In der virtuellen Welt, wo nur das Geschrieb’ne zählt,
nichts persönlich körpernah, läuft man allzu leicht Gefahr,
sich in etwas zu verrennen, ohne wirklich es zu kennen.
Zu dir liebe Worte dringen und nur deshalb schön sie klingen,
weil der, der diese Worte schreibt, sehr oft im Verborgenen bleibt.
Man weiß nicht, wer er wirklich ist, und man nur für sich draus schließt, ob es der jetzt oder die, sicher sein kann man sich nie, diese Worte auch so meint oder ob es nur so scheint.
Viele Tränen und auch Schmerzen, Kummer und gebroch’ne Herzen, bleiben dann am End’ davon und alles nur für ein Phantom.
Das Schlafzimmer lag im Halbdunkel. Tom hatte Kerzen angezündet und eine CD aufgelegt. Sein Blick fiel auf Susanne. Sie lächelte, als er die Bettdecke aufschlug und sich zu ihr legte. Ihre Augen glänzten fiebrig und ihre Haut wirkte wächsern, ihr Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. Der Krebs hatte ganze Arbeit geleistet und sich durch ihren Körper gefressen. Tom legte seine Hand auf ihre harte Bauchdecke und streichelte sie verschämt.
Es war ein langer Kampf gewesen, ein Kampf, den sie gemeinsam gewinnen wollten und am Ende doch verloren hatten. Jahre der Hoffnung waren dabei gewesen, aber auch Monate des Zweifelns und immer wieder Tage des Zorns. Nun warf der herannahende Tod seinen Schatten über sie. Das letzte Kapitel ihrer jahrzehntelangen Beziehung würde bald zu Ende geschrieben sein.
Jetzt lagen sie nebeneinander im Bett und sprachen über ihre gemeinsame Zeit, lachten über Episoden aus der Vergangenheit und redeten über die Kinder. Sie küssten sich, und Tom schob seinen Körper noch näher an ihren. »Tom?«
»Ja mein Liebling?«
»Die Zeit mit dir war wunderschön. Ich danke dir dafür.« Toms Kehle war wie zugeschnürt, und nur mit Mühe konnte er seine Antwort formulieren. Tränen liefen ihm über die Wangen, er räusperte sich und antwortete mit brüchiger Stimme: »Wie gerne wäre ich mit dir alt geworden. Weißt du noch, wir wollten irgendwann mit unseren Enkelkindern. Und jetzt ...«
»Psst, nicht darüber nachdenken, nicht heute.«
Tom nickte und spürte, wie sie mit ihrer verbliebenen Kraft seine Hand drückte. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte sie an.
»Tom, ich muss dich was fragen. Aber sag mir die Wahrheit!«
»Natürlich – warum sollte ich dich anlügen?«
Sie lächelte wieder, doch ihr Blick war jetzt prüfend geworden. »Sag, bist du in den Jahren unserer Ehe irgendwann mal fremdgegangen?«
Tom schluckte. Susanne stellte die Frage aller Fragen. Zweifelte sie an seiner Loyalität und Treue? Was sollte diese Frage? Wenn er es getan hätte, würde er ihr jetzt sicher nicht die Wahrheit sagen. Es gab Momente, da war Schweigen Gold. Aber auf diese Frage konnte man nicht schweigen. Toms Gedanken rasten. Er sah sie an und bemerkte, dass ihr Lächeln verschwunden war. Schlimmer noch: Ihr liebevolles Gesicht verwandelte sich vor seinen Augen in die gefährliche Fratze eines wilden Tiers - bereit, ihn in der nächsten Sekunde anzuspringen. Tom versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch ihre Finger bohrten sich mit erstaunlicher Kraft in seine Schultern, sie schrie ihn an: »Sag mir die Wahrheit! Sag mir, ob du mich je betrogen hast!? Ich will es wissen: Wie viele Frauen hast du neben mir gefickt?«
Tom wachte auf und schnappte panisch nach Luft. Sein Herz trommelte, doch sein Körper fühlte sich taub an. Es war, als lägen Tonnen von Blei auf ihm, die ihn daran hinderten, auch nur die kleinste Bewegung auszuführen. Er blinzelte in die Dunkelheit und versuchte sich zu orientieren. Das T-Shirt klebte an ihm, und als endlich seine Lebensgeister zurückkehrten, schob er die Bettdecke mit den Füßen weg, um sich Luft zu verschaffen. Gott sei Dank, es war ein Traum. Seine linke Hand berührte die andere Bettseite. Sie war leer. Schon so lange leer.
Er atmete tief durch, schob seinen zerschlagenen Körper über den Bettrand und quälte sich aus dem Bett. Was für ein sonderbarer Traum! Ihm war kalt. Er warf sich einen Morgenmantel über, schleppte sich in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein, das er mit hastigen Schlucken leerte. Ein zweites Glas nahm er mit ins Wohnzimmer und ließ den Blick wehmütig durch den Raum wandern, während seine Gedanken ihre eigene Reise in die Vergangenheit antraten.
Wie hatte sich sein Leben doch in den letzten Jahren verändert! Aus einem glücklichen Ehemann war ein Ruheloser geworden, ein Getriebener, ein Opfer seiner eigenen, verzweifelten Suche nach Liebe und Geborgenheit. Er war in den Strudel der Single-Börsen geraten, und diese hatten ihn bis heute nicht losgelassen, sondern mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit in die Tiefe gezogen. Er wollte seiner Einsamkeit entfliehen, seine Trauer vergessen, seinem Leben eine neue Richtung geben. Nur in der Vergangenheit zu leben, sich ohnmächtig dem Schmerz hinzugeben, entsprach nicht seinem Naturell. Hätte er es zugelassen, dann hätte ihn der Schmerz wie ein Orkan überrollt, ihn überwältigt, vielleicht sogar umgebracht. Tom musste wieder an den Albtraum denken, an Susannes letzte Worte: Wie viele Frauen hast du gefickt? – Zu viele, mein Schatz. Inzwischen viel zu viele! Ich weiß, es ist nicht richtig, aber du bist nicht mehr hier, du sprichst nicht mehr mit mir, du hörst mir nicht mehr zu, du wärmst mich nicht mehr, du kannst meine Leidenschaft und mein Begehren nicht mehr stillen. Du warst das Beste, was mir im Leben begegnet ist, und ich kann nicht aufhören, nach etwas Ähnlichem zu suchen. Tom leerte sein Glas, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Verrückt, was ich alles erlebt habe. Und traurig, dass es mir noch immer nicht gelungen ist, jemanden wie dich zu finden. Ich will eine Frau finden, die ähnlich starke Gefühle in mir auslöst wie du, egal wie lange es noch dauert und wie viele Frauen ich noch kennen lernen muss! Ich gebe nicht auf, nein, ich gebe nicht auf. Es geht um meine Zukunft. Mein Glück. Mein Leben.
Das Gesetz der großen Zahl hielt seine Hoffnung lebendig. Je mehr Frauen er begegnete, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann die richtige seinen Weg kreuzen würde. Er hatte in den letzten Jahren hunderte von Dates, Beziehungen, Kurzbeziehungen, Affären und One-Night-Stands gehabt. Er war das gesamte Programm durchlaufen – und hatte Schwierigkeiten, sich an alle Frauen zu erinnern, die für einen Abend oder eine Nacht die Einsamkeit mit ihm geteilt hatten. Manchmal hatte er geglaubt, der Liebe nahe zu sein, ja, sie in Händen zu halten – nur um bald erkennen zu müssen, dass er wieder loslassen musste oder bereits losgelassen worden war.
Und jetzt? Wie sollte es weitergehen? Hatte er noch die Kontrolle über sein Leben? Oder war er zu einem Stück Holz im fließenden Wasser geworden: emotionslos und zu ständiger Bewegung verdammt, bis Wellen und Wind es an diverse Ufer schwemmte, wo es eine Zeit lang liegen blieb – unfähig, die Richtung dieser Bewegung zu bestimmen? War er am Ende nur mehr ein Spielball fataler Gesetze der virtuellen Partnerbörsen, oder folgte er einem inneren Gesetz, das ihn vorwärts trieb? Suchte er nach Liebe oder mittlerweile nur noch nach Befriedigung seiner Triebe? War er inzwischen nur noch schwanzgesteuert?
Als Susanne für immer ging, wurden die Stimmen in seinem Haus leiser. Besonders schlimm war es, wenn seine Kinder im Bett waren und noch mehr Ruhe einkehrte. In diesen Momenten wanderte Tom von einem Raum in den nächsten, starrte aus dem Fenster und beobachtete die Eingangstüre, so als würde sie sich jeden Moment öffnen und Susanne ihn mit einem Lächeln begrüßen. Mühevoll arbeitete er gegen seine Gedanken, die ihm fortwährend Bilder ihres gemeinsamen Lebens in den Kopf spülten, Bilder, die ihn und seine Seele erdrückten. Er musste aus diesem emotionalen Loch schnellstmöglich raus. Er wusste, würde er sich nicht mit aller Kraft aus ihm heraus stemmen, würde es ihn unweigerlich verschlucken.
Er musste wieder den Atem des Lebens spüren. Tom war kein Mensch, der allein sein konnte, wer ist das schon gerne. Über viele Jahre war er darauf programmiert, sein Leben mit jemandem zu teilen, und genau dieses Programm in seinem Kopf diktierte ihm: Du musst etwas ändern, du musst einen Menschen finden, der wieder mit dir lebt und liebt. Und er war ein Mann, dessen sexueller Trieb weder vor ihm noch vor seiner Trauer Halt machte. Auch wenn in seinem Herzen Susanne verankert war, so schien das seinen Unterleib nicht zu interessieren. Er führte ein Eigenleben und gab Toms Gehirnlappen klare Befehle: Gib mir, was ich brauche, und ich gebe dir im Gegenzug die Energie, um zu überleben.
Tom saß auf seiner cremefarbenen Ledercouch und drückte eine weitere Zigarette im Aschenbecher aus. Er hatte etwas Musik angemacht und lauschte immer wieder den Klängen diverser Soul-Stücke, welche er so liebte. So schön diese Musik auch war, sie ließ ihn melancholisch werden, und er spürte, wie sich eine Träne auf seinen Augapfel legte und als sein Lid sie nicht mehr halten konnte, sie langsam seine Wange hinunter lief. Verschämt, so als wäre er beobachtet worden, wischte er sie mit dem Handrücken weg. »Ja, ich will überleben, verdammt, das Leben ist für mich noch nicht zu Ende.« Wütend über sich und seine Lethargie sprang er urplötzlich auf und rannte ins Bad.
Abgespannt und müde starrte er in den Spiegel, und was er dort sah, war nicht überzeugend, aber auch nicht abschre-ckend.
