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Imprint und Vorwort

Imprint

Herz und Ehre

I. S. Lang

Umschlaggestaltung I. S. Lang

Copyright: © 2013 I. S. Lang

Vorwort 

Im Vorfeld dieser Geschichte liegt es mir sehr am Herzen zu betonen, dass folgende Handlung in historischer Hinsicht nicht allzu ernst genommen werden sollte. Es mangelt vor allem an dem Schiffsjargon, um in Bester Melville-Manier aus dem Leser einen regelrechten Matrosen seiner Zeit werden zu lassen. (Einige Leser mögen das positiv sehen.)

Dieses Werk hat kein professionelles Lektorat und Korrektorat genossen, ich entschuldige mich daher im Voraus für Seltsamkeiten (die man auch freigeistige Punktierung und Rechtschreibung nennen könnte). Entstanden ist diese Geschichte aus reinem Spaß an Zwisten, Irrungen, Intrigen und natürlich an der Unberechenbarkeit der Liebe. Ich wünsche ihnen so viel Spaß beim Lesen, wie ich beim Schreiben hatte! Lehnen sie sich zurück und lassen sie den Alltag für ein paar Stunden Alltag sein!

Ich widme dieses Buch ihnen und allen, die nicht vergessen haben, dass es kein unberechenbareres Spiel gibt als die Liebe!   

Kapitel 1

>>Liebe ist etwas für Idioten! Mit Verlaub, das war meine feste Überzeugung. Wenn ich oben auf dem Deck stand und Befehle erteilte, Untergebene über das Deck jagte oder über taktischen Plänen saß, hätte ich ihnen wohl ins Gesicht gelacht, wären sie wagemutig genug gewesen, mich zu einem dieser Idioten zu rechnen. Mein Verstand galt allein der Ehre, meine Ohren den Befehlen meiner Vorgesetzten, mein Körper der Gnade der Königin. Nie wich mein Blick von seinem Ziel ab, nie dachte ich über den Sinn des Lebens nach oder was der Morgen bringen könnte. Warum auch? Es gab nur absoluten Gehorsam im Angesicht der Aufgabe. Umso höher ich die Leiter stieg, umso schwerer lastete die Verantwortung auf meinen Schultern. Aber nur wer seine Pflichten nie vergisst, erfüllt gewissenhaft, was von ihm verlangt wird. Was ich tat, war RICHTIG. Nichts erfuhr meine halbherzige Aufmerksamkeit. Nie hätte ich gedacht, dass einmal der Tag käme, an dem das Deck unter meinen Füßen einem solchen Ziel entgegensteuern würde. Aber Dinge ändern sich, so wie der mörderische Wind, der durch die Takelagen peitscht. Doch sich selber zu ändern, ist ein weiter und beschwerlicher Weg. Liebe ist etwas für Idioten! Aber manchmal braucht die Welt eben Idioten. Und wie es dazu kam, dass die Welt um zwei reicher wurde? Nun, lesen sie selber…<<

 

Am Morgen eines kalten Aprils, mit dem ersten Morgennebel, fiel das 10te Regiment der königlichen Flotte in das Versteck der Piraten ein. Die wenigen Sonnenstrahlen ließen das Wasser schimmern wie grüne Jade. Was als geplanter Schlag gegen die Wölfe des Meeres begann, wurde zu einer vernichtenden Niederlage, die den bitteren Geschmack von Verrat trug. Als die scheinbar wehrlosen Freibeuterschiffe in der Bucht vor den Kanonen der Marine lagen, gab General Conalis den fatalen Befehl:

„An alle Schiffe: in Schussposition!“

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Im Glauben an einen perfekten Überraschungsangriff rückten die schweren Schlachtschiffe ohne Rücksicht in die Bucht ein.

Doch was sie versenkten: Attrappen. Was sie mit einem Hagel eiserner Kugel bedachten: leere Behausungen, die ausgestorben den Strand umfassten.

Und hinter ihnen schloss sich die Hölle.

Aus dem vermeintlichen Freibeuterfriedhof wurde ein Marinegrab. Nur wenige Schiffe überstanden das Massaker. Eines davon die ‚Seagull‘, ein englischer Dreimaster, mit einer Phalanx von je sechs Kanonen Back- und Steuerbord. Neben den mächtigen Schlachtschiffen, mit Reihen über Reihen an Kanonenschlitzen, wirkte die ‚Seagull‘ wie ein Kleinkind zwischen Erwachsenen. Ihre Feuerkraft vermochte nur ein Drittel der Verheerung zu hinterlassen, die ein Fünfmaster hätte anrichten können, doch sie war im direkten Vergleich schnell und wendig. Eine stilisierte Seemöwe breitete ihre Flügel um den Bug. Ein zum Ruf geöffneter Schnabel versprach ihre stete Angriffsbereitschaft. Nun, sie war nicht der einzige Dreimaster in der Flotte und auch ihre Galionsfigur hätte sie in dem folgenden Gemetzel nicht zu etwas Erinnerungswürdigem werden lassen können. Aber es gab einen Umstand, der sie besonders werden ließ, ein Mann: Ian McLane, ihr Kapitän. Während sich die ersten Wellen an den riesigen Flügeln der Möwe brachen und sich die Planken hoben und senkten, war er einer der Ersten, der die Falle als solche erkannte…

 

„Ist die Nachricht endlich raus?“, bellte Ian über das Schiff. Der Wind peitschte ihm gnadenlos die dunklen Haare ins Gesicht. Hoch aufgerichtet stand er am Deck, die Lippen nur noch ein Strich und die klaren blauen Augen auf das Ufer gerichtet. Der erste Maat salutierte.

„Ja, Sir! ‚Keine Auffälligkeiten, Angriff fortführen‘.“

„Verstanden!“ Ian hob eine Hand. „Wir haben unsere Befehle! An die Kanonen!“

„AN DIE KANONEN!“, brüllte der erste Maat.

„Auf mein Zeichen, durchladen und feuern!“

Die Kriegsmaschinerie funktionierte wie ein Uhrwerk. Die simple Einfachheit war faszinierend, Ians Gedanken waren nicht zuletzt in militärischem Gehorsam gedrillt. Es war nicht seine Aufgabe, eigenmächtig zu handeln. Er hatte seine Bedenken gemeldet und einen Befehl erhalten. Es lag nicht an ihm, über die Hitzköpfigkeit des Generals zu urteilen. Zeitgleich mit Ians Hand, die abgehackt nach unten fuhr, eröffneten die ersten Schlachtschiffe das Feuer.

Die Schießpulverwolken mischten sich mit dem dichten Nebel, erfüllten ihn mit ihrem schweren Geruch. Kugeln fraßen sich krachend durch das morsche Holz der Schiffe vor ihnen, während die ‚Seagull‘ unter den Rückstößen der eigenen Kanonen zitterte. Der Lärm war ohrenbetäubend und ein ums andere Schiff eröffnete das Feuer, bis die Bucht unter dem Donner der Schüsse wieder hallte. Aber keine Gegenwehr. Keine schreienden, umherlaufenden Menschen. Nichts. Nur lautlos versinkende Geisterschiffe. Für einige Sekunden herrschte die Art trügerischer Stille, die sich unweigerlich vor jedem Nachladedurchgang breitmachte.

Nur das Flaggschiff hatte die Feuerkraft ohne Pause, Kanonenkugel für Kanonenkugel, in die ufergelegenen Höhlenkomplexe und Behausungen zu versenken. Doch sollte es anders kommen. Noch bevor sich die ersten, rußigen Schwaden der Kanonenschüsse im Wind verloren, begann der Gegenangriff - oder wie es später seine Niederlegung finden sollte: ‚Die Schmach der 10ten Flotte‘. Neun verlorene Schiffe darunter sechs schwere, zwei leichte Kreuzer und ein Flaggschiff. Man konnte sagen, dass Gott Gnade gezeigt hatte, denn die See verschonte einen Großteil der Männer. Insgesamt waren es 128, die an diesem Tag ihr Leben verbüßten. Zahl der Gefangenen: keine Angaben. Akte geschlossen.

In den Berichten blieben die Zahlen verwahrt, jederzeit einsehbar für berechtigte Augen. Aber was konnten Zahlen schon über die Realität berichten? Was sagten Nummern über das Knirschen, mit dem sich gegnerische Kugeln durch Planken und Fleisch und Knochen fraßen? Das erste Schlachtschiff der englischen Flotte sank so lautlos und unspektakulär wie vor ihr die Attrappen. Die Entfernung nahm den in Verzweiflung von Bord springenden Soldaten die Stimmen. Sie fanden keine Zeit, die Beiboote zu lösen.

Der Schiffsleib zog zu viele der verzweifelt Schwimmenden gnadenlos mit sich in die Tiefe. Der Ausweg der Bucht wurde von Piratenschiffen, aller Bauarten und Größen versperrt und auf den hohen Felsen des Riffes wurden mobile Kanonen angerollt. Die Bucht war zu einem Hexenkessel verkommen.

Die Schlachtkreuzer behinderten sich gegenseitig beim Abdrehen, während sie unkoordiniert, und zu spät, versuchten, das Flaggschiff vor gegnerischem Feuer zu schützen. Kaum eine Gegensalve löste sich, denn die Schusslinie zur schmalen Buchtzufahrt wurde von den eigenen Schiffen blockiert, die sich in einer aussichtslosen Unterzahl einer ganzer Phalanx an Schiffen gegenübersahen, während sie gleichzeitig von den Klippen aus unter Dauerbeschuss genommen wurden. Im Angesicht der schwarzen, und teilweise obszönen, Freibeuter-Flaggen sank das blau und rot der englischen Königin Boot um Boot.

 

Chaos brach auf dem Deck der ‚Seagull‘ aus.

„Piraten!“

„Es ist die ‚Crying Nancy‘!“

„Dracostas Schiff!“ Panik schwemmte über die Soldaten. Dieser Name weckte Urängste in ihnen. Noch nie habe jemand dessen Übergriff unversehrt überstanden, wurde gemunkelt.  

„Dracosta! Dracosta!“

„Nachladen! Nachladen! Holt diese verdammten Kanonen von der Klippe!“, brüllte Ian über die Reling. „Schützt das Flagschiff!“ Seine Stimme schnitt scharf durch das Chaos, während er Befehl für Befehl hinausschmetterte.

„In die Takelagen! Hart Backbord! Kanonen auf Drei Uhr, 60 Grad! Alle ungeraden Feuer!“

„ALLE UNGERADEN FEUER!“, ertönte die Stimme des ersten Maats. Ian zog sein Fernrohr. Sein Blick suchte die Einschläge, während er die Felsen absuchte.

Die Kugeln bohrten sich nutzlos in den grauen Stein zu Füßen der Kanonen. Die Ziele waren außerhalb der Reichweite! Mit einem Pfeifen schlug eine Kugel neben die ‚Seagull‘ und sie schwankte unter der Druckwelle. Ians Augen ruckten zu den Piratenschiffen, ein Wald aus auf und ab schwankenden Masten. Ruckartig schob er das Fernrohr zusammen.

„Wir müssen durchbrechen…“, war seine verbissene Feststellung. Ein weiterer Einschlag, diesmal näher, ließ vermuten, dass man sich langsam auf die ‚Seagull‘ einschoss. Ihr Schicksal wäre dann mit den ersten Treffern besiegelt.   

„Kapitän!“, riefen die Stimmen durcheinander.

„Nachricht von der Anchestor: ‚Schiff manövrierunfähig!‘“

„Die ‚Queen Marie‘ ist gesunken!“

„Nachricht vom Flaggschiff, Sir! ‚Befehl zum Durchbruch, öffnet einen Weg für das Flaggschiff‘“        

Ians Griff schloss sich wie ein Schraubstock um das Fernrohr, bis es protestierend knirschte.

„Verstanden.“ Das schwere und behäbige Flaggschiff sicher durch die gegnerischen Reihen zu geleiten, wäre im Angesicht der gegnerischen Überzahl ein Ding der Unmöglichkeit.

„Hisst die rote Fahne“, befahl er ruhig. „Wir werden die ‚Crying Nancy‘ rammen!“           

„Kapitän, das ist Wahnsinn!“, der erste Maat klammerte sich an die Führung der Reling. „Dafür müssten wir die Reihen durchbrechen und…“

„Und ziehen so das Feuer auf uns.“ 

Ian hob die Hand und die Blicke richteten sich auf ihn. Er hatte eine fesselnde Art von Autorität und seine Mannschaft folgte seinen Bewegungen, wie an der Schnur gezogen. „Wir werden die ‚Crying Nancy‘ rammen. Wer sich damit nicht abfinden kann, wird das Schiff sofort verlassen!“

Schweigen.

„Sir“, der erste Maat senkte zog seinen Hut, „wir folgen ihnen, Sir. Wir kennen unsere Pflichten.“

„Ich bin stolz auf euch… Wir werden nicht aufgeben, bis zum letzten Atemzug! Für Ehre und die Königin!“

Die Stille, die auf diese Worte folgte, war fast greifbar und wurde nur unterbrochen von dem fernen Grollen abgefeuerter Kanonen, dann erhoben sich die ersten Stimmen.

„Für Ehre und Königin!“

Die Rufe gewannen an Stärke, bis der Schlachtruf über das Wasser rollte. Ian nickte abgehackt und gab mit scharfen Handbewegungen Befehle. Die ‚Seagull‘ fing den Wind auf und setzte sich in Bewegung. Schlank und schnell, wie sie war, wirkte das Schlachtschiff neben ihr wie eine aufgeblasene Schildkröte. 

„Kapitän! Die ‚Sister Ann‘ hat ebenfalls ihre rote Flagge gehisst! Sie setzt sich vor uns!“

„Drosselt die Fahrt! Folgt ihrem Kielwasser! Alle Mann Kanonen besetzen!“

„BESETZT DIE KANONEN!“

Ian schwang sich über das Deck und packte mit an.

„Versenkt den Ballast, wir müssen schneller werden!“

„VERSENKT ÜBERFLÜSSIGEN BALLAST!“

„Ballast ist versenkt.“ Der erste Maat verschränkte seine Hände im Kreuz und blieb hinter Ian stehen. „Sir, uns bleiben nur wenige Schuss.“

Die ‚Sister Ann‘ erreichte, empfangen von einer ganzen Salve von Kanonenkugeln, die gegnerischen Reihen. Ihr Opfer sollte den Weg für die ‚Seagull‘ bereiten. Während die Sister Ann schwer beschädigt an zwei gegnerischen Schiffen entlang schrammte, ertönten die ersten Gewehrsalven, als die Mannschaften aufeinander trafen.

„Es geht los! An die Waffen!“ Ians Uniform fiel in dem ruhelosen Blau nur durch seine gelben Schulteraufsätze auf. Er drängte sich zu dem Steuermann und zeigte auf die Lücke, die die ‚Sister Ann‘ mit ihrem Angriff in die Freibeuterschiffe getrieben hatte.

„Ich übernehme“, wandte er sich an den Steuermann, der salutierend das Steuer übergab. „Volle Fahrt.“

„VOLLE FAHRT!“

Die Gischt spritzte den Bug entlang und legte sich wie ein dünner Sprühregen über die ‘Seagull’, als sie mit vollen Segeln beschleunigte.

„Steuerbord, fünf Uhr, 20 Grad. Zielt auf die Fünfmaster. Lockt sie her! Schießt dem General den Weg frei!“

„Fünf UHR, 40 GRAD, FEUER FREI!“

Es war ein Wunder, dass die ‘Seagull’ ohne große Schäden gegen das Dauerfeuer standhielt, die das Wasser um sie herum in Fontänen in die Höhe schickten.

„Werft die Kanonen und Kugeln über Bord!“ Ians Stimme war so laut und klar, dass der erste Maat den Befehl nicht mal wiederholen musste. 

Mehrere Schiffe versuchten ihren Weg zu blockieren, aber das Schiff schoss unter dem fehlenden Gewicht der Munition und Bewaffnung über das Wasser, wie der Vogel, dessen Namen sie trug.

„Das ist Wahnsinn!“ Der erste Maat hielt in gebeugter Haltung seine Mütze tief ins Gesicht.

„Das ist es“, erwiderte Ian mit aufblitzenden Augen und riss das Steuerrad herum. Krachend und knirschend bohrte sich die ‘Seagull’ durch die Lücke zwischen den Schiffen, drängte die hölzernen Leiber mit der Kraft ihres Aufpralls Geschwindigkeit auseinander.

Ian stemmte sich gegen das Steuerrad. Die Kräfte waren so brachial, dass sich das Steuer frei zu reißen drohte.  Schüsse krachten, sie wurden getroffen, dann hatten sie die beiden riesigen Schiffe passiert. Mehrere Taue waren gerissen und ein Seitensegel hing abgeknickt, wie ein übergroßer Zahnstocher, vom Hauptmast. Das Segel flatterte haltlos im Wind, als sich der mächtige Bug der ‘Crying Nancy’ vor ihnen aufbaute. Das riesige Schiff hatte es geschafft, seine Längsseite aus der Schussbahn der ‘Seagull’ zu manövrieren. Den Riesen zu versenken war damit fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Eine Kanonenkugel traf den Hauptmast der ‘Seagull’, kurz bevor ihre Galionsfigur an dem gehärteten Holz der ‘Crying Nancy’ zersplitterte und ein tiefes Loch in die linke Front des Piratenschiffes riss, bevor die beiden Schiffe unkontrolliert aneinander entlang schrammten.

Die ‘Seagull’ ächzte und knarzte, Außenplanken zerbarsten unter dem Druck. Wer es nicht schaffte, sich im letzten Moment festzukrallen, wurde von den Füßen gefegt. Mehr als ein Soldat krachte schwer gegen die Leitplanken, während die ‘Seagull’ auf Schlagseite rollte.

