Cover

Prolog




Das Schlafzimmer lag im Halbdunkel. Tom hatte Kerzen angezündet und eine CD aufgelegt. Sein Blick fiel auf Susanne. Sie lächelte, als er die Bettdecke aufschlug und sich zu ihr legte. Ihre Augen glänzten fiebrig und ihre Haut wirkte wächsern, ihr Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. Der Krebs hatte ganze Arbeit geleistet und sich durch ihren Körper gefressen. Tom legte seine Hand auf ihre harte Bauchdecke und streichelte sie verschämt.
Es war ein langer Kampf gewesen, ein Kampf, den sie gemeinsam gewinnen wollten und am Ende doch verloren hatten. Jahre der Hoffnung waren dabei gewesen, aber auch Monate des Zweifelns und immer wieder Tage des Zorns. Nun warf der herannahende Tod seinen Schatten über sie. Das letzte Kapitel ihrer jahrzehntelangen Beziehung würde bald zu Ende geschrieben sein.
Jetzt lagen sie nebeneinander im Bett und sprachen über ihre gemeinsame Zeit, lachten über Episoden aus der Vergangenheit und redeten über die Kinder. Sie küssten sich, und Tom schob seinen Körper noch näher an ihren. »Tom?«
»Ja mein Liebling?«
»Die Zeit mit dir war wunderschön. Ich danke dir dafür.« Toms Kehle war wie zugeschnürt, und nur mit Mühe konnte er seine Antwort formulieren. Tränen liefen ihm über die Wangen, er räusperte sich und antwortete mit brüchiger Stimme: »Wie gerne wäre ich mit dir alt geworden. Weißt du noch, wir wollten irgendwann mit unseren Enkelkindern. Und jetzt ...«
»Psst, nicht darüber nachdenken, nicht heute.«
Tom nickte und spürte, wie sie mit ihrer verbliebenen Kraft seine Hand drückte. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte sie an.
»Tom, ich muss dich was fragen. Aber sag mir die Wahrheit!«
»Natürlich – warum sollte ich dich anlügen?«
Sie lächelte wieder, doch ihr Blick war jetzt prüfend geworden. »Sag, bist du in den Jahren unserer Ehe irgendwann mal fremdgegangen?«
Tom schluckte. Susanne stellte die Frage aller Fragen. Zweifelte sie an seiner Loyalität und Treue? Was sollte diese Frage? Wenn er es getan hätte, würde er ihr jetzt sicher nicht die Wahrheit sagen. Es gab Momente, da war Schweigen Gold. Aber auf diese Frage konnte man nicht schweigen. Toms Gedanken rasten. Er sah sie an und bemerkte, dass ihr Lächeln verschwunden war. Schlimmer noch: Ihr liebevolles Gesicht verwandelte sich vor seinen Augen in die gefährliche Fratze eines wilden Tiers - bereit, ihn in der nächsten Sekunde anzuspringen. Tom versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch ihre Finger bohrten sich mit erstaunlicher Kraft in seine Schultern, sie schrie ihn an: »Sag mir die Wahrheit! Sag mir, ob du mich je betrogen hast!? Ich will es wissen: Wie viele Frauen hast du neben mir gefickt?«
Tom wachte auf und schnappte panisch nach Luft. Sein Herz trommelte, doch sein Körper fühlte sich taub an. Es war, als lägen Tonnen von Blei auf ihm, die ihn daran hinderten, auch nur die kleinste Bewegung auszuführen. Er blinzelte in die Dunkelheit und versuchte sich zu orientieren. Das T-Shirt klebte an ihm, und als endlich seine Lebensgeister zurückkehrten, schob er die Bettdecke mit den Füßen weg, um sich Luft zu verschaffen. Gott sei Dank, es war ein Traum. Seine linke Hand berührte die andere Bettseite. Sie war leer. Schon so lange leer.
Er atmete tief durch, schob seinen zerschlagenen Körper über den Bettrand und quälte sich aus dem Bett. Was für ein sonderbarer Traum! Ihm war kalt. Er warf sich einen Morgenmantel über, schleppte sich in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein, das er mit hastigen Schlucken leerte. Ein zweites Glas nahm er mit ins Wohnzimmer und ließ den Blick wehmütig durch den Raum wandern, während seine Gedanken ihre eigene Reise in die Vergangenheit antraten.
Wie hatte sich sein Leben doch in den letzten Jahren verändert! Aus einem glücklichen Ehemann war ein Ruheloser geworden, ein Getriebener, ein Opfer seiner eigenen, verzweifelten Suche nach Liebe und Geborgenheit. Er war in den Strudel der Single-Börsen geraten, und diese hatten ihn bis heute nicht losgelassen, sondern mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit in die Tiefe gezogen. Er wollte seiner Einsamkeit entfliehen, seine Trauer vergessen, seinem Leben eine neue Richtung geben. Nur in der Vergangenheit zu leben, sich ohnmächtig dem Schmerz hinzugeben, entsprach nicht seinem Naturell. Hätte er es zugelassen, dann hätte ihn der Schmerz wie ein Orkan überrollt, ihn überwältigt, vielleicht sogar umgebracht. Tom musste wieder an den Albtraum denken, an Susannes letzte Worte: Wie viele Frauen hast du gefickt? – Zu viele, mein Schatz. Inzwischen viel zu viele! Ich weiß, es ist nicht richtig, aber du bist nicht mehr hier, du sprichst nicht mehr mit mir, du hörst mir nicht mehr zu, du wärmst mich nicht mehr, du kannst meine Leidenschaft und mein Begehren nicht mehr stillen. Du warst das Beste, was mir im Leben begegnet ist, und ich kann nicht aufhören, nach etwas Ähnlichem zu suchen. Tom leerte sein Glas, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Verrückt, was ich alles erlebt habe. Und traurig, dass es mir noch immer nicht gelungen ist, jemanden wie dich zu finden. Ich will eine Frau finden, die ähnlich starke Gefühle in mir auslöst wie du, egal wie lange es noch dauert und wie viele Frauen ich noch kennen lernen muss! Ich gebe nicht auf, nein, ich gebe nicht auf. Es geht um meine Zukunft. Mein Glück. Mein Leben.