Er war jetzt Anfang vierzig, hatte immer noch volles, dunkelblondes Haar, kaum Falten im Gesicht und besaß – den Genen sei Dank – strahlende Augen, einen wohl geformten Mund und schöne Zähne. »Tom, du bist nicht perfekt, aber du hast Ausstrahlung und, was noch wichtiger ist, Persönlichkeit, Stil und Humor. Also lach endlich wieder.« Tom betrachtete sein Gesicht von verschiedenen Seiten und zog Grimassen. Er musste lachen und gleichzeitig liefen Tränen über sein Gesicht. Er atmete tief durch, öffnete den Wasserhahn und genoss, als das kalte Wasser seine heißen Wangen kühlten. Er fühlte sich besser, und als er den Blick wieder in den Spiegel richtete, war er zufrieden. Das Selbstmitleid war verflogen und neue Hoffnung erkennbar. »Mach endlich wieder einen Menschen, einen richtigen Mann, aus dir und stell dich verdammt nochmal dem Leben, du hast nur das eine.«
Tom ging zum Friseur, er kaufte sich neue Klamotten und verschiedene Duftwässerchen. Es war ihm so, als würde er eine Verwandlung durchmachen. Es ging ihm von Tag zu Tag besser. Schon am darauffolgenden Wochenende schob er sich in das Getümmel der Bars, immer den Blick auf Frauen ge¬richtet, die den eigenen hungrigen Blick erwiderten und ihm im Gedanken zuzuhauchen schienen: Du bist es, auf dich habe ich mein ganzes Leben gewartet. Aber nichts von dem passierte. Tom stand wie andere Männer verloren in der Menge. Er benahm sich genauso linkisch und unsicher und verkroch sich schnellstmöglich in eine Ecke, von der aus man zwar den Raum übersehen, aber sicherlich nicht angesprochen werden konnte. Von wem sollte man auch angesprochen wer¬den, man war ein Niemand, einer unter Millionen von Suchen¬den, ein potenzieller „Ruf mich an“-Kunde. Jemand, der über Jahre oder Jahrzehnte im Bermuda-Dreieck verschwunden war und plötzlich im Palast der Eitelkeiten wieder auftauchte, mit dem Wunsch, sein Revier abzustecken und Beute zu machen. Doch dies war nicht so einfach, denn Tom war nicht der einzige Jäger und die Zeiten hatten sich geändert. Früher war er in einem seiner Stammlokale erschienen und wurde beachtet, hatte einen gewissen Ruf, den er sich in der aktuellen Szene erst wieder würde schaffen müssen. Außerdem stand die Frau von heute nicht allein an einer Bar, nein, sie umgab sich mit einer Phalanx von Freundinnen. Sie baute sich eine Trutzburg, in die nur die Tapfersten einzudringen vermochten. Er beob-achtete sehr genau, wie die Männer agierten. Wie ein Rudel hungriger Wölfe schlichen sie sich an ihre Opfer heran, umrundeten sie, versuchten irgendeine Reaktion der Schwäche zu erhaschen, und als ihnen nur ein mitleidiger oder gar kein Blick zugeworfen wurde, zogen sie weiter oder begaben sich wieder zurück an ihre Plätze. Neben ihm stand eine ganze Männergruppe, die jede Frau im Raum taxierte. Sie waren gut gelaunt und hatten zu jeder einen flapsigen Kommentar übrig. »Hey Charly, siehst du die Schwarzhaarige, Mann was für eine Kanone.«
Charly hatte sie bereits erspäht und antwortete. »Genau meine Kragenweite, die würde unter mir sicherlich eine gute Figur machen.«
Die Horde grölte und man prostete sich zu. »Na dann mal los, zeig, was du drauf hast.«
Charly wischte sich den Pilsschaum von den Lippen, drückte seine Zigarette aus und fuhr sich nochmals durch sein Haar. Man zwinkerte sich zu und Charly machte sich auf den Weg. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und Tom konnte die Spannung förmlich spüren. Auch seine Sinne waren gespannt, schließlich konnte er nur lernen. Irgendwie bewunderte er den Typen, der ohne großes Zögern den Raum durchschritt, und sich wenige Sekunden später vor ihr aufbaute Sie war zweifelsohne eine interessante Frau, auch Tom gefiel sie. Ihr Rock war kurz und bedeckte nur mühsam ihre schönen Beine, welche sie übereinandergeschlagen hatte. Sie nippte an ihren Drink und sprach mit ihrer Freundin. Als Charly sie ansprach, sah sie nicht überrascht aus. Irgendwie – so erschien es zumindest Tom – hatte sie ihn kommen sehen. Ihr Blick war bezeichnend. Als er sie ansprach, wurde er kurz von oben bis unten gemustert, ihre Freundin tat es ihr gleich, und wie abgesprochen erfolgte ein kurzer Blickwechsel, der in einem breiten Grinsen endete. Der Wortlaut muss relativ kurz gewesen sein, denn schon wenig später kam Charly an den Tisch zurück und maulte: »Was für eine arrogante Kuh, also so etwas ist mir auch noch nicht passiert.« Die Jungs unterbrachen ihre belanglosen Gespräche und lauschten, was er zu sagen hatte. Einer von ihnen ergriff das Wort. »Hat sie dich abblitzen lassen?« Breit grinsend zündete er sich eine weitere Zigarette an. Auch Tom war ganz Ohr. »Na klar hat sie mich abblitzen lassen, was für eine Frage.«
»Hey, das passiert einfach, warst halt nicht ihr Typ.«
Charly nahm von seinem Pils einen kräftigen Schluck und beugte sich vielsagend nach vorne. »Wisst ihr, was die freche Göre zu mir gesagt hat?«
»Nee was denn?« Jeder war jetzt sehr gespannt, was ihm widerfahren war.
»Die hat doch glatt zu mir gesagt, ob es meine Zähne auch in Weiß gibt.«
Tom konnte sich das Lachen kaum verkneifen, und auch die Jungs hatten deutlich Mühe, ihr Lachen in Zaum zu halten. Als jedoch Charly plötzlich laut losprustete, war es um die Gemeinde geschehen. Alle lachten, man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern und prostete sich zu. Charlies Zähne waren Thema des Abends, und Tom bewunderte, wie locker er mit der Aussage umging.
Tom hatte für heute Abend genug erfahren. Er war noch nicht bereit, in den Käfig zu steigen. Nur als erfahrener Dompteur hatte er eine Chance, ansonsten würden ihm die Katzen der Nacht eher die Haut abziehen als ihn wollüstig lecken.
Es war frühmorgens, als er in sein Auto stieg. Die Augen brannten, und in seinen Gehörgängen wummerte immer noch der dumpfe Bass der Musik, welcher jede anständige Unterhaltung unmöglich machte. Er startete den Motor, und fast zeitgleich waren wieder diese Gedanken da: Woher soll sie kommen, woher will sie wissen, dass es mich gibt? Soll ich ihr im Supermarkt mit meinem Einkaufswagen in die Fersen fahren, damit sie mich entdeckt? Soll ich mich vor ihr Auto werfen, damit sie mich von der Straße kratzt? Tom hatte sich jeder dieser Fragen gestellt, festgestellt hat er nur eines: Ohne dass er selbst etwas dafür tut und irgendwie auf sich aufmerksam macht, sind die Chancen, sie zu treffen, gleich null. »
Die reale Welt war nicht sehr benutzerfreundlich, wie er empfand. Die wenigen Momente, in denen er sein Haus und seine Kinder verlassen konnte, waren einfach nicht genug, um sich zu präsentieren, auf sich aufmerksam zu machen.
Auch beim Kennenlernen gab es Parameter und die hießen, Zufall, Beharrlichkeit oder Gesetz der großen Zahl. Dieses Gesetz hatte er im Vertrieb kennen gelernt. Je mehr Kontakte man hatte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit auch abzuschließen, und so verhielt es sich mit den Frauen sicher auch. Als junger Mann, so mit Anfang bis Mitte zwanzig, war er mindestens dreimal die Woche unterwegs. Er hatte seine Bars und seine Discos, kannte die Menschen, man grüßte sich und plauderte miteinander. Es waren seine sozialen Kontakte und die pflegte man. Es gab zwar Phasen, in denen man allein war, aber gerade die Häufigkeit des Ausgehens ergab immer wieder Gelegenheiten, die Frau seines Herzens oder seiner Begehrlichkeiten zu entdecken. In seiner jetzigen Lebensphase mit all seinen Verantwortlichkeiten, besonders auch den Kindern gegenüber, war er nicht in der Lage, permanent um die Häuser zu ziehen. Die Ratschläge seiner Familie und Freunde halfen auch nicht weiter: »Du lernst schon wieder jemanden kennen, alles braucht seine Zeit.«
»Geh auf den Golfplatz …«
»Tom, es gibt Reiseveranstalter, die sich auf Single-Reisen spezialisiert haben.«
Es waren gut gemeinte Ratschläge, und Tom hörte sich jeden aufmerksam an. Aber er konnte keinem wirklich etwas abgewinnen.
»Stell dir mal vor, ich fahre in einen Single-Urlaub. Mit mir ein Haufen geiler Männer und ebenso viele Frauen. Alle, ausnahmslos alle werden versuchen, die wenigen attraktiven Frauen für sich zu gewinnen, egal, ob sie selbst attraktiv sind oder nicht. Ein Kampf unter geilen Gockeln. Nein, ganz ehrlich, das brauche ich nicht. Das Geschwätz dieser Idioten geht mir ja schon in den Kneipen auf den Nerv.«
Für jedes Argument hatte Tom ein Gegenargument, und irgendwann wurden die gut gemeinten Vorschläge weniger und hörten schließlich ganz auf. Tom wusste, keiner hatte eine Expertise und diejenigen, die eine hatten, die kannte er nicht. Die meisten seiner Freunde waren verheiratet und die, die neben der Ehefrau eine Freundin hatten, verdankten dies entweder dem Zufall oder ihrer Arbeit. Letzteres kam für Tom nicht in Frage. Er war ein Top-Manager, hatte Personalverantwortung und dementsprechend war seine erklärte Devise: Don’t shit where you eat.
Tom stieg gerade aus der Dusche, als das Telefon klingelte. »Mist, immer klingelt das Telefon, wenn ich auf dem Klo oder unter der Dusche bin.« Seine Laune war nicht die beste, aber das sollte sich schnell ändern. Als er den Hörer abhob, meldete sich eine weibliche Stimme. Es war Gabi, eine gute Freundin aus Jugendtagen. »Hallo Tom, du alter Schwerenöter, wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut, ich beiße mich durch das Leben.«
»Ja, kann ich mir vorstellen, ich weiß, dass du eine schwere Zeit durch machst.«
Gabi war kein Kind von Traurigkeit. Tom mochte ihre Leichtigkeit und ihren grenzenlosen Humor. Sie brachte ihn immer wieder zum Lachen, und das war, was Tom an ihr schätzte. »Ja, es ist nicht einfach, aber es ist auch nicht schwer. Die Kids verarbeiten ganz gut den Verlust ihrer Mama, ich habe nicht allzu große Probleme mit ihnen.«
»Schön, wenn an dieser Front einigermaßen Ruhe ist, du weißt ja, was ich mit meinem Sohn mitgemacht habe.«
»Ja, ich habe dich damals nicht beneidet und dennoch bewundert, wie du immer wieder aufgestanden bist. Irgendwie bist du schon mein Vorbild.«
Gabi musste lachen. »Ich und dein Vorbild, na ja, ganz so sehe ich mich nicht.«
»Ist ja auch egal, auf jeden Fall hast du nie das Lachen verlernt.«
»Ja das stimmt, darüber bin ich sehr froh.«
»Und, wieder verliebt?«
»Mhm, kann ich noch nicht sagen, aber es läuft nicht schlecht an.«
»Typisch Gabi, wo hast du ihn kennen gelernt?«
»Du, ganz verrückt, du wirst es nicht glauben, ich habe ihn im Internet kennen gelernt.«
»Wie, im Internet kennen gelernt?« Tom zündete sich eine Zigarette an, gespannt lauschte er Gabis Erzählungen.