Freibeuter fluchten und schossen mit kurzläufigen Pistolen auf das Marineschiff, das sich an sie drängte. Die Kugeln schlugen ins Holz und durchlöcherten die Segel. Und über allem Chaos stand eine in dunklem Braun gekleidete Gestalt mit Überwurfmantel, breitem Hut und keck im Wind wehenden Federn. Grüne Augen, ein scharfer Blick. Vielleicht Anerkennung, vielleicht Verachtung. Auf die Entfernung war der Blick undeutbar.

„Dracosta!“        

„Da ist Dracosta!“ 

„Das Steuer!“, knirschte Ian.

Mehrere Soldaten kamen seinem Befehl nach, stemmten sich mit aller Macht an seiner statt in das Steuerrad, allen voran der erste Maat. Ian spreizte die Beine, auf der Suche nach einem unerschütterlichen Stand, und brachte seine Muskete in Anschlag. Er zitterte nicht. Der Lauf richtete sich ruhig auf die erhoben stehende Gestalt. Aber es war ihm nicht vergönnt zu treffen.

Die ‘Seagull’ schlingerte ein letztes und heftiges Mal, als Ian den Abzug durchzog. Die Kugel bohrte sich nutzlos in das Holz der ‘Crying Nancy’ und ihn warf es auf den Rücken. Die Schiffe passierten sich, der Moment war vorbei. Was Ian blieb, waren der Eindruck grüner Augen und aufblitzender weißer Zähne. Seine fehlgegangene Attacke endete mit dem fröhlichen Winken eines federbesetzten Hutes.

Obwohl die ‘Seagull’ nur noch vermochte, schwer gebeutelt durch das Wasser zu schleichen, während der Hauptmast gebrochen ins Wasser ragte, nahm keines der Piratenschiffe die Verfolgung auf. Es löste sich kein einziger Schuss mehr in die Richtung des angeschlagenen Schiffes. Anscheinend waren sie es nicht wert, weiterreichende Beachtung zu finden. 

„Der General?“ Ian erhob sich mit knirschenden Zähnen und riss das Fernrohr an sich, bevor sein Blick zwanghaft über die Wasseroberfläche streifte. Das Flaggschiff und mehrere Kreuzer hatten das Chaos genutzt und die Piratenfront passiert.

Der Verzweiflungsangriff hatte ausgereicht, um genug Unruhe in die gegnerischen Reihen zu bringen, um einen koordinierten Angriff der eigenen Streitkräfte zuzulassen. Aber war das Flaggschiff schon außer Reichweite, so waren es bei Leibe noch nicht alle englischen Kreuzer. Eine weitere gegnerische Salve löste sich. Die Kugeln erhoben sich in die Luft, regelrecht schwerelos, kurz bevor sie den höchsten Punkt ihrer Flugbahn überschritten und sich in gemächlicher Anmut senkten. Die
‚Pride of Glory‘ fiel unter dem Hagel. Und somit sollte am Ende auch das Flaggschiff fallen, denn statt dem Verhängnis den Rücken zu kehren, dem es gerade so hatte entkommen können, drehte das Flaggschiff ab. Ob Rache oder Beistand für das getroffene Schwesterschiff das auslösende Motiv war, spielte schlussendlich keine Rolle. Entsetztes Schweigen breitete sich auf der ‘Seagull’ aus.

Mit einem Schlag wurde ihre eigene die Wahnsinnstat und das Opfer der ‚Sister Ann‘… wertlos.

„Sir, der Sohn des Generals war auf der ‚Pride of Glory‘.“ Die Stimme des ersten Maats klang ermattet.

Das englische Flaggschiff erreichte den untergehenden Kreuzer nie. Schon sanken die ersten Masten in sich zusammen. Vor ihren grauenerfüllten Augen sahen sie das Flaggschiff ihr Ende umarmen.

„Können wir wenden?“, fragte Ian tonlos. Er wusste selbst, das war unmöglich.

„Wir haben schwere Schäden. Unsere Manövrierfähigkeit geht gegen null“, antwortete der erste Maat.

„Und keine Waffen.“ Ian presste die Kiefer zusammen. Es blieb ihnen nichts, als dem Untergang des Flaggschiffes aus der Ferne beizuwohnen, während sich die ‘Seagull’ langsam voranschleppte. Aus der gesamten 10ten Flotte verblieben nur vier schwerbeschädigte Schiffe, die, nach einem halben Tag des Driftens, von freundlichen Truppen in ihren Hafen zurückgeleitet wurden.

 

Kapitel 2

>>Was hat das mit der Geschichte zu tun, mögt ihr euch fragen? Wo sind die Idioten? Nun, vielleicht befriedigt es euch zu hören, dass die nächsten Tage Grün zu meiner verhasstesten Farbe wurde. Grün war der Untergang der 10ten Flotte. Grün die Augen dieses Piraten und nicht weniger grün die Augen des Richters, der dem Kriegsgericht vorsaß, das sich den Fall vornahm. Hätten wir eingreifen können? Den Kampf wenden? Wessen Verantwortung unterlagen die Entscheidungen? Wie war der Hergang? Stimmt es, dass sie die ‘Crying Nancy’ OHNE WAFFEN gerammt haben? Würden sie das wiederholen? Am Ende wurde das Verfahren geschlossen. Gerüchte über Verrat aus den eigenen Reihen stießen bei den Ranghöheren auf taube Ohren. So was hat es nicht gegeben und würde es auch nie geben. Es ist nicht meine Aufgabe, über diesen Stoismus zu urteilen. Eine Niederlage im Kampf, keine Niederlage im Krieg. Der General hatte überlebt. Zusammen mit einem Großteil seiner Mannschaft war er in Inselnähe aufgegriffen worden, von seinem Sohn fehlte jede Spur. Aber zumindest Letzteres war, im militärischen Sinne, nicht von Interesse. Mir brachte meine Tat wenig Ruhm, auch wenn die Mannschaft geschlossen hinter mir stand. Eine missglückte Strategie ist gleichbedeutend mit Versagen. Nicht zuletzt hätte meine ‚leichtsinnige und unnötige’ Entscheidung zur schweren Beschädigung eines Schiffes und zu Verlusten teurer Bewaffnung geführt. Es bescherte mir eine Verwarnung wegen Verschwendung militärischen Eigentums und eine vorläufige Abkommandierung zur fünften Flotte: Schiffsbegleitung und Schutzdienst. Die ‘Seagull’ verbrachte ihren schwer bezahlten Urlaub in der Werft und ich den meinen im Hafenviertel. Grün schien mich in diesen Tagen wirklich zu verfolgen. So auch an jenem Abend, in Form der Augen eines jungen Offiziers, der sich mir unter dem Namen Jamie O’Nellie vorstellte.<< 

 

Hafenviertel haben so eine gewisse Angewohnheit, sich in gewissen Eigenarten zu gleichen, wie ein Ei dem anderen, unabhängig an welchem Fleck der Küste sie liegen mochten. Dock an Dock und Kneipe an Kneipe und über allem der Geruch nach Salz und ranzigem Fisch. In den verdreckten Straßen besoffene Matrosen und vor nicht wenigen Türen freizügige Damen, die wussten, wie man den Männern so richtig ihren Sold aus den Taschen zog. Manche Ratte lebte hier besser als der ahnungslose Besucher.

Ian ließ sich in einer dieser besagten Kneipen an der Theke nieder. Seine Uniform und sein Waffenrock bescherten ihm hier nicht mal einen zweiten Blick. Die verqualmte Kneipe lag direkt neben den Militärwerften. Es wäre hier aufsehenerregender einen Nicht-Soldaten zu sehen. 

„Einen doppelten“, verlangte er durch den enormen Lärm und machte dazu die entsprechende Geste, bevor er beide Arme auf der Holzplatte ablegte. Das Glas rutschte in seine Hände und er hob zum Dank zwei Finger, bevor er das Glas in einem Zug leerte. Ein Kapitän ohne Schiff. Das war wohl das Lachhafteste, das er sich vorstellen konnte. Wie eine Muskete ohne Kugel oder eine Scheide ohne Säbel. Bis die ‘Seagull’ die Werft durchlaufen hätte, war er ‚beurlaubt‘. Leider war er kein Mensch, der groß in Freizeit aufzugehen wusste. Ian gab dem Bartender einen erneuten Wink und nahm ein weiteres Glas in Empfang.

„Dasselbe“, schloss sich eine junge Stimme neben seinem Ohr an. Sie gehörte zu einem nicht weniger jungen Mann in einer Uniform. Ians nicht ganz unähnlich, allerdings rangniedriger. Er schätzte ihn auf vielleicht 18 Jahre. Braune, grob gewellte Haare glänzten in dem diffusen Licht der Lampen und natürlich… grüne Augen. Natürlich, was sonst.

Ein gut aussehender, junger Mann wohlgemerkt. Nicht dass das eine Seltenheit war. Trotzdem erinnerte Ian die Art, wie sich die Haare dieses Gegenübers keck nach außen bogen, nur daran, wie wenig Gerade seine letzten Tage verlaufen waren. Da wandte er sich lieber wieder, seinem mittlerweile leeren, Glas zu. Allerdings wurde ihm schnell bewusst, dass er um ein Gespräch nicht herumkommen würde.

„Bringen sie gleich eine ganze Flasche, das geht auf mich“, mischte sich der junge Mann ein. 

„Danke.“ Ian zog sich eine Zigarette aus der Tasche und entzündete sie an der nächsten Glut. Im Dienst rauchte und trank er nie. Ein pflichtbewusster Offizier benebelte nicht seinen Geist und das erwartete er auch von seiner Mannschaft. Aber heute Abend war ihm einfach danach.

„Es ist mir eine Ehre, Kapitän McLane.“ Der junge Offizier salutierte vor Ian, bevor er sich locker an die Theke lehnte. „Ich muss sagen, seit diesem Kampf wollte ich mit ihnen sprechen, aber in diesem hin und her…“ Er wedelte mit der Hand und lächelte. „Dieser Angriff war der reine Wahnsinn. Auf die Idee zu kommen, die Kanonen zu versenken, um an Geschwindigkeit zu gewinnen… damit hätte niemand gerechnet. Es ist eine Tragödie, dass es so Enden musste.“

„Sie wissen erstaunlich viel“, bemerkte Ian ruhig und schenkte sich sein Glas nach.

„Entschuldigung, Sir!“ Er wirkte peinlich berührt, aber unglaublich selbstsicher. „Mein Name ist Jamie O’Nellie. Ich war auf der ‘Conquerdor’.“

„Die ‘Conquerdor’?“, wiederholte Ian sich entspannend. Das erklärte einiges. Es war eines der wenigen Schiff, das zusammen mit der ‘Seagull’ den Heimathafen erreicht hatte. Ian blies den Rauch aus.

„Ire?“, fragte er.

„Ja, Sir“, kam die begeisterte Antwort. Damit war auch der unüberhörbare Akzent in Jamies Englisch geklärt. Ein Graus für jedes gehobene englische Ohr.

„Und ich muss sagen, sie halten ihren Alkohol.“ Jamie schaute beeindruckt auf die Gläser vor Ians Unterarmen und leerte sein eigenes Glas. Zwar war Ian gut im Rennen, doch er holte rasend schnell auf.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ein so junger Kapitän ein eigenes Schiff befehligt.“

„Alter hat nichts mit Leistung zu tun.“ Ian zog an der Zigarette und drückte sie dann in einem seiner überflüssig gewordenen Gläser aus. „Außerdem, O’Nellie, sie sind wahrscheinlich selber alt genug ein Schiff zu steuern“, sagte er. Wohl mehr aus dem Versuch heraus höflich zu sein, denn sein Trinkgefährte wirkte noch sehr unbescholten. 

„Nicht doch“, lachte Jamie und hob beide Hände. „Mit 24 ein eigenes Schiff? Wer hätte schon von so was gehört?!“

Ian lachte in sein Glas. „24?“ Damit lagen fünf Jahre zwischen ihnen. Soviel zu seiner eigenen Jugend. „Und sie bezeichnen mich als jung?“

„Sie sind…?“

„29.“

Jamie musterte Ian mit einem Ausdruck echter Überraschung, strahlte dann aber von einem Mundwinkel zum Nächsten.

„Das ist immer noch jung.“

„Sehr großzügig.“ Ian lächelte und Jamie schien die Luft anzuhalten.

„Haben sie ihn gesehen?“, platzte es plötzlich aus Jamie hervor.

„Wen?“

„Dracosta, Wayne Dracosta! Sie waren doch hautnah an der ‘Crying Nancy’.“

Er beobachtete Ian aufmerksam aus den Augenwinkeln, während er sein Glas leerte.

Ian drehte die Kappe der Flasche zwischen den Fingern. Grüne Augen, aufblitzende Zähne, ein brauner Überwurf. Das war nichts, mit dem man prahlen konnte. Am Ende war er sich nicht mal sicher, was er gesehen hatte.

„Nichts.“

Jamie senkte die Augenlider. „Aber sie haben auf ihn geschossen. Haben sie gar nichts gesehen?“ Von einem Moment auf den anderen breitete er beide Arme aus. „Er soll so groß sein! Und -“

„Ist an mehreren Orten gleichzeitig, durchkämmt die Meere seit mindestens 100 Jahren, der Schwarm aller Frauen und sein Schiff ist unsinkbar?“, beendete Ian ironisch den Satz. „Das ist dummes Gerede.“

„Glück ist auch Können“, lachte Jamie.

„Ohne Zweifel“, stimmte Ian zu. „Aber Können ist treuer als Glück.“

„Auch wieder wahr.“ Jamie klopfte Ian auf die Schulter. Alkohol verbrüderte offensichtlich, auch wenn Ian derjenige war, der mehr unter den Wirkungen zu leiden hatte. Aus einer Flasche wurden schnell zwei. Und aus einer Stunde ein ganzer Abend…

Es war Jamie, der Ian durch den Hinterhof zu den Zimmern der Gaststätte führte. Nicht teuer, aber wenigstens sauber. Er hinterließ die leeren Flaschen und einen ergebenen Bartender, der eine ganze Pfütze des Hochprozentigen vom Boden aufwischen musste.

„Langsam…“ Jamie ließ Ian auf dem Bett ab. Genau genommen wirkte er nicht mal angeheitert, als hätte die kühle Nachtluft ihn wieder vollkommen wiederhergestellt.

Jamie lockerte seinen Kragen mit einem Finger, bevor er anfing, seinen Waffenrock aufzuknöpfen. „Da bekommt man ja keine Luft mehr“, murmelte er und füllte aus einem Krug Wasser in eine Blechtasse, wobei er Ian den Rücken zukehrte. 

„Ian… Ich darf sie doch Ian nennen, nicht wahr?“, und plauderte im munteren Ton weiter, ohne auf Ians Zustimmung zu warten. Dieser sah sich sowieso nur zu einem schwachen Wink veranlasst. Der Alkohol hatte ihn völlig in seinen Krallen. Es fühlte sich für ihn sogar an, als läge er in seiner eigenen schwankenden Koje. Nur warum war dann noch jemand in seinem Zimmer? Jamie wandte sich nicht um.

„Schiffsbegleitung, richtig? Ich frage mich…“

„Was?“ Ian strich sich fahrig über die Augen. In ihm keimte der absurde Gedanke auf, Halluzinationen zu haben. 

„Nichts… was für eine Verschwendung. Ein paar Adlige, vor Unheil beschützen zu müssen. Wenn es ein Goldtransport der Krone wäre, sähe die Sache anders aus“, lächelnd trat Jamie an das Bett. „Hier.“

Ian starrte verständnislos auf den Becher. Für eine Sekunde wusste er nicht, was er damit anfangen sollte. Er schloss eine Hand um das kühle Metall, brauchte aber seine zweite Hand, um den Becher nicht gleich Richtung Boden zu schicken. Auch so landete mehr der Flüssigkeit auf seiner Uniform, als in seinem Mund. Das Wasser schmeckte… schal. Aber seine Zunge war schwer und es war auf jeden Fall besser, als dieser flaumige Geschmack, der sich in den letzten Minuten in seinem Mund breitgemacht hatte.

Das Wasser floss kalt seine Kehle hinab. Jamie blieb während der ganzen Zeit ruhig neben dem Bett stehen und folgte jeder Bewegung mit wachem Blick. Ian ruhte seinen Kopf auf das weiche Kissen. Seine Augenlider wurden mit jeder Sekunde schwerer, so schwer wie seine Zunge, so schwer wie seine Glieder. Es kam so plötzlich, dass es ihn trotz Gegenwehr regelrecht außer Gefecht setzte, während ihm der Becher aus den lockeren Fingern rutschte und von Jamie aufgefangen wurde, der die Tasse auf einem kleinen Tischchen abstellte, ohne seinen Blick von Ian abzuwenden.

Er näherte sich Ian und beugte sich leicht über ihn, bevor er sich aufrichtete, über Ian stieg und sich über dessen Oberschenkel kniete, um Knopf für Knopf Ians Waffenrock zu öffnen. Ian nahm das Geschehen nur als dumpfes Zupfen und Ziehen war. Die Enge des hochgeschlossenen Kragens um seinen Hals verschwand, aber es waren nicht seine eigenen Hände, die sich langsam vorarbeiteten. Jamie zog die schweren Stoffe der Uniform auseinander, bis Ians gesamter Oberkörper seinen Blicken schutzlos offenbart war. Die trügerische Kälte auf der Haut schaffte es in Ians Bewusstsein. Er sah Jamie, wie er ihn mit einem Ausdruck anstarrte, den er am ganzen Abend nicht mal im Ansatz an ihm wahrgenommen hatte.