Das Gesetz der großen Zahl hielt seine Hoffnung lebendig. Je mehr Frauen er begegnete, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann die richtige seinen Weg kreuzen würde. Er hatte in den letzten Jahren hunderte von Dates, Beziehungen, Kurzbeziehungen, Affären und One-Night-Stands gehabt. Er war das gesamte Programm durchlaufen – und hatte Schwierigkeiten, sich an alle Frauen zu erinnern, die für einen Abend oder eine Nacht die Einsamkeit mit ihm geteilt hatten. Manchmal hatte er geglaubt, der Liebe nahe zu sein, ja, sie in Händen zu halten – nur um bald erkennen zu müssen, dass er wieder loslassen musste oder bereits losgelassen worden war.
Und jetzt? Wie sollte es weitergehen? Hatte er noch die Kontrolle über sein Leben? Oder war er zu einem Stück Holz im fließenden Wasser geworden: emotionslos und zu ständiger Bewegung verdammt, bis Wellen und Wind es an diverse Ufer schwemmte, wo es eine Zeit lang liegen blieb – unfähig, die Richtung dieser Bewegung zu bestimmen? War er am Ende nur mehr ein Spielball fataler Gesetze der virtuellen Partnerbörsen, oder folgte er einem inneren Gesetz, das ihn vorwärts trieb? Suchte er nach Liebe oder mittlerweile nur noch nach Befriedigung seiner Triebe? War er inzwischen nur noch schwanzgesteuert?


Das Gesetz der großen Zahl




Als Susanne für immer ging, wurden die Stimmen in seinem Haus leiser. Besonders schlimm war es, wenn seine Kinder im Bett waren und noch mehr Ruhe einkehrte. In diesen Momenten wanderte Tom von einem Raum in den nächsten, starrte aus dem Fenster und beobachtete die Eingangstüre, so als würde sie sich jeden Moment öffnen und Susanne ihn mit einem Lächeln begrüßen. Mühevoll arbeitete er gegen seine Gedanken, die ihm fortwährend Bilder ihres gemeinsamen Lebens in den Kopf spülten, Bilder, die ihn und seine Seele erdrückten. Er musste aus diesem emotionalen Loch schnellstmöglich raus. Er wusste, würde er sich nicht mit aller Kraft aus ihm heraus stemmen, würde es ihn unweigerlich verschlucken.
Er musste wieder den Atem des Lebens spüren. Tom war kein Mensch, der allein sein konnte, wer ist das schon gerne. Über viele Jahre war er darauf programmiert, sein Leben mit jemandem zu teilen, und genau dieses Programm in seinem Kopf diktierte ihm: Du musst etwas ändern, du musst einen Menschen finden, der wieder mit dir lebt und liebt. Und er war ein Mann, dessen sexueller Trieb weder vor ihm noch vor seiner Trauer Halt machte. Auch wenn in seinem Herzen Susanne verankert war, so schien das seinen Unterleib nicht zu interessieren. Er führte ein Eigenleben und gab Toms Gehirnlappen klare Befehle: Gib mir, was ich brauche, und ich gebe dir im Gegenzug die Energie, um zu überleben.
Tom saß auf seiner cremefarbenen Ledercouch und drückte eine weitere Zigarette im Aschenbecher aus. Er hatte etwas Musik angemacht und lauschte immer wieder den Klängen diverser Soul-Stücke, welche er so liebte. So schön diese Musik auch war, sie ließ ihn melancholisch werden, und er spürte, wie sich eine Träne auf seinen Augapfel legte und als sein Lid sie nicht mehr halten konnte, sie langsam seine Wange hinunter lief. Verschämt, so als wäre er beobachtet worden, wischte er sie mit dem Handrücken weg. »Ja, ich will überleben, verdammt, das Leben ist für mich noch nicht zu Ende.« Wütend über sich und seine Lethargie sprang er urplötzlich auf und rannte ins Bad.
Abgespannt und müde starrte er in den Spiegel, und was er dort sah, war nicht überzeugend, aber auch nicht abschreckend.
Er war jetzt Anfang vierzig, hatte immer noch volles, dunkelblondes Haar, kaum Falten im Gesicht und besaß – den Genen sei Dank – strahlende Augen, einen wohl geformten Mund und schöne Zähne. »Tom, du bist nicht perfekt, aber du hast Ausstrahlung und, was noch wichtiger ist, Persönlichkeit, Stil und Humor. Also lach endlich wieder.« Tom betrachtete sein Gesicht von verschiedenen Seiten und zog Grimassen. Er musste lachen und gleichzeitig liefen Tränen über sein Gesicht. Er atmete tief durch, öffnete den Wasserhahn und genoss, als das kalte Wasser seine heißen Wangen kühlten. Er fühlte sich besser, und als er den Blick wieder in den Spiegel richtete, war er zufrieden. Das Selbstmitleid war verflogen und neue Hoffnung erkennbar. »Mach endlich wieder einen Menschen, einen richtigen Mann, aus dir und stell dich verdammt nochmal dem Leben, du hast nur das eine.«

Tom ging zum Friseur, er kaufte sich neue Klamotten und verschiedene Duftwässerchen. Es war ihm so, als würde er eine Verwandlung durchmachen. Es ging ihm von Tag zu Tag besser. Schon am darauffolgenden Wochenende schob er sich in das Getümmel der Bars, immer den Blick auf Frauen gerichtet, die den eigenen hungrigen Blick erwiderten und ihm im Gedanken zuzuhauchen schienen: Du bist es, auf dich habe ich mein ganzes Leben gewartet. Aber nichts von dem passierte. Tom stand wie andere Männer verloren in der Menge. Er benahm sich genauso linkisch und unsicher und verkroch sich schnellstmöglich in eine Ecke, von der aus man zwar den Raum übersehen, aber sicherlich nicht angesprochen werden konnte. Von wem sollte man auch angesprochen werden, man war ein Niemand, einer unter Millionen von Suchenden, ein potenzieller „Ruf mich an“-Kunde. Jemand, der über Jahre oder Jahrzehnte im Bermuda-Dreieck verschwunden war und plötzlich im Palast der Eitelkeiten wieder auftauchte, mit dem Wunsch, sein Revier abzustecken und Beute zu machen. Doch dies war nicht so einfach, denn Tom war nicht der einzige Jäger und die Zeiten hatten sich geändert. Früher war er in einem seiner Stammlokale erschienen und wurde beachtet, hatte einen gewissen Ruf, den er sich in der aktuellen Szene erst wieder würde schaffen müssen. Außerdem stand die Frau von heute nicht allein an einer Bar, nein, sie umgab sich mit einer Phalanx von Freundinnen. Sie baute sich eine Trutzburg, in die nur die Tapfersten einzudringen vermochten. Er beobachtete sehr genau, wie die Männer agierten. Wie ein Rudel hungriger Wölfe schlichen sie sich an ihre Opfer heran, umrundeten sie, versuchten irgendeine Reaktion der Schwäche zu erhaschen, und als ihnen nur ein mitleidiger oder gar kein Blick zugeworfen wurde, zogen sie weiter oder begaben sich wieder zurück an ihre Plätze. Neben ihm stand eine ganze Männergruppe, die jede Frau im Raum taxierte. Sie waren gut gelaunt und hatten zu jeder einen flapsigen Kommentar übrig. »Hey Charly, siehst du die Schwarzhaarige, Mann was für eine Kanone.«
