblüffung stieg, denn mit der wunderschönen Niftha hatte dieses Pferd außer der Farbe und dem schlanken Körperbau nichts gemein. Keine Ausstrahlung, kein Feuer. Es war schwerlich vorstellbar, dass dieses entseelte Wesen sich in die Luft erheben konnte.
Feyk hörte Schritte näherkommen und widmete sich rasch intensiv dem Abwaschen der Beine. Thyon trat an die Stalltür und beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Er wartete, bis Feyk fertig war und sich aufrichtete.
„Erzähl mir von dem Reiter: Wie sah sein Pferd aus? Hast du etwas Ungewöhnliches bemerkt?“
Feyk zögerte mit der Antwort und bemerkte bestürzt, dass nur noch sie beide im Stall waren. Der Druck in seiner Kehle wurde zu einem Kloß, den er unbemerkt hinunterschlucken wollte.
Bohruns Wachen würde ihn bestrafen, wenn sie herausfanden, dass er einem Pegasusreiter des Südostreiches geholfen hatte, unbemerkt zu fliehen. Vigars Vorsprung war zu groß, er war längst über die Grenze. Andererseits wollte er zurückkommen … Schlagartig wurde Feyk klar, welcher Gefahr sich Vigar damit aussetzen würde.
„Es war klein. Ein Schimmel“, erzählte Feyk.
„Und sonst? Ist dir etwas anderes aufgefallen?“ Thyons Hand streckte sich unglaublich schnell aus, ergriff Feyks Kinn, zwang ihn so, ihn direkt anzusehen. Verzweifelt versuchte Feyk, seinen Körper stillzuhalten, nicht zu beben, nicht schneller zu atmen, sich zu entspannen. Alles konnte ihn verraten, der schnelle Herzschlag, das Zittern seiner Hände, der unruhige Blick. Unter Thyons hellen Augen fühlte er sich verängstigt. Er durfte um keinen Preis etwas offenbaren. Vigar würde kommen und ihn holen. Er durfte kein Wort verraten.
„Nein, Herr“, erwiderte Feyk entschlossen.
„Bist du dir sicher?“, erkundigte sich Thyon noch einmal und seine Stimme hatte einen etwas schärferen Unterton angenommen, den Hauch von Gefährlichkeit. Kälte schien durch den Stall zu kriechen. Vielleicht war es diese Andeutung von Gefahr, die Feyk stärkte, denn er straffte sich, sah Thyon ruhig und gefasst an.
„Ja, Herr. Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“ Thyon ließ ihn abrupt los und musterte ihn nachdenklich. Schließlich lächelte er und nickte bedächtig. „Gut, Feyk.“
Er wandte sich ab, schritt zur Stalltür und Feyk entspannte sich endlich. Der halbleere Eimer zitterte leicht in seiner Hand und er griff schnell nach dem anderen, der leer vor dem Pferd stand. Er sollte dem Tier noch etwas Wasser anbieten, auch wenn es teilnahmslos blieb und auf den Boden starrte. Vielleicht hatte es Hunger? Feyk verließ den Stall und wollte dem Pferd Heu holen, als ihn Thyon abermals ansprach. Der Akylongin stand im Schatten des Eingangs, die Finger fuhren die Linien des geschnitzten Dämonenabwehrzaubers nach, seine hellen Augen leuchteten regelrecht aus dem Dunkel.
„Von deinem Herrn habe ich vernommen, du warst die ganze Nacht auf dem Zimmer dieses Mannes mit dem Schimmel. Er sagte mir, du versiehst auch andere Dienste als die im Stall?“ Silbrig wie Spiegel schienen die Augen zu sein: undurchdringlich und geheimnisvoll. Feyk konnte sich einen Moment lang nicht rühren. Zaghaft nickte er und starrte auf den festen Lehmfußboden des Stalls.
„Sehr schön“, befand Thyon mit einer Stimme, die einen kaum hörbaren Ton kalter Schärfe enthielt. „Ich werde dem Wirt Bescheid geben und erwarte dich ebenfalls in meinem Zimmer.“
„Ja, Herr“, brachte Feyk hervor, ohne sich umzudrehen, viel zu leise und hoffnungslos. Bereits die Vorstellung mit Thyon alleine in einem Raum zu sein, schnürte ihm die Luft ab. Ihm zu Willen zu sein, ließ seinen Körper zu Eis gefrieren.
Feyk hatte kaum den Gastraum betreten, als ihn Jaskor auch schon entdeckte. Er hasste Jaskors Blick, auch das auffordernde Kopfnicken, mit dem er ihm bedeutete, auf Thyons Zimmer zu gehen. Feyk hasste es so sehr, eine Ware zu sein, nicht selbst über seinen Körper bestimmen zu dürfen.
Während er Stufe um Stufe hinaufstieg, immer langsamer werdend, kam ihm zu Bewusstsein, dass er nichts von den Schwierigkeiten Vigars wusste, oder von dessen Auftrag. Warum war er in den Ländern des Nordwestens unterwegs gewesen? Was hatte er getan? Warum verfolgten ihn die Wachen Bohruns? Und warum hatten diese einen Pegasus dabei, der so anders war als Niftha?
Eine Weile stand Feyk unschlüssig vor Thyons Tür und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Was auch immer da drinnen geschehen mochte, er durfte sich Thyon gegenüber nichts anmerken lassen. Er würde dessen Wünsche bestmöglich erfüllen und wieder gehen. Noch einmal holte er tief Luft und klopfte. Thyon öffnete sofort die Tür und lächelte ihn freundlich an.
„Ah, Feyk, komm herein.“ Er trat beiseite, um ihn einzulassen. Mit einem mulmigen Gefühl betrat Feyk in den Raum, spürte Thyons intensiven Blick in seinem Rücken und blieb abwartend stehen. Der Raum war klein und enthielt nur ein Bett rechts von ihm, einen Tisch vor dem Fenster zum Hof und einen Kamin. Feyk kannte jeden dieser Räume von seiner Arbeit, die Feuer zu entzünden oder Holz nachzuliefern. Dieses Gasthaus war seine ganze Welt.
Thyon ging an ihm vorbei zu dem kleinen Tisch und schenkte zwei Gläser ein. Er trug nur noch eine enge Hose, hatte das Hemd abgelegt und sich auch der Stiefel entledigt. Feyk musterte verstohlen die seltsam blasse Haut. Thyons Muskeln waren flach und gut ausgeprägt. Golden glänzende Härchen schimmerten an den sehnigen Oberarmen. Sie gaben der Haut in dem gelblichen Schein der Kerzen einen besonderen Glanz. Seine Brust war nahezu unbehaart. Er trug eine dünne, silberne Kette mit einem Anhänger in Form eines Eiszapfens, der täuschend echt aussah. Das Haar reflektierte das Licht und wirkte beinahe so hell wie die Flammen selbst. Sehr dünne, feine Narben zogen sich über seinen Nacken und den rechten Oberarm, ansonsten war sein Körper makellos. Widerwillig musste Feyk anerkennen, dass Thyon ein besonders schöner Mann war.
