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Worüber ich eigentlich schweigen möchte...





Ich weiß nicht so genau, wie ich anfangen soll. Es ist denkbar schwer, von etwas zu erzählen, über das man eigentlich am liebsten schweigen würde. Aber wie soll man über etwas schweigen, das sich nicht verbergen lässt? Wie soll man etwas leugnen, für das man nun mal die Verantwortung trägt?
Zu schweigen – bedeutet das nicht, sich zu verstecken, davon zu laufen? Schweigen, stumm bleiben – bedeutet das nicht, zu ignorieren und die Realität nicht zu akzeptieren?
Vielleicht ist das der Grund, dass ich erzähle. Vielleicht erzähle ich auch nur, um mich selbst zu rechtfertigen. Oder ich erzähle, damit andere daraus lernen können. Erzähle ich, dass man versteht? Möglich, dass ich aus all diesen Gründen zusammen heraus erzähle. Ich weiß es nicht so genau.
Und genauso wenig weiß ich, wie ich anfangen soll – ich weiß nur, dass.

Alles beginnt an einem Samstagabend Mitte Februar.
Meine beste Freundin Stephanie hat heute Geburtstag; ihren 16. Geburtstag. Ich bin auf dem Weg zu unserer Tanzschule, wo ihre Feier stattfinden soll.
Obwohl es an den vorhergegangenen Tagen viel geschneit hat, ist der Himmel an diesem Samstagabend sternenklar. Nicht der Hauch eines Wölkchens am dunklen Nachthimmel. Der weiße Mond strahlt, auch wenn er nicht ganz voll zu sehen ist, mit den Sternen um die Wette. Im fahlen Licht der Straßenlaterne glitzert silbrig der weiße, teils platt getretene Schnee. Zu einem Baum hin kann man die Spuren eines flinken Eichhörnchens erahnen. Mein Körper und die kahlen Bäume, auf deren knorrigen Ästen eine schwere Schneedecke liegt, werfen gespenstische Schatten auf den silber-weißen Boden.
Es ist verdammt kalt heute. Trotz Handschuhe vergrabe ich meine Hände tief in den Taschen meines schwarzen Mantels. Mein Atem steigt in weißen Nebelwolken sichtbar in die kalte Abendluft auf. Bei jedem Schritt knirscht der Schnee unter den Sohlen meiner Stiefel. Damit mir die Kälte nicht über den Nacken den Rücken hinab kriecht, muss ich die Schultern hinauf ziehen. Nur so bedeckt der Mantelkragen auch wirklich die komplette Haut meines Halses. Meine Wangen kann ich kaum noch spüren. So kalt ist es heute. An diesem Samstag Mitte Februar, dem 16. Geburtstag meiner besten Freundin. Dem Tag, an dem ich mit einem der Partygäste ein Kind zeugen werde – die Tatsache, über die ich eigentlich am liebsten schweigen würde und es doch nicht kann: Wie soll man etwas verschweigen, das sich nicht verbergen lässt? Wie soll man seine Verantwortung leugnen?
Jetzt, als ich durch den knirschenden Schnee an diesem hundskalten Samstagabend auf dem Weg zur Geburtstagsparty meiner besten Freundin bin, ahne ich davon jedoch noch nichts. Ganz im Gegenteil sogar.
Eigentlich habe ich nämlich mit Steph verabredet, nach der Feier bei ihr zu übernachten. Mir graust es momentan mehr davor, deswegen bis zum Schluss auf der Party bleiben zu müssen. Es wird laute Musik, die ich eigentlich verabscheue, laufen, es werden eine Menge Leute da sein, die viel Alkohol trinken werden, schließlich ist es eine Party zum 16. Geburtstag, und ich werde das ganze wohl oder übel nüchtern ertragen müssen.
Bevor ich Zuhause losgegangen bin, haben mir meine Eltern wärmstens empfohlen, mich beim Alkohol zurückzuhalten. Vor ein paar Tagen habe ich nämlich ein neues Medikament bekommen und da sei es wohl besser, meine Leber nicht zu über anstrengen. Außerdem wird es wohl besser sein, nüchtern zu bleiben, wenn Steph schon seit Wochen für den heutigen Abend ihren ersten 'legalen' Vollrausch plant. Sonst finden wir womöglich nicht den Weg zu ihr nach Hause und müssen in dieser Kälte noch erfrieren! Nur gut, wenn da wenigstens eine einen klaren Kopf behält.
Darüber denke ich gerade nach. Darüber, und die Physikarbeit am kommenden Montag, wie grundverschieden Steph und ich doch eigentlich sind, dass mir der Ausritt am Nachmittag Spaß gemacht hat, ob die Cookies, die ich für das Buffet, zu dem möglichst jeder Gast etwas mitbringen soll, gebacken habe, wohl nicht zu lange im Ofen waren... Belanglose Dinge eben. Aber darüber, worauf ich mir nur ein paar Stunden später einlassen werde – nein, keine Chance...

„Und?“, lässt sich mein bester Freund Max mit einer Dose Bier in der Hand neben mich auf das Sofa in der Sitzecke fallen. „Gefällt's dir?“
„Hm“, mache ich und streiche mir nachdenklich meine schwarzen, kurzen Locken zurück. „Viele Leute, von denen mich die meisten wegen ihrer Ausdrucksweise und ihrer Lautstärke überfordern, Musik, die ich nicht leiden kann...“
Max nickt verständig: „Ja, ja – verstehe schon. Mir geht’s da ja ähnlich. Aber so ist sie halt.“
Mit einem liebevollen Lächeln blickt er zu Steph hinüber, die ihre langen, blonden Haare gerade wild hin und her schwingt, mit den Armen in der Luft herum fuchtelt und sich schnell im Kreis dreht. Laut und falsch grölt sie dabei den Text des Liedes, das momentan aus den Lautsprechern dröhnt, mit. Überall tanzt, lacht, feiert und quatscht es ausgelassen. Die bunten Blitzlichter von der Decke tauchen die gesamte Szenerie in imposante, vielseitige Farben.
In die wenigstens ein kleines bisschen ruhigere Sitzecke der Tanzschule haben nur Max und ich uns zurückgezogen. Aber selbst hier sind Musik und Gäste noch so laut zu hören, dass Max und ich schier brüllen müssen, um uns gegenseitig zu verstehen.
Ich frage ihn, was er seiner Freundin denn zum Geburtstag geschenkt hat.
„Außer dem Ständchen auf der Gitarre?“, fragt er grinsend zurück, aber bevor er fortfahren kann, kommt Steph in ihren hohen Pumps auf uns zugeschlittert, die Hand nach ihrem Freund ausgestreckt. Knapp hinter ihr Anni, die Drummerin in der Band, in der Max und ich ebenfalls spielen.
„Sitzt hier doch nicht so rum!“, zieht Steph ihren Max auf die Beine und küsst ihn. „Und du, Ellen, trinkst jetzt was mit mir.“
Ich hebe die Hände: „Das habe ich doch schon, als ich gekommen bin.“
„Nein!“, entgegnet Steph langgezogen. An ihrem Zungenschlag höre ich deutlich, dass sie schon Einiges getrunken hat. „Du hast nur kurz mit mir angestoßen!“
„Ich soll doch heute nicht so viel trinken“, winke ich ab. „Medikamente und so.“
Auch Anni ist nicht mehr ganz nüchtern. Grinsend schlingt sie einen Arm um Stephs Schultern: „Komm’ schon, Ellen. Unsere Steph wird doch nur ein Mal 16.“
Damit sie endlich Ruhe geben: „Geht ihr noch mal tanzen und nachher trink' ich noch ein bisschen was mit euch.“
„Aber nicht nur Cola“, ordnet Steph an und deutet mit einer Kopfbewegung auf das Glas in meiner Hand. Bevor ich ihr allerdings mein Wort darauf geben kann, zieht sie Max auf die Tanzfläche und auch Anni folgt den beiden.
Stephs älterer Bruder, der heute als Hobby-DJ für die Geburtstagsparty seiner kleinen Schwester auflegt, kündigt ein passendes Lied für einen Diskofox an. Die Tanzfläche ist gut gefüllt. Kein Wunder allerdings, immerhin haben so gut wie alle Anwesenden einen Tanzkurs absolviert – mit der gesamten Klasse den Grundkurs und manche zusätzlich noch den ein oder anderen Folgekurse.
Steph hat vergangenes Jahr in der Neunten aber keine Lust gehabt, jeden Freitag in die Stunde zu gehen und mit meinem damaligen Freund, mit dem seit Anfang Oktober jedoch Schluss ist, hat's nicht anders ausgesehen. Also haben Max und ich uns für den Grundkurs zusammen getan und sind seither nicht mehr vom Tanzen losgekommen. Vor Kurzem hat sich Steph dann allerdings doch entschieden, den Grundkurs zu absolvieren, um mit ihrem Freund tanzen zu können. Vor zwei Wochen ist ihr Abschlussball gewesen.
Man sieht, wer von beiden schon mehr Tanzerfahrung hat. Steph stolpert größtenteils unbeholfen der Führung ihres Tanzpartners - Schrägstrich – Freund hinterher.
„Elegant wie ein Elefant“, kommentiert da jemand neben mir. Genau das Gleiche habe ich auch gerade gedacht.
Aber als beste Freundin nehme ich Steph natürlich in Schutz: „Hey, sei nicht so fies. Steph macht das noch nicht so lange, sie ist schon ziemlich dicht und außerdem ist Max beim Damensolo eine echte Schleudermaschine.“ Ich schaue nach links und hebe grinsend die Hand: „Hi.“
Der, der die Tanzkünste meiner besten Freundin gerade noch mit der eines Elefanten verglichen hat, gibt den Gruß zurück und schlägt zum High-Five ein. Dann lässt er sich neben mich plumpsen.
„Wusste gar nicht, dass du auch eingeladen bist“, meine ich.
Er zuckt mit den Schultern „Tja, dann haben wir wohl den Beweis dafür, dass selbst du nie auslernst.“
Ich übergehe die Stichelei: „Warum erst so spät da?“
„Solche Partys werden erst richtig lustig, wenn es später wird. Steph ist der beste Beweis dafür.“ Zur Erklärung: Steph ist soeben ausgerutscht und nur Max' Arme bewahren sie vor einer unangenehmen Begegnung mit dem Fußboden. „Aber warum sitzt du hier so alleine rum?“
Ich atme angestrengt aus, als hätte ich gerade eine furchtbar große körperliche Anstrengung hinter mich gebracht: „Anders als du bin ich schon seit gut zwei Stunden da und kann so viele Menschen um mich einfach nur über einen geringen Zeitraum vertragen. Ich brauche Pausen und Abstand, wenn ich bis zum Schluss durchhalten will.“
„Willst du das?“
Ich verziehe das Gesicht: „'Wollen' ist übertrieben. Ich muss, weil ich bei Steph übernachte.“
Er nickt gemächlich: „Schon getanzt?“
„Mit Max ein paar Tänze, ja.“
„Ach“, grinst mein Gesprächspartner jetzt verschmitzt. „Und da ist die gute Steph nicht eifersüchtig?“
„Steph und eifersüchtig ist ein Widerspruch in sich“, erkläre ich wichtig. „Als Max sein BOGY-Praktikum in einem Kindergarten gemacht und von der Azubine da geschwärmt hat, hat Steph nur gemeint: 'Schauen darf er, anfassen ist verboten.'“
„Und warum musste ich beim letzten Ball dann als dein Tanzpartner einspringen?“
„Warum soll Steph sich bei ihrem Abschlussball mit einem Aushilfstanzpartner zufrieden geben, wenn ihr eigener Freund doch ein hervorragender Tänzer ist.“ An dieser Stelle ziehe ich gespielt schmollend die Augenbrauen hoch. „Aber ich wusste gar nicht, dass das so schlimm für dich war.“
„War's nicht!“, hebt er abwährend die Hände. „Und, um dir das zu beweisen – würdest du gerne mit mir tanzen?“
„Habe ich nicht gerade gesagt, dass ich etwas Abstand brauche?“
„Es gibt keine Entschuldigung, eine Aufforderung abzulehnen“, erinnert er mich. „Das war mit das Erste, was du im Grundkurs gelernt hast.“
Wo er Recht hat... „Na gut“, gebe ich also nach, „den nächsten Jive tanz' ich mit.“
„Ich hol' dich dann hier ab.“
Mit diesen Worten steht er auf und entfernt sich, überquert die Tanzfläche und steuert dabei geradewegs zu Stephs Bruder an der Musikanlage durch. Ich lehne mich zurück und nippe mit misstrauischem Blick an den letzten Schlucken meiner Cola.
Dieser Junge, den ich bisher nur mit „er“ betitelt habe, wird es sein – der Vater meines Kindes.
Sein Name ist Leon. Er ist 17 Jahre alt, im Mai hat er seinen 18. Geburtstag und wird in ein paar Wochen seine Abiturprüfungen schreiben. Er besucht demnach die Kursstufe 2 und ist zwei Jahrgänge über mir. Wir kennen uns erst seit einem Jahr – persönlich zumindest. Als Max einmal krank gewesen ist, hat Leon den Job meines Tanzpartners übernommen. Da wir allerdings auf dieselbe Schule gehen, habe ich ihn davor schon öfters gesehen.
Er ist nicht sonderlich groß, aber auch nicht allzu klein – die durchschnittliche Körpergröße mitteleuropäischer Männer eben. Neben dem Tanzen ist Boxen sein großes Hobby, wie er mir erzählt hat. Deswegen hat er wohl auch diese sehr kräftige Figur. So kräftig, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, er wäre etwas pummelig und vielleicht sogar etwas abnehmen sollte. Aber spätestens, wenn man beim Tanzen die Hand auf seinen Oberarm legt, spürt man die sehnigen, aber nicht übertrainierten Muskeln seines Bizepses. Insgesamt ist er durchaus gutaussehend, wenn seine Gesichtszüge gleich seiner Körpergröße eher durchschnittlich ist - „08/15-Gesicht“ hat Anni es mal genannt und Recht hat sie. Dafür hat er wunderschöne Augen – eine Mischung aus herben Grün und klarem Blau. Dichte aber nicht buschige Augenbrauen wachsen über ihnen. Die dunkelbraunen Haare bieten einen schönen Kontrast zu seinen kristallklaren Augen. Er ist etwas blass, was vielleicht auch ein bisschen am Winter ligt. Der Dreitagebart lässt ihn erwachsen aussehen. In der Zeit, in der sie sich über Max und mich schon kennen, hat Steph ihm schon ein paar Mal geraten, sich die Haare schneiden zu lassen. Sie sind kinnlang und ganz leicht, wirklich nur dezent von krausen Löckchen durchzogen. Manchmal sieht es etwas verfilzt aus. Ich hingegen hoffe inständig, dass er diese Zotteln möglichst lange exakt auf diese Weise trägt – nicht zu sehr wachsen lassen und nicht zu sehr kürzen. Diese Frisur passt einfach zu ihm.
Okay, ich geb's ja zu – in meinen Augen ist er definitiv attraktiv, optisch genau mein Typ. Auf einem Ball sind wir schon gemeinsam gewesen und haben in der Disko der Tanzschule, die jeden Freitag stattfindet, auch schon Abende lang miteinander getanzt, ohne jemand anderen aufzufordern. Anni und Steph haben mich schon ein paar Mal damit aufgezogen, dass das ja eigentlich als „Dates“ bezeichnet werden könnte.
Aber ganz ehrlich, so gut Leon mir rein äußerlich auch gefällt und wir auch schon oft – ja, auch das gebe ich zu – oberflächlich miteinander geflirtet haben, passen wir überhaupt nicht zusammen. Er mag zwar nett sein, aber er ist auch der Typ Junge, dem es nichts ausmacht, einfach so mit einer guten Freundin rumzuknutschen. Etwas, das mir ja eher zuwider ist. Ich bin bisher nur in einer richtigen Beziehung gewesen, zwei Jahre lang und bis zum ersten Kuss habe ich meinen Freund damals ein Jahr hingehalten. Dafür ist das dann auch in meinen Augen wirklich der perfekte Kuss gewesen, aber das ist eine andere Geschichte und die gehört jetzt nicht hier her. Jedenfalls finde ich einfach, dass Dinge ihre Zeit brauchen und Leon ist mir etwas zu leichtfertig. Das würde nicht gut gehen – zumindest nicht lange.
„Als nächstes haben wir einen Liedwunsch“, verkündet Stephs Bruder über den Lautsprecher. „Zeit für etwas Rock’n’roll – jetzt gibt’s Queen mit 'Crazy little Ting called Love' von Leon für Ellen.“
Irgendwie habe ich das ja geahnt…
„Süüüüüß“, brüllt Steph sogleich durch den ganzen Raum. Wenn sie getrunken hat, egal wie viel oder wie wenig, hat sie noch eine größere Klappe als ohnehin schon – als ob sie das nötig hätte.
Leon kommt zu mir herüber, verbeugt sich zwinkernd, faselt mit vor Sarkasmus triefender Stimme etwas von „gnädiges Fräulein“, „Ehre“, „Freude“ und schließt letztlich mit der Frage: „Darf ich bitten?“
Ich ziehe eine Augenbraue hoch: „Das war unnötig.“
„Aber lustig.“
Leon bietet mir den Arm an. Seufzend stehe ich auf, hake mich bei ihm unter und lasse mich zur Tanzfläche führen. Auf dem Weg dorthin kommt Max uns entgegen, der eine zappelnde Steph führt.
„Ich will tanzen!“, zetert sie.
„Du bist schon beim Diskofox hingefallen. Wie soll das erst beim Jive sein? Ich tanze nachher mit dir Rumba. Jetzt machen wir erst mal eine Pause“, ordnet Max an. Er ist noch ziemlich klar im Kopf fragt sich nur, wie lange noch, wenn Steph schon wieder fordert: „Und stoßen an!“