Unmissverständlich erregt und mit einer Intensität, die nicht zu dem sorglosen Gesicht passen wollten. Als sich die fremden Hände anschickten seine Hose zu öffnen, packte er Jamie an den Handgelenken und riss den vor Schreck versteinerten jungen Mann auf das Bett, um sich in der gleichen Bewegung auf ihn zu rollen. Es fiel Ian so unglaublich schwer, sich zu bewegen. Ihm war schwindelig und seine Muskeln weigerten sich, den Befehlen seines Verstandes zu folgen. Ian atmete schwer vor Anstrengung und Jamie schaute ihn in einer Art ungläubigen Erstaunens an. „Du… magst das?“

Als sich Ians Hände unter seine Uniform schoben, wurde aus seiner überraschten Frage ein gefesseltes Stöhnen. Ian packte Jamie, ohne wirklich Kontrolle über seine Handlung zu haben. Jamies Erregung wurde größer und Ians Bewegungen im gleichen Maße matter, bis sein Kopf kraftlos in Jamies Arme sackte.  

„Wenn ich das gewusst hätte…“, war das Letzte, was Ian hörte. Bildete er es sich nur ein, war der Akzent plötzlich verschwunden? Ians Gedanken verwirrten sich und er verfiel in einen traumlosen Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sich in einem Zimmer, von dem er nicht wusste, wie er dahingekommen war, alleine, unbekleidet und mit einem Brummschädel, der sich gewaschen hatte.

Seine Uniform lag ordentlich über die Lehne eines Stuhls gefaltet und die einzelnen Bilder, die in sein Bewusstsein sprangen, ergaben keinen Sinn. Hatte er mit diesem Jamie geschlafen? Er konnte sich nicht erinnern, sich halb entkleidet zu haben. Seine Erinnerung war eine diffuse Ansammlung von Bildern, die genauso einem Traum hätten entspringen können. Aber an eines erinnerte er sich: Er hatte sich auf Jamie gerollt, mit mehr als fragwürdigen Absichten… und war eingeschlafen… auf ihm! Gott, jetzt wusste er, warum er Zecherei so verabscheute. Er würde sich entschuldigen müssen, was auch immer passiert war. Ein derart unzüchtiges Verhalten war inakzeptabel, egal wie hart ihm die letzten Tage des nutzlosen Wartens zugesetzt haben mochten. Aber Jamie war nicht mehr hier und der Raum leer.

Wie sich jedoch herausstellen sollte, gab es keinen Jamie O’Nellie auf der Besatzungsliste der ‘Conquerdor’, und so blieb Ian mit einer berechtigten Verwirrung und, nicht zuletzt, mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zurück.                        

Kapitel 3

>>Hatten sie jemals etwas, das sie mehr als ihr Leben wollten? Mehr als jeden Schatz, mehr als die Luft um sie herum? Nicht? Ich schon. Aber ich greife voraus, nicht wahr? Ich erzähle ihnen etwas anderes. Engländer sind dumm! Ach bitte, schauen sie nicht so entsetzt, es ist die Wahrheit! Sagen sie ihnen: Schau nach oben. Sie schauen nach oben. Sagen sie ihnen: Schau nach links. Sie schauen… nach rechts natürlich! Was dachten sie? Ich bin auf englischem Boden geboren, ich weiß, von was ich rede! Für Ehre und Königin! Die meisten von denen haben ihre Königin noch nicht einmal gesehen, springen aber in ihrem Namen jauchzend von jeder Klippe. Nichts für ungut, für Königinnen macht man schon einiges. Aber für was unterhält sich eine Virgin Queen wohl ein ganzes Heer stattlicher Männer. Werden sie etwa rot? So was, Schande auf ihre galoppierende Fantasie. Nun, Königinnen sind Frauen, ohne Zweifel. Aber ich verrate ihnen etwas: Frauen beherrschen die verworrenste Art von Unehrlichkeit. Sie sagen das eine und wollen doch oft das andere. Das gilt auch für Königinnen. Besonders für Königinnen. Ich liebe Frauen. Sie sind weich, unkompliziert. Das Vergnügen, das man in ihrem Schoß findet, ist Anreiz genug, den Verstand im wahrsten Sinne des Wortes in der Hose regieren zu lassen. Aber es war keine Frau, die meine Aufmerksamkeit fesselte. Es waren zwei stolze, blaue Augen und eine Furchtlosigkeit, die ihres gleichen unter den meinen sucht. Am Anfang war es Neugier, dachte ich. Trügerisch, sage ich ihnen. Manchmal verkennt man sich selber. Warum sollte man aus Neugier solche Mühen eingehen? Andererseits, warum nicht? Dafür ist das Leben da! Sie kennen mich allerdings schlecht, wenn sie denken, dass ich so halbherzig durchs Leben gehe. Es gab einen Moment, nur eine Sekunde, da schwor ich mir: Bei meinem Namen, meinen Vorfahren und allem, was mir heilig ist, wenn ich hier versagen würde, würde ich aufhören zu atmen! Daran hat sich bis heute nichts geändert. Also vergessen sie nicht ein gutes Wort für mich einzulegen, wenn sie können. Und denken sie daran, gehen sie mir mit gutem Beispiel voran: Immer schön weiter atmen.<<

 

Der Stapellauf der reparierten ‘Seagull’ wurde auf einen Dienstag gelegt. Ian füllte die Tage bis dahin mit dem Papierkram, der sich so anzusammeln pflegte. Er widmete sich dieser langweiligen Aufgabe mit größter Konzentration. Nach den vielen Tagen des erzwungenen Nichtstuns war es für ihn eine willkommene Abwechslung, die er mit vollster Gewissenhaftigkeit bedachte. In das Hafenviertel setzte er in diesen Tagen keinen Fuß mehr. Für ihn war die Sache abgehakt und erledigt. Lügner verachtete er nicht weniger als Verräter. Es lag einfach in seiner Natur, ehrliche, klar erkennbare Linien durch sein Leben zu ziehen und er erwartete nicht weniger von seinem Umfeld.

Ohne diesen unflexiblen Kern hätte er es wohl kaum sehr weit in der Marine gebracht. Das hieß nicht, dass ein Kapitän einen unerreichbaren Rang darstellte, nur dass er ihn früher erreicht hatte, als manch anderer. Mehr wollte er auch nicht. Sein Ehrgeiz gierte nicht nach Macht. Und wenn von ihm verlangt wurde, die Vergnügungsschiffe des Adels zu eskortieren, war es genau das, was er tun würde.

Ian unterschrieb gerade mehrere Dokumente mit seinem Namen, als ihm ein weiteres Blatt auf den Tisch gelegt wurde.

„Sir, melde mich zum Dienst!“ Da war er wieder, dieser unverkennbare irische Akzent. Das Klacken, als die Stiefel zum Salut zusammentrafen, vermischte sich mit dem weniger eleganten Zerknicken von Ians Feder, als dieser unbewusst zu viel Kraft verwendete. Mal wieder Verschwendung militärischen Eigentums, ohne Zweifel. In dieser Situation allerdings sein geringstes Ärgernis.

„O’Nellie, ich kann mich nicht erinnern, einen Verstärkungsbescheid abgeschickt zu haben.“

„Sir, ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um auf dieses Schiff versetzt zu werden!“ Jamie stand stramm.

„Von der Concherdor?“, fragte Ian jedes Wort zwischen seinen Zähnen zerbeißend. Er stand ungehalten auf. Sein Blick war kalt. „Ich rede nicht um den heißen Brei. Die ‘Conquerdor’ hatte keinen Jamie O’Nellie und das in ihrer ganzen, fünfjährigen Geschichte. Wenn sie sich für ein Geisterschiff bewerben wollen, tun sie das woanders!“

Ian ließ sich wieder auf den Stuhl nieder und zog eine zweite Feder hervor, die er akribisch zu spitzen begann, bevor er sich weiter seinen Dokumenten widmete. Hätte Ian die Muße gehabt in diesem Moment aufzuschauen, hätte sich ihm wohl ein seltsames Schauspiel geboten. Es sah fast so aus, als lächelte sein Gegenüber, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

„Sir?“

„Was denn noch?“, fragte er verärgert.

„Sir, ich entschuldige mich aufrichtig für diese kleine Lüge. Ich bin eben nur vom niederen Rang.“

Ian hielt im Schreiben inne und schaute genervt auf.

„Und mein eigentlicher Posten lag auf dem Transporter ‚Merry Bell‘“, vollendete der junge Mann den Satz, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Es war mein Wunsch mit ihnen in Kontakt zu treten. Ohne diese Notlüge hätten sie sich nicht so offen mit mir unterhalten wollen.“ Er senkte seinen Kopf.

„Ich entschuldige mich noch mal in aller Form bei ihnen.“

Kein Wort über den Abend, kein Zögern. Ian war definitiv perplex und wieder eine Spur überzeugter, seine Finger vom Alkohol zu halten. Waren das alles nur Hirngespinste gewesen? Ein unangenehmer Gedanke.

„Appell ist vor dem Stapellauf, seien sie pünktlich.“ Sein Blick flog über das Versetzungsformular und dessem offiziellen Siegel. „Und schicken sie meinen ersten Maat vorbei, wenn sie dabei sind. Sie dürfen abtreten“

„Verstanden, Sir!“ Jamie salutierte und verließ den Raum. Im letzten Moment glaubte Ian, ein triumphierendes Blitzen in den grünen Augen gesehen zu haben. Auch Einbildung?

Seine dunklen Gedanken wurden von dem höflichen Klopfen des ersten Maats unterbrochen. Der blonde Mann blieb im gebührenden Abstand vor Ian stehen. Seit Ians ersten Führungsposten vor vier Jahren arbeitete er unter Ians Befehl. ‚Sehr fähig und fleißig‘, anders konnte Ian, den, um einige Jahre älteren, Mann nicht beschreiben. Es konnte wohl nur an einem Aktenfehler der Führung liegen, dass Carlton Smith noch kein eigenes Schiff anvertraut bekommen hatte.

„Kapitän?“

„Smith, ich brauche den kompletten Hintergrund dieses Neuzuganges.“ Nach den ganzen, vorausgegangen Geschehnissen, konnte er das nicht unbeachtet lassen.

„Neuzugang, Sir? Mir liegen keine Informationen über einen Neuzugang vor“, erwiderte Carlton Smith ruhig. Und er musste es ja wissen. Derartige Anträge liefen eigentlich über ihn.

„Was sie nicht sagen. Aber ich habe hier die Papiere.“ Ian klopfte ungeduldig auf den beglaubigten Zettel.

„Bitte“, forderte er den ersten Maat auf, sich selbst zu überzeugen, und schob das Blatt kurzerhand über den Tisch. Carlton lockerte seine steife Haltung und nahm den Zettel, nachdem er einen Schritt näher gekommen war. Die Verblüffung konnte man ihm von der Nasenspitze ablesen.

„Ich kümmere mich sofort darum, Sir“, versicherte der erste Maat, konzentriert die Siegel in Augenschein nehmend.

„Danke, tun sie das.“

Es dauerte nicht lange, bis Smith zurückkam und salutierend im Raum stehen blieb. Wie gesagt, ein fleißiger Mann. Für Ian war es trotzdem eine halbe Ewigkeit, in der er nicht mal ein einziges Dokument hatte fertigstellen können – geschweige denn mehr als einem weiteren Satz Aufmerksamkeit schenken! Seine Laune sank beträchtlich. Effizientes Arbeiten war eine Sache, aber sich von solchen Lappalien davon abbringen zu lassen, stieß ihm wirklich auf.

Seine Finger trafen ungeduldig auf die Tischplatte, während sein erster Maat durch einen ganzen Block an Akten blätterte.

„Also?“, fragte er ruhig und richtete seine blauen Augen auf den ersten Maat. 

„Ja, Sir. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Verteilungsstelle zu kontaktieren und Besatzungslisten anzufordern.“ Er wartete höflich, ob sein Kapitän diese Vorgehensweise gut hieß. Dass Ian ihm lediglich wies fortzufahren, nahm er nach jahrelanger Zusammenarbeit als Zustimmung.

„Die Papiere sind einwandfrei. Jamie O’Nellie war bis gestern ein Mitglied auf der ‚Merry Bell‘. Angeheuert wurde er vor drei Jahren, nach einem halbjährigen Training an den Waffen. Seine Zeugnisse lassen keine Unregelmäßigkeiten erkennen.“

Ian wirkte mit jeder verstreichenden Sekunde zunehmend unterkühlter. Ein Zeichen steigender Konzentration und nicht geringen Missfallens.

„Wenn sie selber nachsehen möchten, Sir“, bot Carlton höflich an, während er die Akte auf dem Schreibtisch ablegte, wo sie auch direkt einen Weg in Ians Finger fand. Während der Zeit, die Ian die Seiten studierte, herrschte unangenehmes Schweigen im Raum. Nur ab und an wurde die Stille durch das leise Rascheln unterbrochen, wenn Ian eine Seite umschlug. Alter stimmte, Angaben zum Äußeren stimmten… anscheinend schien er sich mit diesem Mannschaftszuwachs abfinden zu müssen. Verärgert ließ Ian die Akte auf die Tischplatte fallen. 

„Sir, was die plötzliche Versetzung angeht. Die Verteilungsstelle hat mir die Bestätigung durchgegeben, dass die Versetzung den Vorschriften entsprechend durchgeführt wurde.“ Er nickte leicht. „Kapitän, darf ich frei sprechen?“

„Natürlich.“ Ian richtete sich auf und verschränkte die Finger ineinander.

„Es ist meine Aufgabe, die Besatzung einzuteilen, aber ich habe keine unbesetzten Stellen gemeldet“, sagte Carlton fest.

„Ich weiß, dass sie gute Arbeit leisten. Ich habe es ihnen nicht als Versäumnis angerechnet“, antwortete Ian ruhig.

„Danke, Sir. Es ist mir nur unangenehm, dass diese Versetzung meinem Auge entgangen ist.“ Der blonde Mann nahm zerknirscht seine Mütze ab. „Um ehrlich zu sein, wir fahren bereits mit Vollbesatzung, aber ich werde versuchen dem Neuen eine Arbeit zuzuteilen.“

„Dafür wäre ich ihnen dankbar“, bekannte Ian. Bei seiner eigenen Laune wäre ‚der Neue‘ wohl in der Küche gelandet.

Der erste Maat lächelte. „Sie brauchen sich nicht zu bedanken, Sir. Es ist meine Aufgabe.“

Ian hob amüsiert eine Braue. „Das waren auch ihre ersten Worte, als unsere Wege sich das erste Mal kreuzten.“

„Daran erinnern sie sich noch, Sir? Ich fühle mich geehrt“, lachte Carlton.

Damals hatte er Ian daran gehindert die ‘Seagull’ zu betreten, weil er dessen Name nicht auf der Besatzungsliste gefunden hatte, und das, obwohl Ian als sein neuer Kapitän eingesetzt worden war. ‚Das ist meine Aufgabe‘ war die einzige Erklärung, zu der er sich damals, dem jüngeren Gegenüber hatte bewegen lassen.

„Fangen sie jetzt bloß nicht an Rot zu werden“, belustigt fuhr sich Ian durch die Haare und lehnte sich entspannt in seinen Stuhl.

„Sir!“ Empört setzte Carlton seine Mütze wieder auf. Wohl vor allem, um zu verbergen, dass eine gewisse Farbe in seinem Gesicht nicht zu verleugnen war.

„Schon gut, widmen sie sich ihren Aufgaben“, winkte Ian und senkte seinen Blick wieder auf die Dokumente, die noch seiner Aufmerksamkeit harrten.

„Aye, Sir!“ Carlton salutierte und verließ den Raum. Ian blieb zurück. Für ihn war die Sache hiermit erledigt.  

Kapitel 4

>>Soll ich ihnen beschreiben, wie es sich anfühlte, wieder das Deck unter meinen Füßen zu spüren? Zugegeben, ein wahrscheinlich unvorstellbares Unding für sie, das kann ich mir lebhaft ausmalen. Aber mein Schiff ist meine Art, meiner Pflicht treu zu bleiben. Denken sie nicht, ich würde es nicht hoch schätzen, nur weil ich es bei manchem Kampf so willentlich aufs Spiel gesetzt habe. Wenn es denn so mein Schicksal wäre, würde ich mit ihren Planken untergehen und hätte nichts zu bereuen. Das sage ich ihnen heute wie damals. Nur die Gründe haben sich geändert. Wenn ich denn nun heute ein Idiot bin, verraten sie mir, was war ich wohl damals?<<

 

Der Stapellauf lief reibungslos über die Bühne. Die ‘Seagull’ wartete, überholt und mit neuen Waffen bestückt, auf ihre Mannschaft. Mann für Mann stand in einer langen Reihe am Dock, allein der erste Maat hatte sich, aufgrund seines Ranges, etwas weiter vorne positioniert. Ian schritt die Mannschaft ab. Alle Blicke waren vorschriftsgemäß starr in die Ferne gerichtet. Aus Jamie war ein unauffälliges Mitglied aus Ians Besatzung geworden.

Und auch die nächsten Tage hatte Ian keinen Grund, Jamie mehr als einen flüchtigen Gedanken zu widmen, während die ‘Seagull’ neben wechselnden, aber stets prunkvollen, Schiffen des Hochadels das Wasser durchschnitt.

Die Arbeit erwies sich als müßig und wenig aufsehenerregend. Die erste Abwechslung bot das tiefliegende, bauchige Vergnügungsschiff eines näselnden Grafen, das drohte, sich zwischen Unterwasserfelsen aufzureiben. Ian drängte das Schiff mit der Breitseite der ‘Seagull’ vom Kurs, als sich der Graf, trotz durchgehend übermittelten Warnungen, nicht bereit sah einzuschwenken. Dementsprechend groß war der Tumult im Hafen. Der Stecken von einem Graf baute sich vor Ian auf, reichte ihm aber auch so nur bis zur Nase, was ihn natürlich nicht hinderte, Ian anzufahren.