Langsam drehte sich dieser um, trat, noch immer lächelnd, erneut auf Feyk zu und reichte ihm ein Glas. Verblüfft nahm dieser an. Offenbar Wein, denn die Flüssigkeit war rot und roch süßlich. Feyk hatte noch nie Wein getrunken und betrachtete sein Glas entsprechend unsicher.
„Probiere es. Es wird dir schmecken.“ Thyon nickte ihm ermunternd zu. Vorsichtig nippte Feyk an dem Getränk. Der Geschmack von Alkohol war intensiv, verbunden mit Süße und einem winzigen, herben Nachgeschmack. Der Wein prickelte auf seiner Zunge und er nahm mutiger einen größeren Schluck. Doch, es schmeckte ihm durchaus.
„Siehst du“, meinte Thyon lächelnd und legte die Hand weich und kühl an Feyks Gesicht. „Ich möchte schließlich, dass du dich bei mir wohlfühlst.“ Der fein mitschwingende Unterton in seiner Stimme brachte Feyk dazu, aufblicken.
Thyons Hand streichelte über seine Wange und glitt hinab zum Hals. Die seltsamen Augen ließen Feyk nicht mehr los.
„Du bist ein wirklich hübscher Bursche, Feyk“, stellte Thyon lächelnd fest, umfasste sanft sein Kinn und fuhr ihm mit dem Daumen über die Lippen. Ein feines Brennen blieb darauf zurück, als er seinen Finger tiefer wandern ließ.
„Ich kann verstehen, was er an dir gefunden hat“, raunte Thyon. „Sehr gut sogar.“ Verblüfft starrte Feyk den Nordmann an und nahm hastig noch einen Schluck Wein, um das Prickeln in seinen Lippen loszuwerden. Sein eigener Körper machte ihm Angst, er reagierte viel zu sehr auf die Nähe dieses attraktiven Mannes. Thyon war fremdartig, ganz anders als andere Männer. Seine Hand berührte ihn zärtlich, nahezu liebevoll und sein Blick war sanft und weich. Gänsehaut bildete sich an Feyks Rücken und sein Herz schlug schneller, versetzte den Körper in eine erwartungsvolle Haltung. Er mochte diese Berührungen, sehnte sie förmlich herbei. Der Hunger saß unendlich tief und war über die Jahre hinweg gewachsen. Noch nie hatte ihn ein anderer Mann derartig behutsam liebkost. Thyons Finger erkundeten sein Gesicht, fuhren jede Linie des Halses nach.
Feyks Atem beschleunigte sich weiter, er schauderte und schluckte, bemüht, Thyon nicht anzustarren. Dieser Mann verunsicherte ihn. Seine Berührungen waren wohltuend, sein Duft herrlich angenehm, der schöne Körper warm, einladend, verführerisch und doch ...
Thyons Hand streifte die feinen Härchen in Feyks Nacken, wanderte am Hals entlang und nach vorne zu der Schnürung des Hemdes. Weitere Schauer rannen über Feyks Rücken, ließen sein Glied erwartungsvoll zucken.
„Ich möchte, dass du es genießt“, flüsterte der Akylongin, näherte sein Gesicht Feyks und berührte dessen Wange mit den kühlen Lippen, ließ diese gerade eben so über die Haut und die Härchen gleiten. „Jeden Moment davon. Mein Geschenk an dich ist kostbar und selten.“
Überrascht holte Feyk Luft, wich kaum merklich zurück und wandte den Kopf. In Thyons Zügen war jedoch nichts weiter zu sehen als Zärtlichkeit, eine Art unausgesprochenes Versprechen. Feyk hatte dennoch Angst, sein Herz klopfte mit schnellen harten Schlägen gegen den Brustkorb und seine Kopfhaut prickelte seltsam.
Konnte er Thyon vertrauen? Durfte er ihn gewähren lassen? Was hatte er mit ihm vor? Sollte nicht er dem Nordmann einen Dienst erweisen, ihm zur Lustbefriedigung dienen? Oder gehörte dies hier dazu?
In Feyks Körper breitete sich ein unbekanntes Gefühl aus, sandte abwechselnd Wärme und Kälte durch seinen Unterleib. Er spürte die beginnende Erregung, das Ziehen in den Lenden, durchmischt mit einer fiebrigen Wärme, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Verwirrt nahm er noch einen Schluck von dem Wein.
„Zieh dich aus, Feyk“, flüsterte Thyon in sein Ohr, berührte es dabei mit den Lippen, knabberte zart daran. „Dir wird warm werden.“
Er nahm Feyk das Glas aus der Hand und schob die Hände am Kragen unter das Hemd, knetete weich seine Schultern. Die Kühle seiner Finger brannte eigenartig unangenehm, versetzte Feyk winzige Stiche. Er zögerte nur einen Moment, sein Hemd auszuziehen, denn seine Haut fühlte sich tatsächlich merkwürdig heiß an und sein Körper schien innerlich zu beben. Noch nie hatte er sich derart gefühlt, erregt, kalt und heiß zugleich. Hektisch ging sein Atem und dennoch füllte er kaum seine Lungen, die viel zu eng schienen, einem unbekannten Druck auf der Brust ausgesetzt waren. Sein schneller klopfendes Herz verstärkte den Druck noch weiter und Feyk rang immer stärker nach Atem.
Was war hier los? Dies war keine Erregung, die er kannte.
Der Raum erschien ihm plötzlich riesengroß und im nächsten Moment winzig klein, erdrückend, die Wände in ständiger Bewegung. Thyons Augen waren direkt vor ihm, versprühten kleine, helle Blitze, die schmerzhaft in seine eigenen stachen. Schützend hob Feyk die Hand und schwankte. Ihm war schwindelig, der Raum begann sich zu drehen und er griff Halt suchend um sich. Panik drohte ihn zu überwältigen und er keuchte erschrocken auf. Kräftige Hände packten seine Oberarme und hielten ihn. Thyons Stimme war neben, über, in ihm.
„Keine Angst, der Schwindel geht gleich vorbei, Feyk“, raunte sie beruhigend, streichelte seine Seele.
Helle Augen. Wie die gleißende Wasseroberfläche eines Sees. Strahlende Augen, gefährliche Augen, sie drangen in ihn, löschten den Widerstand, nahmen ihm den Willen, die Kontrolle. Feyk presste die Lider fest aufeinander und versuchte sich zu wehren.
„Sieh mich an, sieh mich genau an, Feyk“, befahl Thyons sanfte Stimme, unwiderstehlich, grausam in ihrer Macht. Feyk wand sich, kämpfte stumm gegen den Zwang darin. Er wollte nicht in diese Augen sehen, sie entrissen ihm alles, machten ihn willenlos.