Es wird später und später. Ich habe mein Versprechen gehalten und mit Steph angestoßen – mehrmals. Mit Sekt, Wein, Hugo und sogar Ramazotti. Von allem habe ich jeweils nicht allzu viel getrunken, aber wohl doch genug. Mein Kopf und meine Gedanken sind zwar noch recht klar, ich kann noch deutlich sprechen und ohne zu wanken gerade aus gehen. Aber warm, verdammt warm, um nicht zu sagen heiß ist mir.
Schon vor einer Stunde habe ich es in meinen schwarzen Blazer nicht mehr ausgehalten und ihn sogar, als ich eben mit Leon kurz hinaus an die frische Luft bin, nicht angezogen. Man erinnere sich – es ist verdammt kalt heute Nacht.
Einige Gäste sind schon gegangen, es wird leerer in der Tanzschule. Da nun ein Großteil derer, die Mainstream-Musik vorziehen gegangen ist, kann man auch etwas mehr Rücksicht auf Max, Anni und mich nehmen. Wir drei sind nämlich absolute Vollblutrocker.
Seit einer halben Stunde legt Stephs Bruder munter die Musik auf, bei der zumindest ich total ungehemmt werde, wenn ich sie unter dem Einfluss von Alkohol, und mag es noch so wenig sein, höre. Allerdings werden die Medikamente gleichfalls ihre Wirkung gehabt haben – oder ich rede mir das nur ein, um mir zu erklären, was ich im Laufe der Nacht noch getan habe.
Dabei sind etwa Lieder wie „Highway to Hell“ von AC/DC, der „Pinball Wizard“ von The Who, „Another one bites the Dust“ wieder von Queen und momentan „Bobby Brown“ von Frank Zappa – der wohl perverseste Song, der jemals geschrieben wurde.
Leon und ich versuchen, auf das Tempo des Liedes einen Langsamen Walzer zu tanzen. Wobei ich glaube, dass der Begriff „versuchen“ selten besser gepasst hat und der Langsame Walzer nach unserer Einlage wohl eher umbenannt werden sollte. Mit anderen Worten, der Takt des Stücks ist doch ein bisschen zu flink, um einen Walzer darauf zu tanzen.
Als der Wechsel zu „Nothing else matters“ von Metallica erfolgt, rutscht Leons Hand hinunter zu meinem Hintern.
„Hey, hey“, greife ich nach seinem Handgelenk. „Was lernt man im Grundkurs? Wenn die Ohrfeige kommt, war die Hand zu tief.“
Er grinst provokant: „Ist sie gekommen?“
Bevor ich etwas sagen kann, zieht er mich mit einem plötzlichen Ruck in seine Arme und küsst mich. Im ersten Moment, bin ich überrascht, schließe dann jedoch meine Augen, schlinge meine Arme um seinen Hals und erwidere den Kuss, genieße das zärtliche Zungenspiel, das er beginnt – wie gesagt, Queen, AC/DC und Co. machen mich ziemlich hemmungslos und Leon finde ich ja auch alles andere als abstoßend.
Aber nach wenigen Augenblicken wird mir klar, was ich da eigentlich tue. Bestimmt trete ich einen Schritt zurück.
„Was ist denn?“, fragt Leon verdutzt.
„Ist nicht mein Stil“, erkläre ich. „Ich mach' nicht einfach so mit irgendwem rum. Da sollte schon mehr dazu gehören.“
„Meine Eltern sind nicht Zuhause...“
„DAS habe ich ganz bestimmt nicht gemeint!“, stelle ich gekränkt klar. „So was braucht Zeit. Und ich habe das Gefühl, dass du die mir nicht gibst. Außerdem passen wir überhaupt nicht zusammen: Du bist ein Draufgänger sondergleichen und ich bin sehr überlegt. Das geht nicht lange gut“
„Es braucht nicht lange zu halten, um es genießen zu können“, meint er.
„Du vielleicht, aber ich bin nicht so.“
Er sieht mich nachdenklich an: „Du lügst. Eigentlich bist total neugierig. Du würdest gerne mal wissen, wie es wohl so ist, sich nicht ständig Gedanken machen zu müssen, oder? Einfach abschalten und etwas tun – du würdest es gerne mal ausprobieren, ich behaupte sogar, du hast richtig Sehnsucht danach. 'Nothing else matters' – du fragst dich doch, wie es ist, so zu denken. Wir kennen uns zwar, aber das ja nicht allzu gut. Außerhalb der Tanzschule sehen wir uns ja kaum und laufe sonst nur nach einem kurzen 'Hallo' und 'Wie geht’s' aneinander vorbei, und trotzdem weiß ich, wie pflichtbewusst du bist. Du bist mir gegenüber zu nichts verpflichtet. Also, warum lässt du dich nicht auf dieses kleine Abenteuer ein? Ich habe damit Erfahrung und es noch kein einziges Mal bereut. Und du wirst es auch nicht.“
Oh, doch, ich werde – aber davon ahne ich jetzt noch nichts. Ich bin mir auch noch sicher, dass ich ihn nicht schon eine halbe Stunde später Nachhause begleiten werde...

Wir knien einander auf seinem Bett gegenüber. So aufgeregt wie jetzt habe ich mich noch nie zuvor gefühlt. Und dabei ist das nicht mal mein erstes Mal!
Der Rollladen ist heruntergelassen und doch fällt etwas Licht von den Straßenlaternen durch die Ritzen. Ein bläuliches Halbdunkeln herrscht im Zimmer vor.
Ich öffne die Knöpfe von Leons Hemd. Meine Hände streifen es ihm von den Schultern. Meine Finger streicheln über seine Brust, seinen Bauch, bis hinab zu seinen Lenden und wieder hinauf. Wie Stahl fühlen sich seine Muskeln unter meinen Fingerspitzen an – ja, definitiv Boxer.
Er hält ganz still. Ich küsse ihn – ohne Zunge, mit Zunge, seine Lippen, seinen Hals, seine Brust seinen Bauch.
Mir ist heiß, und doch zittere ich. Meine Haut ist komplett von einer prickelnden Gänsehaut überzogen. Ich keuche leise auf und klammere mich fester an seinem starken Körper, nur um ihn noch intensiver küssen zu können.
Dass ich zu so etwas in der Lage bin, kann ich nicht glauben. Ich bin mir selbst fremd und kann doch einfach nicht aufhören. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Aber ich will es, hier, jetzt, auf der Stelle und von ihm – Lust und Leidenschaft.
„Sag mal, verhütest du?“, fragt er, als ich mir mit hektischen Bewegungen mein Top über den Kopf ziehe. Ich kann es kaum erwarten, den Rest der Klamotten loszuwerden. Ich sehne mich nach seiner Nähe, ich sehne mich nach dem überirdischen Gefühl, wenn sich nackte Haut berührt.
Als Antwort auf seine Frage werfe ich mich nur in seine Arme, sodass ihn die Wucht flach auf den Rücken wirft. Keuchend küsse ich ihn gieriger als jemals zuvor. Seine Arme umschlingen mich gänzlich. Ich spüre sie überall.
Langsam fahren seine Hände meinen Rücken hinab, enthaken den BH und gleiten tiefer, um mir die Bikerhose von den Hüften zu schieben.
Aber nein, ich verhüte nicht...

Vorbei, verweht, nie wieder...