Charly hatte sie bereits erspäht und antwortete. »Genau meine Kragenweite, die würde unter mir sicherlich eine gute Figur machen.«
Die Horde grölte und man prostete sich zu. »Na dann mal los, zeig, was du drauf hast.«
Charly wischte sich den Pilsschaum von den Lippen, drückte seine Zigarette aus und fuhr sich nochmals durch sein Haar. Man zwinkerte sich zu und Charly machte sich auf den Weg. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und Tom konnte die Spannung förmlich spüren. Auch seine Sinne waren gespannt, schließlich konnte er nur lernen. Irgendwie bewunderte er den Typen, der ohne großes Zögern den Raum durchschritt, und sich wenige Sekunden später vor ihr aufbaute Sie war zweifelsohne eine interessante Frau, auch Tom gefiel sie. Ihr Rock war kurz und bedeckte nur mühsam ihre schönen Beine, welche sie übereinandergeschlagen hatte. Sie nippte an ihren Drink und sprach mit ihrer Freundin. Als Charly sie ansprach, sah sie nicht überrascht aus. Irgendwie – so erschien es zumindest Tom – hatte sie ihn kommen sehen. Ihr Blick war bezeichnend. Als er sie ansprach, wurde er kurz von oben bis unten gemustert, ihre Freundin tat es ihr gleich, und wie abgesprochen erfolgte ein kurzer Blickwechsel, der in einem breiten Grinsen endete. Der Wortlaut muss relativ kurz gewesen sein, denn schon wenig später kam Charly an den Tisch zurück und maulte: »Was für eine arrogante Kuh, also so etwas ist mir auch noch nicht passiert.« Die Jungs unterbrachen ihre belanglosen Gespräche und lauschten, was er zu sagen hatte. Einer von ihnen ergriff das Wort. »Hat sie dich abblitzen lassen?« Breit grinsend zündete er sich eine weitere Zigarette an. Auch Tom war ganz Ohr. »Na klar hat sie mich abblitzen lassen, was für eine Frage.«
»Hey, das passiert einfach, warst halt nicht ihr Typ.«
Charly nahm von seinem Pils einen kräftigen Schluck und beugte sich vielsagend nach vorne. »Wisst ihr, was die freche Göre zu mir gesagt hat?«
»Nee was denn?« Jeder war jetzt sehr gespannt, was ihm widerfahren war.
»Die hat doch glatt zu mir gesagt, ob es meine Zähne auch in Weiß gibt.«
Tom konnte sich das Lachen kaum verkneifen, und auch die Jungs hatten deutlich Mühe, ihr Lachen in Zaum zu halten. Als jedoch Charly plötzlich laut losprustete, war es um die Gemeinde geschehen. Alle lachten, man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern und prostete sich zu. Charlies Zähne waren Thema des Abends, und Tom bewunderte, wie locker er mit der Aussage umging.
Tom hatte für heute Abend genug erfahren. Er war noch nicht bereit, in den Käfig zu steigen. Nur als erfahrener Dompteur hatte er eine Chance, ansonsten würden ihm die Katzen der Nacht eher die Haut abziehen als ihn wollüstig lecken.
Es war frühmorgens, als er in sein Auto stieg. Die Augen brannten, und in seinen Gehörgängen wummerte immer noch der dumpfe Bass der Musik, welcher jede anständige Unterhaltung unmöglich machte. Er startete den Motor, und fast zeitgleich waren wieder diese Gedanken da: Woher soll sie kommen, woher will sie wissen, dass es mich gibt? Soll ich ihr im Supermarkt mit meinem Einkaufswagen in die Fersen fahren, damit sie mich entdeckt? Soll ich mich vor ihr Auto werfen, damit sie mich von der Straße kratzt? Tom hatte sich jeder dieser Fragen gestellt, festgestellt hat er nur eines: Ohne dass er selbst etwas dafür tut und irgendwie auf sich aufmerksam macht, sind die Chancen, sie zu treffen, gleich null. »

Die reale Welt war nicht sehr benutzerfreundlich, wie er empfand. Die wenigen Momente, in denen er sein Haus und seine Kinder verlassen konnte, waren einfach nicht genug, um sich zu präsentieren, auf sich aufmerksam zu machen.
Auch beim Kennenlernen gab es Parameter und die hießen, Zufall, Beharrlichkeit oder Gesetz der großen Zahl. Dieses Gesetz hatte er im Vertrieb kennen gelernt. Je mehr Kontakte man hatte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit auch abzuschließen, und so verhielt es sich mit den Frauen sicher auch. Als junger Mann, so mit Anfang bis Mitte zwanzig, war er mindestens dreimal die Woche unterwegs. Er hatte seine Bars und seine Discos, kannte die Menschen, man grüßte sich und plauderte miteinander. Es waren seine sozialen Kontakte und die pflegte man. Es gab zwar Phasen, in denen man allein war, aber gerade die Häufigkeit des Ausgehens ergab immer wieder Gelegenheiten, die Frau seines Herzens oder seiner Begehrlichkeiten zu entdecken. In seiner jetzigen Lebensphase mit all seinen Verantwortlichkeiten, besonders auch den Kindern gegenüber, war er nicht in der Lage, permanent um die Häuser zu ziehen. Die Ratschläge seiner Familie und Freunde halfen auch nicht weiter: »Du lernst schon wieder jemanden kennen, alles braucht seine Zeit.«
»Geh auf den Golfplatz …«
»Tom, es gibt Reiseveranstalter, die sich auf Single-Reisen spezialisiert haben.«
Es waren gut gemeinte Ratschläge, und Tom hörte sich jeden aufmerksam an. Aber er konnte keinem wirklich etwas abgewinnen.