„Feyk ...“ Nachsichtig raunte die Stimme. „Sieh mich an.“
Er schlug die Lider auf. Feyk saß auf dem Bett und Thyon kniete vor ihm, hielt seinen schwankenden Oberkörper aufrecht. Ein mildes Lächeln lag auf den schönen Zügen.
„Du wirst mir ein paar Fragen beantworten“, befahl Thyon. Weitere Blitze stachen in Feyk. Es brannte wie Feuer, schmerzhaft wie Eis, aber er konnte sich nicht mehr abwenden, sein Körper war schwach und betäubt, gehorchte ihm nicht länger.
„Was hast du gesehen?“, befragte ihn Thyon eindringlicher. „Der Reiter mit dem Schimmel. Erzähl mir von ihm.“ Ohne sein Zutun, gegen seinen Willen öffneten sich Feyks gefühllose, brennende Lippen und die Worte perlten über die taube Zunge. Er hörte sie kaum, vernahm sich selbst nicht richtig, als er stockend alles erzählte. Thyons Stimme entlockte ihm weitere Worte, seine Augen zwangen sie hervor.
„Was genau hat dir der Pegasusreiter erzählt?“
Betäubt, voll Widerwillen und hilflos der Macht dieses Mannes ausgesetzt, berichtete Feyk alles, was er wusste, erzählte von Vigar, von dessen Enthüllung, dem Versprechen. Kein Wort ließ sich zurückhalten.
„Sehr gut, Feyk“, meinte Thyon endlich befriedigt und streichelte ihm über die kurz geschorenen Haare. Die Augen wurden milder, waren nicht mehr gleißend hell, nicht mehr so gefährlich. „Sei bedankt für deine Hilfe. Du bist ein guter Junge.“
Thyon drückte Feyk, der noch immer keine Kontrolle über seinen Körper hatte, auf das Bett zurück, und hob auch die Beine mit hinauf.
„Welch ein glücklicher Zufall.“ Thyon legte seine Hand an Feyks Wange. Die Berührung war kalt, heiß, brannte.
„Ich werde dich in Bohruns Feste bringen. Er wird sich sehr freuen, dich zu sehen.“ Thyon schüttelte ungläubig lachend den Kopf. „Vigar hat dich also erkannt. Ein einfacher Chiad und dennoch ein Pegasuscitar.“ Verblüffung und echte Freude sprach aus seinen Worten. „Wer hätte das gedacht? Armer Vigar. Erneut muss er scheitern. Aclodh wird dich nicht bekommen, denn du wirst fortan Bohrun zu Diensten sein. Das Gleichgewicht der Reiche wird endlich wieder hergestellt werden.“ Erneut lachte Thyon auf.
„Schlaf jetzt, Feyk“, raunte er, strich ihm wie einem Kind immer wieder über die Wangen. „Du wirst dich noch eine ganze Weile benommen fühlen, die Wirkung des Aklain hat sich noch nicht voll entfaltet. Also bleib besser liegen. Es wird noch hart werden.“ Betörend sanft diese Stimme, die Berührungen unglaublich zärtlich. Feyk schloss die Lider, überließ sich dem warmen Strom, der durch seinen Körper wanderte, hinab zu den Zehen und wieder hinauf bis in seinen Kopf. Er ließ ihn schweben und fallen, leicht und schwer werden und nur am Rande vernahm er andere Stimmen. Männerstimmen.
Unendlich mühsam blinzelte er, versuchte der Schwere der Lider zu widerstehen. Da waren drei Männer im Raum, die Wachen Bohruns, er erkannte ihre Kleidung. Sie sprachen mit Thyon, dessen Stimme nun wieder scharf klang. Ihre Gesichter verschwammen mit den Zeichnungen der Götter an den Deckenbalken.
„Tötet sie alle. Wir bleiben heute Nacht hier und morgen brennt ihr alles nieder. Nichts und niemand darf Aclodhs Custoren verraten, was geschehen ist, oder wohin wir ihn gebracht haben.“ Die Worte schwebten belanglos an Feyk vorbei, wollten hinaus zum Fenster, ihre Bedeutung verflüchtigte sich. Er brannte von innen heraus, glühte und fror dennoch.
Vigar … Der Name wanderte durch seinen Kopf, einsam, torkelnd, ohne Bedeutung, kehrte hartnäckig zurück und stieß weitere Worte, andere Bilder an, die in dem feurigen Nebel verborgen lagen, der Feyks Kopf ausfüllte. Pegasuscitar! Vigar … er kommt, er holt mich. Wachen Bohruns. Der Pegasus mit den toten Augen. Leblos, verkrüppelt. Thyon. Blitze. Tötet alle, brennt alles nieder.
Nein!
Feyk riss die Lider auf und wimmerte gleich darauf vor Schmerz, denn das grelle Licht der Kerzen stieß mit langen Flammen nach ihm, bohrte sich in seine empfindlichen Augäpfel.
Götter! Thyon will wirklich alle töten. Mirke!
Feyk richtete sich auf, stöhnte vor Schmerz, als seine Arme und Beine Feuer fingen. Ihm war so heiß, dass er zu brennen schien und dennoch fühlte sich sein Magen eiskalt an, zog sich immer wieder krampfhaft zusammen. Torkelnd kam er hoch, stützte sich unbeholfen an der Wand ab und tastete sich zur Tür. Ständig verschwamm der Raum, tauchte alles in das grelle Licht der Kerzen. Er bekam kaum Luft und jeder Herzschlag war wie ein Messerstich. Gerade hatte er die Tür erreicht, als er auch schon gellende Schreie vernahm.
Oh Götter! Sie töten sie! Feyk drückte die Klinke herunter und wollte die Tür öffnen. Sie war versperrt. Taumelnd wandte er sich um und erneut bissen die Flammen nach ihm, loderten gehässigen Schlangen gleich aus den Kerzenhaltern auf ihn zu, durchbohrten qualvoll seine Augen. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Keuchend krümmte er sich und fiel auf die Knie. Solche Schmerzen!
Die Zeit verstrich und er hoffte, dass die Krämpfe irgendwann abebben würden. Das Brennen ließ langsam nach und gierig sog er die Luft ein. Mühsam kam er auf die Füße und torkelte zum Fenster, das zum Innenhof hinausging. Wenn er hinauskletterte, ein Stück an der Wand hinab, konnte er den Sprung nach unten wagen. Es war nicht hoch, er war bereits einmal auf diese Weise vor Jaskors Wut geflüchtet. Völlig nutzlos, denn der damalige Knecht hatte ihn bald darauf eingefangen und ihn auf Jaskors Geheiß so lange geschlagen, bis er geblutet hatte. Vier Tage hatte man ihn danach in den Rattenkeller eingesperrt, einen niedrigen, winzigen Raum unter dem Gasthof, der genau für solche Zwecke angelegt worden war. Dennoch war es nicht Feyks letzter Fluchtversuch gewesen. Aber das war lange her.