Ich weiß genau, was vorgefallen ist, noch bevor ich die Augen aufschlage. Natürlich tu’ ich das – wie könnte ich die Ereignisse der vergangenen Nacht auch schon vergessen? Mit einem prustenden Laut, vollkommen ignorierend, dass ich Leon neben mir ja wecken könnte, streiche ich mir mit der Hand das verknotete Haar aus dem Gesicht. Auf meiner Stirn spüre ich den Rest von getrocknetem Schweiß.
Vorsichtig schiele ich zu Leon herüber. Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht von mir abgewandt. Sein Rücken hebt und senkt sich im Rhythmus seines Atems regelmäßig auf und nieder. Ich kann ihn leise schnarchen hören. Sein linker Arm ruht quer über meinem Bauch, während der andere lose aus dem Bett baumelt. Die Bettdecke verdeckt seinen nackten Körper nur bis zu den Hüften.
Friert ihn denn nicht? Mich friert es. Ein frischer Luftzug streichelt mir über die Brust. Ich schiele hinab. Meine Brüste sind ebenso entblößt wie Leons Oberkörper, von dem ich durch seine Lage nur den Rücken sehen kann.
Meine Ohren werden ganz heiß. Die Schamesröte steigt mir ins Gesicht. Unwillkürlich beiße ich mir nervös auf die Lippe.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, ziehe ich die Bettdecke mit spitzen Fingern über meine Blöße und klemme den Stoff sorgfältig unter meinen Achseln fest, um Leon bei seinem Erwachen etwaige Blicke zu verwehren.
Ansonsten wage ich nicht, mich zu rühren. Ich fröstele nicht mehr. Im Gegenteil, ich brenne förmlich. Mir ist heiß. Heiß vor Verlegenheit. In meinem Magen rumort es vor Aufregung, meine Schläfen pochen heftig.
Unfassbar, einfach unfassbar! Wie hat das nur geschehen können?
Na ja, wie war relativ schnell geklärt. Ich habe in der Unterstufe im Biounterricht schließlich aufgepasst. Ich bin mir natürlich bewusst, wie es funktioniert. Die treffendere Frage war also wohl, warum ich es zugelassen habe.
Warum habe ich mich von Leon verführen lassen? So bin ich sonst nicht – nie, um genau zu sein. Im Gegenteil. Eigentlich bin ich diejenige, die gegen solche Angelegenheiten am lautesten wettert. Ich mache bei so was doch nicht freiwillig mit – nicht einfach so. Ich meine, wenn man miteinander schläft, liefert man sich dem anderen doch gänzlich aus, man ist schutz- und wehrlos – das lässt man doch nicht „einfach so“ zu, ich schon drei Mal nicht!
Warum also habe ich es gebilligt? Eigentlich will ich es auf den Alkohol schieben. Aber das ist zu leicht. Ich weiß, dass ich zu klar gewesen bin, als dass es tatsächlich diese Droge gewesen sein könnte. An Heilig Abend bin ich wesentlich schlimmer beieinander gewesen und selbst da habe ich am nächsten Morgen keinen Kater gehabt, keinen Filmriss oder sonst irgendwelche Folgen. Nein, der Alkohol hat keine Rolle gespielt, und wenn, dann nur eine sehr geringe.
Ich beiße die Zähne aufeinander: Leon hat mich verführt. Damit aber nicht genug, ich habe auch ihn verführt. Ich habe noch lebhaft vor Augen, mit welch einer Ungeduld ich mich auf ihn gestürzt habe. Es ist ja nicht mal so, dass wir dicke Freunde sind – oberflächliche Bekannte trifft es eher.
Was ist das schon gewesen?
Wir haben im Grunde doch nichts weiter getan, als uns gegenseitig zu benutzen, um uns zu befriedigen. Wie man es auch dreht und wendet, letztlich ist es genau das gewesen. Alles andere ist ignorante Schönrederei, Verdrehung von Tatsachen. Es ärgert mich. Jetzt fühlt es sich so falsch an, wie es in dem Moment, in dem wir es getan haben, noch richtig angefühlt hat.
Tränen treten in meine Augen. Es gibt nur zwei Gründe, aus denen ich weine: wenn ich wütend bin und wenn ich nicht weiter weiß, gewissermaßen überfordert bin. Jetzt gerade trifft beides zu.
Leon regt sich. Das Bettzeug raschelt. Ich höre ihn herzhaft gähnen. Er streckt sich ausgiebig.
„Guten Morgen“, murmelt er dann. Seine Stimme ist etwas heißer, klingt rau. Sehr sexy eigentlich, aber momentan schenke ich dem keine Beachtung.
Ich klemme die Bettdecke unter meinen Achseln noch etwas fester, verschränke dabei die Arme vor der Brust und weigere mich stur, ihn anzusehen, drehe mich sogar auf die Seite, von ihm weg. Seinen Morgengruß erwidere ich ebenfalls nicht.
„Weinst du?“, fragt er. Ich verweigere eine Antwort. Die ersten Tränen tropfen auf die Matratze. Das weiße Spanntuch färbt sich an diesen Stellen in ein trübes Grau.
Der Bettrost knarrt. Leon dreht sich zu mir. Vorsichtig legt er seinen Arm um mich, beugt sich über mein Gesicht und küsst zärtlich meine Schläfe, meine Wange und gleitet mit der Nasenspitze über meine Haut den Hals hinunter, den er ebenfalls mit ein paar kleinen Küssen behaucht.
„Was ist denn los?“
Ich schluchze leise, sage aber kein Wort. Mit mechanischen Bewegungen schiebe ich seinen Arm, mit dem er mich festhält weg, und drücke ihn mit den Ellenbogen von mir fort. Seine Nähe ist mir unangenehm. Ich will nicht, dass er mich berührt. Ich fühle mich so schmutzig.
„Hast du Schmerzen?“, erkundigt er sich verwundert. „Habe ich dir weh getan?“ Ich schüttele den Kopf. Nein, daran liegt es nun wirklich nicht.
Ich kann es nur nicht mit meinem Gewissen vereinbaren – nicht mehr. Vergangene Nacht ist es aber wie betäubt gewesen, sodass das keine Rolle gespielt hat. Aber körperlich... Er ist so vorsichtig mit mir gewesen, so sanft. Die rein physischen Empfindungen sind schlichtweg atemberaubend gewesen. Man merkt, dass er das, anders als ich, nicht erst zum dritten Mal gemacht hat.
Da ertappe ich mich bei der Frage, wie oft und mit wie viel verschiedenen Mädchen er schon „geübt“ hat. Angesichts seiner „Fähigkeiten“ wohl schon... Sofort sinkt meine Laune noch etwas mehr ab.
Ich bin zwar nicht eifersüchtig, aber ich habe eine gewisse Meinung von mir und möchte die auch anderen vermitteln. Ich will nicht nur eine unter vielen sein. Es stört mich, wenn jemand das von mir denkt. So bin ich nicht! Aber natürlich denkt Leon jetzt bestimmt genau das von mir – wie soll er auch anders? Ich weiß, wer ich bin und andere sollen das auch tun. Klar, ich kann jetzt viel sagen: Meine Taten werden aber immerzu glaubwürdiger sein als meine Worte. Sie sind schließlich Realität.
„Hey, Ellen“, stößt Leon mich an. „Sag' schon. Was ist los?“
„Ich wollte das nicht“, murmele ich undeutlich.
Er lacht, als hätte ich einen guten Witz gerissen: „Was wolltest du nicht?“
„Wir liegen zusammen splitterfasernackt in einem Bett“, erinnere ich ihn. „Wovon spreche ich dann wohl?“
Er greift nach meinen Oberarmen, dreht mich herum, zwingt mich damit, ihn anzusehen: „Willst du damit sagen, ich hätte dich vergewaltigt? Wenn ich dich erinnern darf: du bist nicht nur über mich hergefallen, sondern hast mich auch ganz schön angefeuert.“
Mein Gesicht verfinstert sich: Muss er mich daran erinnern?
„Du warst vergangene Nacht mehr als willig “, setzt er noch einen drauf.
„Gestern war ich nicht ich!“, gebe ich knurrend zurück. „Begreif's doch, Leon, ich bin nicht wie du. Was ich letzte Nacht getan habe, ist abstoßend. Hast du nur den Hauch einer Ahnung, wie ich mich fühle? Ich komme mir vor wie eine billige Schlampe, die aus purem Spaß mit einem Kerl ins Bett ist. Spaß... Oberflächlicher Zeitvertreib...“
„Na ja, es ging ziemlich tief, dafür, dass du es jetzt als 'oberflächlich' bezeichnest“, versucht er zu scherzen.
Ich kann über seinen flachen Witz allerdings überhaupt nicht lachen. Es kommt mir einer Beleidigung gleich. Er erntet einen bitterbösen Blick von mir. Dann schweigen wir beide. Mehrere Minuten.
„Es hat keine Bedeutung...“, murmele ich schließlich.
„Natürlich nicht“, stimmt Leon zu. „Für dich etwa?“
Ich schüttele abermals den Kopf: „Nicht im Geringsten. Ich habe keine Gefühle für dich.“
„Also“, zuckt der mit den Schultern, „wo ist dann das Problem?“
„Genau das ist das Problem!“, knurre ich aufgebracht. Seine Gewissenlosigkeit macht mich krank. Mit solch einer Einstellung kann ich nicht umgehen. Was mich noch viel kränker macht: diese oberflächliche Einstellung habe ich letzte Nacht selbst gelebt.
Er kratzt sich am Kopf: „Ich versteh' dich echt nicht.“
„Natürlich nicht“, verdrehe ich die Augen.
Leon lächelt wieder und beweist damit, dass er wirklich nichts versteht: „Irgendwie steht dir diese Grimmigkeit total gut.“
Er legt seine Hand in mein Genick und zieht mich zu sich, um mich ein weiteres Mal zu küssen. Sofort stemme ich beide Hände gegen seine Brust und schiebe ihn bestimmt von mir fort.
„Siehst du?“, meine ich. „Genau das ist jetzt deine Meinung von mir. Aber ich bin nicht der Typ Mensch, der mit irgendwem rumknutschen oder sogar ins Bett gehen – nicht, ohne danach ein schlechtes Gewissen zu haben.“
Es wird mir immer unangenehmer, unbekleidet zu sein und so nah bei ihm zu liegen. Ich will hier weg, ich will hier raus.
„Na dann, tu' doch so, als sei es nicht geschehen“, schlägt er vor und zuckt noch mal mit den Achseln.
Ich bedenke ihn mit einem skeptischen Blick: „Großartig. Und warum habe ich es dann getan, wenn ich so tun soll, als wäre es niemals geschehen? Das macht doch keinen Sinn.“
Leon seufzt und fährt sich mit den Händen über das Gesicht: „Mann, bist du kompliziert.“
„Das dürfte doch nichts Neues für dich sein. Wir kennen uns nicht erst seit gestern.“
„Ja, schon“, nickt er. „Aber wir kennen uns auch nicht allzu gut. Max meinte, dass du dir Leute nur sehr lange anschaust, bevor du die Distanz zu ihnen aufgibst. Ich dachte, du hättest mir gestern Nacht dein wahres Gesicht gezeigt: spontan, aufgeschlossen, heißblütig.“
Die Diskussion ist sinnlos: „Wärst du so gut und gehst kurz raus? Ich möchte mir anziehen.“
„Komm' schon“, verdreht er jetzt die Augen. „Stell' dich nicht so an. Seit letzter Nacht ist da nichts mehr, was ich nicht schon gesehen hätte.“
„Dann bleib' ich hier liegen, bis du abhaust“, erwidere ich trotzig.
Er lacht. Schon wieder. In meinen Ohren klingt es wie Hohn: „Ich hätte nichts dagegen.“
„Ganz ehrlich, Leon, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt. Lass' mich jetzt bitte allein – wenigstens für fünf Minuten.“
Er atmet übertrieben laut aus: „Na schön, einverstanden – aber vorher bekomm' ich noch einen Kuss.“
„Du spinnst wohl! Vergiss' es!“
Er streichelt mir durchs Haar und lächelt sanft: „Nur einen – als Abschied quasi. Es schadet meinem Ego, wenn das so endet. Du willst es doch sicher auch mit einer schönen Erinnerung beenden, oder?“
Das ist mir eigentlich herzlich egal. Ich möchte einfach nur nach Hause und duschen; vielleicht sogar ein Bad nehmen. Aber küssen will ich ihn ganz bestimmt nicht! Zumindest nicht nackt, nicht in diesem Bett und erst recht nicht mit dieser Stimmung.
„Nein“, bleibe ich also dabei.
Er zuckt gleichgültig mit den Schulter, legt sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf: „Ich hab’ Zeit…“
Ich weiß, dass es nicht böswillig fies gemeint ist. Er möchte mich nur necken. Vielleicht sogar in der Überzeugung, mich damit wieder milde zu stimmen. Aber es stört mich, dass er sich in der sich selbst in der überlegenen Position sieht und deswegen glaubt, dass er derart im Vorteil ist, dass er die Entscheidungen treffen darf.
Er zwingt mich ja nicht dazu, liegen zu bleiben. Ich könnte jederzeit aufstehen, mich anziehen und gehen – wenn nötig, sogar ohne ein weiteres Wort. Das Problem ist nur, dass ich dazu die Kleidungsstücke erst mal zusammen suchen muss und ich wohl auch während des Anziehens kaum vermeiden kann, dass er dabei den einen oder anderen Blick erhascht. Natürlich hat er Recht: seit letzter Nacht ist da nichts mehr, was er nicht schon gesehen hätte, aber deswegen muss ich noch lange nicht gänzlich unbekleidet vor ihm herumtanzen! Deswegen darf mir das also trotzdem unangenehm sein.
Aber klar, jetzt da er das weiß, wird er sich gütlich daran tun, mich damit zu ärgern. Und dabei neigt sich meine Geduld doch allmählich dem Ende zu. Ich will endlich raus, raus aus dieser peinlichen Situation.
„Wir haben doch echt genug rum gemacht“, nehme ich das Gespräch wieder auf, um nicht noch länger hier liegen zu müssen und, noch mehr, um mir nicht weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, wie um alles in der Welt es soweit – und ich wiederhole: Alkohol hat nur eine sehr geringe Rolle gespielt – kommen konnte. Ich würde nur zu Ergebnissen kommen, die mir nicht gefallen, die gegen meine komplette Persönlichkeit sprechen. „Warum also willst du noch einen Kuss? Reicht’s nicht irgendwann?“
„Doch“, meint er grinsend. „Nach dem Kuss.“
„Warum?“, wiederhole ich. Vielleicht lässt sich darüber ja doch noch verhandeln. Wenn er mir keinen richtigen Grund nennen kann, kann ich ihn sicherlich davon überzeugen, dass es dann doch vollkommen egal ist.
Er schweigt einige Zeit, bevor er antwortet: „Du solltest nicht denken, dass ich ticke, wie ein Barney Stinson oder Charlie Harper. Es geht mir nicht darum, mit möglichst vielen verschiedenen Mädchen ins Bett zu gehen. Mich reizt diese Einmaligkeit. Keine Ahnung, aber irgendwie hat das doch auch etwas Kostbares, findest du nicht? Ich meine, du hast selbst gesagt, dass wir nicht zusammen passen und wenn ich mir dein Gerede jetzt so anhöre, zweifle ich nicht mehr im Geringsten daran, aber gerade deswegen war es etwas ganz Besonderes. Was da letzte Nacht war, wird nie wieder sein. Es war, ist und bleibt einzigartig. Das kann man nicht einfach reproduzieren, sondern muss es behalten, damit es einen Wert hat. Das ist wie bei einem Feuerwerk – man kann Bilder machen, aber das Feeling bleibt letztlich auf den Moment bezogen. Wenn wir das öfter einfach so zusammen machen würden – okay, dann geb’ ich dir Recht. Aber so ist es eben einzigartig und bleibt, wenn es auch ein One Night Stand war, etwas Besonderes. So seh’ ich das zumindest. Und jetzt versuch’ doch mal kurz, diese Perspektive anzunehmen: Du wirst mich aller Wahrscheinlichkeit nach dein ganzes Leben nicht mehr küssen – ist es dann so schlimm, wenn du es jetzt noch ein Mal tust?“
Ich sehe ihn mit großen Augen an: Das habe ich nun wirklich nicht erwartet. Seine Worte haben ja fast schon etwas Tiefsinniges, und das, obwohl er doch ein Kerl ist. Ich hätte ihm das gar nicht zugetraut. Sein Grund jedenfalls klingt durchaus plausibel, richtig gut sogar.
Natürlich möglich, dass er sich das nur ausgedacht hat, um mich rumzukriegen, aber irgendwie glaube ich ihm, was er sagt. Ich habe keinen Grund, misstrauisch zu sein.
Mit dieser Ansicht kann sogar ich leben – na ja, für den Moment zumindest. Nachher allein Zuhause in meinem Zimmer werde ich deswegen garantiert wieder ein schlechtes Gewissen haben, noch mehr, wenn ich mich jetzt noch mal von ihm rumkriegen lasse. Und, verdammt, ich bin sehr nah dran, es zu tun.
Denn natürlich, es schmeichelt mir – welchem Mädchen auch nicht? Es ist schön, begehrt zu werden – vielleicht habe ich mich deshalb verführen lassen. Ich weiß, dass sich das viele Mädchen wünschen: von einem Jungen so angesehen zu werden, wie ich jetzt von Leon, und von ihm um einen Kuss gebeten zu werden – um einen letzten. Viele Mädchen, die sonst von Jungs nicht mal angesehen werden, stellen sich so etwas, wie letzte Nacht mit Leon passiert ist, vielleicht sogar heimlich vor, als geheimen Herzenswunsch oder so in der Art. Es wäre überheblich und ignorant, wenn es nicht auch mir in diesem Moment ein gewisses Wertgefühl geben würde.
Letztlich gebe ich nach und nicke: „Also gut, komm’ her.“
Das lässt er sich natürlich nicht zwei Mal sagen. Fest legt er beide Arme um meinen Körper, zieht mich an seinen. Ein kurzer Blick in meine Augen, dann küsst er mich.
Ich halte still. Eigentlich wäre es mir ja lieber, wir würden das lassen, denn ich weiß, später werde ich mich deswegen ziemlich mies, vielleicht sogar schrecklich fühlen. Es wird mir vorkommen, als hätte ich mich selbst hintergangen, mich selbst verraten.
Derartiges ist eben nicht meine Art und eine Einstellung lässt sich leider nicht so schnell, vielleicht nie, ändern. Da können Leons Erläuterungen noch so logisch sein.
Aber, dieses Gefühl... Es kommt mir so bekannt vor. Ich bin mir sicher, dass ich so schon einmal empfunden habe, und zwar – in der letzten Nacht! Da ist er also, der Grund, warum ich es zugelassen habe: dieses Gefühl.
Es ist, wie Leon gesagt hat: einzigartig, einmalig, deswegen kostbar und und unglaublich aufregend; flüchtig wie ein Atemzug, obwohl es doch für die Ewigkeit scheint.
Ich fühle mich schwerelos, begehrt; kurzum wertvoller als alle Reichtümer dieser Welt zusammen – so wie sich jeder Mensch im tiefsten Innern gerne fühlen würde. Es macht hungrig, gierig: ich will mehr, ich will mich noch wertvoller fühlen. Ich kann nicht genug bekommen.
Zum ersten Mal, seit Leon seine Lippen auf meine gelegt hat – es mag inzwischen etwa zehn Sekunden her sein – rühre ich mich.
Mit einem leisen, sehnsüchtigen Seufzer öffne ich den Mund und schlinge gleichzeitig meine Arme um seinen Hals. Meine Hände klammern sich in seinem Haar fest.
Mir ist heiß. Kalter Schweiß benetzt meine Haut. Gleichzeit rieche ich den seinen. Er ist nicht käsig, fischig wie es nach und während dem Sport der Fall ist – eher süßlich, sauer.
Unsere Lippen schmiegen sich harmonisch aneinander. Ich schmecke Salz. Eine meiner Hände gibt sein Haar frei, gleitet stattdessen seine Wirbelsäule hinab und wieder hinauf. Das Gefühl wird stärker, geradezu überwältigend. Ich zittere schon.
Der Drang, weiter, bis an die Grenzen und darüber hinaus zu gehen, wächst. Ihm geht es da nicht anders als mir...
So gut und überirdisch es sich auch anfühlt, eine Stimme in meinem Kopf erinnert mich ununterbrochen daran, dass es deswegen noch lange nichtig ist. Ein Teil in mir wehrt sich heftig dagegen, dass es mir gefällt.
Dieses „Gefühl“ ist nämlich nichts weiter als Lust – nur rein körperlich vorhanden. Ich sollte doch eigentlich darüber stehen. Mich sollte es dtören, dass sich dieses Körerpliche so gut anfühlt, dass ich nicht widerstehen kann, denn eigentlich gehört doch noch so viel mehr dazu, wenn man sich durch einen anderen Menschen gut fühlen möchte: Vertrauen, Zusammenhalt, Aufrichtigkeit, Treue, Verlass... Alles andere ist nur eine Illusion.
Dieses Gefühl, diese Lust, wird nicht nachhaltig sein. Dieses Gefühl, mehr wert zu sein als alle Reichtümer der Welt, wird in dem Moment verrüber gehen, in dem Moment vorüber gehen, in dem wir von einander ablassen. Keine Ahnung, ob ich dann noch in der Lage bin, das noch immer als kostbar und nicht als egoistisch zu sehen. Ich habe Angst davor.
Deswegen soll es nicht zu Ende gehen. Ich will mich nicht damit auseinander setzen müssen, dass wir uns nur gegenseitig für ein gutes Gefühl benutzen wie einen leblosen Gegenstand. Wir sind Wesen aus Fleisch und Blut, Menschen mit Gewissen – wir verdienen es beide nicht, benutzt zu werden und sollten fair genug sein, es gar nicht erst zu wollen. Dazu sind wir aber offensichtlich zu egoistisch – ich nicht weniger als er und das macht mich fertig. Eigentlich habe ich eine höhere Meinung von mir gehabt, was das Moralische angeht. Aber anscheinend ist das nicht mehr als Einbildung gewesen.
Noch immer küssen wir uns – schon seit zwanzig Sekunden. Immer leidenschaftlicher. Inzwischen liegt er halb auf mir, mit dem Oberkörper auf meinem. Haut an Haut – es gibt nichts Intensiveres.
Die Versuchung ist groß, zu groß – wir stehen vor einer Prüfung: können wir widerstehen oder nicht? Wenn nicht, kann von „kostbar“ und „einzigartig“ wohl keine Rede mehr sein. Die „Magie“ wäre dahin und es wäre bewiesen, dass wir nur aus Egoismus handeln. Er kann damit vielleicht umgehen, ich aber nicht.
Also drehe ich das Gesicht zur Seite, sodass der Kuss abbricht. Es scheint ihn nicht zu stören: er nickt mir lächelnd zu und steht auf, um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Ich will ihn nicht anschauen und wende deshalb den Blick ab. Er zieht eine Schublade auf, ich kann es hören. Stoff raschelt. Eine Türe wird geöffnet und wieder geschlossen. Schritte entfernen sich vom Zimmer.
Seufzend richte ich mich auf und fahre mir mit den Händen durchs Haar. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Mir fällt gerade eine Zeile aus Kurt Tucholskys „Augen in der Großstadt“ ein: vorbei, verweht, nie wieder.
Passend. Vorbei, verweht, nie wieder.
Aber nur wenige Wochen später soll es mich wieder einholen – von wegen „vorbei, verweht, nie wieder“.