»Im Fernsehen habe ich eine Werbung darüber gesehen, und nachdem ich mir vor einigen Monaten einen Rechner und die Internet-Anbindung geleistet habe, dachte ich mir, warum nicht. Ich hatte keine Lust mehr, immer wieder in denselben Lokalen die gleichen Deppen weg zu labern. Also habe ich mich dort angemeldet und mit verschiedenen Männern gechattet.«
Tom musste lachen.
»Warum lachst du, machst du das auch?«
Tom zögerte für einen kurzen Moment. »Nein, nicht wirklich, oder sagen wir mal so, ich habe das mit dem Chatten auch schon mal versucht, aber auf einer etwas anderen Plattform.«
»Wie, auf einer anderen Plattform?«
»Nun, dir kann ich es ja erzählen, wir kennen uns ja lange genug.«
»Klar, du weißt doch, du kannst mir alles erzählen.«
»Ok, es ist eine irre Geschichte, hast du Zeit? Ich ziehe mir nur schnell einen Bademantel über.«
»Na klar habe ich Zeit.«
Tom eilte zurück ins Badezimmer und zog sich den Bademantel über. Mit einer Bürste frisierte er seine Haare durch, noch ein prüfender Blick in den Spiegel und schon war er zurück. »So, wieder da.«
»Schön, also leg mal los, was ist passiert?«
»Du weißt ja, wie wir Männer sind, wir blättern in Sexmagazinen, wir schauen uns Pornos an und wir besuchen Sex-Seiten im Internet.«
Gabi war bester Laune und Toms Laune wurde immer besser. »Wäre ja schlimm, wenn du anders wärst.«
»Stimmt. Ich habe aus Neugier und Langeweile so eine Sex-Seite besucht, du weißt schon, wo sich Leute treffen und sich sexuell austauschen.«
»Ich weiß schon, was du meinst, bin ja nicht von vorgestern.«
»Also pass auf, wie du erhielt ich über die Werbung einen Hinweis und habe mich kurz darauf dort angemeldet. Die Anmeldeprozedur war relativ einfach. Schnell der Name, ein paar Angaben zum Alter und schon saß ich auf der virtuellen Klippe und schaute hinab in den Strom von Bits und Bytes. Einige hatten erotische Bilder eingestellt, aber die Meisten waren dort eher anonym unterwegs.«
Gabi kicherte am anderen Ende und fragte: »Hast du ein Bild von dir eingestellt?«
»Natürlich nicht, ich war ja nur neugierig. Die Namen, die benutzt wurden, waren schon abenteuerlich genug.«
»Komm erzähl, welche Namen hatten sie?«
»Nun so Namen wie Geile Stute, Dampfhammer oder Swinger Hans«
»Wie war dein Name?«
»Gabi, den weiß ich nicht mehr, er war relativ fantasielos.« »Du bist doch sonst nicht so fantasielos, Tom. Aber erzähl weiter.«
»Ich betrachtete für eine Weile die Chats und stellte fest, dass niemand über Sex redete.«
»Wie, niemand redete über Sex?«
»Du, es waren total profane Themen. Die redeten über Kindererziehung und andere banale Dinge. Sexuelle Themen waren eher unterschwellig.«
»Wie langweilig, das wäre nichts für mich. Was hast du dann gemacht, bist du rausgegangen?«
»Nein, ich war gut drauf und dachte mir, denen fehlt einfach nur die nötige Stimmung, vielleicht muss mal jemand wie ich in das Bienennest stochern und den Jungs und Mädels vor Augen führen, warum sie hier sind.«
»Das ist mein Tom wie ich ihn liebe, erzähl weiter.«
»Ich tippte also meine ersten erotischen Gedanken ein und schickte sie los. Gespannt wartete ich auf die erste Reaktion, aber Geile Stute erklärte weiterhin Dampfhammer, dass die Gesamtschule eigentlich schon zum Scheitern verurteilt sei.« »Unfassbar, und dann?«
»Ich tippte einen neuen Text ein, ließ ihn auf die Menge los und erhielt augenblicklich Reaktionen.«
»Echt, was für Reaktionen denn? »
«Es war, als hätte ich einen Stein ins Wasser geworfen, die Kreise dehnten sich aus und kamen direkt auf mich zu. Als Erstes schrieb mir eine Dame zurück. Ich konnte es nicht glauben, ich war begeistert, meine Bemühungen zeigten den ersten Erfolg.«
»Was schrieb sie?«
»So was wie: Hey, du bist aber gut drauf, erzähl mehr von dir! Ich tippte wie wild meine nächste Nachricht ein. Du weißt ja, das Wasser muss man heiß halten, will man seine Eier darin kochen.«
Gabi war von Toms Geschichte begeistert und es gefiel ihm, dass sie fortwährend kicherte oder sich einen ablachte.
»Also pass auf, sie schrieb zurück, dass sie meine Texte stimulieren. Ich dachte prima und legte noch mehr Briketts auf, um die Hitze zu halten. Immer mehr Frauen schrieben zurück, und weißt du was, es waren auch Männer dabei. Ich hatte richtig Spaß und erzählte jedem, der es wissen wollte, was ich mit meiner Zunge, meinen Händen und meinem Schwanz alles anstellen würde. Ich malte die pikanten Details genussvoll aus und sonnte mich darin, dass die Frauen von meiner Verbalerotik erregt und die Männer amüsiert waren.«
»Ich weiß, du warst schon immer ein guter Geschichtenerzähler. Na dann hast du ja dein Medium entdeckt. In deiner Branche weiß man eben, wie man Dinge verpacken muss, um sie zu verkaufen.«
»Stimmt, noch dazu war ich total anonym, ich konnte mich also richtig austoben, bis …«
»Bis was?«
»Nun, einer der Teilnehmer forderte mich plötzlich auf, dass ich mein Tun beenden soll.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, warum?«
»Sage ich dir gleich. Ich habe erst über den Deppen gelacht, dachte mir, wieder so ein Neider oder Spinner, der hat es einfach nicht drauf und beschwert sich nun bei mir. Ich formulierte also den nächsten Satz und schickte ihn mit einem diabolischen Lächeln los. Schließlich wartete die Meute schon hungrig auf den nächsten erotischen Brocken. Ich wurde richtig angefeuert und so dachte ich mir immer schärfere Sachen aus, die ich den Löwen zum Fraß vorwerfen konnte. Kurz darauf schrieb mich der Typ wieder an.«
»Was hat er gesagt?«
»Wenn Du nicht sofort damit aufhörst, dann wirst du aus dem Chat entfernt. Begib dich gefälligst in einen der privaten Räume. Ich dachte, welche privaten Räume? Mensch, ich bin hier auf einer Erotikseite und gebe den Leuten genau das, was sie wollen. Und seine Antwort kam umgehend.«
»Ist ja spannend, was hat er geantwortet?«
»Du hast unsere Statuten gelesen und akzeptiert, also richte dich auch danach.
»Ich habe meinen Namen eingetragen, meinen Geburtstag und ein paar Häkchen hier und da gemacht, wo sie verlangt wurden. Wer liest schon Statuten oder ähnliches Kleingedrucktes, dafür hatte ich keinen Nerv. Mir war nicht klar, was dieser Typ wollte. Ich schrieb also munter weiter und fütterte meine Raubtiere. Ich hatte einen richtigen Hype und war völlig außer Rand und Band. Ich genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, ich hatte die Menge im Griff. Sie wollten geil gemacht werden, und ich machte sie geil. Ich projizierte ihnen meine Bilder in ihr Kopfkino, und sie genossen es. Ich war so beschäftigt mit meinen Gedanken und Formulierungen, dass ich weiter seine Abmahnungen ignorierte. Ich kam erst wieder zu mir, als ich mit fast wunden Fingerkuppen einen letzten Satz registrierte, in dem es hieß: Wegen Nichteinhaltung der Statuten wirst du für vierundzwanzig Stunden aus dem Chat entfernt. Bums, und schon war ich draußen.«
Am anderen Ende der Leitung lachte Gabi Tränen. »Tom, was für eine Geschichte, besser geht es nicht. Du hast nicht kapiert, dass du in einen der privaten Chaträume hättest gehen sollen. Heißt, du hast wie ein Prediger alle unterhalten und bist dann vom lieben Gott von der Kanzel gestoßen worden. Das ist zu gut, um wahr zu sein.«
»Ja genau, meine Bergpredigt fand keine Gnade vor dem Herrn. Es war mein erstes und bis dato letztes Chat-Erlebnis. Ich bin da nie wieder rein.«
Gabi hustete. »Moment Tom, ich muss was trinken.«
Tom hörte, wie sie einen Schluck zu sich nahm.
»Nein, nein, so läuft es auf meiner Plattform nicht ab. Hier geht es viel seriöser zu.«
Gabi erzählte Tom von ihren Erfahrungen in den Single-Börsen, und er hörte fasziniert fast über eine Stunde zu. Als ihre Geschichte endete, atmete Tom tief durch. Das ist er, mein Weg in ein neues Leben.
»So, jetzt weißt du einiges darüber, und ich schwöre dir, wenn du dich dort einigermaßen normal verhältst, wirst du bald wieder richtigen Sex haben oder dich vielleicht sogar verlieben.« »Gabi, sollte das passieren, bist du die Erste, die es erfährt.«
»Aber bitte mit allen Einzelheiten.«
»Klar, das bin ich dir schuldig. Ich werde mich noch heute anmelden.«
»Prima Tom, lass uns bald mal Essen gehen, einverstanden?« »Einverstanden, ich rufe dich an.«
Ein kurzes Knacksen in der Leitung und Tom war wieder mit seinen Gedanken allein. Ihm gingen Gabis Erzählungen nicht mehr aus dem Kopf. Laut ihren Schilderungen war es so einfach. Er holte sich die Damen via Internet in sein Haus. Und wie Gabi nochmals unterstrich, alle waren Singles, die klar formulierten, was sie suchten. Besser konnte es nicht sein, er war bester Stimmung, und kurz nachdem er sich angezogen hatte, begab er sich in Gabis neue Welt, die auch seine werden sollte.
Er war erstaunt, wie sich seine neue Welt präsentierte. Die Menüführung, nein, das ganze Look & Feel gefiel ihm zunehmend. Angenehme Farben, alles relativ übersichtlich. Man wollte ein Motto von ihm wissen, also machte er sich Gedanken dazu, aber ihm viel spontan nichts Zündendes ein.
Er musste sich beschreiben, seine Augen- und Haarfarbe, Größe und Gewicht. Tom strich sich kurz durchs Haar. Die Größe kein Problem, aber sein Gewicht? Sicherlich, er hatte die letzten beiden Jahre einiges an Gewicht verloren, aber mit ein Meter einundachtzig und zweiundneunzig Kilo empfand er sich immer noch zu schwer.
»Was solls, bis ich jemanden kennen lerne, gehen sicherlich noch ein paar Kilo runter.« So schwindelte er sich mal schnell auf neunundachtzig Kilo. Mit seinem Alter hatte er keine Probleme, er war Anfang vierzig und fand dieses Alter in Ordnung. Körperlich fühlte er sich gut, und natürlich hatte er beruflich etwas vorzuweisen, was mit Anfang dreißig noch nicht unbedingt der Fall und auch in höherem Alter nicht selbstverständlich war.