„Meine Aufgabe ist es die Damen und Herren zu beschützen. Auch vor sich selber.“ Ian verbeugte sich mit kühlen, blauen Augen vor dem aufgebrachten Grafen, der keine Sekunde aufhörte, über die Unfähigkeit des Militärs zu wettern. Und das schaffte er erstaunlich schrill, während er sich gleichzeitig mit einem gepuderten und parfümierten Taschentuch vor der Nase wedelte, als hätte Ian eine ansteckende Krankheit, mit entsprechend unangenehmer Geruchsentwicklung.

„Ich werde mich beschweren! Beschweren, genau! Sie werden schon sehen!“ Seine Stimme überschlug sich. „Mein edles Schiff mit ihrer abgetakelten Britsche zu berühren!“

„Mein größtes Bedauern, wenn sie nicht mit meinen Diensten zufrieden waren.“ Ian verbeugte sich ein weiteres Mal. „Wenn sie mich entschuldigen würden. Ich habe noch Arbeit.“  

Was seiner Mannschaft ein Johlen und Jamie ein fröhliches Lachen entlockte, bescherte Ian über kurz oder lang eine weitere Rüge wegen ‚mangelnder Umsicht im Umgang mit Gästen‘.

Seine guten Absichten hinter der Respektlosigkeit wurden ihm aber nicht abgesprochen, so verbrachte die ‘Seagull’ auch weiterhin ihre Tage als Begleitschutz, und damit als manche Attraktion für verwöhnte Herren und Damen, die fächerwedelnd das verruchte Abenteuer ‚Militärschiff‘ mal in Anspruch nehmen wollten. Mehrmals am Tag setzten Beiboote an der ‘Seagull’ an, um diese Gruppenweise auf das Deck loszulassen. Es war müßig zu erwähnen, dass in diesen Stunden keine vernünftige Arbeit von der Mannschaft zu erwarten war.

Als Kapitän oblag es Ian, insbesondere die Damen herumzuführen. Eine Aufgabe, die er alsbald, und ohne jegliche Reue, abgab.

Sein erster Maat übernahm diesen Posten, bat aber bald um die Erlaubnis, diese Pflicht an einen Freiwilligen abgeben zu dürfen, da sie zu viel seiner Zeit und Nerven in Anspruch nehmen würde. Ian nickte nur fahrig und lehnte sich wieder über seine Seekarten.

Seine Gedanken lagen mehr bei Längen- und Breitengraden, als bei den Launen seiner ‚Gäste‘. Es störte ihn schon, seinen Zirkel ablegen zu müssen, um überhaupt diesen lästigen, gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Auch heute Abend musste er erneut übersetzen, um einer ‚Teestunde‘ beizuwohnen. Seine Ausgehuniform hing schon griffbereit in seiner Kajüte. Und die Stunde seines Aufbruchs rückte, zu Ians größtem Unwillen, rasend schnell näher…

Als er gerade dabei war, sein Hemd zu öffnen, platzte ein gut gelaunter Jamie in seine Kajüte. Und zwar mit einer ganzen Horde kichernder Damen im Schlepptau. Ian war so verblüfft, dass er mitten in der Bewegung erstarrte.

„Ich wollte schon immer mal sehen, wie ein Kapitän unter seiner Uniform aussieht“, flüsterte eine aufgeregt. Die anderen verbargen ihre Wangen unter ihren Fächern und taten so als würden sie züchtig zur Seite schauen.

„Nicht anders als jeder andere Mann, Ma'am“, antwortete Ian mit einem charmanten Lächeln. Der Blick, den er Jamie zuwarf, war allerdings alles andere als charmant.

„Meine Damen, habt ihr schon unsere Rettungsboote bewundert? Hier aus der Tür und immer der Nase nach. Es wird ihnen gefallen!“, beeilte sich Jamie einzuwerfen und schob alle zur Tür raus.

Im Nachhinein blieb es Ian ein Rätsel, wie es Jamie geschafft hatte, die Damen so schnell loszuwerden. Tatsache blieb, dass er gerade mal die Hose seiner Ausgehuniform geschlossen hatte, da klopfte es auch schon wieder an seiner Tür. Er erwartete nicht Jamie, dafür war die Zeitspanne einfach viel zu kurz geraten. Aber es war nicht sein erster Maat, der die Kajüte betrat. So konnte man sich täuschen.

„Was jetzt? Haben sie die Königin Mutter dabei, um sie meine Bettlaken bewundern zu lassen?“, fragte er eisig.

„Entschuldigung, Sir. Ich dachte sie wären…“

„…endlich ganz nackt?!“, vollendete Ian den Satz ungehalten.

„Ja… eh, nein! Ich meine… Verzeihung, Sir.“ Jamie verbeugte sich so tief, dass seine braunen Haare völlig sein Gesicht verbargen. „Ich hätte um Eintritt bitten sollen.“

„Vorschriften sind dafür da, eingehalten zu werden! Lernen sie, sich daran zu halten.“ Ian nahm seinen Waffenrock.

„Ich werde eine extra Schicht einlegen, um das wieder gut zu machen!“, versicherte Jamie mit dem ganzen Schwung seiner Stimme, während er durch seinen Haarschleier Ians Blick zu suchen schien.

„Tun sie, was sie nicht lassen können.“ Ian drehte ihm den Rücken zu. Er hatte jetzt andere Sorgen. Wenn sich das auf dem Adelsschiff herumsprach – mit all diesen Übertreibungen, die sich unweigerlich so einschlichen -, würde er demnächst offiziell ab geordert, sich in Gegenwart von Damen bedeckt zu halten, wenn er sie denn überhaupt noch eskortieren durfte. Derartiges Aufsehen war im Militär einfach nicht tolerierbar. Ian musste sich in aller Öffentlichkeit erklären und entschuldigen, bevor er sich noch eine Verwarnung einhandelte. Als Kapitän war er für das Geschehene verantwortlich, egal wie es zu dem Missgeschick gekommen sein mochte.

„Ich helfe ihnen, Sir!“, erklang der übereifrige irische Akzent an seinem Ohr. Jamie hob den Waffenrock, um Ian hineinzuhelfen.

„Ich habe sie schon entlassen, falls es ihnen entgangen sein sollte.“ Ian zog den schweren Stoff gerade.

„Sir, das bin ich ihnen schuldig“, antwortete dieser ruhig. Der Tonfall gefiel Ian überhaupt nicht. Das Schlimme war, es gab keinen greifbaren Grund, an dem er es hätte festnageln können. Außerdem stand Jamie so nah an ihm, dass er seinen warmen Atem im Nacken spüren konnte. Höchst unwohl drehte sich Ian um, fand aber nur einen nichtssagend lächelnden Jamie vor, der sofort begann die Knöpfe von Ians Waffenrock zu schließen, während dieser stocksteif stehen blieb. Als Jamies Hände auch noch der Breite nach über Ians Waffenrock strichen, verkrampfte sich ein Muskel schmerzhaft in seinem Rücken.

„Perfekt!“ Jamie machte einen Schritt zurück. „Die Damen werden sich nach ihnen verzehren, Sir“, versicherte er.  

„Dank ihnen.“ Verärgert befestigte Ian seinen Säbeln. Beinahe wäre er ihm durch die Finger gerutscht. Was ging nur hinter diesem jungen Gesicht vor?

„Entschuldigung, Sir“, beteuerte Jamie um ein Neues.

„Sie sind erstaunlich gut im Entschuldigen.“

„Eigentlich nicht, Sir“, kam die ernste Antwort.

„Wie auch immer, wollen sie hier Wurzeln schlagen?“ Ian verließ die Kajüte.

„Nein, Sir.“ Jamie folgte Ian in einem Abstand von mehreren Metern.

„Ist das Beiboot fertig und besetzt?“, fragte Ian, sein Anhängsel einfach ignorierend.

„Ja, Sir!“ Ein Soldat salutierte.

„Bleiben sie lange weg, Sir?“ Jamie lehnte sich über die Reling, als Ian zum Beiboot hinabstieg.

Ian blieb aufrecht im schwankenden Beiboot stehen und schirmte seine Augen ab. Er schien sich nicht um die unruhige Wasserlage des kleinen Bootes zu scheren. Man merkte ihm an, dass er schon viele Jahre auf dem Meer verbracht hatte. 

„Zu lange - zu meinem Leidwesen.“ Ian verschränkte die Arme und wappnete sich innerlich gegen mehrere Stunden seichter, unproduktiver Unterhaltung. „O’Nellie, wenden sie sich wegen ihrer Extraschicht an Smith.“

„Ich hatte gehofft, das hätten sie vergessen“, gestand Jamie mit einem aufblitzenden Lächeln.

„Wir brauchen immer freiwillige Kartoffelschäler. Geben sie ihr Bestes.“ Mit einem belustigten Nicken ließ Ian anrudern.

 

Bis Ian von seinen aufgezwungenen, gesellschaftlichen Pflichten befreit war, war es schon tiefe Nacht.

„Ablösung, Smith, sie können schlafen gehen“ Ian betrat das Deck der ‘Seagull’ und beendete die Schicht seines ersten Maats. „Irgendwelche Vorkommnisse?“, wollte er wissen.

„Keine Vorkommnisse, alles ruhig.“

„Gute Arbeit. Schlafen sie sich aus.“

Carlton nickte dankbar und tippte gegen den Schirm seiner Mütze. „Gute Nacht, Kapitän.“

Das Holz knirschte leise, als sich Carltons Schritte über die hölzernen Stufen der Treppe entfernten.

Ian nahm seine Mütze ab. Eine salzige Brise fuhr ihm durchs Haar. Die Lichter des Vergnügungsschiffes erhellten das Wasser, wie eine Traube aus Fackeln. Kleine Wellen schwappten gegen die ‘Seagull’, aber es war zugegeben erstaunlich ruhig. Für viele Minuten stand Ian nur unbeweglich im sanften Licht der Sterne.

„Zum Glück ist das vorbei“, sprach er zu sich selbst.

Sich entspannend, lehnte er sich an die Reling. Jede Nachtwache war ihm lieber, als dieses sinnlose Gerede mit mehr oder weniger ‚gesitteten‘ Gästen. Aber sein Ehrgefühl hatte zumindest geboten, dass er sich bei den Damen für den Anblick in seiner Kajüte entschuldigte. Da man nur Teile seines Oberkörpers entblößt gesehen hatte, wenn überhaupt, hatte sich die Sache schnell im Sand verlaufen. Danach war es nahtlos wieder in Geplauder übergegangen, sinnlos, wenig fesselnd und sehr langwierig.

Er hatte schon befürchtet, die Mundwinkel könnten ihm in einem Krampf erstarren. Ian massierte über seine Wangen.

„So schlimm?“, fragte ihn Jamie, akzentfrei. Jamie löste sich aus dem Schatten bei der Treppe und kam mit einem kleinen Tablett auf Ian zu.

„O’Nellie, haben sie ihre irische Zunge bei den Kartoffeln gelassen oder wie soll ich das verstehen?“ Ian gefiel es nicht unbedingt, im Selbstgespräch ertappt worden zu sein, aber ändern ließ es sich auch nicht mehr.

„Nein, Sir. Ich kann auch ‚feines Englisch‘.“ Er zuckte mit den Schultern, was die Schüssel auf dem Tablett zum Scheppern brachte. „Es ist nur anstrengend“, bekannte er unübersehbar ausgelassen und kehrte dabei, wie zur Demonstration, in seinen Akzent zurück.

„Sir, ich dachte sie wollten vielleicht etwas zu essen.“ Jamie hielt ihm das Tablett entgegen „Wie ich gehört habe, sollen die Kaffeeportionen der feinen Gesellschaft nicht sehr groß ausfallen und sie haben eine lange Nacht vor sich.“

Ian drehte dem Wasser vollständig den Rücken zu. Für einen Moment war er versucht, schlichtweg abzulehnen. Andererseits war er ein von Grund auf praktischer Mensch und er hatte zweifelsohne eine lange Nacht vor sich. Eine richtige Mahlzeit konnte nicht schaden.

Ian nahm die dampfende Schüssel entgegen und setzte sich auf einen Stapel aufgerollter Taue.

„Haben sie ihre Extraschicht abgeleistet?“

„Ja, Sir“, bestätigte Jamie, seine Hände zeigend. „In der Küche.“ Er schien sehr glücklich zu sein, dass Ian das Essen angenommen hatte. Es ließ ihn auf seltsame Art jünger wirken.

„Gut.“ Ian nahm einen Löffel der deftigen Suppe. „Wenn schon nicht alles, so sollte man stets das Erledigen, was man sich selber vornimmt.“

„Da kann ich ihnen nur zustimmen, Sir“, nickte Jamie mit Augen, die das Sternenlicht reflektierten.

„Haben sie alles, wegen dem heutigen ‚Vorfall‘ klären können?“, fragte er, in einer betretenen Geste die Lider senkend.

Ian runzelte die Stirn. Seine Augen blieben fest auf Jamie gerichtet. „Es hat sich alles geklärt, aber ab jetzt sollten sie anständig anklopfen.“

Jamies Blick wanderte zur Seite. „Verstehe“, erwiderte er abwesend. Ians Augen wurden dunkler und Jamie schaute ertappt auf.

„Natürlich, Sir, natürlich… stets klopfen!“, beeilte er sich zu versichern.

„Was geht nur in ihren Kopf vor?“ Ian stellte die halb leere Schüssel verärgert zur Seite.

„Nichts.“ Jamie hob die Schüssel mit dem Löffel auf und stellte sie zurück auf das Tablett. „Aber ich liebe das Meer und die Art, wie das Wasser einen in den Schlaf wiegt. Ich könnte mein Leben auf dem Meer verbringen…“, lächelte er abwesend.

„Ich habe schon gehört, dass sie gut in den Takelagen sind“, bestätigte Ian, der Liebe zum Meer mit Liebe zur Schiffsarbeit gleichsetzte - was weniger abwegig war, als man meinen mochte.

„Ich habe keine Angst, Sir. Wenn sie das meinen.“ Jamies Blick schweifte in die Ferne. „Mein Vater war Fischer und hat mir alles beigebracht.“ Er strich sich durch die Haare, die danach nur noch mehr abstanden. „Aber sie sind selber sehr furchtlos, wenn ich mir so ansehe, was sie tun, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Das ist eben meine Art.“ Ian erhob sich wieder und hielt sein Gesicht in den Wind.

„Eine sehr eigenwillige Art.“ Jamie wandte seinen Blick nicht von Ian.

„Ohne Zweifel.“ Ian drehte sich wieder Jamie zu. Seine Haare wehten ihm von der Seite über die Augen. Er hätte wirklich einem Bild entspringen können. Es war seltsam, dass er nicht merkte, dass diese Unnahbarkeit ihn zeitweise atemberaubend wirken lassen konnte.

„Aber es war, nicht zuletzt, ihre Entscheidung auf diesem Schiff anzuheuern.“

„Das ist weil“, Jamie lauschte in das Meer, dann lächelte er und schloss die Augen, „mir einfach danach war unter ihnen zu dienen.“

„Wegen dem Abend in der Taverne?“, fragte Ian unverblümt.

Jamie wirkte kurz verwirrt, vielleicht sogar aus dem Gleichgewicht gebracht.

„Nein, da war schließlich nichts.“

„Und die Kleider?“, bohrte Ian nach. Er wollte das leidige Thema geklärt haben, wenn denn etwas der Klärung bedurfte. Es half nichts, wenn er es als erledigt betrachtete, es ihn aber trotzdem verfolgte - und wenn es nur in Form einer fleischlichen Person war.

„Ich habe sie entkleidet, nachdem sie eingeschlafen sind… Sir“ Jamie fühlte sich sichtlich unwohl.

„Und davor?“

„Wovon reden sie?“, antwortete Jamie sich wieder fangend. „Da war nichts. Sie sind eingeschlafen. Sollte etwas gewesen sein, Sir?“

„War denn etwas?“, drehte Ian den Spieß um.

„Nicht dass ich wüsste… Sir.“ Jamies Verwirrung wirkte echt.

„Ich habe sie nicht angerührt und sie mich nicht, kann ich daraus schließen? Also warum sind sie hier?“ Ian wurde zunehmend eisig. Wenn an der Sache etwas faul war, würde er es jetzt herausfinden. „Sie sehen nicht so aus, als hätten sie schon mal einen Mann gehabt“, fügte er in absoluter Gewissheit an.

„Warum…?“ Jamie wich zurück. 

„Diese Art zu versteinern ist unmissverständlich“, erklärte Ian ruhig, jeder Bewegung aufmerksam folgend. Jamie stieß an die Reling und drehte überrascht den Kopf, als hätte er das Hindernis nicht erwartet.

„Ich frage mich…“ Ian näherte sich Jamie.

„Sir?“

„Warum sich dein Atem beschleunigt, wenn ich mich dir nähere“

„Das…“

Ian blieb nur wenige Zentimeter vor Jamie stehen.

„Und warum sich deine Pupillen weiten.“

„Ich…“

„Warum…?“, fragte Ian leise. Vielleicht war er gerade dabei, etwas Dummes zu tun. Er erahnte nur, dass sich Jamies Hand ihm entgegenhob. Aber bevor er die erwartungsvoll geöffneten Lippen berühren konnte, durchschnitt ein peitschender Knall die Nachtluft. Ian fuhr sofort herum und blieb für den Bruchteil einer Sekunde stehen, während es hinter seiner Stirn zu arbeiten schien.