Was tun?




Erstaunt fasse ich mir ins Gesicht. Es ist ganz nass. Ich weine. Warum weine ich?
Ich lasse meine Hand langsam wieder sinken, lege sie neben mir auf der Matratze ab und starre nachdenklich gegen die Zimmerdecke, die ich in der hiesigen Dunkelheit nur erahnen kann.
Die Tränen fließen langsam meine Wangen hinab. Sie gleichen denen, die man in den Augen hat, wenn starker Wind ins Gesicht bläst. Mit dem einzigen Unterschied, dass es bei Wind mehr in den Augäpfeln brennt. Aber ansonsten ist es gleich: da weint man auch ohne Motivation. Die habe ich nämlich nicht. Ganz und gar nicht. Ich muss mich ja selbst frage: Warum weine ich?
Und ich weine wirklich! Meine Nase läuft, ich schniefe und schluchze, flenne geräuschvoll. Wie bei großer Enttäuschung. Aber gerade das ist seltsam. Ich bin nämlich gar nicht enttäuscht. Außerdem weine ich bei Enttäuschung in der Regel auch nicht.
Es gibt überhaupt nur zwei Ursachen, die mich zum weinen bringen: Wut und wenn ich nicht mehr weiter weiß, also überfordert bin. Doch auch das ist nicht der Fall. Aber trotzdem bin ich irgendwie total… aufgewühlt und ruhelos.
Ich liege doch nur in meinem Bett. Bis eben habe ich auch noch geschlafen und würde es wahrscheinlich immer noch tun, wenn mich die Nässe in meinem Gesicht nicht geweckt hätte.
Ich werfe mich auf die andere Seite, presse die Bettdecke fest an mich, umschlinge sie mit den Beinen und vergrabe mein Gesicht im Kissen.
Es treibt mich zur Verzweiflung: Warum verdammt noch mal weine ich? Ich habe doch keinen Grund. Im Gegenteil, ich will doch gar nicht weinen. Es geht mir sogar furchtbar auf die Nerven. Ich will aufhören. Warum kann ich es nicht.
Mit dem Schlafanzugärmel fahre ich über die Augen, die Nase, die Wange, kurz über mein ganzes Gesicht, um Rotz und Tränen abzuwischen. Immer noch schluchzend und schniefend schalte ich das Licht meiner Armbanduhr an: vier Uhr morgens und sechs Minuten.
Ich schüttele den Kopf: seltsam. Meinem vitalen Zustand nach zu Urteilen hätte ich schwören können, dass es plusminus sechs Uhr ist. Ich bin topfit, keine Spur von Müdigkeit und das ist noch seltsamer. Gestern Abend bin ich nämlich schon um halb acht todmüde ins Bett gefallen, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, für die heutige Klassenarbeit alles in Französisch noch mal durchzugehen.
Die Schule ist mir wichtig und meine guten Noten noch mehr. Ich bin schon oft über den Büchern eingeschlafen, wenn ich bis spät in die Nacht gelernt habe. Noch nie hat mich Müdigkeit davon abhalten zu können, noch mal für eine Klausur zu pauken, wenn ich mir das in irgendeiner Form vorgenommen habe. Das gestern ist die Premiere gewesen.
„Das liegt am Wetter“, sagt mein Spanischlehrer immer, wenn irgendwas seltsam ist – sei es nun der Aufmerksamkeitsgrad der Klasse, ein verpatzter Klassenschnitt oder die Launen seiner Frau.
Ich beschließe, ihm Recht zu geben. Dass ich so seltsam drauf bin, liegt bestimmt am Wetter. Es ist viel wärmer gewesen in den letzten Tagen als die Wochen davor.
Der Frühling kommt eben doch langsam. Wird auch langsam Zeit: immerhin haben wir schon März. Außerdem müsste ich demnächst meine Tage bekommen. Darauf reagiere ich immer empfindlich. Spätestens drei Tage vorher habe ich schon so schlimme Bauschmerzen, dass ich es ohne Schmerzmittel überhaupt nicht aushalte. Ab heute könnte es also wieder mal so weit sein: seit vorgestern habe ich so ein ganz unangenehmes Kneifen im Unterbauch. Ununterbrochen.
Diesmal aber seltsamerweise weniger schmerzhaft als sonst. Schmerzmittel habe ich noch überhaupt nicht gebraucht, obwohl das Kneifen wie gesagt ununterbrochen gegenwärtig ist. Unangenehm ja, tut durchaus auch ein bisschen weh. Aber nicht wie sonst unerträglich. Es ist mehr so ein beiläufiger, nervtötender Schmerz. Fast schon nicht spürbar, aber eben trotzdem da, deshalb unangenehm.
Japp, daran wird’s liegen: das plötzlich so milde Wetter und mein Zyklus waren schuld an alle dem.
Mit einem Mal bin ich wieder ganz ruhig und entspannt. Keine Spur von Unruhe und Aufgewühltheit mehr. Die Tränen versiegen augenblicklich.
Misstrauisch rolle ich die Augen erst nach links, dann nach rechts. Fast so, als würde ich ernsthaft erwarten, jemanden in meinem dunklen Zimmer zu entdecken, der für diesen plötzlichen Stimmungswandel verantwortlich ist, zu entdecken. Kann ich natürlich nicht.
Mal ganz davon abgesehen, dass ich abgesehen von dem grünen Lämpchen an dem Ladekabel meines Handys eigentlich nicht mehr als schemenhafte Schatten erkennen kann, die mehr an unwirkliche Tiere wie Drachen und Monster als an Schreibtisch, Drehstuhl, Schrank und was sich sonst so in meinem Zimmer finden lässt, erinnern.
Aber müde bin ich immer noch nicht. Ganz im Gegenteil. Ich will unbedingt etwas tun. Mir ist stinklangweilig.
Ich schlage die Decke zurück und will mich schon aufsetzen, halte aber inne. Zum Aufstehen ist es doch noch viel zu früh.
Für gewöhnlich stehe ich immer gegen viertel sechs, halb sechs auf. Schon das treibt meine Eltern oft zur Weißglut. Was werden sie dann erst sagen, wenn ich jetzt schon um kurz nach vier Uhr morgens durchs Haus geistere?
Ich möchte ihnen nicht den Schlaf rauben und bleibe also doch liegen.
Aber was tun?
Ich versuche es mit summen. Bruder Jakob. Fuchs, du hast die ganz gestohlen. Es lebt der Eisbär in Sibirien. Kriminaltango. Ich will jetzt gleich König sein. Und als Krönung sogar – Ihr Kinderlerlein kommet.
Von jedem dieser Lieder summe ich die Melodie an – jeweils aber nur ein paar Takte. Dann wird es mir schon zu langweilig. Übrigens: keine Ahnung, warum mir ausgerechnet diese Lieder in den Sinn kommen.
Anschließend versuche ich es mit Schäfchen Zählen. Bis 109 komme ich, dann ist mir auch das zu eintönig.
Müde bin ich allerdings immer noch nicht. Eigentlich sogar noch eine Spur wacher.
Was jetzt tun?
Mir fällt nichts ein. Wie spät es inzwischen wohl schon ist?
Ich schaue auf die Uhr: erst zehn Minuten später.
Mein Mund verzieht sich zur Schnute. Die Uhr will mich wohl veralbern! Ich bin beleidigt. Schnaube, um das auch kund zu tun.
Ach, sei’s drum. Ich will hier nicht weiter rum liegen! Werden meine Eltern eben noch ein bisschen früher geweckt als sonst. Na und? Kann mir doch egal sein.
Schwungvoll setze ich mich auf. Mit den nackten Füßen taste ich den kühlen Fußboden nach den Filzhausschuhen ab, die mir meine Tante zum vergangenen Geburtstag geschenkt hat. Den ersten finde ich schon nach ein paar Sekunden. Den anderen aber nicht.
Noch mal schnaube ich: Mann, bin ich geladen!
Irgendwann gebe ich es auf und gehe barfuss die Treppen hinab in den ersten Stock. Mein Zimmer liegt im zweiten, das ich, seit meine Geschwister alle ausgezogen sind, ganz allein bewohne. Die leiterartige Treppe, die aus Platzgründen so leiterartig gebaut ist, macht viel Lärm, wenn man sie hinab geht. Ich habe aber keine Lust, mir Mühe zu geben, das aus Rücksicht auf meine Eltern so gut wie möglich einzudämmen – zu geladen.
Der Laminatboden hier unten im Flur ist noch etwas kälter als oben in meinem Zimmer. Oder kommt mir das nur so vor? Ich wünsche mir meine Hausschuhe. Bin aber ebenso zu faul und zu gereizt, noch mal in mein Zimmer hinaufzustiefeln, wie oben eben noch, das Licht anzuschalten, um dann nach meinem zweiten Hausschuh zu suchen.
Ein leises Klackern, wie von einer Horde wandelnder Stöckelschuhe, gemischt mit einem dezenten Kratzen kommt auf mich zu. Gleichzeitig höre ich einen schnüffelnden Atem und nur ein paar Sekunden später, drückt sich eine feuchte Nase gegen meine Knie. Ich spüre weiches Fell wie von einem Teddybären.
„Morgen“, grunze ich den Besitzer der Nase, der gleichzeitig auch der Auslöser des Stöckelschuhgeräusches gewesen ist, an – unsere Eurasierhündin Mina. Ich gebe mir keine Mühe, freundlich zu klingen. Ich habe keine Lust, freundlich zu sein. Im Gegenteil sogar, ich habe richtig Lust auf Streit. Egal, mit wem.
Ich gehe weiter Richtung Bad, ohne Mina einen weiteren Funken Aufmerksamkeit zu schenken. Sie tapst mir hinterher und fiept leise. Sie ist es nicht gewöhnt, dass ich sie grundlos ignoriere. Das ist normalerweise eine Strafe – eine schlimme Strafe. Sie versteht nicht, was sie falsch gemacht hat.
Beschwichtigend leckt sie mit ihrer Zunge meine Hände ab, die sofort ruckartig wegziehe.
„Nein!“, fahre ich sie dabei grob an. Abermals nehme ich keine Rücksicht auf meine schlafenden Eltern.
Mina fiept lauter, quietscht geradezu verzweifelt, stupst mich mit der Nase an und drückt ihr Hinterteil seitlich gegen meine Beine – ebenfalls eine Geste der Beschwichtigung.
Ich knurre sie aber nur an. Ich bin nicht in Stimmung. Sie soll mich in Ruhe lassen. Oder es gibt Ärger!
Mina kann natürlich nicht verstehen, warum ich so feindselig bin. Sie ist fertig mit der Welt und wirft sich mir zu Füßen, wobei sie die Beine an den Körper zieht und mir ihren Bauch bietet. Die verletzlichste Stelle.
Ungeduldig schiebe ich sie mit dem Fuß zur Seite. Kreischend springt sie auf.
„Stell’ dich nicht so an!“, herrsche ich Mina ungehalten an. „Ich habe dich kaum berührt. Man könnte ja meinen, ich wollte dich abstechen, so wie du hier rum schreist.“
Sie zieht sich ins Wohnzimmer zurück: Nein, ich lasse mich definitiv nicht besänftigen. Das hat sie verstanden.
Im Badezimmer schalte ich das Licht an und ziehe die Tür hinter mir zu, erst dann schalte ich das Licht an.
Blödes Licht nebenbei bemerkt. Es ist so hell, dass ich die Augen zukneifen muss. Meine Nase ist beleidigt. Das Licht kitzelt mich dort so sehr, dass ich mehrmals niesen muss. Wie das nervt! Ich schnaube zum dritten Mal.
Es dauert, bis ich mich an die Helligkeit gewöhne. Ich muss währenddessen ein paar Mal schielen, bis meine Augen sich auf die neuen Gegebenheiten der Umgebung eingestellt haben.
Ich habe zwar erst gestern nach dem Badmintontraining geduscht und hätte ein Bad demnach eigentlich gar nicht nötig, zumal ich das normalerweise sowieso nicht leiden kann, aber mir ist eben einfach danach. Ich will nicht nur duschen, sondern ein Bad nehmen. Und, wie gesagt, eigentlich hasse ich es, in einer warmen Brühe, die meinen eigenen Schmutz enthält, zu liegen. Ich finde es eigentlich total ekelhaft.
Kaum liege ich außerdem in dem heißen Wasser, das ich mir einige Minuten später eingelassen habe, ist es wieder so abstoßend. Klar, das Wasser spült den Schmutz fort. Aber er kann ja nicht weg, bleibt also in der Wanne und ich mit ihm. Pfui!
Angewidert springe ich auf, verlasse die Wanne geradezu fluchtartig. Ich lasse das Wasser ablaufen und spüle mich selbst noch al eiskalt ab. Bloß weg mit diesem meinem Schmutz!
Das kalte Wasser hat einen angenehmen Nebeneffekt: es kühlt auch mein erhitztes Gemüt wieder ab. Ich fühle mich normal – zum ersten Mal an diesem Morgen. Das Kneifen in meinem Unterbauch ist auch verschwunden.
Vielleicht bin ich deswegen nicht mehr so streitlustig. Nerven kann es mich ja nicht mehr.
Das abgebrochene Bad und die anschließende kalte Dusche haben viel Zeit vernichtet: es ist schon halb sechs, als ich das Bad angezogen wieder verlasse.
Diesmal aber keine klackernden, kratzenden Schritte und keine feuchte Hundenase im dunklen Flur. Mina hält es wohl für klüger, mir heute Morgen nicht mehr zu nahe zu kommen. Sie tut mir leid. Bei genauem Bedenken habe ich sie doch gar nicht so fertig machen wollen.
„Mina!“, flüstere ich in hoher Stimmlage ihren Namen, um sie zu mir zu locken. „Maus, komm doch her! Minchen…“
Da sind sie wieder – Minas Schritte in der Dunkelheit des Flures. Zögerlich und ein bisschen misstrauisch.
Ich knie mich auf den Boden, schnalze leise mit der Zunge, schnippe aufmunternd mit den Fingern und flüstere, um sie weiter zu bestärken: „Ja, komm! Komm’ her, Minchen.“
Sie drückt ihre Stirn gegen meine Brust und wedelt mit dem Schwanz. Ich kraule sie wild am Hals, sodass sie überrascht einen Schritt zurückweicht, aber gleich wieder näher kommt, um mir abermals den Bauch zu bieten. Diesmal komme ich der Aufforderung auch nach und reibe ihr das Bäuchen. Sie strampelt entzückt mit dem linken Hinterbeinchen und bricht sich fast das Genick, bei ihren Bemühungen, meine Hände abzuschlecken.
„Ellen?“, ruft da mein Vater mit kratziger Stimme aus dem Schlafzimmer am Ende des kleinen Flures.
„Ja?“, antworte ich.
Mina ist schon lange zur Türe getrabt. In meinem Kopf sehe ich sie Schwanz wedelnd und mit gespitzten Ohren vor der geschlossenen Tür stehen.
„Mama und ich sind krank“, erklärt mein Papa. „Sie hat mich mit diesem Magen-Darm-Zeug angesteckt. Geh’ du bitte heute mal mit Mina laufen!“
„Klar“, stehe ich auf und klatsche in die Hände. „Mina, Mina, Mina! Komm’, komm’, komm’! Laufen, laufen, laufen!“
Wie eine Bekloppte springe ich Hände klatschend auf und ab. Meine Stimme rutscht dabei unzählige Oktaven in die Höhe. Jede Sopransängerin wäre da sicher neidisch.
Mina springt darauf an, trabt aufgeregt auf mich zu und hüpft ebenfalls aufgeregt auf und ab. Wie auf ein geheimes Kommando stürmen wir dann plötzlich gleichzeitig die Treppe hinab. Ins Erdgeschoss, wo sich die offene Küche und das Ess-/Compterzimmer befinden.
Während ich das Licht anschalte, schlüpfe ich in meine Stiefel.
„Komm’, komm’, komm’! Laufen, laufen, laufen!“, wiederhole ich wieder und klinge dabei, als würde ich vor Aufregung jede Sekunde einen Herzinfarkt erleiden.
Mina geht es nicht anders. Mit dem Unterschied, dass sie wirklich aufgeregt ist und nicht nur so tut. Bellend steht sie vor der Haustür. Sie hüpft immer noch so wild auf und ab, dass ich ihr kaum Halsband und Leine anlegen kann. Und dabei ist sie sonst eine richtige Schlaftablette.
In unserer Straße ist es noch ruhig. Nur hinter den Fenstern brennt schon Licht; der einzige Hinweis darauf, dass nicht noch alle am Schlafen sind.
Auf dem Gemeindeplatz mit den zwei Bäckern, dem kleinen arabischen Lebensmittelgeschäft, dem leerstehenden Laden neben dem Friseur, dem Schreibwarengeschäft und dem Brunnen herrscht hingegen schon reges Treiben. Beate, Nachbarin und gleichzeitig Mutter meines besten Freundes, kommt uns mit ihrem Hund Balu, ebenfalls Eurasier entgegen. Wir grüßen und winken einander. Sie muss zu ihrer Arbeit in einem Reisebüro und hat deswegen keine Zeit für einen kurzen Plausch.
Zehn Meter weiter, im Torbogen, treffen wir auf Bella, eine betagte Golden Retriever-Dame und ihr Herrchen. Aber Mina und Bella können sich nicht leiden und so bleibt es auch hier bei einem nur kurzen Gruß, diesmal aber aus sicherer Entfernung. So weit, wie es eben die Breite des Torbogens zulässt.
So gelangen Mina und ich in den Klosterhof, der so heißt, weil dies hier vor ein paar hundert Jahren mal das Gelände eines Clarissen-Klosters gewesen ist – logisch. Auf der linken Seite führt an eine Reihe von Mehrfamilienhäusern, die bergauf gebaut sind, führt eine Straße, die für Autos aus dem Klosterhof hinausführt. Biegt man nun nicht auf diese Straße ein, an deren Seite auch ein Fußgängerweg verläuft, sondern geht weiter gerade aus, kommt man an einem Parkplatz vorbei, der ebenfalls auf der linken Seite liegt. Er ist mit sandfarbenem Kopfsteinpflaster belegt, während der des restlichen Klosterhofs Onyx gefärbt ist.
Gegenüber des Parkplatzes, der auch als Gemeindeplatz für Feste und Wochenmärkte dient, lässt sich eine Reihe von Biergärten finden, hinter denen ein schmales Gässchen verläuft, über das man zu den zugehörigen Kneipen gelangt. Diese Kneipen grenzen den Klosterhof ein.
Irgendwann kommt man zu einer kleinen Brücke, die über das hiesige Flüsschen fließt, das einige Kilometer weiter in die Donau mündet. Auf der einen Seite der Brücke kann man an einem renovierten Gebäude, in dem heute ein kleines Museum und eine Musikschule untergebracht sind, ein Mühlrad sehen. Ja, vor ein paar Jahrhunderten hat unsere Gemeinde eine Mühle betrieben. Heute läuft aber nicht mal mehr das Rad.
Hinter der ehemaligen Mühle ist eine Kreuzung – links, eine weitere Brücke, die wieder zum Parkplatz führt, aber diesmal zu dessen anderen Seite, rechts sind Kirche, Forsthaus, Grundschule und schließlich ein weiterer Torbogen, der als Ausgang des Klosterhofs, geradeaus auf der linken Seite das Jugendhaus, rechts das Pfarrhaus und ein dritter Torbogen, von dem aber nur noch ein paar Steine übrig sind.
Danach beginnt eine asphaltierte Straße, die Fahrradfahrern und Fußgängern vorbehalten ist.
Auf ihrer linken Seite trennt ein kleiner Wiesenabschnitt, auf dem teilweise auch Bäume und Sträucher wachsen, den Weg vom Kanal, in dem das Flüsschen fließt. Rechts hingegen trennt eine Reihe von Hecken eine Spielplatz ab.
Ich gehe mit Mina noch weiter gerade aus. Vorbei an einer Turnhalle und einer weiteren Brücke kommen wir schließlich zu dem Teil unserer Strecke, an dem Mina frei ohne Leine laufen kann: zwei Wege links und rechts, in der Mitte das Flüsschen. Eine ruhige Wohngegend, die Häuser sind aber etwas weiter weg vom Wasser gebaut. Flussaufwärts sind immer wieder kleinere Brücken gebaut, um zwischen den beiden Uferseiten hin und her wechseln zu können. Ich werde bis zur ersten laufen und dann auf der anderen Seite wieder zurückkehren.
Ich gehe voran, Mina bleibt zurück. Sie muss in Ruhe alles abschnüffeln. Neben Balu und Bella werden hier seit gestern Nacht, als mein Vater noch mal eine Pinkelrunde mit Mina gedreht hat, noch andere Hunde unterwegs gewesen sein. Deren Spuren gilt es natürlich zu erkunden.
Ich will den Spaziergang inzwischen nur noch so schnell wie möglich hinter mich bringen: mir geht es seit ein paar Minuten nämlich ganz miserabel. Das Kneifen ist wieder da – aber jetzt stärker und auch nicht mehr im Unterbauch, sondern auf Höhe des Magens. Mir ist kotzübel, ich schwitze und kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Hat Mama mich etwa auch angesteckt?
Noch während ich mir diese Frage stelle, kommt es mir hoch: ein Schwall mehr oder minder verdauter Mahlzeit. Ich schaffe es gerade noch, mich zur Seite zu drehen und alles ins Wasser des kleinen Flusses zu spucken. Gott sei dank sind Mina und ich die einzigen, die hier gerade unterwegs sind. Hoffentlich schaut jetzt von den Anwohnern gerade niemand aus den Fenstern…
Mein Magen hört gar nicht mehr auf, seinen Inhalt in meine Mundhöhle zu pumpen. Es ist so ekelhaft! Mein Rachen brennt unerträglich und der Gestank und Geschmack von Buttersäure machen mich ganz schwindelig. Ich habe das Gefühl, es hört gar nicht mehr auf.
Das rot, bräunliche Gemisch von dem Nudelauflauf, den ich am vergangenen Abend gegessen habe, treibt im Wasser davon. Wie eine Wolke aus Blut – widerlich.
Ich sinke erstmal erschöpft in die Knie, als mir endlich nichts mehr die Speiseröhre hochkommt. Das ist anstrengend! Mein Zwerchfell und meine Rippen fühlen sich an, als hätte jemand Samba darauf getanzt. Ich japse nach Luft: meine Lunge ist kaum zum Atmen gekommen. Meine Beine zittern. Ob ich jemals wieder aufstehen kann? Im Moment zweifele ich daran. Mit dem Jackenärmel wische ich mir den Schweiß von der Stirn. In der Manteltasche fische ich nach einem Taschentuch. Ich finde eines, mit dem ich gestern nach dem Regen den Sattel meines Fahrrads abgetrocknet habe. Jetzt tupfe ich mir damit den Mund ab.
Definitiv. Ich habe mich wie mein Vater bei meiner Mutter angesteckt. Aber, seltsam, mir geht es wieder wunderbar. Eigentlich müsste ich mich immer noch miserabel fühlen. So ist es zumindest meiner Mutter gegangen. Nach jedem dieser Übelkeitsanfälle hat sie sich kaum noch ins Bett schleppen können. Ich bin aber sogar richtig hungrig. Ich habe Lust auf Fettiges – eine heiße Portion Pommes wäre mir gerade Recht.
Ich fasse mir an die Stirn: nein, kein Fieber. Ich fühle mich auch nicht so. Ich sehe nicht einmal ein Problem darin, in die Schule gehen zu können. Meine Knie sind zwar noch etwas schwach, aber das wird sich gleich wieder legen. Das kenne ich schon. Wenn ich mal lange viel Sport getrieben habe, fühlen sich meine Beine immer ziemlich schwach an. Nach spätestens zehn Minuten geht es aber schon wieder und ich bin wieder voll bei Kräften. Das ist jetzt kurz anstrengend gewesen und deswegen sind meine Beine gerade wie aus Pudding.
Ich richte mich vorsichtig wieder auf: es geht gut. Es geht auch gut, die Gassirunde zu beenden, zu frühstücken und in die Schule zu gehen… Noch…