Man stellte ihm viele Fragen zu seinen Hobbys und seinen Wünschen. Er machte sich zu allem Gedanken und trug fleißig seine Antworten ein. Was ihm allerdings schon am Anfang Kopfzerbrechen machte, war, dass er bei Familienstand verwitwet eintragen musste. Auch die Frage nach den Kindern beantwortete er brav: „Kinder leben bei mir“ Jetzt musste noch ein Foto rein, und da brachen erstmals Zweifel bei ihm auf. Auf allen Fotos war er mit Familie, und die Fotos, welche ihn allein zeigten, waren Pressefotos. Sie zeigten Tom mit Anzug und Krawatte, schick, aber doch sehr bieder. »Was solls, die Fotos sind nicht schlecht, für den Anfang sind sie ok, irgendwann werde ich neue machen.
Es dauerte einige Zeit, bis sein Profil fertig gestellt war, er achtete auf Rechtschreibfehler und seine Komma-Schwäche und war ganz stolz, dass er den Nick „Somebody2Love“ gewählt hatte. Er liebte dieses Lied von Queen, und Freddy war sein Held. Keiner konnte so gekonnt einer Schnulze etwas Rockiges abgewinnen. Seine Lieder und seine Lyrik begleiteten Toms ganzes Leben. „Somebody2Love“, er war sich sicher, dass dieses Pseudonym zu ihm passte, schließlich war er jemand, der lieben und vielleicht auch geliebt werden konnte.
Als er mit seinem Profil fertig war, ging er alles noch einmal durch, eine letzte Bestätigung, und Toms Profil wurde auf dem Bildschirm angezeigt. Endlich, es kann losgehen.
Zunächst musste er sich mit dem Layout zurechtfinden. Es war gut aufgebaut, und es bot auch eine Menge an Möglichkeiten.
Auf der rechten Seite sah er alle Mitglieder, die online waren, er war begeistert.
Schnell klickte er die ersten Pseudonyme an, die viel versprechend klangen. „Traumfrau52“ war eine seiner ersten Kontakte. Als ihr Profil auf seinem Bildschirm erschien, war er enttäuscht, es war kein Foto vorhanden, und als er es studierte, stellte er sehr schnell fest, dass die gute Frau bereits zweiundfünfzig Jahre auf dem Buckel hatte, drei Kinder und im Nirgendwo lebte. Schnell verließ er ihr Profil und beobachtete weiter den sich flüssig nach unten bewegenden Strom von Gleichgesinnten. Er kannte das ja bereits aus seinem ersten Sex-Chat.
„Blondie36“ war sein nächstes Opfer. Es gab ein Bild, ziemlich verschwommen, kaum erkennbar, aber sie sah jung aus, hatte ansprechende Proportionen, einsvierundsiebzig groß und schlank. Natürlich blond, wie sollte es auch anders sein. Aber sie wohnte in Frankfurt. Na ja, die Entfernung wäre eigentlich kein Problem, aber er konnte nicht immer einen beruflichen Anlass vortäuschen, um dies mit einem Besuch in Frankfurt zu verbinden – das würde nicht klappen. .
So arbeitete er sich durch die Menüführung und entdeckte plötzlich, dass es Filter gab. Stimmt, er hatte ja schließlich auch angegeben, was für eine Frau er suchte. Sie sollte zwischen fünfunddreißig und vierzig sein und im Postleitzahl-Gebiet 8 wohnen. Aber wie sollte er das anstellen? Tom war noch nicht erfahren genug in diesem Medium, also versuchte er es durch Ausprobieren und klickte sich durch, versuchte mal dies und das und stellte fest, dass es Knöpfe gab, mit denen man Alter und auch die Postleitzahl eingrenzen konnte. Er konnte den Filter sogar so einstellen, dass Frauen ohne Fotos gar nicht erst erschienen. Der Online-Fluss der Mitglieder wurde plötzlich langsamer, und Tom stellte zufrieden fest, dass er jetzt nur noch Frauen mit Bild aus dem gewünschten Postleitzahlgebiet und Alter auf dem Schirm hatte. Genial! Dachte er und machte sich an die Arbeit, die Damen seiner Wahl anzuklicken und ihre Profile zu studieren.
Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis er sie entdeckte. Was für ein Foto, Alter vierunddreißig. Na ja, vielleicht ein bisschen zu jung, aber alt werden sie von alleine. Ihr Profil gefiel ihm, auch das, was sie beschrieb, die Beantwortung der Fragen, alles erschien ihm perfekt. Sie schrieb sogar, dass sie einen Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig suchte. Klasse, ich bin dein Mann! Im Kopf suchte er nach einer adäquaten Anredefloskel. »Hallo schöne Frau.« Blödsinn, klingt ja idiotisch. Würde er diese Anmache im realen Leben bringen, sie würde ihn keines Blickes würdigen. Also feilte er an seinem ersten Satz, formulierte und baute ihn um, kam jedoch zu keinem wirklich zufrieden stellenden Ergebnis. Irgendwie schlich sich Lähmung in seinen verbalen Wortschatz, der sicherlich nicht gering war. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, die richtige Anrede zu finden. Er fühlte sich wie die Klapperschlange vor der Maus, die nur noch zupacken müsste, aber dann feststellt, dass sie gar keine Giftzähne hat. Also studierte er ihre Antworten und stellte fest, dass sie gerne las und zu ihren Lieblingsbüchern „Die Säulen der Erde“ von Ken Follet gehörte. Bingo! Das war ebenfalls eines seiner Lieblingsbücher, jetzt hatte er ein Thema gefunden, auf das er sie ansprechen konnte.
Er baute einen neuen Satz im Kopf - es war nicht der perfekte Satz - aber was ist schon perfekt, und es war an der Zeit, den ersten Versuch zu starten. Schließlich hantierte er nicht mit gefährlichen Flüssigkeiten und musste vorher Feldversuche unternehmen. Er nahm allen Mut zusammen und suchte nach dem Eingabefeld für seine Nachricht. Er erschrak, er konnte keine Nachrichten verschicken, er konnte diese Traumfrau nicht anschreiben, da er kein Premium-Mitglied war. Das System schickte ihm Informationen, welche Vorteile er dadurch hätte. Er konnte einen Testmonat oder für günstiges Geld ein ganzes Jahr buchen. Dafür konnte er jeden anchatten und genoss noch eine Menge anderer Vorteile. Nicht schlecht, die Jungs sind gut, ist doch eigentlich klar, von irgendwas müssen die auch leben. Er entschied sich für eine einmonatige Mitgliedschaft, bis dahin dürfte sich doch wohl eine Traumfrau gefunden haben. Gegebenenfalls sieht man eben weiter. Natürlich war er etwas skeptisch, was die Weiterleitung seiner Kreditkarteninformationen betraf. Als alter Software-Hase wusste er, dass diese sensiblen Informationen irgendwo im Internet nur bei dem Richtigen aufschlagen müssen, und schon räumt er das Konto ab. Aber seine Neugierde war größer als seine Angst, zum Sozialfall zu werden. Also schloss er die Transaktion wie gewünscht ab und kehrte auf seine wunderbare Seite zurück. Er war in Eile, schließlich wollte er ja „Blondie“ noch seinen Text reindrücken. Zwischenzeitlich waren weitere zwanzig wertvolle Minuten vergangen. Blondie, Blondie, Mensch wie hieß sie noch, irgendwas mit dreißig. Er suchte und suchte, konnte aber keine Blondie mehr finden. Es gab hier alles an Namen, was man sich nur ausdenken konnte, aber Blondie war nicht mehr dabei. Wie im realen Leben war wieder ein Anderer schneller gewesen und hat sie auf seine Burg entführt. Aber es könnte auch sein, schließlich hatten sie schon die zweiundzwanzig Uhr überschritten, dass Blondie sich gepflegt ins Bett verabschiedet hatte. Wie auch immer, er klickte weitere Profile an, als plötzlich ein Fenster bei ihm aufpoppte. »Hallo junger Mann, was treibt dich noch so spät hierher, warum hast du kein Foto von dir drin?«
Wie, was, kein Foto?
»Natürlich habe ich ein Foto drin«, textete er zurück.
»Ich kann es aber nicht sehen«, war die Antwort.
Er war völlig konsterniert, bis er sich an die Nachricht des Anbieters erinnerte: Die Fotos werden geprüft, das kann einige Stunden in Anspruch nehmen. Das war der Grund, sie musste also auf sein Foto noch etwas warten. Aber die spinnt doch. Dachte er sich, als er jetzt mit mehr Interesse auf ihr Profil schaute. Sie hatte ebenfalls kein Foto eingestellt, war vom Alter gerade noch akzeptabel, aber die Maße? Eins-zweiundsechzig bei neunundsechzig Kilo. Nein, das ging gar nicht, das war einfach zu viel. Sie konnte ja aussehen, wie sie wollte, aber Tom stand nun mal auf Kleidergröße sechsunddreißig bis maximal achtunddreißig. Er klickte sie weg und schaute auf die Uhr. Es war bereits zweiundzwanzig Uhr, mein Gott, er war schon über zwei Stunden im Netz und das ohne Flatrate. Die Telekom wird’s freuen, aber sein Konto? Eher nein. Er loggte sich aus, schaltete den PC ab und traf die fol-genschwere Entscheidung, dass eine Flatrate her musste, die seine neuen Aktivitäten finanziell nicht so strapazierte.
Als er sich am nächsten Tag in der Arbeit befand, wartete er schon sehnsüchtig auf seine Mittagspause. Schließlich wollte er seiner Single-Börse einen Besuch abstatten. Könnte ja sein, dass ihn eine dieser Traumfrauen aufgrund seiner Fotos und seines tollen Profils angeschrieben hat. Er war ziemlich gespannt, nein, eigentlich eher angespannt, schließlich war es ein völlig neues Medium für ihn, ein ungemein spannendes noch dazu. In seiner Firma waren sie internettechnisch auf dem neuesten Stand. Insofern war er nicht erstaunt, wie schnell sich die Seite öffnete und wie flüssig sich die Pseudonyme mit einem leichten Klick Klick Klick nach unten bewegten. Jedes Mal, wenn ein neuer Nick auf der Leiste erschien, machte es Klick. Ziemlich störend, wie er empfand, also schaltete er den Ton seines Laptops einfach ab. Sollte sich ja schließlich keiner seiner Mitarbeiter wundern, warum sein Laptop pausenlos Töne von sich gab. Es gab immer ein paar Kollegen, die mal schnell hinter einen sprangen, um das Übel aus nächster Nähe zu begutachten. Tja, und was würden sie vorfinden? Ihren Chef, wie er in der Mittagspause in Kontaktseiten rumblättert und nach Frauen Ausschau hält.
Der erste Blick fiel auf sein Postfach, eine Nachricht war dort zu lesen. Tom war begeistert, er trommelte mit der Faust kurz auf den Tisch und erschrak, welchen Lärm er machte. Ich hab es gewusst, es funktioniert, die erste Traumfrau hat mich angeschrieben. Sein Profil war auch gut, er war stolz auf sich. Schnell klickte er darauf und stellte jetzt ernüchtert fest, dass ihm der Anbieter geschrieben hatte. »Ihr Foto wurde freigeschaltet.« Na prima, warum auch nicht, schließlich habe ich mich nicht nackt verewigt, sondern ein stinklangweiliges, seriöses Foto abgegeben. Seine Stimmung war am Kippen, er atmete tief durch und beruhigte sich wieder.