»Stell dir mal vor, ich fahre in einen Single-Urlaub. Mit mir ein Haufen geiler Männer und ebenso viele Frauen. Alle, ausnahmslos alle werden versuchen, die wenigen attraktiven Frauen für sich zu gewinnen, egal, ob sie selbst attraktiv sind oder nicht. Ein Kampf unter geilen Gockeln. Nein, ganz ehrlich, das brauche ich nicht. Das Geschwätz dieser Idioten geht mir ja schon in den Kneipen auf den Nerv.«
Für jedes Argument hatte Tom ein Gegenargument, und irgendwann wurden die gut gemeinten Vorschläge weniger und hörten schließlich ganz auf. Tom wusste, keiner hatte eine Expertise und diejenigen, die eine hatten, die kannte er nicht. Die meisten seiner Freunde waren verheiratet und die, die neben der Ehefrau eine Freundin hatten, verdankten dies entweder dem Zufall oder ihrer Arbeit. Letzteres kam für Tom nicht in Frage. Er war ein Top-Manager, hatte Personalverantwortung und dementsprechend war seine erklärte Devise: Don’t shit where you eat.

Tom stieg gerade aus der Dusche, als das Telefon klingelte. »Mist, immer klingelt das Telefon, wenn ich auf dem Klo oder unter der Dusche bin.« Seine Laune war nicht die beste, aber das sollte sich schnell ändern. Als er den Hörer abhob, meldete sich eine weibliche Stimme. Es war Gabi, eine gute Freundin aus Jugendtagen. »Hallo Tom, du alter Schwerenöter, wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut, ich beiße mich durch das Leben.«
»Ja, kann ich mir vorstellen, ich weiß, dass du eine schwere Zeit durch machst.«
Gabi war kein Kind von Traurigkeit. Tom mochte ihre Leichtigkeit und ihren grenzenlosen Humor. Sie brachte ihn immer wieder zum Lachen, und das war, was Tom an ihr schätzte. »Ja, es ist nicht einfach, aber es ist auch nicht schwer. Die Kids verarbeiten ganz gut den Verlust ihrer Mama, ich habe nicht allzu große Probleme mit ihnen.«
»Schön, wenn an dieser Front einigermaßen Ruhe ist, du weißt ja, was ich mit meinem Sohn mitgemacht habe.«
»Ja, ich habe dich damals nicht beneidet und dennoch bewundert, wie du immer wieder aufgestanden bist. Irgendwie bist du schon mein Vorbild.«
Gabi musste lachen. »Ich und dein Vorbild, na ja, ganz so sehe ich mich nicht.«
»Ist ja auch egal, auf jeden Fall hast du nie das Lachen verlernt.«
»Ja das stimmt, darüber bin ich sehr froh.«
»Und, wieder verliebt?«
»Mhm, kann ich noch nicht sagen, aber es läuft nicht schlecht an.«
»Typisch Gabi, wo hast du ihn kennen gelernt?«
»Du, ganz verrückt, du wirst es nicht glauben, ich habe ihn im Internet kennen gelernt.«
»Wie, im Internet kennen gelernt?« Tom zündete sich eine Zigarette an, gespannt lauschte er Gabis Erzählungen.
»Im Fernsehen habe ich eine Werbung darüber gesehen, und nachdem ich mir vor einigen Monaten einen Rechner und die Internet-Anbindung geleistet habe, dachte ich mir, warum nicht. Ich hatte keine Lust mehr, immer wieder in denselben Lokalen die gleichen Deppen weg zu labern. Also habe ich mich dort angemeldet und mit verschiedenen Männern gechattet.«
Tom musste lachen.
»Warum lachst du, machst du das auch?«
Tom zögerte für einen kurzen Moment. »Nein, nicht wirklich, oder sagen wir mal so, ich habe das mit dem Chatten auch schon mal versucht, aber auf einer etwas anderen Plattform.«
»Wie, auf einer anderen Plattform?«
»Nun, dir kann ich es ja erzählen, wir kennen uns ja lange genug.«
»Klar, du weißt doch, du kannst mir alles erzählen.«
»Ok, es ist eine irre Geschichte, hast du Zeit? Ich ziehe mir nur schnell einen Bademantel über.«
»Na klar habe ich Zeit.«
Tom eilte zurück ins Badezimmer und zog sich den Bademantel über. Mit einer Bürste frisierte er seine Haare durch, noch ein prüfender Blick in den Spiegel und schon war er zurück. »So, wieder da.«
»Schön, also leg mal los, was ist passiert?«
»Du weißt ja, wie wir Männer sind, wir blättern in Sexmagazinen, wir schauen uns Pornos an und wir besuchen Sex-Seiten im Internet.«
Gabi war bester Laune und Toms Laune wurde immer besser. »Wäre ja schlimm, wenn du anders wärst.«
»Stimmt. Ich habe aus Neugier und Langeweile so eine Sex-Seite besucht, du weißt schon, wo sich Leute treffen und sich sexuell austauschen.«
»Ich weiß schon, was du meinst, bin ja nicht von vorgestern.«
»Also pass auf, wie du erhielt ich über die Werbung einen Hinweis und habe mich kurz darauf dort angemeldet. Die Anmeldeprozedur war relativ einfach. Schnell der Name, ein paar Angaben zum Alter und schon saß ich auf der virtuellen Klippe und schaute hinab in den Strom von Bits und Bytes. Einige hatten erotische Bilder eingestellt, aber die Meisten waren dort eher anonym unterwegs.«
Gabi kicherte am anderen Ende und fragte: »Hast du ein Bild von dir eingestellt?«
»Natürlich nicht, ich war ja nur neugierig. Die Namen, die benutzt wurden, waren schon abenteuerlich genug.«
»Komm erzähl, welche Namen hatten sie?«
»Nun so Namen wie Geile Stute, Dampfhammer oder Swinger Hans«
»Wie war dein Name?«
»Gabi, den weiß ich nicht mehr, er war relativ fantasielos.« »Du bist doch sonst nicht so fantasielos, Tom. Aber erzähl weiter.«
»Ich betrachtete für eine Weile die Chats und stellte fest, dass niemand über Sex redete.«
»Wie, niemand redete über Sex?«