Feyks Finger mochten sich kaum krümmen und er bekam das Fenster nur mühsam auf. Immer wieder drehte sich alles um ihn. Der Schwindel ließ allerdings etwas nach, als er die frische Nachtluft einatmete. Schnell schwang er sich hinaus. Sein Körper quittierte diese hastige Bewegung mit brennenden Qualen und er konnte gerade noch nach dem Fensterbrett greifen, um nicht abzustürzen.
Zitternd hing er dort, bis sein Leib nicht mehr brannte, sich nicht mehr in Krämpfen zusammenzog. Seine Füße tasteten nach dem Fachwerk, den vorstehenden Backsteinen der Ausfachungen, die ihm etwas Halt gaben und an denen er weiter hinabklettern konnte. Die tauben Finger und seine steifen Gelenke wollten Feyk nicht recht gehorchen und er musste jede Bewegung langsam, tastend durchführen.
Irgendwann konnten seine Hände sich nicht mehr schließen, war die wenige Kraft verbraucht und er rutschte ab, fiel die letzte Strecke zu Boden und schlug unsanft im Kräuterbeet auf. Feyk unterdrückte sein schmerzerfülltes Stöhnen, krümmte sich erneut zusammen, als sein Magen in Flammen aufzugehen schien und er sich würgend erbrach. Der harte Aufprall, die Pein in seinem Rücken war nichts im Vergleich zu dem glühenden Wühlen im Unterleib. Außer bitterer Galle wollte nichts herauskommen.
Oh Götter! Keuchend rang Feyk nach Luft und presste die Lider zusammen. Er durfte nicht liegen bleiben, er musste weiter.
Stimmen wurden laut. Weitere schrille Schreie und dann ... Stille.
Feyk konnte sich nicht rühren. Egal wie sehr er es versuchte, sein Körper verharrte gelähmt in der zusammengekrümmten Position. Er roch den intensiven Duft der Kräuter, hörte das leise Plätschern von Wasser, das Knistern des Feuers unter den Kochstellen. Seine Augen zeigten ihm nichts als Schatten und Dunkelheit, sein Hör- und Geruchssinn waren extrem geschärft.
„Waren das alle?“, vernahm er eine tiefe, dunkle Stimme, aus der Küche hallend. Sie ließ die kupfernen Töpfe an der Decke sirren. Schwere Schritte, Eierschale, die unter einem Fußtritt knackend zerbrach und der metallische Geruch von Blut.
„Wir haben jeden erwischt. Der große Knecht hat sich gewehrt, aber Hugarh hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Das Pack ist tot.“
Erstarrt, bewegungsunfähig lag Feyk in dem Kräuterbett, während das Grauen seinen Körper erfasste und bis in sein Herz drang.
Alle? Sie haben wirklich alle getötet? Auch Mirke? Nein, bitte, nicht sie. Bitte, nein.
Der schwere Duft von Rosen, gebratenem Fleisch, modrigem Holz und der Fischsuppe, die die Handwerker gerne aßen, drang unangenehm stark in Feyks Nase. Vertraute Gerüche, nur viel zu intensiv, viel zu geballt. Sie überforderten sein Bewusstsein. Sein Kopf schmerzte entsetzlich. Kein Wimmern, kein Schrei kam von seinen Lippen. Sie verharrten auf Feyks Zunge, ätzten sich in die empfindlichen Nervenbahnen.
„Gut. Sag dem Akylongin Bescheid, stell zwei Wachen auf und dann lass uns endlich ein wenig Schlaf finden. Ich bin hundemüde nach dieser langen und erfolglosen Jagd auf Aclodhs Custor.“ Die dunkle Stimme dröhnte in Feyks Ohren, hallte darin gefangen wider.
„Erfolglos würde ich nicht sagen“, antwortete eine kratzende Stimme, die über Feyks Kopfhaut schabte wie Fingernägel über Glas. „Immerhin bringen wir einen Pegasuscitar mit. Bohruns Belohnung für diesen Fang dürfte beträchtlich sein.“ Lachen füllte seinen Kopf, drohte ihn zu sprengen, prallte in Wellen gegen seine Schädeldecke.
Bitte, hört auf, flehte er. Bitte!
Dieses eine Mal erhörten die Götter sein Flehen, denn die Stimmen wurden leiser, die Gerüche weniger intensiv und nach einer endlos erscheinenden Zeit konnte er sich auch wieder bewegen.
Was sollte er tun? Die Droge wütete noch in ihm. Er hatte keine Ahnung, wie sie wirkte, was sie ihm noch antun würde. Alle Bewohner des Gasthofes waren tot und er konnte ihnen nicht mehr helfen. Wenn die Wachen Bohruns und Thyon ihn fanden, würden sie ihn fortschleppen, in den Norden, zu Bohruns Feste.
Nein! Es gab bloß einen Zufluchtsort, den Feyk kannte. Mühsam rappelte er sich auf, atmete wimmernd die brennende Luft in seine Lungen und kam schwankend hoch. Zweimal stürzte er auf dem Weg zum Stall. Sein linker Arm wurde plötzlich steif und unbeweglich, dennoch schaffte er es, konnte das Tor öffnen und gelangte in das vertraute Innere des Stalls.
Hier kannte er sich auch im Dunkeln aus, dies war sein Zuhause. Das spärliche Mondlicht reichte vollkommen. Mit der rechten Hand tastete er sich vorwärts, hin zu den Boxen am hinteren Ende, in denen die zwei Kutschpferde der Händler standen. Er würde eins der Pferde nehmen und versuchen nach Coneoh und über den Grenzfluss zu gelangen. Zu Vigar.
Die Pferde der Wachen begrüßten ihn schnaubend, wichen jedoch irritiert zurück, als er sich taumelnd an den Boxen entlanghangelte. Fahles Mondlicht drang durch die Bretter des Stalls, vermochte hingegen kaum etwas zu erhellen. Feyk konnte dennoch den Pegasus mit der Decke erkennen, der mit gesenktem Kopf dastand und sich nicht zu bewegen schien. Feyk kam ein verwegener Gedanke.
Vigar hielt ihn für einen Pegasuscitar, einen Erwecker. Wenn er mit diesem Pegasus floh, würden ihn die anderen Pferde einholen können? Das Gefühl von kraftvollen Bewegungen unter ihm, dem Wind in seinem Gesicht, war ihm noch präsent. Wenn er den Pegasus zum Fliegen bringen konnte ...
Abermals krampfte sich sein Körper zusammen und er konnte plötzlich auch seine rechte Hand nicht mehr spüren. In seinen Beinen breitete sich die Taubheit weiter aus. Panik griff nach Feyk. Was war dies für eine Droge? Tötete sie ihn? Er musste von hier fliehen.
Mit letzter Kraft zog sich Feyk zu der Box des Pegasus, seinen linken tauben Fuß nachschleifend.