Egal, man kann mich sehen. Plötzlich wurde ihm mulmig. Wenn man das kann, dann sehen mich auch Menschen, die mich kennen. Partner, Kunden, eventuell Freunde, die wie er nach einer neuen Frau oder vielleicht nur nach einer Affäre suchten. Ziemlich blöd. Dachte er, vielleicht sollte er einen Balken auf sein Gesicht malen oder das Foto wieder raus löschen. Er war verunsichert, was sollte er tun? Er wollte nicht in den Otto-Katalog, aber es ging nicht anders. Auch Frau will sehen, was sie bekommt. Ohne Foto, das wusste er, wird’s nichts werden, außerdem sah er ganz attraktiv aus, warum also nicht zeigen, was man zu bieten hat.
Er zuckte gedanklich mit den Schultern. Das ist das Spiel, da musst du durch. Toms Branche war ohnehin von Männern dominiert, und welche Männer suchen schon Männer, und selbst wenn’s so wäre, keiner von diesen würde sich outen.
So schnell dieser Gedanke in seinen Kopf schoss, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er stellte alle Parameter nach seinen Wünschen ein und drückte auf den Suchknopf. Binnen Sekunden blätterte ihm das System pro Seite ein Dutzend Frauen mit Fotos auf. Die Begeisterung brach bei ihm erneut aus. Tom blätterte von einer Seite auf die nächste. Jede Seite war gespickt mit Frauen unterschiedlichster Couleur. Es waren sehr attraktive und auch weniger attraktive dabei, alles Frauen in der Alterskategorie, die er suchte, wobei er sein Raster sehr weit steckte - von fünfundzwanzig bis vierzig. Typisch Tom. So wie ihm eine Dame Nachrichten in sein Postfach legen konnte, so konnte er das natürlich auch. Leider war ersteres zwar noch nicht passiert, aber wenn die Damen so unkreativ oder einfach noch nicht über sein Profil gestolpert waren, so konnte er zumindest Nachrichten an die Auserwählten schicken. Außerdem hatte er die Möglichkeit, seine persönlichen Favoriten anzulegen. Er konnte also sofort sehen, ob sie online waren, mit ihnen chatten oder just in time Nachrichten in ihr Postfach legen.
Tom schrieb gerne, aber er war auch phlegmatisch. Ein individueller Brief ist sicherlich was Schönes, aber ob sie merkt, dass er einen Serienbrief verfasst hat und der gleiche Inhalt auch an ein anderes Profil ging? Es war nur eine Frage der Effizienz. Schließlich weiß auch keine Frau in einer Bar, dass er exakt mit demselben zündenden Spruch - falls es ihn gibt - schon davor die Eine oder Andere begeistert oder gelangweilt hatte. Hier war es dasselbe, der Text musste nur so gestaltet sein, dass er eine gewisse Individualität ausstrahlte, und wenn dem so war, griff sein Gesetz der großen Zahl wieder. Je mehr er anschrieb, umso höher war die Chance, dass eine der von ihm Gewählten darauf ansprach.
Er grinste über das gesamte Gesicht, würde ihn jetzt einer seiner Mitarbeiter sehen, würde er meinen, Tom hätte den Deal des Monats gemacht.
In Gedanken feilte er wieder an seinem Anschreiben. Es musste einfach gut sein, nicht so was Banales, was vielleicht ein Anderer schreiben würde. Einfach was Besonderes, charmant und persönlich sollte es sein.
Marketing gehörte immer zu seinen Stärken. Er war nie darin ausgebildet worden, aber ganz ehrlich, entweder man hat Gespür dafür, was ankommt oder man hat es eben nicht. Ist wie beim Verkaufen, entweder man hat es im Blut, oder man muss es sich hart erarbeiten. Aber der Vorteil lag bei Tom, er glaubte, nein, er war der Überzeugung, dass er ein textliches Paradigma schaffen würde, was so ziemlich jede Frau begeistert und auf ihn aufmerksam macht. Er erkannte, dass man hier mit gutem Marketing einfach weiter kommen musste. Man muss sich selbst vermarkten, das fängt mit der humorvollen aber dennoch charmanten Beantwortung der Fragen an und hört mit gut gelungenen Bildern auf. Letzteres hatte er leider noch nicht anzubieten, aber dafür würde er noch sorgen. Kommt Zeit, kommt Rat.
Tom hatte noch etwas Zeit, bevor seine Pause vorbei war und er sich wieder wichtigen Geschäften widmen musste. Also klickte er sich unermüdlich durch die vielen Profile, und als er endlich mit seiner Auswahl fertig war, stellte er fest, dass er fünfzig Favoriten auf seiner Seite gespeichert hatte. Er rieb sich die Hände und schaute zufrieden auf die getane Arbeit. Er hatte eine gute Auswahl getroffen.
Dieses Kennenlern-Portal betrachtete er zwischenzeitlich wie ein Projekt. Er war der festen Überzeugung, dass, wenn man das Ganze mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und mit einer Portion Kreativität anginge, auch der Erfolg nicht ausbleiben könne. Er hatte das subtile Gefühl in sich, dass ihn das Internet ganz sicher aus seiner Einsamkeit befreien und sehr bald eine interessante Frau an seiner Seite sein würde. Mit diesem wunderbaren Gefühl loggte er sich aus und kümmerte sich wieder um die Belange der Firma.
Jeden Abend, sobald seine Kinder im Bett waren, wurde sein Laptop eingeschaltet, wurde sein Kommunikator, seine Verbindung zur Welt aktiviert. Er wählte sich über seinen Anbieter ein, tippte auf der Webseite seiner Single-Börse Pseudonym und Passwort ein und befand sich kurz darauf wieder im Zentrum des Geschehens. Hier tummelten sie sich, die vermeintlich Schönen und Begehrenswerten. Hier waren sie unterwegs, die Einsamen und Verzweifelten, die Unseriösen und Perversen, die Pferdehändler, die mit „mein Boot, meine Villa und mein Rennpferd“ Frauenherzen zum Schmelzen brachten, aber auch Menschen wie Tom, sicherlich ein Einsamer, aber bestimmt kein Pferdehändler. Er hatte ernsthafte Absichten, und er war fest davon überzeugt, über dieses Medium sein Glück zu finden.
Sein Kontaktaufnahmetext war endlich fertig, und heute war es an der Zeit, die fünfzig ausgesuchten Postfächer damit zu füllen. Tom war stolz auf sich, er empfand sein Werk als außerordentlich gelungen, charmant und dennoch zum Punkt kommend: »Dein Profil ist hier eine absolute Ausnahme, dein Foto wunderschön und sinnlich, deine Antworten offen und intelligent. Gerne würde ich mehr über dich erfahren, sofern dir mein Profil gefällt. Vielleicht lese ich wieder von dir, würde mich freuen.«
Der Text hatte alles: Sie ist eine Ausnahme, ganz wichtig. Welche Frau will sich schon mit anderen vergleichen, jede ist einzigartig. Und natürlich muss ihr Aussehen entsprechend gewürdigt werden, denn welche Frau hört nicht gerne, dass sie schön und vor allen Dingen sinnlich rüberkommt. Wenn man dann auch noch schreibt, dass ihre Antworten intelligent sind, fühlt sie sich erneut geschmeichelt, ohne dass sich eine Schleimspur über die Tastatur zieht. In der Kürze liegt die Würze, ähnlich wie bei der Fernsehwerbung oder bei einem Werbeanschreiben. Man muss auf den Punkt kommen, Romane liest sowieso keiner.
Überzeugt von seiner Arbeit verwendete Tom nun den genialen Cut & Paste-Befehl. (Bitte prüfen! Heißt das nicht Copy & Paste??) Er klickte jedes Profil einzeln an und schob seinen Text in das jeweilige Postfach. Senden und fertig.
Auch Dinge über sich selbst auf den Punkt zu bringen, ohne arrogant, naiv oder nicht partnerschaftstauglich zu wirken, sind nicht einfach. Manche Profilfragen der Anbieter erscheinen auf den ersten Blick banal, sind aber dennoch gefährlich, denn manche spontan hingeschriebenen ehrlichen Antworten verrieten oft das Falsche aus der Sicht des Gegenübers. Allein die Frage: »Wie ist das Verhältnis zu deinen Eltern?« ist tückisch. Schreibt man, dass man seine Mutter liebt, dann denkt die Leserin vielleicht: Gott, schon wieder einer mit Mutter-komplex. Schreibt man, dass das Verhältnis zu seinen Eltern schlecht sei, fehlt einem eventuell der gewünschte Familiensinn oder die nötige Fürsorge- oder Bindungsfähigkeit. Es war Vorsicht geboten.
Einige seiner Favoriten waren bereits online, umso besser, vielleicht bekommt er ja umgehend eine Nachricht, und so harrte er der Dinge, die da kommen würden.
Während er noch fleißig seine Nachrichten verschickte, poppte schon das erste Fenster auf.
»Danke für deine Nachricht, aber du bist nicht mein Typ!« Erschrocken starrte er auf die Message. Nicht ihr Typ? Er klickte auf das Profil und sah eine seiner Traumfrauen vor sich, wie sie gekonnt lächelnd den Bildrahmen füllte. Ok, das passiert einem im realen Leben auch, man kann nicht jederfraus Typ sein. Also nahm er keine weitere Notiz davon. Er löschte sie aber gleich von seiner Favoritenliste. Eine weniger, auch gut, jetzt habe ich wieder Platz für eine weitere.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis die nächste Message rein purzelte.
»Danke für deine nette Nachricht, dein Profil klingt auch nicht schlecht. Aber ganz ehrlich, ein Mann mit zwei Kindern ist nicht mein Fall. Viel Glück.«
Natürlich hatte er zwei Kinder, die Kleine war gemäß ihrem Profil achtunddreißig und suchte einen Mann zwischen vierzig und fünfundvierzig. Lebt die auf dem Mond oder was? Männer in unserem Alter zahlen entweder Unterhalt für mindestens ein Kind, und wenn man Pech hat, auch noch für die geschiedene Frau. Meine Töchter dagegen waren schon aus dem Gröbsten raus, na ja zumindest fast. Er hatte keine plärrenden Kleinkinder am Hals, die gerne in der Besucherritze schliefen, seine waren aufgrund der Tragödie schnell selbstständig geworden. Sicher, sie brauchten auch noch Aufmerksamkeit, wie alle Kinder, aber sie waren relativ pflegeleicht. Aber das wuss-te die gute Dame natürlich nicht. Eigentlich wusste sie gar nichts über ihn, über sein Leben und wie er sich eingerichtet hatte. Aber da waren nun mal seine beiden Kinder und der Begriff „Witwer“. Somit war klar, der Typ sucht eine Mutter für seine Kinder.
Er schrieb freundlich zurück. »Kein Problem, auch dir viel Glück.«, und löschte sie ebenso aus seiner Favoriten-Liste. Kaum damit fertig, kam die nächste vernichtende Message »Ich stehe nicht auf Siemens-Typen wie dich, mach dich mal locker.«
Damit war sein Foto gemeint, langsam wurde er sauer. Klar war das Foto viel zu steif, er mochte es auch nicht. Für die Presse war es ok, denn es zeigte einen seriösen Geschäfts-mann, aber für die Damen war es einfach zu steif, er musste das ändern und zwar so schnell als möglich.
Natürlich bekam die Dame keine Antwort von ihm. Eine Frechheit, so zurückzuschreiben, Siemens-Typ hin oder her.