Oh nein!, schießt es mir durch den Kopf. Vor Schreck lasse ich den Füller fallen und schlage vorsorglich die Hand vor den Mund. Das Gefühl kenne ich. In meinem Magen ist es wieder so eng. Er rumort bedrohlich. Ich presse den anderen Arm gegen meinen Bauch. Nicht jetzt, bloß nicht jetzt.
„Tu es d’accord, Ellen?“
Ich hebe den Blick. Mein Französischlehrer Monsieur Sommerland sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ich halte diese Frage für einen Scherz: Sehe ich etwa so aus?
Aber ich will nur so schnell wie möglich auf die Toilette, um mich nicht hier im Klassenzimmer übergeben zu müssen. Also sage ich mit gepresster Stimme: „Non, je me sens malade. Est-ce que je peux aller aux cabinets?“
Monsieur Sommerland grinst – hämisch: „Ah, oui? Tout à coup? Pendent une iterrogation écrit?“
Ja, plötzlich. Während einer Klassenarbeit. Ich habe mir heute Morgen während dem Spatziergang schon die Seele aus dem Leib gekotzt. Der soll froh sein, dass ich überhaupt gekommen bin! Aber ich gestehe, es kommt mir nicht mehr ganz so schlimm vor. Vielleicht legt es sich ja gleich wieder.
Ich schüttele den Kopf: „Ça va.“
„Comme j’ai pensé“, meint er zufrieden und an meine Mitschüler gerichtet, die allesamt zu schreiben aufgehört haben und entweder kichern oder blöd glotzen: „Allez, allez! Vous avez encore 21 minutes.“
Einundzwanzig Minuten. Das muss machbar sein. Es geht wirklich. Unangenehm zwar, aber erträglich. Vielleicht kann ich ja früher abgeben und mich dann auf die Toilette zurückziehen.
Aber mein Magen entspannt sich nicht. Es ist erträglich gewesen. Aber es wird wieder von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Es wird enger und enger. Die Magenmuskulatur zieht sich zusammen, presst langsam das Frühstück, das ich vor nicht allzu langer Zeit zu mir genommen habe, langsam in die Speiseröhre. Der Countdown läuft…
Abermals werfe ich den Füller fort, springe diesmal aber sofort auf.
Entgeistert blickt mich mein Lehrer an.
„Excusez-moi!“, stammele ich nur und sprinte nicht nur aus dem Zimmer, sondern auch aus dem Gebäude.
Wir sind im Anbau und die Toiletten sind in der Schule direkt. Mit beiden Händen vors Gesicht gepresst schaffe ich es gerade noch rechtzeitig, in die erste Kabine zu stürmen, hinter mir abzuschließen und mich über die Schüssel zu beugen.
Es geht von vorne los. Genau dasselbe wie heute Morgen. Wobei, noch etwas schlimmer: hier muss auf dem Boden eines Schulklos knien, ich werde mir die Zähne nicht putzen können und jede Sekunde könnte jemand unvorhergesehen herein platzen.
Und tatsächlich: noch während ich ächzend alles in die Schüssel spucke, was in meinen Mund strömt, höre ich, wie jemand die Tür zur Toilette öffnet. Die Person kommt in den Kabinengang. Ich höre die Schritte. Ich will aufhören zu würgen. Es ist peinlich.
Die Schritte verstummen. Wahrscheinlich verzieht da jemand vor dieser Tür gerade angewidert as Gesicht. Mir graust es.
„Äh, Ellen?“ Gott sei Dank! Nur Steph. „Monsieur Sommerland hat mich geschickt. Ich soll nachsehen, ob alles okay ist.“
„Klingt das okay?“, frage ich, als der Magen endlich aufgehört hat zu pumpen. „Das ist jetzt schon das zweite Mal heute Morgen.“
Steph kichert: „Hat der Duschkopf dich etwa geschwängert?“
Ich wische mir gerade mit dem Klopapier den Mund ab. Abrupt halte ich dabei inne: Geschwängert?
Der Duschkopf bestimmt nicht. Aber vielleicht – Leon?
Wie lange ist mein amoureuses Abenteuer mit ihm nun schon her? Vier, fünf, sechs Wochen wahrscheinlich. Passt das? Hat man nach diesem Zeitraum schon die ersten Schwangerschaftssymptome?
Ich bin mir nicht sicher. Ich habe irgendwie acht Wochen im Kopf. Dann wäre es noch zu früh. Allerdings habe ich aber auch überhaupt keine Ahnung.
Mir wird ganz heiß, mein Herz rast. Unmöglich ist es ja nicht: verhütet wurde nicht. Aber, ganz ehrlich, ich habe keine Sekunde daran gedacht. Nicht eine. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu ignorieren, dass ich überhaupt mit Leon geschlafen habe. Zu groß wäre die Scham gewesen, wenn ich ihm in der Schule oder der Tanzschule begegne. Nach einer Woche Übung hat das auch ganz gut hingehauen.
Und ja, überfällig bin ich auch. Ich muss nicht erst nachrechnen, um das zu wissen. Aber das ist für mich kein Hinweis auf eine Schwangerschaft gewesen. Es ist nämlich nichts Ungewöhnliches. Seit der ersten Regel habe ich einen unregelmäßigen Zyklus. Sehr unregelmäßig. Es hat schon Monate gegeben, da habe ich meine Tage gar nicht bekommen. Sie kommen immer zu spät. Grundsätzlich. Ist noch nie anders gewesen.
Aber das beruhigt mich nicht. In meinem Unterbauch zieht es wieder. Diesmal etwa kein Hinweis darauf, dass ich meine Tage bekomme, sondern ein Symptom der Schwangerschaft?
Wie ein Häufchen Unglück sitze ich noch immer auf den schmutzigen Toilettenboden. Egal, wie ekelhaft es ist, ich kann mich nicht rühren, obwohl ich genau merke, dass ich in etwas Nassem sitze.
Ich schlucke. Mir ist furchtbar schlecht. Nicht so wie eben, dass ich kotzen müsste, sondern eben einfach… schlecht. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Alles dreht sich. Tränen fließen über meine Wangen: ich weiß nicht weiter, ich bin überfordert. Was tun?
„Ellen?“, fragt Steph besorgt und klopft gegen die Kabinentür. „Bist du umgekippt?“
Ich atme mehrmals tief durch. Sie soll nicht hören, dass ich weine: „Nein, geht schon. Aber ich glaub’, ich muss nach Hause. Mir geht’s grauenvoll. Kannst du bitte mein Zeug holen und mich bei Monsieur Sommerland entschuldigen? Ich will so nicht zurück in die Klasse…“
„Klar“, meint sie ohne zu zögern und schon höre ich, wie sich Schritte entfernen.
Ich bin überrascht: „Geht das mit einer Klassenarbeit klar?“
„Ach“, meint sie. „Ich habe keine Ahnung, was ich noch schreiben soll. Da habe ich wenigstens bei meiner Mom eine gute Ausrede, warum ich die Arbeit schon wieder verhauen hat.“
Die Tür fällt ins schloss.
Langsam ziehe ich mich an der Kabinenwand hoch. Meine Beine zittern wieder; meine Beine, meine Hände, mein ganzer Körper. Diesmal hat es jedoch nichts mit der Anstrengung des Übergebens zu tun. Ich steh’ kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch.
Was tun? Was tun? Was tun?
Ich weine heftiger – ich weiß immer noch nicht weiter, ich bin noch immer überfordert. Das ist einfach zu viel. Und es wird noch mehr werden, sollte ich tatsächlich schwanger sein…