„Was ist da oben los?!“ Im Laufschritt verschwand er Richtung Hauptmast, von dem mehrere Seile frei im Wind pendelten. Die gesamte Halterung des Hauptsegels war auf die ‘Seagull’ gekracht.     

„Das darf doch nicht wahr sein, warum gerade jetzt?!“, fluchte Jamie mal wieder im schönsten Englisch und rannte eindeutig ungehalten hinter Ian her. 

„Was hat das zu bedeuten?!“, wiederholte Ian gerade alles andere als erfreut, als Jamie in Hörweite kam. Ein aus dem Schlaf gerissener Smith riss die Tür zu seiner Kabine auf und blieb bei dem Anblick, der sich ihm bot, überrumpelt stehen. Er blieb nicht der Einzige. Mehrere Soldaten verließen alarmiert ihre Kojen.

„Sir, das Hauptseil ist gerissen! Es scheint porös gewesen zu sein“, ertönte eine Stimme vom Ausguck.

„Das Schiff war doch erst in der Werft! Wie kann da überhaupt irgendwas porös sein?!“ Ian war regelrecht weiß vor Wut. Sie richtete sich allerdings gegen niemanden im Besonderem. Es war ein Ausdruck von Verständnislosigkeit und aufkeimendem Ärger.

„Kapitän, eindeutig porös. Die Enden sind fransig und brüchig.“

Ian kletterte selber die Takelage empor, um sich das in Augenschein zu nehmen. Er gewann schnell an Höhe und blieb mehrere Meter über dem Deck, unbeeindruckt von den schwankenden Bewegungen des Mastes, in den Seilen stehen. Das Trageseil war eindeutig porös. Und es war in guter Gesellschaft.

„Kapitän, da sind noch mehr!“                               

Ian kletterte nach links. Mindestens drei weitere Seile zeigten eine untypische, gräuliche Verfärbung. Spätestens morgen, wenn das Segel gehievt worden wäre, hätten sie nachgegeben.

„Weckt die Schlafenden!“, befahl Ian, die nötigen Entscheidungen in Windeseile treffend.

„Alle raus aus ihren Betten, wir müssen die Seile bis Morgen gewechselt haben!“

Ohne Hauptsegel waren sie schwer beeinträchtigt. Mit dem vor Anker liegenden Schiff neben ihnen mitzuhalten, oder es gar hinreichend zu beschützen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

„Smith! Schicken sie alle freien Hände hier hoch! Wir müssen alles gründlich in Augenschein nehmen!“

„Sofort, Sir!“, antwortete Smith und beeilte sich seinen Waffenrock überzuwerfen.

Ian begann bereits eigenhändig mit der Inspektion. Sein Resümee lautete, dass die Arbeit bis zum Morgen zu schaffen war. Und das wäre wohl auch so gewesen, wenn nicht ein Großteil seiner Besatzungsmitglieder, einer nach dem anderen, erst elendig blass geworden wäre, um dann ihr letztes Mahl wahlweise an Ort oder Stelle oder über die Reling wieder loszuwerden. Jamie war einer der Ersten, der seinen Mageninhalt der See übergab. Blass und grün versuchte er noch weiterzuarbeiten, hatte aber schon heftigst damit zu kämpfen, aufrecht stehen zu bleiben.

Selbst der erste Maat blieb nicht verschont, obwohl er einer derjenigen war, die bis zum Ende mit sich rangen. Ein Schiff voller speiender Marinesoldaten… wäre das nicht der absolut falscheste Zeitpunkt gewesen, hätte Ian vielleicht über diese Absurdität lachen können. De facto blieben ihm jetzt aber nur ein Bruchteil seiner ursprünglichen Besatzung, um die tragenden Seile seines Hauptsegels zu wechseln, und das innerhalb weniger Stunden!

„Sir, wir haben ein Fass mit verdorbenem Fleisch gefunden. Anscheinend war das Essen damit zubereitet worden“, meldete ein Offizier.

„Der Koch hat Schnupfen und scheint es nicht gemerkt zu haben.“

„Wo ist er?“, bellte Ian ungehalten.

„Da hinten.“ Der Offizier zeigte auf eine Gruppe Männer, die sich schwitzend und blass an die Reling klammerten.

„Und der Schiffsarzt?“

Die Hand zeigte in dieselbe Richtung.

Ian bedeckte seine Augen mit der Hand. Was er empfand, brauchte man nicht mal in Worte fassen, um es zu verstehen. „Zieht jeden im brauchbaren Zustand ab! Fragt den Arzt nach Medikamenten und bringt die mit leerem Magen zu ihren Betten!“

„Das gilt auch für dich“, sagte er ohne sich umzudrehen. Jamie klammerte sich hinter ihm an die Reling.

„Sir… ich habe… ihr Essen frisch gemacht… vom anderem…  nichts übrig…“ Ian drehte sich herum und betrachtete den gegen die Schwerkraft ankämpfenden Jamie. Er schwieg für ein paar Sekunden und schüttelte dann den Kopf.

„Bringt ihn zu einer Koje“, befahl er.

„Sir, es sind keine mehr frei.“ Die ‘Seagull’ war für Schichtbetrieb konzipiert. Bei Vollbesatzung teilten sich zwei Mann abwechselnd einen Schlafplatz. Es gab zwar Notbetten, aber nicht genug für einen derartigen Extremfall.

„Bringt ihn in meine Kabine“, entschied er ohne Zögern und wartete bis zwei der Männer Jamie in ihre Mitte genommen hatten, um ihn langsam abzuführen.

„So wie es aussieht, werde ich mein Bett lange nicht brauchen…“, murmelte er zu sich selber, während sein Blick den Hauptmast hoch schweifte. Es wurde eine lange Nacht. Für jeden. Ian arbeitete mit vier weiteren Mann bis zur Erschöpfung in den Takelagen. Doch auch wenn seine Hände am Ende blutig waren, sie schafften es nicht rechtzeitig. Der Morgen graute und noch immer war das Hauptsegel nicht einsetzbar.

„Schickt eine Nachricht ‚Hauptsegel untüchtig, bitten Weiterfahrt auf Mittag zu verlegen‘“, diktierte er, alle seine Kräfte zusammennehmend, um sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen.

„Wie lautet die Antwort?“

Für mehrere Minuten tat sich nichts, dann blitzten die Morsecodes vom anderen Schiff herüber.

„‘Bitte akzeptiert‘.“

„Sir!“ Ein von Kopf bis Fuß verdreckter Mann kam auf Ian zu.

Ian wandte müde seinen Kopf. „Was?“

„Einige der Kranken stehen auf und sind wieder einsatzbereit!“

„Wie bitte?“

„Einige der Kranken…“

Eine ungeduldige Geste Ians. „Das habe ich verstanden!“

Welche Fleischvergiftung dauerte nur ein paar Stunden?! Nun, er war kein Mediziner.

„Wie viele sind wieder wohlauf?“

„Fünf Mann, aber es werden mehr. Sie sind noch nicht voll gesundet, aber es scheint deutlich besser zu werden. Die Medikamente müssen angeschlagen haben, Sir.“

Medikamente! Wie hatte er das vergessen können? Er musste wirklich übermüdet sein.

„Kapitän, ich übernehme für sie.“ Der erste Maat stand etwas blass, aber ordentlich salutierend, vor ihm.

„Ich wechsele jeden aus, der über Nacht gearbeitet hat. Legen sie sich beruhigt schlafen.“

„Ich bleibe!“, beharrte Ian.

„Sir, mit Verlaub“ Carlton klang verärgert. Er war eindeutig besorgt. „Wir brauchen sie für wichtigere Entscheidungen! Der Rest ist nur Routine! Und sie sollten sich ihre Hände versorgen! Sie wissen genau…“

„…dass es ihre Aufgabe ist, mich aufs Blut zu reizen.“

„Unter Umständen.“

Ian strich sich über das Gesicht. Er wusste, dass er, wenn möglich, wenigstens eine Stunde schlafen sollte, solange die letzten notwendigen Handgriffe vorgenommen wurden.

„In Ordnung, übernehmen sie.“

„Danke, Sir.“ Der erste Maat verbeugte sich erleichtert.

Jetzt wo er seinem Körper gestattete, seine Spannung zu lösen, überfiel ihn die Erschöpfung gleich doppelt so heftig wie zuvor. Als Kapitän hatte man mit gutem Beispiel voranzugehen. Er war der Letzte, der Schwächlichkeit zur Schau tragen durfte, und daran hielt er sich auch, bis er den Schutz seiner Kajüte in Anspruch nehmen konnte. In dem Raum herrschte ein leicht säuerlicher Geruch und seine Koje war verwühlt, aber leer. Ian ließ sich auf seine Nachtstätte fallen. Er öffnete nicht mal seinen Waffenrock, der inzwischen verknittert und mit schmutzigen Streifen überzogen war.

Gott, er wollte nur schlafen.

Er schlug einen Arm über seine Augen. Sein Versuch nicht sofort in einen totenähnlichen Schlaf zu sacken, scheiterte bereits nach wenigen Sekunden. Die Stimmen auf dem Deck, das Knarzen und Ächzen, als die schweren Seile über einen Flaschenzug den Mast hochgezogen wurden. Das alles nahm er nicht mehr wahr.

Auch nicht, dass jemand lautlos seine Kajüte betrat… Eine kaum wahrnehmbare Präsenz in seiner Kajüte. Das leise Geräusch eines Atems, das leise Nachgeben der Matratze, als ein weiteres Gewicht die Kante belastete… Etwas streifte seinen Hals. Finger? Lippen? Das kribbelnde Gefühl verstärkte sich. Er bewegte sich leicht. Seine Hand berührte warme Haut. Im Halbschlaf öffnete er seine Augen. Grüne Augen…

’Dracosta’

Ein verwirrter Gedanke im Schlaf?

‚Dracosta!’ Oder doch eine Stimme?

„Dracosta! Es ist die ‘Crying Nancy’!“ Das war mehr als eine Stimme! Ian sprang aus dem Bett und fegte Jamie, der neben ihm gelegen haben musste, schlichtweg aus der Koje. Der junge Mann wirkte verblüfft, rollte sich aber in der gleichen Bewegung ab und hob den Kopf. Ian nahm Jamie nicht mal bewusst wahr.

„Die ‘Crying Nancy’! Besetzt die Kanonen!”

„Sie ist zu weit!“

„Dracosta! Es ist Dracosta!“

Ian riss die Tür auf und stürmte auf das Deck, wo Smith, mit scharfen Befehlen, versuchte Ruhe in das Chaos zu bringen.

Als er Ian erkannte, kam er sofort angerannt.

„Sir, die ‘Crying Nancy’! Auf 3 Uhr!“

Ian fluchte, schnappte sein Fernrohr und lief zur Reling. Er brauchte nicht mal das Vergrößerungsglas, um die ‘Crying Nancy’ klar und deutlich sehen zu können. Und zu allem Übel hörte man das aufgeregte Kreischen der Damen auf dem Adelsschiff bis zur ‘Seagull’ herüber wehen. Dracosta war in vielen Dingen der Traum unbehüteter Frauen, zumindest was Seemannsgarn anging. Rebellisch, nicht unterzukriegen und - zumindest behaupteten das die Gerüchte – mit viel Erfolg in unter den weiblichen Reihen gesegnet. Aber zwischen Traumschlössern und der Realität lag bekanntlich ein tiefer Graben, der sich spätestens dann auftat, wenn eine Klinge an der zarten Kehle ritzte.

„Ist das Segel endlich so weit?!“, aufgebracht wirbelte Ian herum.

„Nein, Sir!“ Die Antwort, die er im Moment am wenigstens hatte hören wollen.

       

Während die Rufe über das Deck hallten, schwang die Tür zur Kapitänskajüte locker im Seegang hin und her und gewährte einen Blick auf einen Jamie mit einem absolut beängstigenden Gesichtsausdruck.

„Warum jetzt? Von allen Zeiten!“ Er sprang auf und hechtete aufs Deck hinaus. Es war erstaunlich, dass er trotz seines ungestümen Starts nicht mit Ian kollidierte, sondern direkt neben ihm an der Reling bremste.

Ian wirkte äußerlich unbewegt, doch innerlich war er am Kochen. Ohne volle Segel konnte er die Verfolgung nicht aufnehmen! Und nicht nur das, die ‘Crying Nancy’ schien nur hier vorbeizufahren, um sie zu verhöhnen! Sie zeigte keinerlei Interesse an dem Adelsschiff. Stattdessen hisste sie volle Flagge und entfernte sich langsam wieder, ohne nur einmal in Schussweite zu kommen.

„Die ‘Crying Nancy’! Gott, tatsächlich!“ Jamie sprang auf und ab.

„Dracosta! Seht ihr Dracosta, Sir?!“ Er schien ganz aus dem Häuschen. „Wie sieht er aus?!“

Von dem Deck der ‘Crying Nancy’ drangen Johlen und Grölen. Es wimmelte nur so von Piraten, die unmissverständlich obszöne Gesten in ihre Richtung machten. Ab und an richteten sie sogar Pistolenschüsse in den Himmel.

Eine Gestalt im braunen Umhang stand über dem tobenden Mob der Piraten. 

„Er winkt ihnen!“ Der federbesetzte Hut wurde eindeutig geschwenkt. „Haben sie…“ Jamie schaute aufgeregt auf Ian und verstummte plötzlich. Sein Blick wanderte zwischen Ian und dem Piratenschiff hin und her. Was vorher noch aufgedreht wirkte, wurde zunehmend missmutiger, und dass mit jeder Sekunde, die Ian die ‘Crying Nancy’ fixierte. Jamie wirbelte herum und riss einem vorbeirennenden Soldaten die Muskete aus der Hand.

„Sir, ich hole ihn runter!“, und brachte in der gleichen Bewegung die Waffe in Anschlag.

Ian packte den Lauf der Muskete, ohne hinzusehen, und drückte sie grob in Richtung Wasseroberfläche.

„Wollen sie Kugeln verschwenden?! Das ist zu weit, um irgendetwas zu treffen!“ Ian wandte sich ab. „Außerdem ist er schon bald außer Sicht.“

„Aber, Sir!“

Jamies Blick schweifte zurück auf das Deck des Piratenschiffes. Der federbesetzte Hut war verschwunden, mitsamt der umhüllten Gestalt.

Jamie ließ die Muskete sinken und folgte Ian mit den Augen, während dieser das Heck in Gegenrichtung verließ.

  

Kapitel 5

 

>>Es ist wahrlich eine ehrenvolle Aufgabe andere mit seinem Leben zu beschützen, keine Frage. Aber es ist keine ehrenvolle Aufgabe, einen offiziellen Bericht verfassen zu müssen, weil man sich im entscheidenden Moment zu nicht mehr fähig sah, als den Anker zu lichten. Ein ziemlich langer Bericht wurde es, wie ich zu meiner Verteidigung vorbringen kann. Kein Detail blieb unerwähnt, nicht einmal die, im Zuge der Reparaturarbeiten unwiderruflich, verschmutzte Ausgehuniform, die mir natürlich vom Sold abgezogen wurde. Wenn Verschwendung von militärischem Eigentum eine Tugend darstellt, scheine ich es darin wohl zu einer fragwürdigen Perfektion gebracht zu haben. Im Nachhinein muss ich gestehen, dass sich dieser Umstand als unleugbarer Bestandteil meines Lebens erwies. Seltsam, dass sich jemand dazu hingerissen sah, einen derartigen Makel, als begehrenswert zu empfinden…<< 

 

 

 

„Sir, waren sie erfolgreich?“, fragte Carlton Smith, der geduldig vor Ians Kajüte auf die Rückkehr seines Kapitäns gewartet hatte.

 

„Mir wurde Einsicht in ein paar Akten gewährt, wenn sie das meinen. Eine Untersuchung der Vorkommnisse wurde abgewiesen“, erwiderte Ian fest. „Es war aufschlussreich, aber nicht so hilfreich wie erhofft.“

 

„Kommen sie.“ Er betrat seine Kajüte vor dem ersten Maat und winkte ihn an den beengten Tisch, wo er eine Seekarte ausrollte. „Das sind die bisher verzeichneten Überfallskoordinaten der ‘Crying Nancy’.“ Ian zeigte mit ruhiger Hand auf die Punkte. Er hatte sie nicht aufschreiben müssen. „Strategisch ausgegeben günstig, aber nie war ein Passagierschiff das Ziel.“

 

„Sie meinen…?“, warf Carlton ein.

 

„Folgendes. Anhand der Berichte gab es am selbigen Tag einen Zwischenfall mit der ‘Crying Nancy’, die versuchte einen Goldtransport der englischen Krone zu berauben, und zwar an diesem Punkt!“ Sein Finger schlug auf die Seekarte. Eisiger hätte sein Tonfall nicht sein können. „Wenn die Angaben stimmen, lagen mehrere Seemeilen zwischen ihrer und unserer Position.“ Sein Finger zog eine scharfe Linie zu der Position, wo sie mit defektem Segel vor Anker gelegen hatten. „Die ‘Crying Nancy’ hatte keinen Grund unseren Weg zu kreuzen. Ganz im Gegenteil, das war ein unnötiges Risiko!“

 

„Außer…“

 

„Außer sie hatten einen Grund.“ Ian hob seinen Blick und fixierte Carlton. „Oder…“

 

„Sie wussten, dass die ‘Seagull’ so gut wie wehrlos war?“ Die Augen des ersten Maats beschatteten sich. „Gott, daran habe ich auch schon gedacht, aber es ergibt keinen Sinn.“

 

„Richtig. Warum sollte man ohne Grund vor einem feindlichen Schiff kreuzen?“ Die Art, wie die beiden ihre Gedanken vervollständigten, war unheimlich und sprach von den Jahren der Zusammenarbeit, die sie miteinander teilten.