Von drei Frauen hatte er bereits eine Antwort bekommen, weitere drei seiner fünfzig waren immer noch online, und er wartete gespannt, ob von diesen auch noch eine Antwort kommen würde. Aber es passierte nichts, rein gar nichts.
Also klickte er deren Profil an und schrieb eine weitere Message, um auf sich aufmerksam zu machen. »Will dich nicht stören.« Fuck, was heißt, will dich nicht stören, natürlich will ich dich stören. Ich habe mein Herzblut in dein Postfach gelegt, und jetzt will ich, verdammt noch eins, eine Antwort von dir. Er löschte den Text und schrieb: »Hallo...« Hallo geht gar nicht, das klingt völlig bescheuert. Hallo sagt man zu seinen Kindern, den Nachbarn und zu seinen Arbeitskollegen, wenn man sie sieht. Hallo, Halli Hallo. Nein, das waren keine ver-nünftigen Anredeformen. Schöne Frau vielleicht, nun das geht auch nicht, das schreibt sicherlich jeder zweite Mann hier. Nein, er musste sich was anderes einfallen lassen. Er ließ also das Hallo weg und schrieb: »Dein Profil gefällt mir ausgesprochen gut, habe dir eine Nachricht im Postfach hinterlassen. Liebe Grüße.« Na ja, nicht der Satz des Jahrhunderts, aber zumindest habe ich auf mich aufmerksam gemacht.
Wie der Kater auf dem Sprung saß er vor seinem Bildschirm und wartete auf eine Reaktion, eine kleine Nachricht, aber es kam nichts. Während er so wartete, klickte er auf das eine oder andere Profil von Frauen, die sich online befanden, und stieß auf „NurFürDich“. Nicht schlecht, eine blonde Schönheit, sie hatte mehrere Fotos drin, und eines dieser Fotos zeigte ihre wunderschönen langen Beine. Klasse, genau mein Typ. Er studierte ihr Profil, sie wohnte in München. Gut! Dachte er, sie war vollschlank, und sie hatte keine Kinder. Perfekt! Was bin ich für ein intoleranter Idiot, gerade habe ich mich noch geärgert, weil eine sich über meine Kinder mokierte, und jetzt finde ich es gut, dass sie keine hat!
Er ging auf die Message-Box und schrieb sie sofort an, natürlich mit seinem Standardsatz.
Gespannt wartend saß er vor dem Bildschirm und zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich: »Hallo schöner Mann, danke für Deine Nachricht« Hallo schöner Mann? Mensch, ihr Mädels erlaubt euch Sätze, die würden wir nie in den Mund nehmen. Hallo geht gar nicht, und schöner Mann, da fühlte er sich natürlich geschmeichelt. Endlich eine, die was mit seinem ausdrucksvollen Zombie-Foto anfangen konnte.
Schnell drückte er die Zigarette aus, er war bereit zum nächsten Schlag, auch der musste sitzen. Eigentlich war er überhaupt nicht darauf vorbereitet. Was antwortet man auf so eine Nachricht? Er überlegte angestrengt und schrieb zurück. »Danke, dass du mir zurückgeschrieben hast, darf ich fragen, wie du heißt?« Er hätte die Zigarette gar nicht vorzeitig ausdrücken müssen, diese Antwort war nicht Weltklasse, aus der Not geboren, also zündete er sich eine weitere an. Es dauerte und dauerte. Vielleicht will sie nicht sagen wie sie heißt, sie ist kurz auf der Toilette, am Telefon oder sonst wo. Er konnte nicht fassen, dass auf so eine simple Frage eine Antwort so unendlich lange dauern kann.
Doch dann kam die ersehnte Antwort: »Simone, und darf ich fragen, wie Du heißt?« Shit, ich hätte doch gleich meinen Namen mitschicken können, dann würde sich diese Frage schon erledigt haben, und wir könnten uns endlich mal über was Vernünftiges unterhalten. »Tom, schön Dich hier kennen zu lernen.«
Simone hatte eine angenehme Art, Fragen zu stellen. Natürlich kam das berüchtigte Witwer-Thema wieder hoch, verbunden mit, »Tut mir leid, schon ein schweres Schicksal ...«. Natürlich war es schwer, aber es war einzig und allein seins und das seiner Kinder, und er wollte nicht bemitleidet werden oder irgendwelche Beschützerinstinkte wecken. Er wollte als Mann betrachtet werden, nicht mehr und nicht weniger. Er fasste den Entschluss, dass er seinen Familienstand so schnell als möglich in „Single“ ändern muss. Natürlich kamen die Standardfragen, was jeder beruflich und in seiner Freizeit mache, oder welche Musik man gerne höre. Sie sprachen über dies und das und natürlich auch darüber, was sie in so ein Forum getrieben hat. Natürlich wusste jeder von ihnen die Antwort, es war die Einsamkeit, das Suchen und Finden einer neuen Liebe. Das, was Menschen suchen, seitdem sie den Planeten für sich entdeckt und erobert haben. Seine Finger jagten über die Tastatur, und da Simone wie er des Zehnfingersystems mächtig war, dauerten die Antworten auch nicht lange. Es machte Tom Spaß, und die Zeit verging wie im Flug. Aber irgendwann beendete sie das Gespräch: »Tom, ich würde mich jetzt noch gerne weiter mit dir unterhalten, aber es ist schon spät, und ich habe morgen einen harten Tag vor mir.«
»Kein Problem, Simone, was hältst du davon, mal einen Kaffee zusammen zu trinken?« Irgendwie empfand er seine Frage schon als frech, zu spontan, wie er meinte. Aber ihre Antwort ließ nicht auf sich warten.
»Warum nicht, ich wohne in Schwabing, wenn du morgen Zeit hast, dann können wir uns gerne treffen.«
Ja, das war die Antwort, die er hören wollte, ein Date, und schon morgen. Sie tauschten die Handynummern aus, und sie gab ihm ihre Adresse.
»Um Drei hole ich dich ab, versprochen, freue mich drauf.« »Ich auch!«, kam als Antwort, und so war der erste wichtige Schritt getan. Das Internet schenkte ihm das erste Date in München. Zufrieden loggte er sich aus und nahm das wunderschöne Bild von Simone mit in sein Bett. Sie war blond, hatte ein bezauberndes Gesicht und unendlich lange Beine. Sie hatte in der Vergangenheit gemodelt und auch geschauspielert. Es würde ein interessantes Treffen werden, davon ging er aus.
Am darauf folgenden Tag stand er vor der Frage aller Fragen: Was ziehe ich an? Einen seiner schicken Anzüge oder eher was Lässiges. Er musste am Vormittag einen wichtigen Termin wahrnehmen, also kam nur ein Anzug infrage. Dieser durfte aber nicht zu konservativ sein, und so entschied er sich für einen seiner hellen Boss-Anzüge. Er rasierte sich weit gründlicher als sonst, überprüfte mehrmals seine Frisur und dachte sich dabei: Ein etwas lässigerer, jugendlicherer Schnitt würde mir gut tun.
Er hatte einen Oberlippenbart, der ihm überhaupt nicht mehr gefiel, eigentlich hasste er ihn. Immer wieder wollte er ihn entfernen, aber als er ihn einmal während eines Urlaubes wegrasierte, flippten seine Töchter total aus. Er sehe schrecklich aus. Auch Tom erschrak, der weiße Fleck in seinem sonnengebräunten Gesicht sah seltsam aus. Vor allen Dingen fehlte die Oberlippe, der Bart hatte über die Jahre die Pigmentierung verändert. Er ließ ihn schnell wieder wachsen, um den Seinen den schrecklichen Anblick zu ersparen. Aber er spürte, die Zeit der Bärte war vorbei, außerdem schrieben viele Frauen in den Profilen, dass ein Mann mit Bart nicht in Frage käme. Es war ein echtes K.O.-Kriterium und deshalb musste er weg.
Tom legte ziemlich kräftig von seinem Duft auf, packte seine Sachen zusammen, stieg in sein Auto und fuhr wie jeden Tag nach München ins Büro.
Irgendwie war das Meeting stinklangweilig, und er erwischte sich fortwährend dabei, dass er auf die Uhr blickte. Aber der Zeiger war heute gegen ihn und schien sich überhaupt nicht vom Fleck zu bewegen. Das ewige Bla-Bla seines Gesprächspartners ging ihm fürchterlich auf den Wecker. Wer kennt nicht das Gefühl, bevor jemand den Satz beendet, dessen Ende schon zu kennen. Oder ihn am liebsten aufziehen würde, damit seine Sätze schneller von den Lippen kommen. Genauso erging es Tom, es war furchtbar, einfach quälend. Aber noch quälender war das Gefühl, in wenigen Stunden einer sehr schönen Frau gegenüber zu sitzen. Er war sichtlich nervös. Tom war in seinen Gedanken schon bei dem Treffen, studierte Gesten und Sätze ein. Er wollte es einfach perfekt, sie sollte hin und weg von ihm sein, er wollte ihr Traummann sein, das war sein Ziel. Tom wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sein Gesprächspartner plötzlich aufsprang, sich bedankte und ihm einen schönen Tag wünschte. Ja, den werde ich haben. Er drückte zum Abschied kräftig seine Hand, als wollte er sich für die verbalen Schmerzen und die Langeweile rächen, doch er fand freundliche Worte zum Abschied.
Das Wetter war großartig, als er in sein Auto stieg, sonnig und heiß. Er warf sein Sakko auf den Rücksitz, schaltete die Klimaanlage auf Höchststufe und fuhr in Richtung Schwabing. Mit jedem Kilometer wurde seine Nervosität spürbarer. Er stellte die Musik laut und versuchte sich etwas abzulenken. Es dauerte zirka eine halbe Stunde, bis er in ihrer Straße ankam. Er hatte ihre Hausnummer auf einem kleinen Zettel notiert und suchte nun die Häuserzeilen nach der Nummer ab. Ihre Adresse befand sich ziemlich am Anfang der Straße, ein Wohnblock im Siebzigerjahre-Stil, relativ schmucklos, aber nicht hässlich. Er hatte Glück, denn er konnte direkt vor der Haustür parken. Tom stellte den Wagen ab, schaute nochmals in den Spiegel und stieg aus.
Er atmete tief durch, sein Herz schlug wie verrückt, wie das eines Teenagers, der bald seinen ersten Kuss erleben würde. Er ging auf den Eingang zu und suchte mit den Augen die vielen Namen nach dem ihren ab. Hier war er, also war die Adresse richtig. Er drückte vorsichtig auf den Klingelknopf und lauschte, wartete auf das bekannte Summen, welches die Tür für ihn öffnen und ihn seinem Traum ein Stück näher bringen würde. Es geschah nichts, kein Summen, kein Brummen, einfach nichts. Wieder drückte er auf den Klingelknopf diesmal bestimmter und wartete. Er zählte die Sekunden, und als er bei einhundertzwanzig angekommen war, klingelte er nochmal und nochmal und nochmal. Nichts, kein Ton war zu hören. Er schaute durch die Milchglasscheibe der Eingangstür, erwartend, dass sie plötzlich vor ihm stand und ihm öffnete, aber nichts passierte. Er merkte, wie sich sein Magen verkrampfte. Entweder hatte sie ihn vom Fenster aus beobachtet und sich entschieden, ihm nicht zu öffnen, oder sie hatte ihn einfach vergessen.
Er war ziemlich verärgert, sein erstes Date und dann diese Pleite. Aber er hatte ja noch ihre Handynummer, doch die lag im Auto. Er klingelte nochmals kurz, mehr aus Protest, als dass er erwartete, dass sie ihn doch noch hörte.