Positiv




Der Tag ist noch nicht vorbei – noch lange nicht. Er hat gerade erst begonnen.
Die Toilettenkabine habe ich inzwischen verlassen und stehe nun mit dem Rücken zur Heizung gekehrt gegenüber den drei Wachbecken, über denen jeweils ein Spiegel hängt. Steph ist seit mehreren Minuten fort und bislang noch nicht zurückgekehrt.
Ich habe die Zeit nutzen können, um mich zu beruhigen. Na ja, ruhig zu stellen, trifft es wohl eher. Ich muss nicht mehr weinen, das schon, aber wirklich ‚beruhigt’ fühle ich mich nicht. Wie auch?
Mein Zustand gleich eher einer Schockstarre – angespannt und voller Beklemmung, innerlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch, aber äußerlich ganz cool.
Wie ich im Spiegel mir gegenüber sehen kann, sind meine Augen leer. Ich sehe richtig gelangweilt aus. Die Haut ist blass, wirkt wie dünnes Papier, das man ganz leicht zerreißen kann. Um meine Nase herum liegt immer noch ein dezent grünlicher Schimmer. Übel ist mir aber nicht mehr. Zumindest nicht so, dass ich mich gleich wieder übergeben müsste. Mir ist auf eine andere Weise übel.
Diese Art von Übelkeit hat jeder in irgendeiner Situation schon mal kennengelernt. Es ist dieses kitzelnde Beißen in der Magengegend – das schlechte Gewissen:
Dieses kitzelnde Beißen, wenn man sich bei einer Verabredung verspätet, weil man noch das Lieblingslied im Radio zu Ende hören wollte, weil es gerade zufällig kam.
Dieses kitzelnde Beißen, wenn man im Streit verletzende Worte gesagt hat und sie später, wenn der Zorn erst mal verflogen ist, bereut, aber nicht mehr rückgängig machen kann.
Dieses kitzelnde Beißen, wenn man die Hausaufgaben mit voller Absicht aus Faulheit nicht gemacht hat, im Unterricht aufgerufen wird, erklären muss, dass man sie ‚vergessen’ hat und vor der ganzen Klasse, die in solchen Momenten seltsamerweise immer mucksmäuschenstill ist, gerügt wird.
Dieses kitzelnde Beißen, wenn man vor einem Test nicht genug gelernt hat und deshalb schon genau weiß, dass das Ergebnis grauenvoll sein wird, noch bevor man den Bogen abgegeben hat.
Es gibt unzählige, weitere Situationen, in denen man dieses kitzelnde Beißen spürt. Man muss nicht erst eventuell schwanger sein, um es kennen zu lernen. Aber ich gestehe, mir kommt es momentan schlimmer als jemals zuvor vor. So schlecht habe ich mich noch nie gefühlt. Noch nie so hilflos.
Und was ich denke, während ich mich so hilflos fühle?
Tja, was denkt man wohl, wenn man 16 und vielleicht schwanger ist?
Man macht sich natürlich Vorwürfe: Warum hat man nicht nachgedacht? Weshalb keinen einzigen Gedanken an diese Eventualität verschenkt? Wieso hat man allgemein nicht aufgepasst? Wie hat man nur so unbekümmert sein können?
Man ist selbstverständlich ratlos: Was denken? Was fühlen? Was sagen? Was tun? Wo sind die Antworten? Wer kann antworten?
Sicher, man ist besorgt: Was werden die Eltern sagen? Was wird er tun? Was werden die Freunde denken? Was ist mit der Schule? Wie soll das gut gehen?
Dann, um nicht die Fragen aller Fragen in einer solchen Situation zu vergessen: Was wird aus dem Baby, das da vielleicht vorhanden ist? Darf es leben oder muss es sterben? Gibt man es weg oder zieht man es selbst groß?
Wenn alle Fragen gestellt worden sind, denkt man darüber nach, wie es wohl ist ein Kind zur Welt zu bringen, und ob man wohl eine gute Mutter sein wird.
Das alles denkt man doch, wenn man darauf kommt, dass man vielleicht schwanger sein könnte, richtig?
Falsch! Kompletter Blödsinn, sage ich.
Ich habe nur an eine einzige dieser Fragen gedacht: Was tun?
Die war mir doch schon zu viel, die hat mich doch schon komplett überfordert.
Ich habe nur daran gedacht, dass da wohl viel auf mich zu kommen wird, wenn ich wirklich schwanger bin. Ich habe nicht mal versucht, mir auszumahlen, was hinter diesem „viel“ wohl steckt. Das hat es noch schlimmer gemacht!
Ja, ich weiß, in Filmen bekommt man immer gezeigt, wie sich die betroffenen Frauen und Mädchen ganz gefasst und vernünftig, nach und nach jede dieser Fragen beantworten und jegliche Vorstellung, Schwangerschaft und Muttersein betreffend innerhalb kürzester Zeit großartig finden. Eins nach dem anderen. Ganz vernünftig, logisch und vor allem gefasst.
Blödsinn, sage ich. Das kann so laufen, wenn man es nach Drehbuch in einem Film spielt. Aber das tu ich ja nicht.
Ich stehe nicht vor Kameras und habe kein Drehbuch vorliegen, das mir sagt, wie alles – natürlich glücklich – enden wird. Ich spiele nicht nur eine Rolle, aus der ich jederzeit wieder herausschlüpfen kann.
Für mich ist das echt! Und in echt ist das nun mal anders. Komplett anders.
Da denkt man nicht nach. Da ist man in einer Schockstarre, jegliche Gedanken aus dem Kopf verbannt, weil man mit ihnen nicht umgehen kann, und das einzige Gefühl im Bauch, ein schlechtes Gewissen, ein kitzelndes Beißen. Alles andere ist Fiktion, die ich nie wieder ernst nehmen kann.
In echt steht man hilflos an einer Heizung gegenüber einer Reihe von Waschbecken, starrt sich selbst ohne wirklichen Gedanken im Kopf in die leeren Augen, betrachtet das eigene blasse Gesicht, das wie Papier aussieht, und nimmt zur Kenntnis, dass um die Nase ja immer noch ein grünlicher Schimmer liegt, während man auf die beste Freundin wartet, die einem seine Sachen bringen wird, damit man nach Hause gehen kann. Sogar die Wärme des Heizkörpers im Rücken gleitet in weite Fernen ab. Nicht mal das kann man richtig spüren, sondern bestenfalls erahnen.
So sieht die Realität aus.
Es klingelt zur großen Pause. Wo bleibt Steph? Ich will heim, damit ich mich endlich aus der Schockstarre befreien und meiner hilflose Verzweiflung hingeben kann, die sich dann einstellen wird.
Ich höre, dass die Tür geöffnet wird. Ich drehe meinen Kopf in die Richtung.
Im Rahmen stehen zwei Mädchen – Größe und Kleidung nach zu urteilen – aus der sechsten Klasse. Sie kichern.
Aber das verstummt, als sie mir ins Gesicht blicken. Ich weiß, ich sehe unheimlich aus, mit den ausdruckslosen Augen, der blassen Haut und dem grünlichen Schimmer. Unschlüssig tauschen die zwei Mädels Blicke: Ob sie gefahrlos an mir vorübergehen können, ohne, dass ich sofort über sie herfalle. Sie mustern mich abschätzend.
Ich helfe ihnen bei der Entscheidung, indem ich zu den Waschbecken gehe und so tue, als bräuchte ich den Spiegel darüber, um mir die Haare zu richten. Dabei ist es mir im Moment wirklich vollkommen egal, wie ich aussehe. Mir ist alles egal, solange ich nur nicht an diese Sache denken muss.
Die beiden Mädchen traben hinter mir vorbei zu den Kabinen. Die eine schiebt die andere vor sich her. Im Spiegel kann ich das sehen.
Warum kommt Steph denn nicht? Ich bin eine tickende Zeitbombe. Irgendwann muss ich wieder darüber nachdenken, ist es doch so offensichtlich, und dann wird mich nichts mehr halten können. Dann werde ich komplett ausrasten. Wäre mir doch recht, bis dahin daheim sein zu können.
Was tun?
Da ist er ja schon wieder dieser Gedanke. Ich zucke zusammen und in meinem Hals wird es plötzlich ganz eng, sodass ich mehrere Herzschläge nicht einatmen kann. Meine Augen fangen an, zu brennen, wie Augen nun mal brennen, wenn man kurz vor dem Weinen ist. Meine Nase tut weh. Die Mundwinkel verziehen sich automatisch zur Grimasse.
Hektisch lege ich meine Brille auf dem Rand des Waschbeckens ab und drehe den Wasserhahn auf. Mit zu einer Schale geformten Händen fange ich das eiskalte Wasser aus dem Hahn auf, um mir damit das Gesicht nass zu machen. Vielleicht kühlt das ab.
Tut es. Meine Haut glüht nicht mehr so schlimm und meine Augen hören wieder auf zu brennen. Das Atmen fällt mir leichter, weil es im Hals wieder weiter wird.
Dieser Gedanke, der mich so aus der Fassung bringt, erlischt. Noch mal Glück gehabt. Hätte ich ihn intensiviert, wäre ich zweifelsohne wieder so heftig in Tränen ausgebrochen, wie eben, als ich zum ersten Mal daran gedacht habe.
Ich atme tief durch, greife zu einem Papiertuch aus dem Spender und rubbele mir damit das Gesicht trocken. Ich fühle mich so durcheinander, mir ist ganz schwindelig.
Beeil dich bitte, Steph! Ich kann mich nicht mehr lange zusammenreißen.
Meine Bitte wird erhört: jemand tippt mir auf die Schulter.
„Was hat da so lange gedauert?“, fahre ich meine beste Freundin zischend an.
Sie merkt es gar nicht: „Ich durfte noch bis jetzt schreiben, weil ich meine Zeit hergeben habe, um nach dir zu sehen. Nett von Monsieur Sommerland, oder? Aber, ey, das hätte der sich so was von sparen können, ich habe nämlich eh nichts mehr hinschreiben können. Null, Komma, Null, Null Ahnung von Franz. Übrigens, du darfst nachschreiben, weil du krank bist.“
„Das erklärt natürlich, warum es so lange gedauert hat“, verdrehe ich die Augen, während ich meine Tasche und meine Jacke in Empfang nehme.
„Was meinst du denn?“ Steph hat immer noch nicht gemerkt, dass meine Laune alles andere als friedselig ist.
„Du wusstest doch, dass du nichts mehr auf die Reihe bekommst“, schnalze ich genervt mit der Zunge. „Was sollte das dann? Du hättest ihm doch einfach sagen können ‚Ähm, nö, danke. Ich war sowieso zu faul zum Lernen und habe von Französisch allgemein keine Ahnung, sodass das eh nichts bringt.’ Da hättest du mich wenigstens nicht warten lassen müssen. Mir geht’s echt mies! Ich will Nachhause.“
Jetzt fühlt sie sich doch angegriffen: „Entschuldigung! Ich hatte eben auch die Hoffnung, dass ich vielleicht doch noch irgendwas gegen die sichere Fünf hätte tun können. Wenn du’s so eilig hast, hättest du dir dein Zeug ja auch selbst holen können.“
„Willst du mir das jetzt vorwerfen?“, blaffe ich zurück. „Du hast gesagt, es ist kein Problem. Wenn’s doch eins ist, hättest du’s ja auch lassen können.
„Ist ja auch kein Problem“, erwidert Steph. „Ich kapier nur nicht, warum du mich deswegen so anfährst. Was ist denn plötzlich los? Eben bist du noch lammfromm gewesen und jetzt total die Furie.“
Ich ziehe mir die Jacke an und hänge mir die Tasche über die Schulter: „Das geht dich nichts an! Au revoir – falls du weißt, was das heißt.“
„Natürlich weiß ich das!“, ruft Steph mir hinterher, als ich die Toilette verlasse. „So blöd bin ich auch wieder nicht, auch wenn du mich oft genug so behandelst.“
„Verhältst dich ja auch oft genug so, dass man nicht anders kann.“
Ich bin gemein, mag sein, obwohl ich doch dankbar für Stephs Hilfe sein sollte. Mir ist aber nicht nur egal, dass ich gemein bin, sondern mir ist sogar danach, zu irgendjemandem gemein zu sein. Grundlos. Ähnlich wie heute Morgen bei Mina.
Ich schließe auf dem Schulhof gerade mein Fahrrad auf.