 

„Oder anders gefragt: Warum sollte sich jemand für die ‘Seagull’ interessieren?“, brachte Ian die Sache auf den Punkt. Er richtete sich auf. „Hier!“

 

Carlton nahm ein Pergament mit aufgebrochenem Siegel von Ian entgegen. Schweigen. Er sog scharf die Luft ein.

 

„Sir, das ist…“

 

Ian verschränkte die Arme.

 

„Genau das.“ Ihr nächster Auftrag. Die ‘Seagull’ wurde zur Verstärkung der Eskorte eines Goldtransportes gerufen. Um genau zu sein, sollte sie, zusammen mit einem weiteren Militärschiff, den sicheren Transport einer ‚Freundschaftszahlung’ an Spanien gewährleisten, dessen Verhältnis zu England schon seit geraumer Zeit denkbar gespannt war.

 

„Und trotzdem wurde eine weitere Untersuchung abgelehnt? Das gefällt mir nicht, Sir.“

 

„Mir auch nicht.“ Ian verschränkte die Arme und seine blauen Augen starrten blicklos ins Leere. Nein, es gefiel ihm mit jeder Sekunde weniger. Zu viele Zufälle auf zu engem Zeitraum. Es klopfte, mit dem dumpfen Geräusch von Knöchel auf Holz, an seine Tür. Ians Aufmerksamkeit wandte sich dem Geräusch zu.

 

„Eintreten“, gestattete er. Die Tür wurde stürmisch aufgerissen. Es war schon spät, aber selbst jetzt brauchte es nicht viel, um Jamie zu erkennen. Das wenige, was vom Tageslicht übrig war, fiel durch seine unbändigen Haare und hätte ihn nicht deutlicher kennzeichnen können, als eine persönliche Flagge über seinem Kopf.

 

„Kapitän, ich…“ Jamie hielt inne, schaute verwirrt auf den ersten Maat, der direkt neben Ian stand. Seine Augen wurden einen Moment schmaler, dann rettete er sich in einen Salut.

 

„Entschuldigung, Sir… Ich komme später wieder, wenn sie das wünschen.“

 

„Das ist unnötig, O’Nellie.“ Carlton musterte sein Gegenüber und zog dann kurz den Hut in Richtung Ian. „Sir, ich ziehe mich dann zurück.“ Er drückte das Pergament zurück in Ians Hände, schien aber auf eine Form der Bestätigung zu warten.

 

„Tun sie das, Smith.“

 

„Ja, Sir.“ Carlton salutierte andeutungsweise und ging dann an Jamie vorbei Richtung Tür, wobei er ihn mit der Schulter streifte, was Jamie nicht weiter zu stören schien, aber Ian ein Stirnrunzeln entlockte. Jamie wartete, äußerlich ungerührt, bis der erste Maat den Raum verlassen hatte, bevor er sein Wort wieder an Ian richtete.

 

„Sir, ich hatte sie darum gebeten, mir für die nächsten Tage Freigang zu gewähren.“

 

„Hat sich an ihren Plänen etwas geändert?“, fragte Ian die Augenbrauen hebend.

 

„Ja, Sir. Ich bleibe doch“, war Jamies feste Antwort nach einem weiteren Blick in Richtung Tür.

 

„Gut für sie. Ich hätte ihnen auch keine Erlaubnis erteilt“, stellte Ian kühl fest und rollte das Pergament zusammen.

 

„Sir?“

 

„Wir haben einen Auftrag“, war Ians knappe Einlassung zu diesem Thema. Sein Blick richtete sich kalt auf Jamie. Man konnte spüren, dass in ihm etwas vorging, aber es war unmöglich zu erkennen, welcher Natur diese Gedanken waren. „Haben sie ein Problem mit der Tür, O’Nellie?“, fragte er, nachdem Jamies Augen wieder am Eingang hängen blieben.

 

Keine Regung entging Ians Beobachtung, konnte man manchmal geneigt sein, zu denken. Jamie schien sich bewusst daran zu erinnern, denn er wandte sich nun endgültig und gänzlich Ian zu.

 

„Sie sind auffällig unterkühlt in meine Richtung, in der letzten Zeit…“, eine kaum merkbare Pause, “Sir“ Seine Stimme war ausgeprägter und eine Ahnung dunkler als sonst. Vor allem war sein Blick sehr undurchdringlich. Was er sich dachte, blieb genauso verborgen wie Ians Gedanken zu dieser Situation.

 

„Daran wird sich auch nichts ändern“, stellte Ian fest.

 

Diesmal war Jamie wirklich getroffen. Ein schmerzhafter Ausdruck zog über sein Gesicht, wie eine Welle über den Sand eines Strandes.

 

„Warum?!“, wollte er wissen.

 

„Solange sich nicht ein paar Dinge geklärt haben, werde ich meinen Abstand zu ihnen halten“, machte Ian im unbeugsamen Ton klar.

 

„Aber!“ Jamies Blick irrte zurück zur Tür. „Das waren doch nur Zufälle!“

 

„Interessant, dass sie das von sich aus ansprechen.“ Ian legte die Hände zusammen und lehnte sich leicht vor. Der Tisch knarrte leise. „Auch Unfälle haben durchaus ihre Gründe, wie sie wissen müssten. Und umso länger ich darüber nachdenke, umso dringlicher scheint es mir, diese im Speziellen zu klären.“ 

 

„Sir, sie glauben doch nicht etwa-“, Ian unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

 

„Was ich glaube, tut nichts zur Sache.“ Ian wandte sein Gesicht ab. „Wenn das alles war, verlassen sie bitte meine Kajüte.“

 

Jamie schluckte schwer. Die körperliche Spannung, die sich um ihn herum aufbaute, war regelrecht greifbar, aber er schien sich eisern unter Kontrolle zu halten. Trotzdem knallte die Tür hinter ihm ungewöhnlich heftig ins Schloss, während er sich dem Befehl beugte. Frust und Wut formten sich erst unverkennbar in seiner Mimik, als er Ian hinter sich gelassen hatte. Dafür dann umso deutlicher.

 

Aber es war ihm nicht beschieden, das Deck ohne eine weitere Konfrontation zu verlassen. Carlton verstellte ihm den Weg und beide starrten einander feindselig an. Jamie musterte den ersten Maat, als sähe er den groß gewachsenen Mann zum ersten Mal, dann machte er eine Flapsige, kaum als solche Erkennbare, Ehrbezeugung.

 

„O’Nellie, ich rate ihnen, ihre Daueravancen sein zu lassen! Wenn sie ein Problem haben, klären sie Selbiges mit mir und belästigen nicht den Kapitän!“

 

„Warum, Sir? Fühlen sie sich sonst zurückgestellt?“, fragte Jamie mit einem süßen Unterton.

 

Carlton wurde rot vor Zorn, aber es war nur seine Stimme, die leicht zitterte. „Das reicht! Ich werde persönlich dafür sorgen, dass sie dem Kapitän nicht mehr nahe kommen! Wegtreten!“

 

„Mit Verlaub, sie versperren mir den Weg, Sir“, erwiderte Jamie derart gespielt höflich, dass es einer Beleidigung gleichkam.

 

„Verschwinden sie!“, wiederholte Carlton wütend und machte einen Schritt zur Seite.

 

 

 

Was auch immer Ian die nächsten Tage erwartet hatte, es blieb ruhig. Selbst als die ‘Seagull’ neben der ‘Conquerdor’, fünf weiteren Kreuzern und dem eigentlichen Transportschiff, der ‚East Sun‘, den Hafen verließ, zeigte sich selbst das Wetter trügerisch wohlgesonnen. Das drückende Gefühl von schwüler Luft und der Geruch des Windes verhießen allerdings keine angenehme Fahrt. Ian ließ die Takelagen verstärken, schickte eins ums andere Mal, Männer die Segel zu kontrollieren, prüfte persönlich Vertäuungen, die Sicherheit der Lebensmittel und der Waffen. Jamie sah er in der ganzen Zeit, wenn überhaupt, nur aus der Ferne. Er schien, wie zufällig, immer gerade am anderen Ende des Schiffes beschäftigt zu sein und nicht selten wanderte Ians Blick zu dem Arbeitenden, bis er sich selbst zur Ordnung rief.

 

Er mochte den Gedanken nicht, wie sein persönliches Interesse begann, seine Arbeit zu beeinträchtigen. Zumindest schien seine Befürchtung über einen drohenden Wetterumschwung, auch auf den anderen beiden Schiffen, auf zustimmende Ohren getroffen zu sein, denn auch hier hangelte sich die Mannschaft vermehrt in den Takelagen.

 

Hätte man Ian gefragt, ob er die Wahl dreier Schlachtschiffe im Format der ‘Conquerdor’ als sinnvoll erachtet hätte, wäre seine Antwort ein klares ‚Nein’ gewesen. Die ‘Conquerdor’, und dementsprechend ihre zwei Schwesterschiffe, waren als Schlachtschiff von ungeheurer Feuerkraft, aber gleichzeitig so auffällig wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Es brauchte keinen zweiten Blick, um zu wissen, dass hier etwas Wertvolles transportiert wurde.

 

Natürlich würde man es sich zweimal überlegen, ein Schiff eines solchen Kalibers anzugreifen, aber andererseits hatte man viel Zeit sich locken zu lassen. Die Schlachtschiffe waren auch der Grund, warum die Fahrt zum nächsten Zielhafen statt einem, mehrere Tage in Anspruch nehmen würde.

 

Doch soweit sollten sie nicht kommen. Vor dem Anbruch der Dämmerung wurde die Flotte von einer Sturmfront eingeholt, die, mit ihren massigen Ausläufern, die See in tiefe Schwärze tauchte. Während die ‘Seagull’ in die Tiefen der Wellenberge rauschte, ließ Ian Signalfeuer entzünden. Jedes Mal, wenn sich die ‘Seagull’ ächzend in die Höhe der Wellenberge quälte, hielt er Ausschau nach der Lage der ‚East Sun‘.

 

Sich zu verlieren, war in diesem Chaos die größte Gefahr. Der herabprasselnde Regen peitschte auf das Deck, schnitt ins Gesicht und hüllte alsbald alles, was weiter als 50 Meter entfernt lag, in einen undurchdringlichen Schleier.

 

Ian eilte geduckt über das Deck, die Hand schützend gegen den stechenden Regen vor die Augen haltend. Der Wind zerrte und riss an seinem Regenüberwurf, während er mit zusammengekniffenen Augen zum Ausguck hochbrüllte.

 

Der Sturm schien ihm die Worte von seinen Lippen zu reißen, aber er musste eine Form von Antwort bekommen haben, denn seine Befehle gingen weiter an jeden, der es schaffte, auf beiden Beine das Deck zu überqueren. Der Sturm tobte und wütende gnadenlos die ganze Nacht hindurch. Ian verließ für keine Sekunde seinen Posten. 

 

„Es kommt die Zeit, da wirst du es lieben. Versuch bis dahin unter Deck zu bleiben“, sprach er dem vielleicht 16 Jahre alten Schiffsjungen, der sich verzweifelt an der Reling festkrallte, mit einem Anflug von Humor und über das Tosen der Wellen hinweg, Mut zu. Der Junge sah sich zu nicht mehr in der Lage, als schwach zu nicken. Noch konnte er dem Ganzen wohl eindeutig nichts abgewinnen, noch weniger Liebe.

 

Ihm fehlte wohl auch das unerschütterliche Vertrauen in das Schiff und seine Mannschaft, das Ian an den Tag legte. Für Ian stand außer Zweifel, dass dieser Sturm kein unüberwindbares Hindernis für das wendige Schiff darstellte. Aber am nächsten Morgen wurde sehr schnell klar, dass der Sturm ein fataleres Problem heraufbeschworen hatte. Die ‘Seagull’ hatte im Sturm den Kontakt zur restlichen Flotte verloren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf den ursprünglichen Kurs zurückzukehren und zu warten.

Als selbst nach langen Stunden keines der anderen Schiffe gesichtet wurde, folgte die ‘Seagull’ der geplanten Route auf Halbmast. Am nächsten Hafen würden sie sich der East Sun wieder anschließen müssen. Aber, wie sich herausstellen sollte, war der Ausweichhafen nicht das Ziel, das auf Ian wartete.

 

 

Kapitel 6

 

>>Ich lege ihnen einen wertvollen Rat in die Hand. Wissen ist Macht. Das ahnten sie schon? Wussten sie auch, dass es manchmal keinen Weg zurück mehr gibt, egal wie viel Wissen man sein eigen nennt? Ich würde alles tun, um zu bekommen, auf was ich mein Auge gelegt habe. Wirklich alles! Haben sie Angst vor mir? Nein? Das müssen sie auch nicht, das haben sie gut erkannt! Warum? Denn mein Objekt der Begierde ist jemand anderes. In gewisser Weise auch eine Information, aber in dieser Situation wohl nicht die Interessanteste. Wollen sie WISSEN, wie weit ich gehen würde? Der Stimmung willen, halten sie bitte genau jetzt einen Moment den Atem an. Vollbracht? Dann wird es Zeit, dass ich es ihnen zeige…<<  

 

 

 

Entlang der karg bewohnten Küstenstreifen schnitt die ‘Conquerdor’ durch den endlos blauen Horizont. Ihre Segel blähten sich in voller Fahrt wie weiße Flügel im Wind. Die Segel waren auch das Erste, was der Ausguck der ‘Seagull’ von dem großen Schiff erspähte. Ihre Flagge war mit dem bloßen Auge nur ein bunter Fleck über der See. Und sie kreuzte nicht ohne Gesellschaft. Links und rechts wurde sie von Schiffen unter der englischen Flagge eskortiert. Ian zählte vier Schiffe im Kielwasser der ‘Conquerdor’, die auf sie zuhielten; darunter auch die East Sun.

 

Das erste erleichterte Aufatmen blieb in den Kehlen stecken, als aus der vermeintlichen Wiedervereinigung mit den Schwesterschiffen ein Desaster wurde. Schrammen an den Schiffskörpern, zahllose Einschusslöcher, dunkle Schmauchspuren. Die Erklärung für den Zustand der Schiffe wurde überdeutlich, als sich die ‘Seagull’ statt einer Antwort auf ihre Morsezeichen, den Kanonenmündungen einer ganzen Flotte gegenübersah. Es mochten ihre Schwesternschiffe sein, doch es waren nicht mehr dieselben Mannen, die sie steuerten. Enterhaken krallten sich in die Reling und fixierten die ‘Seagull’ gnadenlos zwischen den Schiffen.

 

„Was ist mit den Kanonen?“, brüllte der erste Maat.

 

„Die Lunten sind noch nass durch das Unwetter, sie wollen nicht brennen!“ 

 

„Zieht die Waffen! Durchtrennt die Seile! Verteidigt das Schiff!“ Ian zog zwei Steinschlagpistolen. Er erreichte das Deck zusammen mit der ersten Meute, die sich von links und rechts auf die ‘Seagull’ schwangen. Das Krachen der beiden Pistolen ging in den Mündungsfeuern der lauteren Musketen unter. Ian rammte den Kolben der geleerten Pistole einem Meuterer ins Gesicht, riss einen weiteren von den Füßen und fing einen tiefen Schlag mit der zweiten Pistole ab. Er stieß den Angreifer zurück und zog sein Rapier. Allein die nicht enden wollende Masse an Piraten, zwang die Besatzung Richtung Zentrum des Schiffes. Von vorne und hinten quollen mehr und mehr nicht uniformierte Männer auf das Deck. Ian kreuzte die Klinge mit einem vorpreschenden Piraten und wurde mehrere Schritte zurück geschleudert. Nur mit Müh und Not konnte er verhindern, von einem Ellenbogenhieb von den Füßen gerissen zu werden. Sein Gegenüber bleckte die Zähne und Ian drängte den Mann zurück, aber wo einer fiel, schienen zwei Neue zu sprießen und das galt nicht für seine Mannschaft.      

 

„Hier drüben! Holt den Kapitän! Gold für den Kapitän!“

 

Ian duckte sich unter einem Faustschlag hindurch. Seine Rippen schmerzten von dem Ellbogenhieb, aber ihm blieb keine Verschnaufpause. Jamie war nirgends zu sehen. Ian sah noch Carlton, der verzweifelt versuchte, sich zu ihm vorzukämpfen. In dem Lärm und Geschrei wirkten Kleinigkeiten lächerlich lautlos. Dazu gehörte auch eine Kugel, die seinen ersten Maat in den Arm traf und voller Pein zu Boden schickte. Ian wurde sein Rapier von einem beidhändig geführten Säbel aus der Hand geschleudert. Er schlug klirrend auf die Holzplanken, wo er gegen den Fuß eines Piraten rutschte. Ian war umzingelt. Mindestens 12 Mann standen in einem geschlossenen Kreis um ihn und lauerten seinen Bewegungen nach, während sie ihn beschimpften oder anzügliche Gesten in seine Richtung machten. Er hatte nichts mehr zu verlieren und so handelte Ian auch. Er rammte seine Faust in den Magen des Unglücklichen vor ihm, ließ sich fallen, schlug dem nächsten die Beine unter dem Körper weg und knallte, in der Bewegung des Aufspringens, dem nächsten mit aller Wucht von unten gegen das Kinn, dass es den Mann nach hinten wegfegte. Weiter kam er nicht. Grobe Hände rissen seine Arme auseinander und rangen ihn nieder.

 

„Verdammt, macht ihn endlich fertig!“, erklang eine raue Stimme. Mit einem gnadenlosen Schlag gegen seine Schläfe wurde seine Welt in Dunkelheit gehüllt. Schwer atmend wischte sich ein Pirat unter der Nase entlang.