»Du, es waren total profane Themen. Die redeten über Kindererziehung und andere banale Dinge. Sexuelle Themen waren eher unterschwellig.«
»Wie langweilig, das wäre nichts für mich. Was hast du dann gemacht, bist du rausgegangen?«
»Nein, ich war gut drauf und dachte mir, denen fehlt einfach nur die nötige Stimmung, vielleicht muss mal jemand wie ich in das Bienennest stochern und den Jungs und Mädels vor Augen führen, warum sie hier sind.«
»Das ist mein Tom wie ich ihn liebe, erzähl weiter.«
»Ich tippte also meine ersten erotischen Gedanken ein und schickte sie los. Gespannt wartete ich auf die erste Reaktion, aber Geile Stute erklärte weiterhin Dampfhammer, dass die Gesamtschule eigentlich schon zum Scheitern verurteilt sei.« »Unfassbar, und dann?«
»Ich tippte einen neuen Text ein, ließ ihn auf die Menge los und erhielt augenblicklich Reaktionen.«
»Echt, was für Reaktionen denn? »
«Es war, als hätte ich einen Stein ins Wasser geworfen, die Kreise dehnten sich aus und kamen direkt auf mich zu. Als Erstes schrieb mir eine Dame zurück. Ich konnte es nicht glauben, ich war begeistert, meine Bemühungen zeigten den ersten Erfolg.«
»Was schrieb sie?«
»So was wie: Hey, du bist aber gut drauf, erzähl mehr von dir! Ich tippte wie wild meine nächste Nachricht ein. Du weißt ja, das Wasser muss man heiß halten, will man seine Eier darin kochen.«
Gabi war von Toms Geschichte begeistert und es gefiel ihm, dass sie fortwährend kicherte oder sich einen ablachte.
»Also pass auf, sie schrieb zurück, dass sie meine Texte stimulieren. Ich dachte prima und legte noch mehr Briketts auf, um die Hitze zu halten. Immer mehr Frauen schrieben zurück, und weißt du was, es waren auch Männer dabei. Ich hatte richtig Spaß und erzählte jedem, der es wissen wollte, was ich mit meiner Zunge, meinen Händen und meinem Schwanz alles anstellen würde. Ich malte die pikanten Details genussvoll aus und sonnte mich darin, dass die Frauen von meiner Verbalerotik erregt und die Männer amüsiert waren.«
»Ich weiß, du warst schon immer ein guter Geschichtenerzähler. Na dann hast du ja dein Medium entdeckt. In deiner Branche weiß man eben, wie man Dinge verpacken muss, um sie zu verkaufen.«
»Stimmt, noch dazu war ich total anonym, ich konnte mich also richtig austoben, bis …«
»Bis was?«
»Nun, einer der Teilnehmer forderte mich plötzlich auf, dass ich mein Tun beenden soll.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, warum?«
»Sage ich dir gleich. Ich habe erst über den Deppen gelacht, dachte mir, wieder so ein Neider oder Spinner, der hat es einfach nicht drauf und beschwert sich nun bei mir. Ich formulierte also den nächsten Satz und schickte ihn mit einem diabolischen Lächeln los. Schließlich wartete die Meute schon hungrig auf den nächsten erotischen Brocken. Ich wurde richtig angefeuert und so dachte ich mir immer schärfere Sachen aus, die ich den Löwen zum Fraß vorwerfen konnte. Kurz darauf schrieb mich der Typ wieder an.«
»Was hat er gesagt?«
»Wenn Du nicht sofort damit aufhörst, dann wirst du aus dem Chat entfernt. Begib dich gefälligst in einen der privaten Räume. Ich dachte, welche privaten Räume? Mensch, ich bin hier auf einer Erotikseite und gebe den Leuten genau das, was sie wollen. Und seine Antwort kam umgehend.«
»Ist ja spannend, was hat er geantwortet?«
»Du hast unsere Statuten gelesen und akzeptiert, also richte dich auch danach.
»Ich habe meinen Namen eingetragen, meinen Geburtstag und ein paar Häkchen hier und da gemacht, wo sie verlangt wurden. Wer liest schon Statuten oder ähnliches Kleingedrucktes, dafür hatte ich keinen Nerv. Mir war nicht klar, was dieser Typ wollte. Ich schrieb also munter weiter und fütterte meine Raubtiere. Ich hatte einen richtigen Hype und war völlig außer Rand und Band. Ich genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, ich hatte die Menge im Griff. Sie wollten geil gemacht werden, und ich machte sie geil. Ich projizierte ihnen meine Bilder in ihr Kopfkino, und sie genossen es. Ich war so beschäftigt mit meinen Gedanken und Formulierungen, dass ich weiter seine Abmahnungen ignorierte. Ich kam erst wieder zu mir, als ich mit fast wunden Fingerkuppen einen letzten Satz registrierte, in dem es hieß: Wegen Nichteinhaltung der Statuten wirst du für vierundzwanzig Stunden aus dem Chat entfernt. Bums, und schon war ich draußen.«
Am anderen Ende der Leitung lachte Gabi Tränen. »Tom, was für eine Geschichte, besser geht es nicht. Du hast nicht kapiert, dass du in einen der privaten Chaträume hättest gehen sollen. Heißt, du hast wie ein Prediger alle unterhalten und bist dann vom lieben Gott von der Kanzel gestoßen worden. Das ist zu gut, um wahr zu sein.«
»Ja genau, meine Bergpredigt fand keine Gnade vor dem Herrn. Es war mein erstes und bis dato letztes Chat-Erlebnis. Ich bin da nie wieder rein.«
Gabi hustete. »Moment Tom, ich muss was trinken.«
Tom hörte, wie sie einen Schluck zu sich nahm.
»Nein, nein, so läuft es auf meiner Plattform nicht ab. Hier geht es viel seriöser zu.«
Gabi erzählte Tom von ihren Erfahrungen in den Single-Börsen, und er hörte fasziniert fast über eine Stunde zu. Als ihre Geschichte endete, atmete Tom tief durch. Das ist er, mein Weg in ein neues Leben.