„Bitte“, brachte er hervor, nestelte den Verschluss der Tür auf und stolperte in die Box. Der fremde Pegasus hob nicht einmal den Kopf. Direkt vor ihm sackte Feyk auf die Knie und spürte das bekannte Brennen, die Lähmung sich weiter ausbreiten. Zitternd streckte er die Hand nach dem Tier aus und berührte dessen Nüstern. Kühl strich der Atem über seine Haut, die Barthaare kitzelten an seinen Fingern. Für einen winzigen Moment schienen ihn die toten, schwarzen Augen wirklich wahrzunehmen und in ihnen stand eine derartige Traurigkeit, eine solche Verzweiflung, dass sich Feyk wimmernd zusammenkrümmte und zu Boden sank. Schwarze Schatten schienen ihn zu verschlingen, ihm alles zu nehmen, jede Farbe, jede Hoffnung, jeden Halt. Er stürzte, fiel in einen Abgrund aus brodelnder Schwärze.
Wie zuvor erstarrte sein Körper, lag er bewegungsunfähig im Stroh der Box und abermals verstärkten sich Gerüche und Geräusche, sogar sein Sehen verschärfte sich, offenbarte ihm verwirrende Details. Der scharfe Gestank von Urin im Stroh, der würzige Duft von Heu, erdiger Pferdegeruch gemischt mit Schweiß. Feyk vernahm das laute Schnauben des Pferdes in der Nebenbox, den dumpfen Klang, mit dem eines der Kutschpferde seinen Huf stärker zu Boden setzte, das knirschende Mahlen der Unterkiefer, das Knacken des abkühlenden Holzes der Scheune nach dem warmen Sommertag. Er konnte die winzigen Staubkörner, jede Schattierung im Fell des Pegasus erkennen. Das Tier trat einen Schritt vor und senkte den Kopf zu ihm herab. Weich blies sein Atem über Feyks Gesicht, die Nüstern berührten seine Stirn, die großen Lippen wanderten behutsam über Gesicht und Nase. Der Pegasus schnupperte an ihm und sein leises Schnauben schwebte erstaunlich angenehm durch Feyks schmerzenden Kopf.
Schritte. Feyk vernahm den harten Klang von Stiefeln, energisch und unbarmherzig zum Stall näherkommend. Er konnte sich nicht rühren. Jemand betrat den Stall. Die Schritte dröhnten in Feyks Ohren, hämmerte in seinem Kopf. Noch immer schnupperte der Pegasus an seinem Gesicht, auch, als jemand die Box betrat und sich zu Feyk hinabbeugte.
„Dummkopf“, flüsterte eine bekannte Stimme. „Hier bist du also.“ Thyon drehte Feyk zu sich um. Mitleidig lächelnd sah er auf ihn hinab.
„Es tut mir leid, die Wirkung wird sich noch verstärken. Es wäre besser, du würdest schlafen, dann werden die Schmerzen erträglich sein.“ Thyon hob den Blick zu dem Pegasus, der weiterhin den Kontakt zu Feyk suchte. Sein Lächeln wurde breiter.
„Pegasuscitar. Das bist du wirklich.“ Er klang ehrlich bewundernd. Thyon hob Feyk hoch, nahm ihn wie ein Kind auf seine Hüften, lehnte ihn gegen seinen Körper und trug ihn hinaus. Feyk vernahm ein feines Knistern und schaute über Thyons Schulter zurück.
Der Pegasus blickte ihn an. Wo unter der Decke die verkümmerten, verdrehten Flügel waren, schimmerte ein silbriger Glanz, der sich seitlich fortsetzte. Winzige Funken in der Luft, kaum wahrnehmbar. Wie eine vage Linie angedeutet, breiteten sich Flügel aus und erloschen in nächsten Moment. Teilnahmslos starrten die schwarzen Pferdeaugen ihnen hinterher. Leblos. Resigniert. Tränen benetzten Feyks Wangen und seine Lider sanken endlich hinab. Er fiel. Fiel tief in einen brodelnden Abgrund aus Hitze und Feuer und schrie, schrie laut und so lange, bis seine Lungen platzten und er in winzige Splitter zerbrach.
Murmelnde Stimmen. Ein an- und abschwellendes Summen in seinem Kopf.
Feyks Arme und Beine brannten, glühten in einem inneren Feuer, trotzdem fühlte sich die Haut taub und kalt an. Vorsichtig bewegte er sich. Seltsamerweise wurden die Schmerzen weniger, ebbten sogar ab und er öffnete vorsichtig die verklebten Lider. Zu genau erinnerte er sich an die Qualen, die ihm die Tränen in die Augen getrieben und bis in die Dunkelheit des Schlafes verfolgt hatten. Feyk blinzelte, wollte die Hand heben, um das gleißende Sonnenlicht abzuschirmen. Es ging nicht, etwas hinderte ihn daran. Er richtete sich etwas auf und schaute an sich hinunter. Seine Hände waren vor der Brust zusammengebunden, und als er sich stärker bewegte, bemerkte er auch Seile an den Füßen. Schlagartig erinnerte er sich, was geschehen war, was Thyon und dessen Männer getan hatten. Mirke, Sanbet, Jaskor … alle tot.
Gehetzt blickte er sich in dem Raum um, erfasste die zwei Männer an der Tür. Die schnelle Bewegung sandte glühende Stiche in seinen Kopf, er sank stöhnend zurück und schloss die Lider. Messerstichen gleich grub der Schmerz sich in ihn. Oh Götter, er wollte sterben.
Eine kalte Hand berührte unerwartet seine Stirn.
„Bleib einfach liegen.“ Thyons hatte sich über ihn gebeugt, schaute ihn besorgt an. „Es wird bald schon besser werden.“ Die kühlen Finger legten sich um seine Wange, und auch wenn Feyk Ekel und Angst verspüren sollte, tat die Berührung zu gut, als dass er sich ihr entziehen wollte. Die Finger schienen das Feuer aus seinem Körper zu saugen und hinterließen angenehme Kälte. Verwirrt sah er Thyon an und versuchte zu sprechen, doch nur ein raues Krächzen verließ seine Lippen, kratzte an der Kehle und er hustete gequält.
„Schsch.“ Thyon strich ihm behutsam über den Kopf. „Versuche es noch nicht, Feyk. Bleib einfach still liegen. Ich hole dir etwas Wasser, dann wird es leichter.“ Er stand auf und entfernte sich. Feyk hörte ihn mit dem anderen Mann reden: „Ich kümmere mich um ihn. Nehmt aus der Küche mit, was ihr an Vorräten findet. Macht die Pferde fertig und holt eins von den anderen für den Jungen, anschließend brennt alles nieder. Wir brechen auf.“
Feyks Kopf tat entsetzlich weh. Sein Kopf sank zur Seite und er spürte erneut heiße Tränen fließen. Der Gasthof war, wenn auch ungewollt und ungeliebt, für viele lange Jahre sein Zuhause gewesen. Er hatte die Menschen gekannt, die hier gelebt hatten und selbst wenn sie ihn nicht immer gut behandelt hatten, hatten sie auf keinen Fall den Tod verdient. Ganz besonders Mirke nicht. Warum hatte Thyon sie töten lassen? Wozu?