Steph hat das ganz treffend formuliert: von lammfromm zur Furie.
Ich denke, was man dabei nun mal denken muss: Stimmungsschwankungen.
Sofort zucke ich zusammen und in meinem Hals wird es wieder so unangenehm eng. Dieses einfache, pluralisierte Wort „Stimmungsschwankungen“ ist in der aktuellen Lage nur ein weiteres Indiz für diese Sache, an die ich eigentlich nicht denken darf, weil mich das sofort wieder überfordert. Das muss ich verhindern. Aber indem ich so denke, denke ich natürlich trotzdem dran, nenne es nur nicht beim Namen und das macht das Ganze nicht besser.
Mein Herz rast, das Blut rauscht mir in den Ohren und meine Hände zittern.
Was tun?
Dieser Gedanke hat fast schon etwas Tödliches. Tödlich für meine Fassung.
Zum Glück brauche ich mit dem Fahrrad nur höchstens zehn Minuten Nachhause. Heute bin ich sogar doppelt so schnell: fünf Minuten und ich kann mein Fahrrad in den Schuppen schieben.
Mina nimmt mich Schwanz wedelnd in Empfang und schleppt zur Begrüßung ihren Kauknochen an. Ich nehme das Geschenk nicht an, fahre ihr nicht übers Fell, sondern gehe direkt die Treppen hoch.
„Ellen?“, fragt mein Papa müde aus dem Schlafzimmer. „Was machst du denn schon hier?“
Ich erkläre ihm, dass ich mich wohl auch bei Mama angesteckt habe. Mir ginge es ganz, ganz übel und gelogen ist das ja nicht mal. Mein Vater meint, ich soll mich auch hinlegen, um mich auszuruhen, und damit hat sich die Unterhaltung erledigt.
Ich gehe hinauf in mein Zimmer, lege mich in mein Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und breche haltlos in Tränen aus. Ich denke nur an alles, was dafür spricht, dass ich schwanger bin und mir wird klarer denn je – klarer als vorher auf der Mädchentoilette, als ich mich dort während der Französischklassenarbeit übergeben habe -, dass es eigentlich nur eine einzige Möglichkeit gibt. Ich bin schwanger, nur das erklärt alle Fakten: warum ich so streitsüchtig bin, warum ich mich so oft übergeben habe, mein gestörtes Schlafverhalten, warum ich meine Tage noch nicht bekommen habe, obwohl es dafür sonst nie eine Erklärung gibt, und, und, und.
Es ist alles so offensichtlich…
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gerate ich außer Kontrolle – wie erwartet. Ich komme mir vor wie ein kleines Lamm, das mit einem scharfen, einschneidenden Strick um den Hals auf seine Schlachtung wartet.
In der zweiten Klasse bin ich während einer Wanderung mit der Klasse mal verloren gegangen… Genauso hilflos wie damals im fremden Wald fühle ich mich jetzt. Das Gefühl ist 1:1 dasselbe.
Es ist alles so offensichtlich, denke ich immer wieder und bin immer verzweifelter.
So offensichtlich, dass – Moment mal… So offensichtlich, dass es schon zu offensichtlich ist. Ich höre kurz auf zu schluchzen, um den Gedanken weiter zu verfolgen.
Wenn man einen Krimi sieht oder liest, ist doch niemals derjenige ohne Alibi, dafür aber mit dem stärksten Motiv der Täter. Derjenige, der den Mord am offensichtlichsten begangen hat, ist es nie.
Welche Aufgabe hat man in der Mathearbeit am ehesten falsch? Diejenige, die so verdammt einfach erschienen ist, dass man geglaubt hat, sie problemlos im Kopf rechnen zu können, wird garantiert mit null Punkten „vergütet“. Sie sieht leicht aus, aber man muss um 1274630 Ecken denken, um die richtige Lösung zu erhalten.
Es ist nie so einfach, wie es scheint.
Ich stutze und wiederhole flüsternd: „Es ist nie so einfach, wie es scheint.“
Der Gedanke hat nun wirklich etwas Tröstendes, etwas Beruhigendes.
Ich sei schwanger, als Erklärung für all das Seltsame, das gerade mit mir vor sich geht, ist zu leicht, zu offensichtlich. So offensichtlich, dass es schon wieder fast absurd klingt, es zu glauben und sich davon verrückt machen zu lassen. Bis jetzt habe ich das doch auch nicht. Nur, weil Steph das gesagt hat.
Ich rechne über die Wahrscheinlichkeit, dass in der Nacht mit Leon etwas passiert sein könnte: eine Frau kann nur an zwei Tagen oder so im Monaten schwanger werden. Ausgerechnet an einem davon soll ich mit ihm geschlafen haben?
Gut, der Februar hat weniger Tage. Rein rechnerisch ist es in dem also wahrscheinlicher, schwanger zu werden. Aber 29 Tage sind 100 % der Tage im Februar. Ein Tag sind gleich rund 3,5% der Tage im Monat, zwei Tage also gerade mal 7%. Also, die rechnerische Wahrscheinlichkeit auf eine Schwangerschaft beträgt nicht mal zehn Prozent. Im Zusammenhang mit der Theorie, dass alles Offensichtliche grundsätzlich nicht der Realität entspricht, ist diese Rechnung wirklich beruhigend und nicht nur ruhig stellend. Zumindest, wenn man sich fest genug daran krallt.
Ein leiser Zweifel bleibt, obwohl ich mir das inzwischen sehr gut eingeredet habe. Ich brauche einen Beweis, dass ich mit meiner Theorie richtig liege. Erst dann werde ich wohl wieder ein ganz ruhiges Gewissen haben.
Aber ich kann natürlich nicht warten, ob ich in ein paar Monaten einen dicken Bauch bekomme. Muss ich auch nicht. Ich kann meinen Beweis schon früher haben, indem ich einfach einen von diesen Schwangerschaftstests mache. Damit habe ich dann am schnellsten Gewissheit und da ich mir selbst überzeugend genug – jeder kann es ausprobieren: Gehirnwäsche wirkt auch bei sich selbst, wenn man sich gewisse Dinge einfach nur lange genug erzählt – eingeredet habe, dass ich unmöglich schwanger sein kann, weil das viel zu einfach ist, glaube ich sehr wohl zu wissen, wie er ausfallen wird: negativ.
Aber wie gesagt: ein leiser Zweifel bleibt. Mir ist immer noch etwas bang zumute. Was, wenn ich mich irre? Dann geht alles wieder von vorne los – wahrscheinlich nur viel, viel schlimmer, nachdem ich mich jetzt so gut wie vollkommen vom Gegenteil überzeugt habe.
Dieses Hin und Her ist unerträglich – mal bin ich beruhigt, in der nächsten Sekunde wieder außer mir. Die Ungewissheit macht mich fertig. Ich brauche meinen Beweis und zwar so schnell wie möglich. Noch wichtiger: ich brauche jemanden, der mir dabei zur Seite steht.
Meine Mutter möchte ich nicht fragen. Erstens ist sie krank, zweitens mag ich es nicht, wenn sie irgendetwas Intimes von mir als Erste weiß. Sie kann nichts für sich behalten.
Bei meinem Vater ist mir das einfach nur peinlich.
Steph oder Anni rein theoretisch denkbar, aber ich habe die Befürchtung, dass sie es entweder nicht ernst nehmen oder aber total hysterisch sein werden.
Max ist zwar mein bester Freund, aber ein Kerl und deswegen ist es bei ihm nicht weniger peinlich als bei meinem Vater, wenn ich ihn um Hilfe bitte, obwohl ich ihn seit dem dritten Lebensjahr kenne.
Aber eigentlich denke ich sowieso nur an eine einzige Person: meine älteste Schwester Tamara – doppelt so al wie ich, 32 Jahre alt also, seit vergangenem September verheiratet und wie sie im November gebeichtet hat, selbst schwanger. Inzwischen irgendwas um den sechsten Monat rum. Eine bessere Ansprechpartnerin werde ich wohl kaum finden. Außerdem steht mir Tamara von meinen drei Geschwistern ohnehin am nächsten.
Sie ist die einzige, die für mich in Frage kommt, ihr davon zu erzählen und sie um Hilfe zu bitten. Sofort.
Ich schlage die Decke zurück, stehe auf und schleiche die Treppen hinab ins Erdgeschoss zur Ladestation des Telefons. Dann wieder hinauf in mein Zimmer, zurück unter die Bettdecke. Die Geschäftsnummer meiner Schwester ist eingespeichert. Sie arbeitet im Kundenservice eines Pharmaunternehmens.
Das Telefon wählt. Ich höre es dumpf piepen.
Zur Sicherheit schaue ich auf die Uhr: es ist noch nicht ganz elf. Ausgeschlossen also, dass sie gerade Mittagspause hat.
Das Piepen bricht ab und eine männliche Stimme meldet sich.
„Hallo, René“, grüße ich, nachdem der Mann, zu dem die Stimme gehört, Firmenname und seinen eigenen genannt hat und versuche dabei, besser gelaunt zu klingen, als ich bin. Den René kenne ich schon lange. Er hat damals mit meiner Schwester zusammen die Ausbildung gemacht. Da bin ich noch ein Baby gewesen.
„Hallo, Ellen“, erwidert René. „Ja, warte einen Moment. Ich leite dich weiter.“
Für ein paar Sekunden erklingt typisches Warteschleifen-Gedudel. Dann die Stimme meiner Schwester: „Hallo, Schnecke. Was gibt’s? Heute nicht in der Schule?“
„Offensichtlich nicht“, meine ich. „Sonst würde ich ja nicht anrufen. Mir geht’s nicht so gut und deswegen bin ich früher Nachhause gegangen. Mama und Papa sind auch krank.“
„Ah, ja“, macht Tamara. „Jetzt geht’s dir wieder besser, dafür ist dir aber langweilig und du weißt nicht was tun, dass du mich anrufst?“
So muss es aussehen. Ich rufe sonst eher selten bei ihr auf der Arbeit an. Meistens nur, wenn Mama oder Papa mir aufgetragen haben, irgendwas zu fragen.
Ich wiege nachdenklich den Kopf hin und her: „Gewissermaßen. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mir helfen kannst, etwas herauszufinden.“
„Keine Ahnung“, erwidert sie nachdenklich. Ob sie dabei gedankenverloren über ihren sechs Monate alten Babybauch streicht? „Was willst du denn herausfinden.
„Mag ich nicht am Telefon sagen. Kannst du vielleicht früher Schluss machen und dich mit mir in der Stadt treffen?“
Sie seufzt tief: „Da muss ich mir ja frei nehmen.“
„Das kannst du doch für deine kleine Schwester ein Mal machen, oder?“ Sie darf nicht nein sagen! Jetzt bin ich gerade beruhigt und überzeugt, dass ich nicht schwanger bin. Aber wie sieht es in ein paar Stunden aus? Ich brauch’ meinen Beweis so schnell wie möglich. „Ich hab’ dich doch noch nie darum gebeten. Kannst du dir nicht vorstellen, dass echt was nicht in Ordnung sein kann, wenn ich es jetzt tue?“
„Stimmt“, meint sich nach ein paar Sekunden des Schweigens. Sie klingt plötzlich misstrauisch. „Warum? Hast du was angestellt?“
Ich wiederhole: „Mag ich dir am Telefon nicht sagen. Bitte, können wir uns so schnell wie möglich treffen? Am besten gleich, irgendwo in der Stadt?“
Mein Tonfall ist inzwischen fast schon flehend. Ich kann keine halbwegs gute Laune mehr vortäuschen. Aber vielleicht ist es gerade das, was sie jetzt überzeugt: „Na gut. Ich frag’ mal, ob ich mir heute Mittag frei nehmen kann. Warte kurz.“
Ich warte und wippe dabei nervös im Liegen mit dem rechten Fuß.
„Ich kann mir Überstunden nehmen“, erlöst Tamara mich dann. „René verzichtet auf seinen freien Nachmittag. Wo sollen wir uns treffen?“
Ich nenne ihr den Namen eines Cafés, in das ich nach einem Stadtbummel immer mit meiner Oma gehe: „Kennst du das?“
„Ja“, meint sie. „Kenne ich. Werde aber so eine dreiviertel Stunde brauchen.“
„Kein Problem“, sage ich schnell. „Hauptsache du kommst. Es ist wirklich wichtig. Und sag René danke von mir, dass er auf seinen freien Nachmittag verzichtet.“