»So, jetzt weißt du einiges darüber, und ich schwöre dir, wenn du dich dort einigermaßen normal verhältst, wirst du bald wieder richtigen Sex haben oder dich vielleicht sogar verlieben.« »Gabi, sollte das passieren, bist du die Erste, die es erfährt.«
»Aber bitte mit allen Einzelheiten.«
»Klar, das bin ich dir schuldig. Ich werde mich noch heute anmelden.«
»Prima Tom, lass uns bald mal Essen gehen, einverstanden?« »Einverstanden, ich rufe dich an.«
Ein kurzes Knacksen in der Leitung und Tom war wieder mit seinen Gedanken allein. Ihm gingen Gabis Erzählungen nicht mehr aus dem Kopf. Laut ihren Schilderungen war es so einfach. Er holte sich die Damen via Internet in sein Haus. Und wie Gabi nochmals unterstrich, alle waren Singles, die klar formulierten, was sie suchten. Besser konnte es nicht sein, er war bester Stimmung, und kurz nachdem er sich angezogen hatte, begab er sich in Gabis neue Welt, die auch seine werden sollte.

Er war erstaunt, wie sich seine neue Welt präsentierte. Die Menüführung, nein, das ganze Look & Feel gefiel ihm zunehmend. Angenehme Farben, alles relativ übersichtlich. Man wollte ein Motto von ihm wissen, also machte er sich Gedanken dazu, aber ihm viel spontan nichts Zündendes ein.
Er musste sich beschreiben, seine Augen- und Haarfarbe, Größe und Gewicht. Tom strich sich kurz durchs Haar. Die Größe kein Problem, aber sein Gewicht? Sicherlich, er hatte die letzten beiden Jahre einiges an Gewicht verloren, aber mit ein Meter einundachtzig und zweiundneunzig Kilo empfand er sich immer noch zu schwer.
»Was solls, bis ich jemanden kennen lerne, gehen sicherlich noch ein paar Kilo runter.« So schwindelte er sich mal schnell auf neunundachtzig Kilo. Mit seinem Alter hatte er keine Probleme, er war Anfang vierzig und fand dieses Alter in Ordnung. Körperlich fühlte er sich gut, und natürlich hatte er beruflich etwas vorzuweisen, was mit Anfang dreißig noch nicht unbedingt der Fall und auch in höherem Alter nicht selbstverständlich war.
Man stellte ihm viele Fragen zu seinen Hobbys und seinen Wünschen. Er machte sich zu allem Gedanken und trug fleißig seine Antworten ein. Was ihm allerdings schon am Anfang Kopfzerbrechen machte, war, dass er bei Familienstand verwitwet eintragen musste. Auch die Frage nach den Kindern beantwortete er brav: „Kinder leben bei mir“ Jetzt musste noch ein Foto rein, und da brachen erstmals Zweifel bei ihm auf. Auf allen Fotos war er mit Familie, und die Fotos, welche ihn allein zeigten, waren Pressefotos. Sie zeigten Tom mit Anzug und Krawatte, schick, aber doch sehr bieder. »Was solls, die Fotos sind nicht schlecht, für den Anfang sind sie ok, irgendwann werde ich neue machen.
Es dauerte einige Zeit, bis sein Profil fertig gestellt war, er achtete auf Rechtschreibfehler und seine Komma-Schwäche und war ganz stolz, dass er den Nick „Somebody2Love“ gewählt hatte. Er liebte dieses Lied von Queen, und Freddy war sein Held. Keiner konnte so gekonnt einer Schnulze etwas Rockiges abgewinnen. Seine Lieder und seine Lyrik begleiteten Toms ganzes Leben. „Somebody2Love“, er war sich sicher, dass dieses Pseudonym zu ihm passte, schließlich war er jemand, der lieben und vielleicht auch geliebt werden konnte.
Als er mit seinem Profil fertig war, ging er alles noch einmal durch, eine letzte Bestätigung, und Toms Profil wurde auf dem Bildschirm angezeigt. Endlich, es kann losgehen.
Zunächst musste er sich mit dem Layout zurechtfinden. Es war gut aufgebaut, und es bot auch eine Menge an Möglichkeiten.
Auf der rechten Seite sah er alle Mitglieder, die online waren, er war begeistert.
Schnell klickte er die ersten Pseudonyme an, die viel versprechend klangen. „Traumfrau52“ war eine seiner ersten Kontakte. Als ihr Profil auf seinem Bildschirm erschien, war er enttäuscht, es war kein Foto vorhanden, und als er es studierte, stellte er sehr schnell fest, dass die gute Frau bereits zweiundfünfzig Jahre auf dem Buckel hatte, drei Kinder und im Nirgendwo lebte. Schnell verließ er ihr Profil und beobachtete weiter den sich flüssig nach unten bewegenden Strom von Gleichgesinnten. Er kannte das ja bereits aus seinem ersten Sex-Chat.

„Blondie36“ war sein nächstes Opfer. Es gab ein Bild, ziemlich verschwommen, kaum erkennbar, aber sie sah jung aus, hatte ansprechende Proportionen, einsvierundsiebzig groß und schlank. Natürlich blond, wie sollte es auch anders sein. Aber sie wohnte in Frankfurt. Na ja, die Entfernung wäre eigentlich kein Problem, aber er konnte nicht immer einen beruflichen Anlass vortäuschen, um dies mit einem Besuch in Frankfurt zu verbinden – das würde nicht klappen. .
So arbeitete er sich durch die Menüführung und entdeckte plötzlich, dass es Filter gab. Stimmt, er hatte ja schließlich auch angegeben, was für eine Frau er suchte. Sie sollte zwischen fünfunddreißig und vierzig sein und im Postleitzahl-Gebiet 8 wohnen. Aber wie sollte er das anstellen? Tom war noch nicht erfahren genug in diesem Medium, also versuchte er es durch Ausprobieren und klickte sich durch, versuchte mal dies und das und stellte fest, dass es Knöpfe gab, mit denen man Alter und auch die Postleitzahl eingrenzen konnte. Er konnte den Filter sogar so einstellen, dass Frauen ohne Fotos gar nicht erst erschienen. Der Online-Fluss der Mitglieder wurde plötzlich langsamer, und Tom stellte zufrieden fest, dass er jetzt nur noch Frauen mit Bild aus dem gewünschten Postleitzahlgebiet und Alter auf dem Schirm hatte. Genial! Dachte er und machte sich an die Arbeit, die Damen seiner Wahl anzuklicken und ihre Profile zu studieren.
Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis er sie entdeckte. Was für ein Foto, Alter vierunddreißig. Na ja, vielleicht ein bisschen zu jung, aber alt werden sie von alleine. Ihr Profil gefiel ihm, auch das, was sie beschrieb, die Beantwortung der Fragen, alles erschien ihm perfekt. Sie schrieb sogar, dass sie einen Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig suchte. Klasse, ich bin dein Mann! Im Kopf suchte er nach einer adäquaten Anredefloskel. »Hallo schöne Frau.« Blödsinn, klingt ja idiotisch. Würde er diese Anmache im realen Leben bringen, sie würde ihn keines Blickes würdigen. Also feilte er an seinem ersten Satz, formulierte und baute ihn um, kam jedoch zu keinem wirklich zufrieden stellenden Ergebnis. Irgendwie schlich sich Lähmung in seinen verbalen Wortschatz, der sicherlich nicht gering war. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, die richtige Anrede zu finden. Er fühlte sich wie die Klapperschlange vor der Maus, die nur noch zupacken müsste, aber dann feststellt, dass sie gar keine Giftzähne hat. Also studierte er ihre Antworten und stellte fest, dass sie gerne las und zu ihren Lieblingsbüchern „Die Säulen der Erde“ von Ken Follet gehörte. Bingo! Das war ebenfalls eines seiner Lieblingsbücher, jetzt hatte er ein Thema gefunden, auf das er sie ansprechen konnte.
Er baute einen neuen Satz im Kopf - es war nicht der perfekte Satz - aber was ist schon perfekt, und es war an der Zeit, den ersten Versuch zu starten. Schließlich hantierte er nicht mit gefährlichen Flüssigkeiten und musste vorher Feldversuche unternehmen. Er nahm allen Mut zusammen und suchte nach dem Eingabefeld für seine Nachricht. Er erschrak, er konnte keine Nachrichten verschicken, er konnte diese Traumfrau nicht anschreiben, da er kein Premium-Mitglied war. Das System schickte ihm Informationen, welche Vorteile er dadurch hätte. Er konnte einen Testmonat oder für günstiges Geld ein ganzes Jahr buchen. Dafür konnte er jeden anchatten und genoss noch eine Menge anderer Vorteile. Nicht schlecht, die Jungs sind gut, ist doch eigentlich klar, von irgendwas müssen die auch leben. Er entschied sich für eine einmonatige Mitgliedschaft, bis dahin dürfte sich doch wohl eine Traumfrau gefunden haben. Gegebenenfalls sieht man eben weiter. Natürlich war er etwas skeptisch, was die Weiterleitung seiner Kreditkarteninformationen betraf. Als alter Software-Hase wusste er, dass diese sensiblen Informationen irgendwo im Internet nur bei dem Richtigen aufschlagen müssen, und schon räumt er das Konto ab. Aber seine Neugierde war größer als seine Angst, zum Sozialfall zu werden. Also schloss er die Transaktion wie gewünscht ab und kehrte auf seine wunderbare Seite zurück. Er war in Eile, schließlich wollte er ja „Blondie“ noch seinen Text reindrücken. Zwischenzeitlich waren weitere zwanzig wertvolle Minuten vergangen. Blondie, Blondie, Mensch wie hieß sie noch, irgendwas mit dreißig. Er suchte und suchte, konnte aber keine Blondie mehr finden. Es gab hier alles an Namen, was man sich nur ausdenken konnte, aber Blondie war nicht mehr dabei. Wie im realen Leben war wieder ein Anderer schneller gewesen und hat sie auf seine Burg entführt. Aber es könnte auch sein, schließlich hatten sie schon die zweiundzwanzig Uhr überschritten, dass Blondie sich gepflegt ins Bett verabschiedet hatte. Wie auch immer, er klickte weitere Profile an, als plötzlich ein Fenster bei ihm aufpoppte. »Hallo junger Mann, was treibt dich noch so spät hierher, warum hast du kein Foto von dir drin?«
Wie, was, kein Foto?
»Natürlich habe ich ein Foto drin«, textete er zurück.
»Ich kann es aber nicht sehen«, war die Antwort.
Er war völlig konsterniert, bis er sich an die Nachricht des Anbieters erinnerte: Die Fotos werden geprüft, das kann einige Stunden in Anspruch nehmen. Das war der Grund, sie musste also auf sein Foto noch etwas warten. Aber die spinnt doch. Dachte er sich, als er jetzt mit mehr Interesse auf ihr Profil schaute. Sie hatte ebenfalls kein Foto eingestellt, war vom Alter gerade noch akzeptabel, aber die Maße? Eins-zweiundsechzig bei neunundsechzig Kilo. Nein, das ging gar nicht, das war einfach zu viel. Sie konnte ja aussehen, wie sie wollte, aber Tom stand nun mal auf Kleidergröße sechsunddreißig bis maximal achtunddreißig. Er klickte sie weg und schaute auf die Uhr. Es war bereits zweiundzwanzig Uhr, mein Gott, er war schon über zwei Stunden im Netz und das ohne Flatrate. Die Telekom wird’s freuen, aber sein Konto? Eher nein. Er loggte sich aus, schaltete den PC ab und traf die folgenschwere Entscheidung, dass eine Flatrate her musste, die seine neuen Aktivitäten finanziell nicht so strapazierte.