Diese Frage brannte auf seinen Lippen und er stellte sie, als ihm der Nordmann kaltes Brunnenwasser brachte, ihm half, sich aufzusetzen und ihm den Becher an die Lippen hielt. Thyon lächelte mitfühlend.
„Du musst begreifen, Feyk, dass manche Dinge getan werden müssen, auch wenn es nicht einfach ist. Der Tod dieser Menschen ist bedauerlich, war jedoch notwendig. Wenn ich sie am Leben gelassen hätte, würden sie womöglich Aclodhs Custore auf unsere Spur bringen und die würden den Göttern das Licht rauben, um dich in ihre Hände zu bekommen. Mein Pegasus kann nicht uns beide tragen. Wir hatten uns aufgeteilt und mich und Bohruns Wachen hat man dorthin geschickt, wo die Wahrscheinlichkeit am geringsten wäre, dass der Custor die Grenze überqueren würde.“ Zum ersten Mal beobachtete Feyk, wie sich das schöne Gesicht ärgerlich verzog.
„Das war dumm, aber Doghals Entscheidungen widerspricht man nicht. Diese verdammte Jagd war umsonst und nun finde ich dich und habe nur einen Pegasus dabei.“ Thyon fluchte verhalten und ballte seine schlanken Finger zu Fäusten. Schließlich besann er sich und lächelte Feyk bedauernd an.
„Wenn Aclodhs Custore dich suchen und uns einholen sollten, werde ich dich womöglich nicht vor ihnen schützen können. Sie sind uns vermutlich überlegen. Daher müssen wir extrem vorsichtig sein, wenn ich dich unversehrt zu Bohrun bringen will.“
„Mich schützen?“, fragte Feyk verblüfft nach und seine Angst wandelte sich in Wut.
„Ihr habt mich doch gefesselt und betäubt. Sie würden mich eher vor Euch beschützen“, stieß er zornig hervor. Thyon blickte ihn eine Weile mit unbeweglichem Gesicht an.
„Du verstehst noch nicht, wie wichtig du wirklich bist, Feyk. Aclodhs Custore werden dich ebenso bekommen wollen, wie Bohrun dich auf seiner Seite haben will. Eher würden sie dich töten, als zu billigen, dass du in Bohruns Feste gelangst.“ Feyk zuckte erschrocken zusammen.
Ihn töten? Nein, das würde Vigar gewiss nicht zulassen, oder? Leise Zweifel nagten an seiner Seele. Er wusste nicht viel über ihn oder Aclodhs Custore. Thyon hingegen schien Vigar durchaus zu kennen.
„Er wollte mich freikaufen“, brachte Feyk kaum hörbar hervor und wehmütige Hoffnung schwang in seinen Worten mit, die auch Thyon kaum entgehen konnte. Er streichelte zärtlich durch Feyks Haare.
„Bei der Möglichkeit, einen Pegasuscitar in die Hand zu bekommen, würde jeder von uns alles tun, alles versprechen, um deiner habhaft zu werden. Glaub mir, Feyk. Auch Vigar.“ Die Hand verharrte, der Daumen strich die Tränenspur von Feyks Wange fort.
„Besonders Vigar.“ Für einen Moment nahm Thyons Gesicht einen eigenartigen Ausdruck an und seine Gedanken schienen weit entfernt zu verweilen. Feyk beobachtete das schöne Gesicht. Was wusste er von Vigar? Woher kannten sich die beiden Männer? Thyons Mund zuckte und er wandte sich erneut Feyk zu.
„Seit Jahrhunderten ist kein Citar mehr geboren worden. Du bist einzigartig und unglaublich kostbar. Du weißt ja gar nicht, wie kostbar“, meinte der Akylongin, weiterhin mit diesem eigentümlichen wehmütig erscheinenden Ausdruck, den Feyk nicht deuten konnte. Thyon machte eine Pause und beugte sich vor, um die Fußfesseln zu lösen.
„Du wirst es noch verstehen lernen. Wir haben einen langen Ritt vor uns und ich werde dir alles erklären. Du wirst es begreifen. Alles.“
Die Hitze der prasselnden Flammen drang bis zu ihnen herüber. Der Rauch war vielleicht sogar noch von Coneoh aus zu sehen, wenigstens jedoch bis zu der Ansiedlung vier Meilen östlich, die Jaskors Gasthof regelmäßig mit Waren belieferte.
Und dennoch würde jede Hilfe zu spät kommen. Feyk saß auf dem braunen Pferd des Händlers und musste hilflos zuschauen, wie Bohruns Wachen ihr zerstörerisches Werk vollendeten. Nichts konnte er dagegen tun.
Noch immer wütete die unbekannte Droge in seinem Körper und jeder Gedanke an Widerstand oder Flucht war zwecklos. Thyon hielt sein Pferd am Zügel, saß schweigend neben ihm auf seinem Pegasus.
Er hatte vorhin das Haupt vor dem Lichtstein geneigt und eine der Fackeln entzündet. Ob er wirklich für die Toten gebetet hatte?
Feyks Kehle war eng, als das Dach der Scheune krachend in sich zusammenbrach und große Flammen in den Himmel schlugen. Seine Zuflucht der letzten Jahre war im Feuer aufgegangen. Irgendwo wieherten die anderen freigelassenen Pferde angstvoll. Wenigstens sie würden überleben und den Flammen nicht zum Opfer fallen. Es war kaum ein Trost.
Die anderen Männer kamen zu ihnen, saßen auf, folgten Thyon und ihm schweigend in Richtung Norden. Noch einmal schaute sich Feyk um, verspürte eine Traurigkeit, die er nicht erwartet hatte.
Thyon trabte an. Feyk klammerte sich rasch mit den gebundenen Händen an der Mähne und dem Sattel fest. Er war fortan vollauf damit beschäftigt, nicht vom Pferd zu fallen.
Sie ritten lange Zeit, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Thyon und seine Männer folgten zunächst dem Verlauf der großen Nordsüdstraße durch die unendlich scheinenden Kiefernwälder. Bald schon verließ die Gruppe die befestigte Straße und ritt auf schmalen Wegen weiter. Sie mieden bestmöglich Ortschaften und damit jeden Kontakt zu anderen Menschen. Mittags rasteten sie an einem kleinen Bach und Feyk war froh, in dem trockenen Gras zu liegen und nicht weiter durchgeschüttelt zu werden.
Er war kein geübter Reiter und zudem erlitt er immer wieder krampfartige Anfälle, bei denen er zweimal beinahe vom Pferd gestürzt wäre. Jedes Mal hatte ihn Thyon aufgefangen, ihn festgehalten, wenn er sich vor Qualen gekrümmt und wimmernd mit den Tränen gekämpft hatte. Was auch immer ihm der Nordmann gegeben hatte, es wirkte noch nach.