Es dauert eine Stunde, bis Tamara endlich im verabredeten Café eintrifft. Ich habe zu diesem Zeitpunkt bereits eine halbe Stunde gewartet.
Sie entschuldigt sich: Stau, wegen Unfall.
„Ist in Ordnung“, meine ich Schulter zuckend und schiebe mir die Kuchengabel in den Mund. „Hab’ mir die Zeit mit Kuchenessen und Zeitung lesen vertrieben.“ Ich tippe mit dem Finger auf den internationalen Teil der Tageszeitung, der halb unter meinem Kuchenteller vergraben ist.
Die Bedienung kommt und fragt meine Schwester, ob sie auch etwas bestellen möchte. Tamara hat noch nicht mal Zeit gehabt, sich zu setzen und die Jacke auszuziehen. Ein kleines Wasser möchte sie. Still, wen es geht. Die blonde Bedienung nickt und geht.
Ich bin plötzlich nervös. Es kommt mir so vor, als hätte ich Hummeln im Hintern. Ich rutsche aufgeregt auf dem Stuhl hin und her.
Tamara ist mit einer viertel Stunde Verspätung gekommen. Ich habe Zeit gehabt, mir alles zurecht zu legen und darüber nachzudenken, wie ich das Gespräch am besten lenke. Eigentlich ist mir auch alles klar gewesen. Aber irgendwie bin ich mir jetzt, wo ich es tatsächlich sagen soll, total unsicher. Vielleicht nimmt Tamara mich ja auch gar nicht ernst.
Mit einem tiefen Seufzer lässt sie sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen: „Alles total schnell anstrengend, wenn man sich den Körper mit einem Baby teilen muss.“
Ich zucke zusammen. Mein Blick klebt an den Buchstaben der Tageszeitung, als wären sie hochinteressant. Dabei kratze ich auf ihnen mit dem Fingernagel herum. Irgendwie ist es in meinem Hals wieder total eng.
„Also“, meint Tamara, „worum geht’s?“
„Schwer zu sagen“, kann ich nur flüstern. Mir ist doch vollkommen klar gewesen, was ich wie sagen werde! Warum ist das alles plötzlich weg?
„Gerade eben war’s dir noch so dringend. Ich musste mir extra freinehmen.“
„Es ist ja auch dringend“, murmele ich verlegen und kratze noch heftiger auf dem Zeitungspapier herum. Die Druckerschwärze geht schon ab. Nicht mehr lange und das Papier ist durch. „Ich weiß nur nicht, wie ich’s erklären soll.“
Tamara lehnt sich zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf: „Ich hab’ ja Zeit.“
Muss sie mir ihren Bauch so entgegen strecken? Ist nicht leichter, sich zu konzentrieren, wenn man den vor dem Gesicht hat, immer im Hinterkopf, dass man vielleicht selbst schon bald so etwas vor sich hertragen zu müssen.
„Na ja“, setzte ich an. Hilft ja doch nichts. „Steph hatte doch vor ein paar Wochen Geburtstag, gell?“
„Wenn du das sagst“, hebt Tamara die Schultern. „So gut kenn’ ich die Schnecke nicht.“
„Also, sie hatte jedenfalls Geburtstag“, erkläre ich zögerlich. „Und eigentlich wollte ich nach der Feier bei ihr übernachten. Mama und Papa denken auch, dass ich das habe.“
„Hast du aber nicht?“, mutmaßte meine Schwester, wenn ich das schon so sage.
„Habe ich nicht“, nicke ich bestätigend. „Ich war auch nicht zu Hause, obwohl ich Steph das erzählt habe.“
„Sondern?“
„Bis jetzt weiß niemand, wo ich in der Nacht eigentlich war“, sage ich, um zu unterstreichen, dass es bisher wirklich ein wohl gehütetes Geheimnis ist.
Tamara wird langsam ungeduldig: „Mach’s nicht so spannend. Sag’ halt wo du warst.“
Ich bekomme es einfach nicht über die Lippen, obwohl ‚bei einem Jungen’ an sich nicht schwer zu sagen ist. Viel leichter zumindest als ‚ich bin vielleicht schwanger’. Stattdessen wechsele ich das Thema: „Wie ist das eigentlich so?“
Mit dem Kopf deute ich auf ihren dicken Bauch. Vielleicht versteht sie ja sogar.
Tut sie nicht: „Anstrengend, wie gesagt, und sehr schön.“ Sie hinterfragt nicht mal meinen schnellen Themenwechsel.
„Gut zu wissen“, murmele ich.
„Na“, lacht Tamara auf. „Da hast du ja noch ein bisschen Zeit.“
„Wer weiß...“
„Soll heißen?“
„Ich war an Stephs Geburtstag bei einem Jungen…“
Kurzes Schweigen. Ich sehe nicht, was im Gesicht meiner Schwester vor sich geht. Ich schaue immer noch auf die Tageszeitung. Aber sie versteht: „Oh.“
Wieder Schweigen. Die Bedienung bringt Tamaras Wasser. Tamara trinkt ein paar Schlucke. Vielleicht gegen den Schock. Dann spricht sie wieder mit mir: „Du bist auch schwanger?“
Ich zucke mit den Schultern: „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
Ich erzähle ihr von allem, was dafür spricht, und mit jedem Grund werde ich wieder unsicherer. Zuletzt bringe ich kaum noch ein Wort über die Lippen, weil mein Hals wieder so unerträglich eng ist. Meine Kehle ist im wahrsten Sinne des Wortes wie zugeschnürt. Dann rechne ich ihr meine Wahrscheinlichkeit vor und erkläre meine Theorie, dass Dinge, die zu offensichtlich sind, doch niemals stimmen.
Wahrscheinlich hätte Tamara gern etwas dagegen gesagt, damit ich mir keine leeren Hoffnungen mache, aber da mich das Erläutern meiner Theorie merklich wieder runter holt, verkneift sie es sich: „Tja, das kriegst du wohl nur raus, indem du einen Test machst.“
„Da wollte ich Beistand haben“, erkläre ich.
Meine Schwester nickt: „Ist gut.“
Sie bezahlt für mich mit, obwohl ich mein eigenes Geld mitgenommen habe. Gleich um die Ecke beim Café ist eine Apotheke. Ich darf draußen bleiben, während Tamara mir einen Test besorgt. Es wäre ja offensichtlich gewesen, für wen er ist, wenn wir da zu zweit reingehen und Tamara unübersehbar schon schwanger ist. Bleibt die Frage, was die Apothekerin wohl denkt, wenn eine Frau, die wegen des dicken Bauchs wohl allmählich die Füße nicht mehr sehen kann, einen Schwangerschaftstest kaufen möchte. Ich bin mir sicher, dass sie während des kurzen Gesprächs bestimmt so was wie „Ich glaube, Sie können sich sicher sein, dass sie schwanger sind“ gesagt hat und irgendwie ist der Gedanke amüsant, aber gerade habe ich dafür keine Nerven. Sonst hätte ich vielleicht breit gegrinst.

Wir gehen zu Tamara Nachhause. Sie schickt mich mit dem Test auf die Toilette und dann heißt es warten. Fünf Minuten lang, wie angegeben.
Die Zeit kann unheimlich lange erscheinen, wenn man so von Ungewissheit geplagt ist. Tamara weiß das. Sie hat das ja schon mitgemacht.
Sie macht mir eine Heiße Schokolade, um mir die Wartezeit wörtlich zu versüßen. Um mich abzulenken, fragt sie mich nach Nebensächlichkeiten: die Schule, nach Mina, meinem Pferd Shadow, dem Tennistraining. Dabei ist sie taktvoll genug, nicht zu fragen, mit wem, wie und warum es passiert ist. Sie weiß nämlich sehr wohl, dass ich zurzeit eigentlich gar keinen Freund habe.
Die Zeit ist um. Ich bitte Tamara, für mich nachzusehen.
„Nichts“, kann sie mich beruhigen.
Erst begreife ich ihre Worte, oder viel mehr ihres einen Wortes, nicht so richtig. Eigentlich habe ich einen ernsten, besorgten „Du-Steckst-Wirklich-In-Schwierigkeiten“-Blick erwartet und weiß deshalb im ersten Moment, gar nicht, wie reagieren.
Mein Kopf verarbeitet es nur langsam: nichts. Ich muss es mir in Gedanken mehrmals vorsagen: Nichts. Nichts. Nichts. Wirklich nichts?
Ja, ich weiß, ich habe mir eigentlich eingeredet, dass genau das und nur das der Fall sein kann, aber irgendwie kommt es doch sehr unerwartet. Ja, ich weiß. Ein Widerspruch in sich. Aber was erwartet man bitte schön von einer 16-jährigen, die vielleicht schwanger sein könnte? Klare Gedanken. Also bitte. Das wäre doch sehr unrealistisch.
„Also, nichts“, wiederhole ich noch mal laut.
„Laut Test“, zeigt Tamara mir die Anzeige.
Die 16-jährige, die vielleicht schwanger sein könnte, es nun aber offensichtlich doch nicht ist, also ich, beginnt zu strahlen! Sie kann es nicht glauben. Alles gut, nicht schwanger. Noch mal mit dem Schrecken davon gekommen. Sie dankt dem lieben Gott und verspricht ihm, so etwas niemals wieder zu tun. Das ist ihr eine Lehre fürs Leben gewesen! Und sie dankt in Gedanken ihrem Partner aus der Nacht, Leon, dafür, dass er ihr kein Baby gemacht hat.
Aber im Gesicht ihrer, also meiner, Schwester sieht es nicht so erleichtert aus.
„Was ist denn?“, grinse ich. „Falscher Alarm!“
„Das muss nichts heißen, Ellen“, meint Tamara ernst. „Du kannst trotzdem schwanger sein.“
„Ach, quatsch!“, bin ich überzeugt. „Wenn der Test negativ ist, bin ich auch nicht schwanger.“
„Man kann schwanger sein, auch wenn der Test nicht ausschlägt. Das steht da.“
„Ja, ich weiß. Aber wie oft kommt das schon vor?“
Tamara seufzt: „Bei mir drei Mal. Der Test ist nie positiv gewesen, obwohl ich mir absolut sicher gewesen bin, schwanger zu sein. Ich musste mich beim Arzt untersuchen lassen.“
Die 16-jährige, die schwanger sein könnte, es laut Test nicht ist und doch wieder vielleicht sein könnte, also ich, versteht die Welt nicht mehr. Da kommt der Kopf nicht mehr mit.
Ich werde nicht hysterisch, sondern bleibe diesmal wirklich bis ins tiefste Innere ruhig. Wie gesagt, ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum soll ich mich da noch aufregen?
„Und was jetzt?“, frage ich entspannt.
„Warte, ob du deine Tage bekommst“, meint Tamara. „Wenn ja, dürftest du wirklich nicht schwanger sein. Und wenn doch, kommst du am Samstag vorbei und wir wiederholen das Ganze.
Ich nicke. Immer noch entspannt. Die Welt macht mit mir, was sie will, ich kapiere nicht, was sie damit erreichen möchte, und nehme mir deshalb vor, keine Gedanken mehr daran zu verschwenden. Klar, als ob ich das schaffe.
Bis Samstag ist lang. Ich hoffe jeden Abend vor dem Einschlafen, dass ich am nächsten Tag endlich zu bluten anfange und man muss schon sehr verzweifelt sein, um sich das zu wünschen.
An jedem Abend, an dem noch immer nichts geschehen ist, werde ich mehr zum Nervenbündel. Von der Schule bleibe ich entweder gleich ganz Zuhause oder gehe nach ein paar Stunden. Ich bin zu jedem unfreundlich, der mich anspricht. Ich übergebe mich an mehreren Tagen der Woche. Ich weine grundlos vor dem Fernseher. Ich esse ungewöhnlich viel. Ich habe keine Lust mich zu bewegen. Nicht mal zu meinem Pferd, das zur Hälfte übrigens auch Steph gehört, gehe ich. Und dabei halte ich es nicht länger ohne Reiten aus. Vor Tanzkurs und Zumba drücke ich mich auch komplett – ich will nicht in die Tanzschule. Da könnte ich Leon begegnen. Den will ich momentan beim besten Willen nicht sehen.
Die ganzen Tage über schwanke ich zwischen Hoffen und Bangen, zwischen den beiden Überzeugungen „schwanger“ und „nicht schwanger“ – es ist die reinste Tortur. Für mich und alle, die mit mir zu tun haben. Keiner weiß, was mit mir los ist und trotzdem müssen sie meine Launen ertragen. Ich traue mich schon gar nicht mehr, mit irgendwem zu reden.
Meine Freunde – Steph, Anni und Max – glauben, mich aufheitern zu müssen. Ich bin nämlich sehr gut darin, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Deshalb lassen sie mir keine andere Wahl und schleppen mich (ausgerechnet) am Samstag, an dem ich meine Tage übrigens immer noch nicht bekommen habe, ins Kino.
Türkisch für Anfänger – ausgerechnet eine Komödie, wo ich doch eigentlich so gerne weinen würde.
Es ist eine Qual, zumal ich wirklich oft herzlich lachen muss. Warum dann Qual? Weil das ein verdammt schlechtes Gewissen macht und auch nichts an den Tatsachen ändert. Nachhaltig ändert es meine Laune eh nicht. Ich bleibe unausstehlich. Alles läuft falsch.
Keine Ahnung, wie ich diese letzte Zeit vor der endgültigen Gewissheit mit dem Damoklesschwert über mir anders beschreiben soll.
Meine Verfassung ist immer mehr abgesunken und trotz der kleinen Ablenkung im Kino, hat sich der Kreis schon am Donnerstagabend geschlossen: ab da ist es praktisch ununterbrochen so gewesen wie am Dienstag, kurz nachdem Steph „Hat der Duschkopf dich etwa geschwängert?“ gefragt hat. Wenn irgendwer in meiner Nähe ist, kann ich mich zusammenreißen, aber sobald ich allein bin, weine ich bitterlich. Ich brauche endlich Gewissheit.
Zum Glück ist es jetzt soweit. Ich gehe nicht mit den anderen Nachhause, sondern zu meiner Schwester.
Ihr Mann ist heute Abend nicht da, sondern bei einem Geschäftsessen, sodass wir alleine sind und den Test in aller Ruhe wiederholen können. In aller Ruhe… Das klingt verdammt ironisch.
Es ist wie am Dienstag: wir reden, während wir auf den Test warten, über Nebensächlichkeiten, den Film zum Beispiel und trinken Kakao.
Möglich, dass es gar keine fünf Minuten dauert, bis das Ergebnis sichtbar ist. Aber ich will nicht, dass eine von uns vorzeitig nachsieht. Die Ergebnisanzeige bleibt umgedreht, bis die Zeit abgelaufen ist. Ich bin diesmal aber viel nervöser. Die letzten Tage haben ihre Spuren hinterlassen.
Dann ist die Zeit um. Tamara sieht nach: „Positiv.“
Positiv – braucht es mehr Worte, um zu beschreiben, was in mir vorgeht?

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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2012

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