Als er sich am nächsten Tag in der Arbeit befand, wartete er schon sehnsüchtig auf seine Mittagspause. Schließlich wollte er seiner Single-Börse einen Besuch abstatten. Könnte ja sein, dass ihn eine dieser Traumfrauen aufgrund seiner Fotos und seines tollen Profils angeschrieben hat. Er war ziemlich gespannt, nein, eigentlich eher angespannt, schließlich war es ein völlig neues Medium für ihn, ein ungemein spannendes noch dazu. In seiner Firma waren sie internettechnisch auf dem neuesten Stand. Insofern war er nicht erstaunt, wie schnell sich die Seite öffnete und wie flüssig sich die Pseudonyme mit einem leichten Klick Klick Klick nach unten bewegten. Jedes Mal, wenn ein neuer Nick auf der Leiste erschien, machte es Klick. Ziemlich störend, wie er empfand, also schaltete er den Ton seines Laptops einfach ab. Sollte sich ja schließlich keiner seiner Mitarbeiter wundern, warum sein Laptop pausenlos Töne von sich gab. Es gab immer ein paar Kollegen, die mal schnell hinter einen sprangen, um das Übel aus nächster Nähe zu begutachten. Tja, und was würden sie vorfinden? Ihren Chef, wie er in der Mittagspause in Kontaktseiten rumblättert und nach Frauen Ausschau hält.
Der erste Blick fiel auf sein Postfach, eine Nachricht war dort zu lesen. Tom war begeistert, er trommelte mit der Faust kurz auf den Tisch und erschrak, welchen Lärm er machte. Ich hab es gewusst, es funktioniert, die erste Traumfrau hat mich angeschrieben. Sein Profil war auch gut, er war stolz auf sich. Schnell klickte er darauf und stellte jetzt ernüchtert fest, dass ihm der Anbieter geschrieben hatte. »Ihr Foto wurde freigeschaltet.« Na prima, warum auch nicht, schließlich habe ich mich nicht nackt verewigt, sondern ein stinklangweiliges, seriöses Foto abgegeben. Seine Stimmung war am Kippen, er atmete tief durch und beruhigte sich wieder.
Egal, man kann mich sehen. Plötzlich wurde ihm mulmig. Wenn man das kann, dann sehen mich auch Menschen, die mich kennen. Partner, Kunden, eventuell Freunde, die wie er nach einer neuen Frau oder vielleicht nur nach einer Affäre suchten. Ziemlich blöd. Dachte er, vielleicht sollte er einen Balken auf sein Gesicht malen oder das Foto wieder raus löschen. Er war verunsichert, was sollte er tun? Er wollte nicht in den Otto-Katalog, aber es ging nicht anders. Auch Frau will sehen, was sie bekommt. Ohne Foto, das wusste er, wird’s nichts werden, außerdem sah er ganz attraktiv aus, warum also nicht zeigen, was man zu bieten hat.
Er zuckte gedanklich mit den Schultern. Das ist das Spiel, da musst du durch. Toms Branche war ohnehin von Männern dominiert, und welche Männer suchen schon Männer, und selbst wenn’s so wäre, keiner von diesen würde sich outen.
So schnell dieser Gedanke in seinen Kopf schoss, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er stellte alle Parameter nach seinen Wünschen ein und drückte auf den Suchknopf. Binnen Sekunden blätterte ihm das System pro Seite ein Dutzend Frauen mit Fotos auf. Die Begeisterung brach bei ihm erneut aus. Tom blätterte von einer Seite auf die nächste. Jede Seite war gespickt mit Frauen unterschiedlichster Couleur. Es waren sehr attraktive und auch weniger attraktive dabei, alles Frauen in der Alterskategorie, die er suchte, wobei er sein Raster sehr weit steckte - von fünfundzwanzig bis vierzig. Typisch Tom. So wie ihm eine Dame Nachrichten in sein Postfach legen konnte, so konnte er das natürlich auch. Leider war ersteres zwar noch nicht passiert, aber wenn die Damen so unkreativ oder einfach noch nicht über sein Profil gestolpert waren, so konnte er zumindest Nachrichten an die Auserwählten schicken. Außerdem hatte er die Möglichkeit, seine persönlichen Favoriten anzulegen. Er konnte also sofort sehen, ob sie online waren, mit ihnen chatten oder just in time Nachrichten in ihr Postfach legen.
Tom schrieb gerne, aber er war auch phlegmatisch. Ein individueller Brief ist sicherlich was Schönes, aber ob sie merkt, dass er einen Serienbrief verfasst hat und der gleiche Inhalt auch an ein anderes Profil ging? Es war nur eine Frage der Effizienz. Schließlich weiß auch keine Frau in einer Bar, dass er exakt mit demselben zündenden Spruch - falls es ihn gibt - schon davor die Eine oder Andere begeistert oder gelangweilt hatte. Hier war es dasselbe, der Text musste nur so gestaltet sein, dass er eine gewisse Individualität ausstrahlte, und wenn dem so war, griff sein Gesetz der großen Zahl wieder. Je mehr er anschrieb, umso höher war die Chance, dass eine der von ihm Gewählten darauf ansprach.
Er grinste über das gesamte Gesicht, würde ihn jetzt einer seiner Mitarbeiter sehen, würde er meinen, Tom hätte den Deal des Monats gemacht.
In Gedanken feilte er wieder an seinem Anschreiben. Es musste einfach gut sein, nicht so was Banales, was vielleicht ein Anderer schreiben würde. Einfach was Besonderes, charmant und persönlich sollte es sein.
Marketing gehörte immer zu seinen Stärken. Er war nie darin ausgebildet worden, aber ganz ehrlich, entweder man hat Gespür dafür, was ankommt oder man hat es eben nicht. Ist wie beim Verkaufen, entweder man hat es im Blut, oder man muss es sich hart erarbeiten. Aber der Vorteil lag bei Tom, er glaubte, nein, er war der Überzeugung, dass er ein textliches Paradigma schaffen würde, was so ziemlich jede Frau begeistert und auf ihn aufmerksam macht. Er erkannte, dass man hier mit gutem Marketing einfach weiter kommen musste. Man

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dirty Book Verlag
Bildmaterialien: Dirty Book Verlag
Lektorat: Dirty Book Verlag - Anita Störcher
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0102-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist denen gewidmet die mich liebten und die ich lieben durfte. Denen, die mich ein Stück meines komplizierten Weges begleiteten, mich berührten, mich veränderten und letztendlich an mich glaubten. Ich danke vor allem Monika für Ihre Liebe über den Tod hinaus. Giovanna danke ich für Ihre gegenwärtige Liebe und Leidenschaft. Meinen Kindern für ihre Geduld, Nachsicht und Liebe. Meinem Enkelsohn für seine Neugierde und Lebenslust. Und nicht zuletzt meinem Schwiegersohn für dessen Hilfe und Loyalität. Ich liebe Euch.

Nächste Seite
Seite 1 /