Frisches Wasser half die feurigen Schmerzen zu vertreiben und durchaus dankbar nahm Feyk auch ein wenig Brot an, welches ihm einer der anderen Männer mit einem aufmunternden Nicken reichte. Sie sprachen nicht viel miteinander. Feyk kam es vor, als ob sie alle Thyons Nähe mieden. Der Akylongin sagte ebenfalls kaum ein Wort. Feyk wollte auch nicht mit ihm reden, wich dem Blickkontakt aus. Seine Gedanken kreisten stattdessen ständig um Vigar.
Würde der Pegasusreiter wirklich zurückkommen? Was würde er tun, wenn er den zerstörten Gasthof fand? Konnte und wollte er ihnen folgen? Thyon versuchte offenbar, ihre Spur sorgfältig zu verwischen. Seine Anspannung und Wortkargheit bewiesen eine gewisse Unruhe und Bedrohung, die von den Custoren Aclodhs ausging. Fürchtete er Vigar vielleicht selbst? Gegen Abend nahm Thyon die Decke von seinem Pferd, befahl einem der Männer, auf Feyk achtzugeben und ritt voraus. Der Pegasus galoppierte an. Die kurzen, merkwürdig falschen Flügel breiteten sich gleich totem Geäst aus. Schon nach wenigen Galoppsprüngen stieß er sich kraftvoll ab und flog davon. Mit offenem Mund starrte ihm Feyk hinterher. Während des Ritts hatte es ausgesehen, als ob das Pferd sich schwerfällig bewegen, müde einen Huf vor den anderen setzen würde. In der Luft hingegen wirkte es elegant und entfernte sich rasch, viel schneller, als es ein Vogel konnte.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, meinte der Mann neben ihm und sah dem Pegasus ebenso ehrfürchtig nach wie Feyk. Es war die Wache, die ihm das Brot gegeben hatte, ein kräftiger Mann mit hellen grünen Augen und einem sehr runden Gesicht. Thyon hatte ihn vorhin mit Brighan angesprochen. Er lächelte Feyk offen an.
„Warte erst, bis du die anderen siehst. Thyons Pegasus ist alt und wird bald schon seine Fähigkeit verlieren“, meinte er. „In Bohruns Feste gibt es einen ganzen Stall dieser Geschöpfe. Noch sind es nicht genug, aber dank deiner Gabe wird Bohrun eine richtige Armee zusammenbekommen, der keiner mehr etwas entgegensetzen kann. Auch Aclodhs verdammte Custore nicht mehr. Keiner wird es wagen, in das Nordwestreich einzufallen und unseren Herrscher zu bedrohen. Wir werden sie zurückschlagen und unseren Völkern Frieden und Wohlstand bringen.“
„Gibt es denn Krieg zwischen den Reichen?“, wollte Feyk wissen. Natürlich hatte er recht abgeschieden gelebt, dennoch, von einem Krieg hätte man im Gasthof doch bestimmt erfahren.
Brighan musterte ihn nachdenklich.
„Schon immer. Seit Jahrhunderten sind die Häuser des Nordwestens und des Südostens verfeindet und es waren die Pegasusreiter, die den Krieg im Stillen führen. Aclodhs Spione sind überall, sähen Zwietracht unter die Menschen, zetteln Rebellionen an und verbreiten Verleumdungen. Heimlich, versteckt, unbemerkt von den meisten Menschen.“
Er presste kurz kleinen Finger und Zeigefinger aneinander und bedeutete Feyk, ihm zu folgen. Er half ihm hinüber zu den anderen Männern, die unter ein paar Bäumen ein Lager aufschlugen und ihre Vorräte auspackten. Brighan breitete eine Decke aus und winkte Feyk zu sich heran, hieß ihn sich darauf zu setzen, was er auch ohne Gegenwehr tat. Die Wache fesselte ihm die Füße. Feyk ließ es geschehen. Wozu sollte er sich wehren? Noch immer war er von der Droge geschwächt und mit gefesselten Händen war er den Männern ohnehin unterlegen.
Brighan setzte sich zu ihm, gab ihm Wasser, etwas Brot und fuhr in seiner Erzählung fort: „Teile der Geschichte der beiden Reiche wirst du gewiss schon kennen.“ Nachdenklich kaute er an einem Stück kaltem Fleisch und reichte Feyk ebenfalls etwas. „Einst gab es eine gewaltige Feste am Ufer des Malosan, des großen Grenzflusses direkt an der Furt. Sie wurde von dem mächtigen Herrscher Ubrukh gebaut, dem Herrn über alle Völker, denn damals waren die beiden Reiche noch eins. Ein großes Reich mit vielen unterschiedlichen Völkern. Sie trieben Handel und jeder schätzte den anderen, sei es einer vom wandernden Buzahvolk, ein Reiter der Ebene von Lacar, vom Deltavolk, aus dem Schattenreich, einer der Küstenmenschen, der Steinmenschen oder dem Nordvolk.
Dann entzogen die Götter Ubrukh jedoch ihre Gunst und seine Frau gebar ihm Zwillinge, zwei starke Söhne zugleich.“
Brighan schnitt sich ein Stück Käse ab und wollte auch Feyk etwas geben, doch er schüttelte den Kopf. Sein Magen begann schon wieder zu brennen und er wusste, dass bald ein neuer Anfall kommen würde. Götter, wann ging das endlich vorbei?
„Niemand sonst war bei der Geburt anwesend, außer der Magd, die selbst unter der Folter nicht verraten wollte, welches der Kinder das Erstgeborene war. Ubrukh ließ in seinem grenzenlosen Zorn auch seine Frau foltern, versuchte mit allen Mittel, die Wahrheit zu finden, doch sie verriet nichts“, fuhr Brighan fort. „Kein Wunder, sie schützte das Leben ihre Söhne, denn nur der Erstgeborene hatte nach dem Gesetz der namenlosen Götter das Recht zu leben. Jeder weitere Sohn hätte getötet werden müssen, damit er nie in Versuchung geraten würde, nach der Macht zu greifen. Daher bestimmte Ubrukh zähneknirschend beide Söhne zu seinen Erben. Actarahn und sein Bruder Borugmer waren sich in allem gleich. Von der Statur, der Kraft und dem Wesen. Und sie verliebten sich in die gleiche Frau.“ Ein feines Lächeln hob Brighans Mundwinkel an. Er spie zweimal kurz hintereinander aus und griff an sein Schutzamulett.
„Natürlich. Die meisten Kriege werden wegen solcher Nichtigkeiten angefangen.“
In Feyks Körper wurde das Brennen stärker. Mühsam unterdrückte er ein Seufzen, versuchte weiter zuzuhören, den feurigen Schmerz bestmöglich zu ignorieren.Die nächsten Krämpfe kündigten sich als Zittern in der Haut an. Sein Gehör schärfte sich.