„Aufmüpfige Ratte.“ Der bewusstlose Ian kassierte noch einen verächtlichen Tritt in die Magengegend. In dem Gewimmel des nur langsam ersterbenden Kampfes schleppten mehrere Piraten Ians erschlafften Körper zwischen sich über das Deck.

 

Kapitel 7

 

>>Was ich fühlte, als ich erwachte? Ich sage es ihnen. Wut, Scham und einen schier unerträglichen Brummschädel. Zu versagen ist ein untolerierbarer Fehler, aber ein Militärschiff ohne Ladung zu überfallen ist pure Torheit. Nicht nur zu überfallen, sondern regelrecht aufzureiben! Nichts auf der Welt könnte so einen Irrsinn wert sein.<<    

 

 

 

Die Ohnmacht hielt Ian nicht lange in ihrer tröstenden Umarmung. Immer wieder kämpfte er sich an die Oberfläche seines Bewusstseins. Eindrücke, die auf ihn einflossen, waren flüchtig, gedämpft und surreal. Ein fremdes Deck, unzählige Beinpaare, ein englischer Waffenrock neben ihm, undeutliche Stimmen, ein Mann brach winselnd neben ihm zusammen. Ian hatte den flüchtigen Eindruck eines seltsam verdrehten Gelenkes und raues Gelächter, dann Nichts mehr. Die Schmerzen in seinem Schädel überwältigten ihn aufs Neue. Als er endlich die Kraft fand, qualvoll und langsam die Augen zu öffnen, schien sich das Deck unter ihm geändert zu haben.    

 

„Der zähe Hund wacht schon auf.“

 

„Der hat nen Schädel, wie ne Kanonenkugel, sag ich dir.“

 

Gelächter.

 

„Das gibt ne saftige Belohnung!“

 

„Bringt ihn endlich in Dracostas Kajüte!“

 

Ian versuchte auf eigenen Beinen zu stehen und bekam sofort die Arme auf den Rücken gedreht, was ihm ein schmerzerfülltes Keuchen auf die Lippen trieb. Er war leichenblass und ihm war speiübel. Nachwirkungen des Schlages, der ihm eine saftige Gehirnerschütterung eingebracht haben musste. Er wurde in die Kabine gestoßen, wo er nach zwei Schritten in die Knie sackte und sich an den Tisch krallte, der an der Wand der Kabine befestigt war, während er sich würgend übergab.

 

Eine zweite Person schlug der Länge nach neben ihn, gefolgt von dem endgültigen Geräusch eines einrastenden Schlosses. 

 

Ein schweigender Jamie schaute auf ihn herab. Keine Fesseln, aber die waren zumindest bei Ian auch nicht notwendig. Er bezweifelte, auch nur mehr als drei Schritte am Stück laufen zu können. Außerdem befand sich im ganzen Raum nichts, das als Waffe herhalten könnte. Nur eine Decke, ein Kissen und besagter Tisch.

 

„Ian.“ Jamies Gesichtsausdruck blieb rätselhaft. Eine stille Freude? Unterdrückte Wut? Sorge? Erleichterung? Nichts davon schien dem Ausdruck gänzlich Sinn geben zu können.

 

Ian kam nicht dazu zu antworten, auch nicht, um diese allzu persönliche Anrede zu registrieren. Er sah mindestens so elend aus, wie er sich gerade fühlte. Trotzdem war er zu stolz, um sich helfen oder gar irgendwie bemuttern zu lassen. Zumindest versuchte Jamie nicht, ihn zu berühren.

 

Die Tür wurde aufgestoßen und ein grobschlächtiger Mann trat ein. Jamies Augen hangen in einer Mischung aus Misstrauen und Entgeisterung auf dem Mann, der anscheinend lieber ein Siegergelage veranstaltet hätte, als irgendwelche Gefangenen zu versorgen.  

 

„Essen!“ Er knallte eine Schüssel auf den Tisch und gab dann ein angewidertes Geräusch von sich.

 

„Was für ne Sauerei!“ Er packte Ians Kopf und drückte ihn brutal nach unten. „Mach das noch mal und ich lasse dich in deinem eigenen Dreck verrecken! Ich habe nicht vor, dir hinterher zu wischen.“ 

 

Jamie packte den Pirat am Armgelenk.

 

„Das reicht!“, sagte er kühl.

 

Der Pirat erstarrte und glotzte ungläubig auf die Hand. „Noch so ne Ratte.“ Er trat Jamie mit voller Wucht in die Rippen, dass dieser sich röchelnd auf dem Boden krümmte. 

 

„Schafft den Kleinen hier raus! Einer dieser Speichellecker reicht mir schon zum Babysitten!“ Weitere Männer betraten den Raum. Sie schienen sich sichtlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen und das steigerte sich mit jeder Sekunde zusehends mehr. Ein Gefangener, der in seinem eigenen Erbrochenem lag, aber eigentlich noch nicht bei Bewusstsein sein sollte und ein am Boden ausgestreckt liegender Jamie und mitten drin der größenwahnsinnige Kerl, der sich anmaß, Befehle zu erteilen.

 

„Schafft den endlich raus hier!“

Die beiden griffen Jamie unter den Armen und schleppten ihn nach einem in Entgeisterung gewechselten Blick kurzerhand nach draußen.

 

Kapitel 8

>>Es begannen die Tage der Ungewissheit. Ich erinnere mich an Fieber und Schüttelfrost. Eine Krankheit des Kopfes wohlgemerkt. Es macht es nicht besser. Im Schlaf spürte ich manchmal besänftigende Kühle auf meiner Stirn. Und manchmal hörte ich meinen Namen. Mal laut, mal leise, aber wenn ich meine Augen öffnete, herrschte nur eines: Stille und Kopfschmerzen. Dracosta? Keine Spur von dem ‚sagenumwobenen’ Kapitän mit seinem Federhut, genauso wenig von seinem menschenverachtenden ‚Babysitter’. Aber von Dracostas Kajüte hatte ich bei Weitem genug. Meine Ehre war angekratzt, mein Schiff wahrscheinlich für immer verloren. In meinen Fieberträumen glaubte ich, ich wäre dem Tode anheimgefallen… Wenn die Freibeuter dem Irrsinn erlagen, für mich ein lohnendes Lösegeld verlangen zu können, waren sie genauso hohl wie der Rumpf eines Schiffes. Wie auch immer, es ging nicht um Lösegeld, und mit Verlaub, die Wahrheit wäre für mich in diesem Moment auch nicht nachvollziehbarer gewesen, als eine Fieberfantasie…<<

 

Nach mehreren Tagen unruhiger Fahrt erreichte die Schiffsflotte die kleine Inselgruppe Lor. Am Strand wartete ein kleines Empfangskomitee auf die Heimkehrer, sogar in die Luft geschossen wurde zwanglos. Frauen, ältere Männer und ein paar Kinder begrüßten die einlaufenden Schiffe in Festtagsstimmung. Aber während die Stimmen von Freude kündeten, gewann die künstliche Ausgelassenheit in Ians Ohren Bedrohlichkeit.

Für ihn gab es auch keinen Grund zu frohlocken. Er wurde an den Händen gefesselt und abgeführt. Mitten durch die Menge an den Stegen und weiter Richtung der Behausungen, die sich an die Ausläufer steinerner Felsen duckten.

„Seht nur, ein Blaurock!“ Es gingen ein paar beleidigende Pfiffe in seine Richtung, allerdings auch so geschmacklose Kommentare wie:

„Hey, der ist doch ganz ansehnlich, lasst ihn ruhig hier.“

Langsam kamen Ian so seine Zweifel, ob er nicht aus Schutzgründen von so vielen Männern eskortiert wurde. Wie hätte er auch in dieser Situation fliehen können? Er war willensstark genug, mit geraden Rücken vorwärts zu schreiten, ohne das Seil, das von seinen Fesseln aus in einem schwieligen Handpaar endete, auch nur ein einziges Mal zu spannen, doch für mehr reichten seine Kräfte nicht. Nie hätte er sich gestattet, dass sein Blick zur Seite geschweift wäre. Stur hielt er seine Augen geradeaus. Schritt für Schritt, Stein für Stein. Selbst als der plötzlich aufbrausende Jubel von lauten ‚Dracosta’-Rufen und fragwürdigen Siegeshymnen unterbrochen wurde, welche anscheinend die Ankunft des berüchtigten Piraten-Kapitäns auf dem Dock ankündigte, wandte er nicht seinen Kopf. Hunderte Menschen und der Lärm der halben Welt lag zwischen ihnen, trotzdem hatte Ian das Gefühl, dass ihn der Blick der grünen Augen verfolgte. Hätte er sich umgedreht, er hätte sehen können, wie wenig Hirngespinst sein Gefühl war.

„Hier rein.“ Ians Eskorte war um einiges höflicher, als sein erster ‚Babysitter’. Keiner fasste ihn grob an, keiner fuhr ihn an, auch wenn das allgemeine Sprachniveau zu wünschen übrig ließ.

„Aus der Nähe sieht er ja ganz gut aus… aber meine Fresse, das ist ein verbohrter Kerl!“

„Der erste Typ, der hier rein kommt.“

„Vielleicht hat Dracosta sich irgendwie zugedröhnt oder seinen Schädel angeschlagen…“ Der Sprecher drehte eine Spirale an seiner Schläfe. “Der Stress soll einem ja manchmal zu Kopf steigen.“

„Shht! Bist du verrückt?! Halt die Klappe!“, wurde er angefahren.

„Das ist kein Frauenzimmer. So was will man doch nicht rannehmen“, murrte der Unterbrochene beleidigt.

„Hör endlich auf Stuss zu labern! Dracosta hat ein Hühnchen mit dem Kerl zu rupfen. Und wenn’s dir aufstößt, frag ihn selber!“

Ian wurde mit gebundenen Händen in dem Raum zurückgelassen. Für die leichte Bauweise des Hauses war die Tür überraschend stabil. Allein das Geräusch des Vorhängeschlosses, das nach dem Abschließen ein paar Mal gegen das Holz schwang, schien jeden Fluchtversuch zu verhöhnen.

Der Raum war überraschend bunt, regelrecht verspielt. Überall lagen Kissen verstreut, große, allerdings dezent vergitterte, Fenster, ließen Licht herein. An Platz mangelte es nicht und auch nicht an zahllosen pelzartigen Bettvorlegern - natürlich nur an den wenigen Stellen, an denen keine Kissen herumlagen. Ian ging an Basthockern und einem Sessel vorbei in Richtung des Kamins. Kein Schürhaken, kein Feuerholz, nichts, das er als Waffe hätte verwenden können. Dafür zierten nutzlose Blumenstauden den stabil wirkenden Steinkamin. Ian drehte ab in Richtung Fenster und zerrte probeweise an einem der vermeintlich hölzernen Gitterstäbe, aber es rührte sich keinen Zentimeter. Jeden einzelnen Stab nahm er unter die Lupe, zog, schob, drückte mit zusammengepressten Lippen, bis draußen die ersten Fackeln den Abend erhellten…

Kapitel 9

>>Wunderschön und stolz. Wie verstimmt er wäre, wenn ich ihn so nennen würde. Der Gedanke bringt mich zum Lachen. Wissen sie, wie ich mich fühle? Ihm so nahe zu sein, raubt mir die Sinne und es raubt mir die Worte. Zumindest aller Worte, die ihren gesitteten Ohren gut tun würden, das können sie mir glauben…<<        

 

Ein leises Knirschen an der Tür ließ Ian alarmiert auffahren.

„Ganz ruhig, ich bin es nur.“ Jamie schloss die Tür lautlos hinter sich und legte einen Finger auf die Lippen, während er in die Stille lauschte. Er hatte einen lumpigen Sack an, unter dem hier und da etwas blau aufblitzte. Ian stand einfach nur versteinert im Raum. Das alles wurde immer unglaublicher. 

„Was…“, setzte er an zu sagen.

Jamie schüttelte mit dem Kopf.

„Ich bin entkommen, Sir.“ Er ließ den Lumpen zu Boden gleiten und stand mit Waffenrock und zwei Schusswaffen vor Ian. „Wir brennen durch!“, verkündete er mit einem breiten Lächeln.

Jamie machte ein paar Schritte auf Ian zu, in der Absicht Ians Fesseln zu lösen, als eine Stimme durch die Tür drang. Eine weibliche Stimme schien ihren Überdruss an ein paar Männern auszulassen. Wer mehr zu sagen hatte, blieb ohne Zweifel.

„Lasst mich vorbei, ihr Pappnasen!“ Schon wurde die Tür aufgerissen und krachte lautstark gegen die Wand.

„Emilie ist da!“, rief eine selbstbewusst wirkende und nicht minder aufreizend angezogene Dame. „Dracosta, mein Hengst, mich einfach so auf dem Trockenen sitzen zu lassen!“ Sie rückte ihren Busen zurecht und schien keine Atempause zu brauchen, um Luft nachzutanken.

„Diese Schnapsflaschen da draußen reden nur aufgeblasenen Mist. Und dann wollten sie mich nicht mal durchlassen!“ Sie schwang ihre Empörung wie eine Keule und Jamies Gesichtsausdruck schien unter dem Ansturm völlig zu entgleisen.

„Diesen faulen Säcken gehört der Marsch geblasen, der ganze Weg ist wie leerge-“ Sie verstummte und schaute zwischen Jamie und Ian hin und her und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. „Haha… Was wird das, Dracosta?! Eine Kostümparty?“, japste sie.  

Ian war vollkommen erstarrt.

„Wirklich Dracosta, ein hübscher Kerl, aber etwas steif. Soll ich ihn dir auflockern?“, zwinkerte sie lachend.

Das drückende Schweigen, das sich im Raum ausbreitete, erreichte sogar endlich Emilie, so dass sie unglaublicherweise vorzog zu verstummen. Die Art, wie sich die Schultern von Jamie, oder besser gesagt Dracosta, verkrampften, ließ Unglauben und schließlich greifbares Unbehagen über ihr Gesicht wandern. Dracosta war höflich, charmant und es gab wohl kaum eine Frau, die nach seinem Besuch über etwas anderes geklagt hätte, außer Erschöpfung, aber wehe man wagte es, seine Pläne zu durchkreuzen oder ihm irgendwie im falschen Moment quer zu kommen. Sie bekam eine Ahnung, warum einige der Männer mit blutigen Nasen - oder schlimmeren - zurückgekehrt waren. 

„Das ist kein guter Zeitpunkt, wie mir scheint“, räusperte Emilie sich. Das erste Mal schien sie die Fesseln an Ians Händen wahrzunehmen. „Oh, der ist echt!“ Sie klang verwirrt und auf schwer fassbare Weise enttäuscht. Anscheinend sah sie ihre ersehnte Liebesnacht ins weite Meer davon treiben. 

„Dracosta, ich weiß was viel Besseres als so ein dummes Verhör“, versuchte sie es hartnäckig und rückte sich ins richtige Licht. Aufgeben war noch nie ihre Stärke gewesen. „Nach den vielen Wochen lasse ich mich mal so RICHTIG von deinem großen Piraten verwöhnen.“

Sie hatte wirklich eine erstaunliche dralle Oberweite. Sogar Ian, der gerade alles andere im Sinn hatte, fühlte sich abgelenkt.      

„Wie wär‘s, Darling? Verschieb deine Befragung einfach auf später. Der läuft schon nicht weg.“

Dracosta beobachtete Emilie mit ungerührt grünen Augen, bis sie unwillig nachgab. „Ja, ja, schon gut. Ich finde den Weg zur Tür alleine“, ächzte sie sarkastisch.

„Ich rufe dich, wenn mir danach ist.“ Mehr sagte Dracosta nicht, bevor sich seine Augen endgültig auf Ian festsetzten. Emilie verließ, die Tür erzürnt hinter sich ins Schloss fallen lassend, den Raum.

 

Kapitel 10

>>Gleiches unbändiges Haar, die gleichen grünen Augen, das gleiche vertraute junge Gesicht, der gleiche junge Körper und doch hätte die Person, die vor mir stand nicht anders sein können, als die Person, die ich zu glauben vermeinte. Allein mit dem Namen nahm ein anderer Mann vor mir Gestalt. Dieses leichte Lächeln, ich hätte es aus diesem vertrauten Gesicht wischen müssen. Ob ich geschockt war? Nicht wirklich. Aber um der Ehrlichkeit Genüge zu tun: Ich war wütend, ich war unermesslich wütend. Lügen sind verabscheuungswert. Mir mein Schiff und meine Freiheit zu nehmen, inakzeptabel! Mein Stolz verlangte aufzubegehren, was hatte ich denn schon zu verlieren?<<

 

Als der letzte Laut aus dem Gang verklang, griff Ian Jamie mit allen Kräften an, die ihm die Wut verlieh. Er war gefesselt, aber allein die Wucht, die hinter seinem Sprung stand, hätte wohl jede Tür aus den Angeln gerissen, hätte er denn einen Treffer gelandet. Doch er war noch immer erschöpft und seine Bewegungen fahrig. Seine Schulter streifte nutzlos Jamies Schlüsselbein, als dieser sich wegdrehte und im Gegenzug Ians Fesseln packte und ihn mit seinem eigenen Schwung in einen Wurf hinein hebelte. Ian landete schwer auf dem Boden und rollte sich, so gut er es vermochte, über den Rücken ab. Jamie hielt noch immer das Ende des langen Seiles. Aber Ian hielt auch etwas, eine der Pistolen. Vielleicht hatte er es von Anfang an auf eine der Pistolen abgesehen gehabt, die Jamie mit sich gebracht hatte. Während er sich aufrichtete, zeigte der Lauf der Waffe unruhig auf das Gesicht, dass er noch immer mit den Namen ‚Jamie’ in Verbindung brachte. Doch wen er für Jamie gehalten hatte, war Dracosta. Ein verfluchter Verbrecher!  