Er fingerte in seiner Hosentasche herum, holte seinen Autoschlüssel hervor und ging zurück zum Auto. Es waren nur ein paar Meter, aber jeder Schritt fiel ihm schwer. Frauen! War sein einziger Gedanke. Tom war gerade dabei, die Autotür zu öffnen, als er bemerkte, wie von der anderen Straßenseite her eine Frau winkend auf ihn zulief. »Hallo! Hallo Tom, ich bin es, Simone.« Er kniff die Augen zusammen, um nach dem plärrenden Etwas zu sehen, welches nur noch hundert Meter von ihm entfernt war. Simone? Nein, das konnte nicht Simone sein! Die Person, die sich ziemlich ungelenk auf ihn zu bewegte, hatte locker Kleidergröße sechsundvierzig. Ihre Waden sahen aus wie die einer gut genährten Sennerin, und ihr glockenförmiger Rock, der an ihrem Po klebte, kaschierte weder die Problemzonen noch ihren ungelenken Gang, als sie über die Straße stolperte.
Als würde ihn ein imaginärer Schutzengel in sein Auto schubsen, saß er plötzlich auf seinem Sitz und fingerte verzweifelt an der Zündung. Die Wagentür wurde aufgerissen, und verbunden mit einer aufdringlichen Parfümwolke plumpste etwas Gewaltiges auf seinen Beifahrersitz. »Hallo Tom, ich bin Simone, schön dich kennen zu lernen.« Er spürte, wie seine Finger von einer verschwitzten Hand durchgeknetet wurden. Ein »Hallo» war alles, was er in diesem Moment über die Lippen brachte. Es kam selten vor, dass er so einsilbig war, aber in diesem denkwürdigen Moment versagten seine grauen Zellen den Dienst, der Schock saß zu tief. Sie schnaufte wie eine Lokomotive und wischte sich mit einem Taschentuch über den verschwitzen Hals. »Mein Gott, diese Hitze bringt mich noch um. Bin froh, dass du nicht einfach weggefahren bist.«, sie lachte. »Ist mir auch schon passiert, glaube mir.«
Auch schon passiert? Mädel, das wäre dir heute nochmal passiert, wenn ich das verfluchte Auto eher hätte starten können. Ihm wirbelten so viele Gedanken durch den Kopf, er musste sich erst wieder fangen. Das war also seine Traumfrau Simone, die Frau mit den schönen schlanken Beinen, dem sinnlichen Gesicht, die Frau, die gemodelt und schon mal als Schauspielerin gearbeitet hat. Tom brummte der Schädel, irgendwie musste er raus aus dieser Situation, das unförmige Etwas aus seinem Fahrzeug entfernen, aber wie? Wie in Trance startete er das Auto und fuhr in Richtung Englischer Garten. Simone fühlte sich sichtlich wohl und plapperte ununterbrochen. Sie bewunderte sein Auto, erzählte ihm von ihrem Tag und dass ihr die Hitze wirklich Probleme bereitete. Klar, wenn ich zwanzig Kilo mehr auf dem Körper trage als er verdient hat, dann streikt er halt, Hitze hin oder her. Alles in ihm stockte, er brachte nicht mehr über seine Lippen als ein verschüchterter Junge, dessen hässliche Lehrerin sich über sein Heft beugte und seine Leistungen monierte. So fuhr eine sichtlich relaxte Simone mit einem sichtlich erschütterten Tom durch die sonnengefluteten Straßen Münchens in einen der schönsten Parks der Republik.
Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er ihre Beine betrachtete. Ihre fleischigen Füße waren in luftige Sommerschuhe eingepfercht, welche tiefe, rote Striemen hinterließen. Ihr Parfüm war schwer und unangenehm, er spürte, wie er Kopfschmerzen davon bekam. Sie hatte rosige Wangen, aber nicht von dezent aufgelegtem Rouge, nein, das Blut musste sich wohl einen Weg durch die cholesterinverseuchten Adern kämpfen, daher die Farbe. Er konnte nichts, aber gar nichts Ansprechendes an dieser Person finden. Sie war für ihn völlig asexuell, sie entsprach ganz und gar nicht seinem Beuteschema. Sie war genau der Typ Frau, der einem im Lokal die Luft zum Atmen nahm, um deren Massen man sich herum windet, um jeden Körperkontakt zu vermeiden. Genau so eine Frau saß nun wie selbstverständlich in seinem Auto und fühlte sich pudelwohl. Ihr fiel überhaupt nicht auf, dass jede Faser seines Körpers gegen sie rebellierte, zu beschäftigt war sie mit ihren Erzählungen.
Er parkte sein Auto in der Nähe des Chinesischen Turms und dachte sich noch, als sie ausstieg: Wohin kann ich laufen, wie kann ich dieser Person entfliehen? Aber es gab kein Entrinnen, sie lief um das Auto herum, packte ihn mit ihren Händen am Arm und schob ihn in Richtung Park. Der Weg war nicht sehr lang, aber Simone hatte sichtlich Mühe zu folgen, schnaufend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Er hatte schon Angst, dass sie jeden Moment kollabierte. Endlich kamen sie an, wurde auch Zeit.
Sie nahmen an einem der freien Tische Platz, bestellten einen Kaffee und Simone - wie sollte es anders sein - natürlich Kuchen mit Sahne. Dann begann sie, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie plapperte und plapperte, sprach auch davon, dass sie aus Liebeskummer, der allerdings schon zwei Jahre zurücklag, ein paar Pfund zugenommen habe. Irgendwann legte er seine Sprachlosigkeit ab und fragte sie: »Sag mal, wie alt sind eigentlich die Fotos, die du reingestellt hast?«
»Na ja, so drei Jahre, aber ganz ehrlich, ich sah wirklich so aus.«
Er kratzte sich nervös am Kinn. »Findest du es richtig, solche Fotos reinzustellen, wenn du dich so verändert hast?«
Sie war gerade dabei, ein weiteres Stück Kuchen in sich rein zu schaufeln, als sie innehielt und ihn verwundert anblickte. »Meinst du? Ich habe mich nicht so schlimm verändert, zugegeben, ein paar Pfunde mehr, aber die gehen wieder runter, bin ja seit ein paar Wochen im Fitness-Club, tolle Sache.«
Sie zerteilte den Kuchen in kleine Stücke und schob eines nach dem anderen genüsslich in den Mund. Das Gespräch plätscherte so dahin. Sie stellte ihm natürlich auch Fragen, aber irgendwie hatte er keine Lust auf echte Konversation. Er war permanent damit beschäftigt zu beobachten, wann sie denn endlich fertig wäre.
Als sie zum letzten Schluck ansetzte, rief er bereits nach dem Ober und bat ihn um die Rechnung.
»Du bist aber in Eile, hast du irgendwas?«
Wie naiv du bist, wahrscheinlich sieht mir jeder Gast an den Nachbartischen an, wie begeistert ich auf mein Gegenüber reagiere.
Aber Simone schien das nicht zu bemerken, sie war auf ihre Geschichten über die Amateur-Schauspielerei konzentriert. Sie hatte in ein paar Krimis als Opfer mitgewirkt.
Nun ja, als Tote hat man nicht viel zu tun. Keine besondere schauspielerische Leistung war dafür erforderlich, einfach für ein paar Sekunden nicht atmen, that‘s it. Sie könnte es hier gleich mal vormachen und mir damit die Zeit geben, davon zu laufen.
Er unterbrach sie. »Du, ich muss zurück in die Firma, habe noch einen wichtigen Termin.«
»Ich verstehe. Und, gefalle ich dir, sehen wir uns wieder?« Was sollte er auf diese Frage antworten? Der Teufel in ihm wollte ihr ins Gesicht schreien, was er von ihr hielt, doch der Gentleman in ihm soufflierte, höflich zu bleiben, er brauchte sie ja nicht wieder zu sehen. »Ehrlich gesagt, Simone, ich denke eher nein, du bist eine nette Person, aber leider nicht mein Typ.« Den darauf folgenden Satz sollte er noch öfter hören, und er wäre darüber keinesfalls begeistert, doch in diesem Fall war er eine Erlösung, zumal er wusste, dass Simone reagierte wie der Fuchs angesichts der unerreichbaren Trauben :
»Du bist auch nicht mein Typ, gut, dass wir uns da einig sind.« Sie schob den Eisenstuhl mit ihren gewaltigen Massen durch den Kies, erhob sich und ging in Richtung Parkplatz. Er folgte ihr und war froh, als Simone alsbald sein Auto verließ, ihm einen knappen Gruß schenkte und hinter der Eingangstüre verschwand. Er atmete tief durch, startete das Auto und fuhr in Richtung Autobahn.
Tom musste lachen, furchtbar lachen, er schlug mit den Händen auf das Lenkrad und lachte Tränen. Wenn ihn jemand dabei beobachtet hätte, er würde denken, er hätte den Verstand verloren. Aber er konnte nicht anders, es war einfach zu komisch, was er erlebt hatte. Er hakte das Erlebte als Anfängerpech ab und schwor sich, dass er in Zukunft sein Gegenüber im Vorfeld noch intensiver unter die Lupe nehmen würde. Es kommt halt auf die richtigen Fragestellungen im Chat an. Natürlich konnte er nicht fragen: »Du sag mal, stimmen deine Größe und Gewichtsangabe?« oder »Wie alt sind deine Fotos eigentlich?« Mit den Damen musste man sensibel umgehen, gerade was das Gewicht anbelangt. Nur, so eine Pleite wie heute, die wollte er sich natürlich in Zukunft ersparen. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, schaltete das Radio lauter und fuhr nach Hause.
Dieses Medium hatte seine Tücken, und das lag vor allem daran, dass man sich auf Bilder fixierte, weder wissend, wie alt oder aus welchem Blickwinkel sie aufgenommen waren. Man interpretierte über dieses Bild zu viele Dinge, und das konnte einem zum Verhängnis werden.
Der Himmel hatte sein Bestes getan, um Toms nächstem Date den richtigen Anstrich zu geben. Alles war perfekt, kaum Wind und keine Regenwolken in Sicht. Über das halb geöffnete Fenster blies er den Rauch seiner Zigarette aus dem Innenraum und drehte die Lautsprecher noch etwas lauter. Der lokale Radiosender brachte ihn mit AC/DC‘s „Highway to Hell“ noch mehr in Stimmung. Toms Hände trommelten wild auf das Lenkrad, so als würde er sich auf die nächste Höllenfahrt einstellen. Er saß wieder mal in seiner Achterbahn der Gefühle, hatte das Ticket bezahlt und war wie immer bereit, die Höhepunkte zu genießen und sich danach die Tränen wegzuwischen, welche die rasante Gefühlsfahrt verursachte, wenn es mit hoher Geschwindigkeit bergab dem emotionalen Ende zu ging. Die nächste Ausfahrt zeigte „Seehaus“. Er setzte den Blinker und ordnete sich ein. Das Seehaus lag ebenfalls im Englischen Garten und war ein wunderschöner Startpunkt, um spazieren zu gehen, es sich im Biergarten bequem zu machen oder im Lokal auf der wunderschönen Terrasse am kleinen See einen ersten Aperitif zu nehmen.