„Anfangs teilten beide Männer sich diese Frau, doch dann gebar sie einen Sohn. Der Thronerbe war da, und die Männer begannen sich zu streiten, wer der Vater wäre, wem das Recht auf die Frau zustand, wer der Mächtigere von ihnen war, wer über die Feste befehlen durfte, wem die Herrschaft über das Reich und die Völker gehörte. Eins führte zum anderen und schon bald kämpfte Soldat gegen Soldat, Nachbar und Freund als erbitterte Feinde gegeneinander. Es war Borugmer, der sich nach einem schweren Kampf mit seinen Männern bis hinter die Sandberge in die Ebene von Lacar zum Reitervolk zurückzog. Die namenlosen Götter wollten ihn auf dem Thron sehen und sandten ihm ein Zeichen. Er erfuhr beim Reitervolk von dem Geheimnis der Pegasuspferde und machte es sich zunutze. Er baute ein neues Heer auf, angeführt von zwanzig Pegasusreitern und brachte seinem Bruder in der großen Schlacht von Siztha eine vernichtende Niederlage bei. Actarahn war gezwungen, sich auf die Südostseite des Grenzflusses zurückzuziehen. Die große Feste wurde zerstört, die Frau und ihr Sohn in den Wirren getötet und sie schlossen endlich Frieden.
Die Reiche wurden geteilt und die Völker lebten fortan friedlich. Statt jedoch seine Niederlage zu akzeptieren, schickte Actarahn heimlich seine Männer in die Ebene und raubte dem Reitervolk all die verbliebenen Pegasuspferde. Borugmer blieben nur die, die seine Wachen ritten und das waren wenige. Seit dieser Zeit herrscht ein stiller Krieg zwischen den Reichen. Die Nachfahren Borugmers und Actarahns herrschen über ihr jeweiliges Reich. Bohrun im Nordwesten und Aclodh im Südwesten. Die Pegasusreiter Bohruns sind Aclodhs Custoren in einer direkten Konfrontation bisher meist unterlegen gewesen. Die Zucht Aclodhs ist besser und sie haben mehr Tiere als wir. Dies wird sich nun bald ändern.“ Er lächelte Feyk aufmunternd an.
Dieser bekam es kaum noch mit und konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, als die Schmerzen schlagartig aufloderten und sein Körper sich verkrampfte. Pein erfüllte Feyks Denken und er sehnte sich nach der kühlen Berührung durch Thyons Hände, die Linderung versprachen. Doch Thyon war nicht hier.
Die anderen Männer rollten sich in ihre Decken ein, Brighan blieb bei ihm. Wenn er noch etwas sagte, verstand Feyk ihn nicht mehr, denn sein Geist verschloss sich vor den Qualen. Zu seiner Erleichterung hielt der Anfall nicht lange an. Kaum lag er keuchend still und lauschte auf das Verebben der Schmerzen, nahm er sich verzweifelt vor, Thyon zu fragen, was er ihm gegeben hatte und wie lange diese Wirkung anhalten würde.
Offenkundig hatte Brighan die ganze Zeit neben ihm gesessen und sich nicht gerührt. Langsam wurde es dunkel und noch immer war Thyon nicht zurück. Feyk schämte sich und verstand seine Gefühle nicht, doch er sehnte die Rückkehr des Nordmanns herbei. Sein Körper und Geist waren jedoch zu erschöpft und er schlief bald ein.
Gegen Morgen wurde er wach und fand Thyon dicht neben sich. Der Nordmann saß mit dem Rücken an einem Baum und betrachtete ihn. Sein ebenmäßiges Gesicht war erschöpft und die Augen wirkten müde. Erleichterung war Feyks erstes Gefühl bei seinem Anblick und er wandte hastig den Kopf, damit Thyon es nicht sehen konnte. Zugleich machte sich in seinem Unterleib ein überaus dringendes Bedürfnis bemerkbar.
„Komm, ich helfe dir.“ Der Nordmann schien etwas von Feyks Not zu ahnen, denn er schob die Hände unter seine Achseln und zog ihn auf die Beine. Feyk hatte kaum Kraft zu stehen und ließ zu, dass ihn Thyon die kurze Distanz zu einem Gebüsch schleppte. Mit brennenden Wangen hielt er still, als dieser ungefragt die Schnürung seiner Hose öffnete und er sich endlich erleichtern konnte. Thyon verlor kein Wort über die peinliche Situation, brachte ihn anschließend zurück und holte Wasser.
„Trink. Es ist wichtig, dass du viel trinkst, dann werden die Krämpfe schneller vergehen.“
Feyk zögerte, tat jedoch, wie ihm geheißen.
„Was habt Ihr mir gegeben?“, wagte er endlich zu fragen.
„Es wird nachlassen, die Schmerzen und auch die Krämpfe. In der nächsten Phase wirst du sehr erschöpft sein und viel schlafen.“
„Nächste Phase? Habt Ihr mich vergiftet?“ Entsetzen breitete sich in ihm aus, ließ sein Herz jagen und beschleunigte den Atem. Götter! Was hatte dieser Mann mit ihm getan?
„Nein, Feyk, nicht vergiftet. Dein Körper wird die zwei Phasen unbeschadet überstehen. Es ist nur eine Droge, die dich gefügiger werden lässt. Wenn du wirklich die Fähigkeit besitzt, Pegasuspferde zu erwecken, braucht Bohrun einen Citar, der bedingungslos gehorchenwird.“ Thyons Miene blieb gelassen. Kälte breitete sich in Feyks Körper aus, setzte sich in seinen Knochen fest. Sein entsetzter Verstand konnte oder wollte nicht fassen, was Thyon ihm derart ruhig mitgeteilt hatte.
Gefügiger? Feyk schauderte und ihm wurde grausam hart bewusst, dass sich für ihn nichts geändert hatte. Er war noch immer ein Sklave, ein Gefangener, den man notfalls mit Gewalt zwingen würde, seinem neuen Herrn zu Diensten zu sein.
„Glaube mir, es ist besser so. Leichter für dich.“ Thyons Blick schweifte nachdenklich hinüber zu dem teilnahmslos dastehenden Pegasus. Er hatte ihm die Decke nicht wieder aufgelegt und die schwarzen, verkrüppelten Flügel versetzten Feyk Stiche in die Brust.
Ein wehmütiger Ausdruck erschien auf Thyons Gesicht und er seufzte.
„Es ist die gleiche Droge, die wir den Pegasus in Bohruns Feste geben“, erklärte der Akylongin nahezu tonlos. „Um ihren Willen zu brechen. Um sie zu erwecken, um sie dazu zu zwingen, ihre Flügel zu entfalten.“
Ende der Leseprobe Gesamtausgabe
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Impressum:
© dead soft verlag, Mettingen 2014
© the author
Cover: Casandra Krammer
Bildbearbeitung: Irene Repp
Bildrechte: © colourbox.de
Gesamtausgabe 1. Auflage
ISBN 978-3-944737-66-9
Texte: Coverbild by (c) dead soft verlag / Casandra Krammer
Bildmaterialien: colourbox.de
Lektorat: Sandra Gernt
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Pferde, deren Zauber mich inspiriert, deren Sanftmut und Treue mich immer wieder fasziniert.