Die Auserwählte, die er heute treffen wollte, war eine schwarzhaarige Schönheit, dreiundvierzig Jahre alt, und wenn man den Fotos glauben durfte – was ja nicht immer der Fall war – wirkte sie weit jünger. Ihr Lächeln war schon auf dem Foto ansteckend, was würde wohl passieren, wenn er dieser Traumfrau plötzlich gegenüberstehen würde. Der tagelange Chat bis weit in die Nacht war lustig und auch informativ gewesen. Sie war offen, charmant und hatte – zumindest was ihre Erzählungen betraf – ein bewegtes Leben hinter sich. Er freute sich auf sie und gab noch etwas Gas, als er die letzten hundert Meter in Richtung Parkplatz fuhr. Tom war froh, dass auf dem Parkplatz noch Plätze frei waren und er nicht weitere unnütze Minuten im Kreis fahren und verzweifelt nach einem suchen musste. Wie immer an solchen Tagen war Hochbetrieb, die Menschen kamen und gingen, lachend, sich erzählend, Alte, Junge, Kinder, Verliebte, Freunde, ein bunter Querschnitt unserer Gesellschaft fand sich hier ein, um ein paar schöne Stunden in der grünen Lunge Münchens zu verleben. Er parkte, stellte den Motor ab, überprüfte nochmals seine Frisur, legte noch etwas Eau de Toilette auf, nahm sein Handy, setzte seine Sonnenbrille auf und stieg aus dem Auto. Es war heiß und Toms Hemd klebte auf seinem Rücken.
Sie hatten sich vor dem Eingang zum Lokal verabredet, es waren nur noch wenige Schritte, dann würde er ihr das erste Mal in die Augen sehen. Tom spürte, wie sein Herz schneller schlug und sich vermehrt Adrenalin in seinem Hormonhaushalt ansammelte. Es war immer wieder dasselbe, die Nervosität des ersten Treffens ließ sich nicht einfach ablegen, egal wie cool man die Minuten davor noch war. Je näher man dem Objekt der Begierde kam, umso mehr stieg sie. Er senkte seinen Kopf, um einem herabhängenden Ast auszuweichen, den sicherlich das letzte Nachtgewitter niedergestreckt hatte, noch ein paar letzte Schritte, und er stand wie ein halbes Dutzend anderer Menschenpaare vor der Eingangstür des Lokals. Tom blickte sich um, suchte nach seiner Herzensdame, konnte sie allerdings nicht entdecken. Er schaute auf seine Uhr, sie hatten sich für achtzehn Uhr verabredet. Es war Samstag, und somit standen ihnen noch einige Stunden an diesem wunderschönen Sommerabend zur Verfügung. Nach einigen Telefonaten hatte er auf ein Date gedrängt. Tom war nicht der Typ, der ewig mit jemandem chatten oder telefonieren wollte. Ihm war klar, dass die Entscheidung im ersten Augenblick lag. Eben in der Se-kunde, wo sich zwei Menschen gegenüberstanden und die Biochemie, das Gefühl oder der Sympathiewert entschied, ob daraus mehr werden konnte. Es war bereits nach achtzehn Uhr, sie musste jeden Moment kommen, die Spannung war für ihn unerträglich, kaum auszuhalten. Er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, kramte bereits in seinen Taschen, als sie um die Ecke eilte. Ihm stockte der Atem, ihre langen braunen Beine hatten etwas katzenhaftes, als sie in Zehner-Absätzen auf ihn zu kam. Ihr Körper war in einem bezaubernden kurzen Sommerkleid gefangen und ihr gewagtes Dekolleté ließ ihn erst tief durchatmen. »Hi, du bist sicher Tom.«
Er holte etwas Luft und erwiderte: »Ja, und du sicherlich Bianca.«
Sie lächelte. »Hast du jemand anderen erwartet?«
Sie war schlagfertig, ohne jeden Zweifel. Der erste Punkt ging an sie.
»Nein, nein, schön, dass es geklappt hat.«
»Ja, puh, das war wieder ein Stress. Mein Mann hat die Kinder abgeholt, war wie immer zu spät und dann der Verkehr. Heute scheint jeder unterwegs zu sein.«
Wie Tom hatte auch sie eine Sonnenbrille auf. Er konnte ihre Augen nicht sehen, aber mit jeder seiner Nervenzellen konnte er spüren, dass sie ihn von oben bis unten musterte. Noch bevor er den nächsten Satz formulieren konnte - seine Hirnzellen hatten Mühe, alles auf einmal zu verarbeiten - nahm sie seine leicht verschwitzte Hand. »Komm, lass uns was trinken gehen, ich habe furchtbaren Durst.«
»Wollen wir nicht erst einen kleinen Spaziergang machen?« Mit der noch freien Hand schob sie die Brille etwas nach vorne, erstmalig konnte er ihre Augen sehen. »Willst du mich wirklich mit meinen Absätzen durch den Park schleppen?« Sie zwinkerte. »Männer! Mit diesen Schuhen kann man nicht spazieren gehen.« Sie hatte Recht. Wir Männer liebten Frauen in hohen Absätzen, aber uns war nie klar, welche Tortur sie auf sich nahmen, um uns ihre Kurven und vor allen Dingen ihre Beine in ihrer schönsten Form zu präsentieren. Sie gingen in das Lokal.
Es war noch früh am Abend, und so hatten sie keine Mühe, einen freien Tisch auf der Terrasse zu finden. »So, jetzt lernen wir uns endlich mal persönlich kennen, ich war schon richtig gespannt auf dich.« Sie nickte vielsagend. »Ja, jedes erste Treffen ist spannend, obwohl ich schon viel abgeklärter geworden bin. Ich erwarte nicht mehr so viel wie am Anfang. Ich habe einfach schon zu viele Idioten kennen gelernt, Männer, die überhaupt nicht dem entsprachen, was ich mir vorgestellt hatte.« Tom wurde nervöser, seine nächste Frage könnte ein K.O. bedeuten. »Ich hoffe, ich gehöre nicht zu diesen Idioten.« Es dauerte vielleicht nur Sekunden, bis er die Antwort hatte, aber es waren verdammt lange Sekunden. »Mhmm, nö, bis jetzt finde ich dich sehr sympathisch.« Glück gehabt. Es kam kein, ich finde dich ganz nett, oder du bist ok über ihre Lippen. Der Ober kam an ihren Tisch, und sie bestellen einen Aperol und einen Campari Orange. Schon als sie das Lokal betraten, bemerkte er die lüsternen Männerblicke, die auf ihrem Körper klebten. Grazil und mit gekonnten Hüftbewegungen lief sie an den Tischen vorbei und er folgte ihr voller Stolz, obwohl er keinerlei Besitzansprüche hatte.
Im Chat und am Telefon hatten sie schon die wesentlichen Rahmendaten ausgetauscht. Beide wussten, was der Andere beruflich machte, welche Hobbys und wie viele Kinder jeder hatte, außerdem welche Träume und Ziele jeder von ihnen verfolgte. Sie hatten einen guten Match, sie lebte in Trennung, er war seit ein paar Jahren verwitwet, und beide hatten Kinder im pflegeleichten Alter. Sie waren weder exzessiv noch langweilig. Sie waren Schöngeister, die immer bestrebt sind, das Beste für sich herauszuholen. Die Voraussetzungen waren also nicht schlecht, der Humor vorhanden und Träume und Wünsche trotz vieler guter und schlechter Lebenserfahrungen in Hülle und Fülle da. »Gott, habe ich einen Appetit, isst man hier gut?« Er war schon öfters hier gewesen. Gut, die Küche hatte keinen Stern verdient, aber sie war gehoben, und der Service war gut. Was jedoch viele Lokale in München nicht bieten konnten, war der wunderschöne Blick auf den Park und das nahe Gewässer. Die vorbeiziehenden Enten quakten, ein Schwanenpaar zog seine Kreise, und überall waren laute und fröhliche Stimmen von Menschen zu vernehmen, die man in ihrem Tun beobachten, oder einfach ignorieren konnte.
»Ich denke, das Essen wird dir schmecken, es gibt hier sehr leckere Salate, wenn du etwas Leichtes möchtest.«
Frauen waren immer für Salate zu begeistern, vor allen Dingen, wenn sie auf ihre Linie achteten. Wenn man sich als Mann ebenfalls dafür entschied, hatte man bereits den ersten Pluspunkt gesammelt. Nichts war schlimmer, als dass man Unmengen von Kalorien oder Bier in sich hineinschüttete. Ein Salat für ihn war ein Zeichen für sie, dass er ebenfalls auf sich und seine Figur achtete, auch wenn sie schon etwas in die Jahre gekommen war.
»Was macht deine Tochter heute?«
»Oh, sie ist mit einer Freundin ins Kino gegangen«, gab er zur Antwort und nahm einen weiteren Schluck von seinem Campari. Das Gespräch war locker, bekam immer mehr Speed, und so hatten sie keine Mühe, es in Gang zu halten, während sie ihren köstlichen Sommersalat zu sich nahmen. Er wollte sie gerade nach ihren Kindern fragen, als ihr Handy klingelte. Sie zog ihre braune Tasche auf die Knie, öffnete den Reißverschluss und kramte nach ihrem Handy. »Mist, dass man in keiner Tasche etwas findet, wenn man was sucht.«
Tom lachte. Eine Frauentasche war etwas Besonderes, sie verriet sehr viel über ihre Trägerin. Leider zeigt uns keine der Damen am Anfang einer Begegnung den Inhalt. Hatten wir etwas später die Gelegenheit, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, kannte man den Menschen bereits und wusste um seine Stärken und Schwächen, seine Affinitäten oder seinen eventuell fehlenden Ordnungssinn.
»Ah, hier ist es.« Sie holte das Handy aus der Tasche, drückte auf den Knopf und nahm es ans Ohr. »Hallo... ja..., was ist passiert, spinnst du?«
Er lauschte dem Gespräch und irgendwie hatte er das Gefühl, dass dieses Telefonat seinen traumhaften Abend zerstören würde.
»Das ist doch nicht dein Ernst, ich habe heute meinen freien Tag …«. Es folgte eine kurze Pause, nervös fummelte sie an ihren Fingernägeln, ihrer Brille und lauschte ihrem Gesprächspartner. »Ich muss dir den Schlüssel bringen, kannst du nicht …«. Wieder eine Pause, ihre Blicke trafen sich, und sie verdrehte die Augen. »Ok, ok, ja mache ich, bis dann.« Wütend drückte sie auf den Knopf, das Handy verschwand in der Tasche und sie nahm einen Schluck. »Tom, es tut mir leid, mein Mann…«.
»Ist etwas passiert?«
»Ja, um genau zu sein, meine Tochter hat ihr Kuscheltier vergessen, ohne das kann sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard von Schierling - Dirty Book
Bildmaterialien: Richard von Schierling - Dirty Book
Lektorat: Anita Störcher - Augsburg
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2012
ISBN: 978-3-86479-254-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist denen gewidmet die mich liebten und die ich lieben durfte. Denen, die mich ein Stück meines komplizierten Weges begleiteten, mich berührten, mich veränderten und letztendlich an mich glaubten.
Ich danke vor allem Monika für Ihre Liebe über den Tod hinaus. Giovanna danke ich für Ihre gegenwärtige Liebe und Leidenschaft. Meinen Kindern für ihre Geduld, Nachsicht und Liebe. Meinem Enkelsohn für seine Neugierde und Lebenslust. Und nicht zuletzt meinem Schwiegersohn für dessen Hilfe und Loyalität. Ich liebe Euch.