„Ian, du machst mir Gänsehaut.“ Wie samtig diese Stimme werden konnte. „Ich sehe es in deinen Augen. Du würdest einfach abdrücken. Aber…“, man hörte das vernehmliche Einrasten des Hahnes, als er die zweite Waffe hob und auf Ians Gesicht richtete, „Du vergisst etwas. Ich würde es auch.“

Beide verharrten regungslos, gefangen in dieser Patt-Situation. Aber es gab zwei Dinge, die passierten gleichzeitig. Dracosta hob einen Mundwinkel zu etwas, das ein Lächeln hätte werden können, und Ian zog ohne das geringste Anzeichen eines Zögerns den Abzug. Das steinerne Klicken war wie ein Knall in der Stille. Doch kein Schuss löste sich.

„Klick“, sagte Dracosta und zog seinen Abzug ebenfalls durch.

„Ich hätte wissen müssen, dass keine Kugel drinnen war.“ Ian ließ die Pistole sinken.

„Ich hätte doch nicht riskieren können, dass du einen meiner Leute verletzt oder umlegst.“ Dracosta schien die unbedarfte Jungenhaftigkeit zu leben. Nur die Art, wie er Ian musterte und langsam das Ende des Seils um sein Handgelenk wickelte, wollte nicht so ganz in das unschuldige Bild passen.

„Manchmal sind die etwas taub, was Befehle angeht.“ Das Lächeln verschwand für einen Moment ganz von seinen Gesichtszügen. Zumindest was das anging, hatte er ein paar der Neuen darin erinnert.

„Auf das Bett, Ian.“ Es klang fast sanft.

„Ich nehme keine Befehle von dir, dass das Mal klar ist, Dracosta.“ Den Namen betonte Ian wie eine Maul- und Klauenseuche. Die ganze Situation war einfach nur unwirklich. „Such dir einen anderen Bettwärmer.“

„Ich tue, was ich will.“

„Das interessiert mich nicht.“

Dracosta zog demonstrativ an dem Seil. „Ich weiß, du bist körperlich stärker, aber es sollte dir klar sein, dass du mir im Moment nicht das Wasser reichen kannst. Mach es freiwillig oder ich zwing dich. Allein oder mit Hilfe. Es ist deine Entscheidung, wie weit du dich erniedrigen lassen willst.“

Ian zog seine Augen zusammen. Beide schienen in einer ausweglosen Situation. Ian würde sich nie beugen und Dracosta würde keinen Schritt zurückweichen. Aber es war nicht Ian, der den längeren Hebel zwischen den Fingern hielt. Am Ende war er  zu Stolz, um von einem Mob schmutziger Piraten zu einem Bett gezerrt zu werden. Stillzuhalten, während Dracosta das Seil stramm zog, seine Arme nach hinten zwang, war wohl das schlimmste, was er je über sich hatte ergehen lassen müssen. Die Muskeln an seinem Kiefer zuckten unter der Gewalt, mit der er seine Kiefer aufeinander presste. Der Schmerz schoss ihm durch die Zähne bis hoch zu den Schläfen.

„Das habe ich so nicht gewollt, Ian.“ Erklang es betrübt von Dracosta. Seine grünen Augen wirkten überschattet, während ihm ein paar braune Haarsträhnen in die Augen fielen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, den Knoten festzuziehen.

„Spar dir das Süßholzraspeln, Dracosta. Ich habe genug von deinen Lügen.“

„Nenn mich Wayne.“

Ian zog an den Fesseln und schloss seine Augen. Das schwarze Haar umrahmte sein ausdruckloses Gesicht. Umso länger man seine geschwungenen Lippen betrachtete, umso mehr könnte man den Wunsch verspüren, sie zu berühren… Doch wann hatte man schon die Gelegenheit ihn so still, greifbar und wehrlos vor sich zu haben? Dies schien Wayne durch den Kopf zu gehen, während er für keine Sekunde Ians Lippen etwas anderes als seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Eine tiefe Zufriedenheit schlich sich in Waynes Gesicht. Mit einem Pfiff alarmierte er zwei Wachen, die sofort in das Zimmer sprangen.

„Schickt jemanden hoch um Feuer zu schüren. Man friert sich hier ja alles ab.“

Die beiden Piraten führten sofort den Befehl aus - ein Wunder, dass sie sich nicht dabei überschlugen.

„Ich hab auch nicht erwartet, hier bleiben zu müssen, was soll’s.“ Wayne ließ sich in den fellbedeckten Sessel sinken.

Es dauerte nicht lange und ein Junge entzündete mit unsicheren Händen ein Feuer. So schlaksig, wie er war, hätte er eigentlich unter der Last des Feuerholzes zusammenbrechen müssen. Am Ende waren es weniger die Holzscheite, die ihn beinahe dazu brachten, sich der Länge nach auf den Boden zu legen. Anscheinend hatte er keinen Mann in englischer Uniform erwartet – vor allem nicht im Bett.

„Das reicht.“ Wayne winkte den Jungen raus und lockerte die obersten Knöpfe seiner Uniform. „Wie überlebst du das? Da erstickt man ja drin! So stelle ich mir ein Korsett für den Hals vor.“ Ian drehte Wayne sein Gesicht zu. Jeder Millimeter seines Körpers drückte Missbilligung aus. Seine Uniform ließ er nicht beleidigen, ein Umstand, der Wayne ein stilles Lächeln entlockte.

„Ich wollte sie dir schon immer vom Leib schneiden.“ Wayne stand auf und umrundete das große Bett, breit lächelnd. In seiner Hand hielt er ein großes Messer, das er geschickt zwischen den Finger drehte und neben Ian hauchzart über die Matratze führte.

„Was ich jetzt unter Umständen tun muss, da hätte ich vielleicht vorher dran denken sollen“, sprach Wayne lachend zu sich selbst, als er den Gefesselten betrachtete.

„Du…“ Ian klang erstickt.

„Ich? Ich bin einfach nur frustriert, Ian. Beachte mich gar nicht.“ Das Messer schob sich unter Ians Uniform. Ian zuckte vor dem kalten Metall zurück. Ergeben zog Wayne das Messer zurück.

„Ständig kam was dazwischen. Das Schlimme ist, es war zu oft meine eigene Schuld.“

„Das interessiert mich nicht.“

Wayne wirkte verletzt, zeigte dann aber sein verführerischstes Lächeln. Er beugte sich über Ian. Seine Hand schloss sich um Ians Kinn.

„Ich will dich.“

„Schön für dich“, antwortete Ian, ohne auch nur zu blinzeln. Waynes Augenlid zuckte kurz.

„Schlaf mit mir und ich schneide dich frei.“ Bot er an, während sich seine Lippen Ians Mund näherten.

„Vergiss es.“ Ians Stimme war kalt. Welche Anziehung auch immer er für Waynes Alter Ego, Jamie, empfunden haben mochte, schien verschwunden zu sein.

Wayne riss seinen Kopf zurück, sein Gesicht wurde knallrot. Nie im Leben hatte er eine Abfuhr nach der anderen einstecken müssen.

„Nie habe ich einen Mann auch nur angerührt, nicht mal daran gedacht und du…!“

„Das ist dein Problem.“

Wayne zitterte vor Jähzorn. Er kämpfte offensichtlich mit Gefühlen, mit denen er sich nicht zurechtfand. Wie viele Frauen hatte er schon gehabt! Und jetzt bot er sich einem Mann an… und wurde abgewiesen! Niemand wies ihn ab! Das würde er sich nicht gefallen lassen!

„Wenn du es nicht machst, mache ich es.“ Sein Gesicht war in seiner Entschlossenheit hart und unbeugsam geworden. Trotzdem war Ian in seinem ganzen Leben wohl noch nie so langsam entkleidet worden. Knopf um Knopf, umsichtig, vorsichtig und unglaublich bedächtig. Überrock und Hemd, mehr als öffnen konnte Wayne es nicht, ohne die Fesseln zu lösen, aber er streifte den Stoff so weit auseinander, wie es die Lage zuließ. Waynes Atem schien sich, angesichts des Anblickes, der sich ihm bot, merklich zu beschleunigen.

„Mit 12 hatte ich meine erste Frau. Weich und warm…“ Er berührte Ian, wie er eine unerfahrene Frau berühren mochte.

In dieser Situation hatte Ian jedoch keinerlei Schwierigkeiten, NICHT zu reagieren.

„Was wird das?“ Gott, wenn das nicht so eine schlimme Lage gewesen wäre, hätte Ian lachen können. Wayne hatte offensichtlich keinerlei Ahnung, wie er mit einem Mann umzugehen hatte, dabei war er selber einer. „Lass es einfach gut sein und beglücke weiterhin deine Frauen.“

Wayne sprang verärgert auf. Diesmal war er regelrecht weiß wie die Wand und seine Augen waren zu zwei Schlitzen zusammengezogen.

„Wie du meinst, wir werden ja sehen.“

Dieses wütend aufblitzende Grün raubte sogar Ian den Atem. Unbehaglich riss er seinen Blick los.

Wayne stieß ungehalten die Tür auf.

„Holt Emilie! SOFORT!“      

Dracosta ließ sich in den Sessel fallen und warf seinen Waffenrock auf den Boden. Im Schein des Kaminfeuers, zog warmes Licht über seine Haut, brach sich in seinem Haar und ließ sein Gesicht im Halbdunkel verschwimmen. Er schlug ungeduldig ein Bein über die Lehne und stieß mit der Ferse stetig gegen den Sessel. In ihm schien es zu arbeiten.

„Emilie ist da!“ Die vollbusige Dame rauschte in das Zimmer. „Ich wusste du kannst es nicht erwarten!“

Dracosta schaute nicht auf.

Emilie entdeckte Ian, während sie sich, aufreizend den Rock hebend, auf Waynes Schoß niederließ. Sie pfiff anerkennend. „Wirklich hübscher Bettvorleger, aber ist er nicht etwas störend?“

Wayne drehte sein Gesicht zur Seite.

„Kümmer dich um ihn.“

Sie blinzelte überrascht und erhob sich dann mit einem Grinsen. Ihr war es einerlei. „Wie du willst… und danach…“, versprach sie verführerisch.  

„Wir werden sehen.“ Waynes Stimme war undeutbar. Mit unbewegter Miene verfolgte er Emilie, wie sie sich über Ian beugte. Sein Fuß hatte aufgehört gegen den Sessel zu schlagen, das Spiel vor seinen Augen genoss seine volle Aufmerksamkeit. Zu seinem Ärger versperrte ihm jedoch Emilies Rücken die Sicht, aber sie schien sich mit den Händen und Lippen eindeutig Ians Lendengegend zu nähern…

Doch als Ian aufhörte an den Fesseln zu zerren und mit einem Geräusch zurücksackte, das man mit viel Fantasie als unterdrücktes Schauern auslegen konnte, ging Wayne mit einer Gewalt dazwischen, dass Emilie regelrecht zur Seite fiel.

„Das reicht!“ Nach einem Marathonlauf hätte sein Atem nicht härter gehen können.

„Das reicht, verdammt!“ Er schaute nicht mal in die Richtung der opulenten Frau, die zwischen den Bettvorlegern gelandet war. Wahrscheinlich befürchtete er, ihr an die Kehle zu gehen.

„Was ist, Dracosta? Du wolltest doch…“, beschwerte sie sich empört.

„Verschwinde einfach!“

Emilie rappelte sich auf. „Du weißt auch nicht, was du willst!“ Sie deute einen der flauschigen Bettvorleger aus dem Weg und stampfte beleidigt zur Zimmertür. „Damit du es weißt, Wayne Dracosta, ich such mir jetzt was anderes für die Nacht! Komm gar nicht auf die Idee, mich heute noch mal zu rufen!“ Die Tür schlug hinter ihr zu.

Zurück blieb schweigen, bis Ian endlich die Stille brach.

„Unglaublich charmant und das vom fleischgewordenen Traum aller Weiblichkeit… Hör auf, mir deine Dirnen auf den Hals zu hetzen und mach es ihr gleich: Verschwinde!“ Ians Augen hätten nicht kälter sein können, aber welche Reaktion er auch immer erwartet hatte - Wut, Frust -, Wayne übertraf selbst seine Vorstellungen.

„Das war dumm von mir.“ Wayne presste die Lippen aufeinander. Hinter seiner Stirn schien es regelrecht zu brodeln. Seine Finger hakten sich oben in sein Hemd und er entledigte sich mit einer beängstigenden Aggressivität seiner Kleidung.

„Ein letztes Mal! Schläfst du mit mir… freiwillig?“ Waynes Stimme war trügerisch ruhig, während er eine Hand um Ians Oberschenkel spannte. Ians Antwort war einfach, aber dafür umso deutlicher. Er schüttelte die Hand ab und schnaubte.

„Such dir einen anderen Kerl, der dich auf sich lässt.“ Ians Blick zog über Waynes Körper, blieb an einer zwei Handteller großen Narbe hängen, die wie eine weiße, zerquetschte Spinne ihre hässlichen Beine über die unversehrte Haut von Waynes Seite streckte, und stoppte endgültig an Waynes Körpermitte.

„Ich will dich“, wiederholte Wayne mit dieser Stimme, die einem einen Schauer über den Nacken jagen konnte. Es klang sehnsüchtig und rau und unglaublich jung, und nicht zuletzt war ein gewisser Umstand des ‚Wollens‘ schwer zu übersehen.

Ians Aufmerksamkeit wandte sich wieder auf Waynes Gesicht. Was er dachte, verbarg er. Auch, als Wayne sich über ihn beugte, den wohlgezielten Knie stoß Ians spielerisch abfing und ihm endgültig die Hose auszog.

„Zumindest weiß ich mehr, als er mir zutraut“, presste Wayne hervor. Er hatte einen Pott Öl neben dem Bett hergezogen und ließ es in seine Hand laufen. Es lief seine Finger herab, rann über sein Handgelenk und tropfte auf das Laken, wo es hässliche Flecken hinterließ. Er ließ Ian die Zeit, den Anblick in sich aufzunehmen.

Denn er hatte vor Ian in Besitz zu nehmen. Keine anderen Worte hätten es besser beschreiben können. Es war, als wollte Wayne die Berührungen von Emilie aus Ians Gedächtnis treiben.   

Man hörte das Keuchen und das rhythmische Knarren des Bettes. Kein Vorspiel mehr, es war reiner, animalischer Sex. War es Schmerz oder Lust, welche Ian zwangen, sich an die Fesseln zu klammern, während ihm jeder Stoß die Luft aus den Lungen trieb?

„Haah… hah… hah…“

„Ian… du wirst… meinen Namen stöhnen“, raunte er in Ians Ohr. Wayne hob Ians Bein und bog es zurück, das es fast Ians Schulter berührte, und leckte verspielt den Unterschenkel. „Bereit? Wir wechseln, Ian.“ Er wandte seinen Blick nicht von Ian, während das Spiel in die zweite Runde ging. Diesmal von hinten. Es war zu verlockend, um es nicht auszukosten.

„Aah… nn…“ 

„Du wirst hart“, bemerkte Wayne, seine Hand schob sich um Ians Hüfte. Ian warf den Kopf zurück. Wessen Keuchen, wessen Stöhnen, es schien keine Trennung zu geben. Ians Stimme war nur eins: Seltener zu hören und dunkler.

Es blieb nicht bei einem Mal. Wayne ließ Ian keine Ruhe, bis dieser aufhörte zu zählen, und schließlich einfach erschöpft zusammensackte. Er musste sich wund und zerschlagen fühlen, doch nichts an ihm sprach von einem gebrochenen Geist.

„Ich habe noch nie gespürt, wie ein Mann zwischen meinen Fingern kommt“, flüsterte Wayne über Ians reglosen Körper. Seine Finger folgten Ians Armen hoch zu den Handgelenken, wo Rötungen davon kündeten, wie das Seil an seinen Gelenken gescheuert hatte. „Nun, abgesehen von meiner Wenigkeit“, fügte Wayne amüsiert an.

„Lass mich frei.“ Ian öffnete erschöpft seine Augen.

„Noch nicht.“ Wayne küsste sanft Ians Hals und lockerte das Seil weit genug, dass Ian die Arme anziehen konnte. „Noch nicht.“

Ian schloss seine Augen wieder. Ermattet, wie er war, dämmerte er in einen ungesunden Halbschlaf und weiter in einen tiefen, schweren Schlummer. Wayne zog eine Decke über den Schlafenden und hielt ihn fest. Er selber schloss bis zum nächsten Morgen, nicht für eine Sekunde die Augen.

 

Kapitel 11

>>Zu meiner größten Schande, wie ich heute gestehen muss, hat mich mein ganzer Stolz nicht davor bewahren können, nach diesem erniedrigenden Erlebnis, in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung zu fallen. Vielleicht schwerer wog der Umstand, dass Dracostas Bemühungen, mich nicht unbeeinflusst gelassen hatten… man verzeihe mir, diese vage Wortwahl. Dinge direkt auszusprechen ist eine Tugend und der Stolz jedes ehrbaren Mannes. Trotz allem liegt es mir fern, derart skandalöse Worte an die Öffentlichkeit zu bringen. Seien sie versichert, als Mann hat man geringe Möglichkeiten seine Erregung zu verbergen, davor rettet sie keine Disziplin der Welt. Frustrierend, aber schlichte und unveränderliche Wahrheit. Und schätzen sie meine Worte deswegen nicht geringer: Schmach ist ein leidiger Geselle. So lag mein Blick mit der unnachgiebigen Wut eines niedergehaltenen Mannes auf diesem gelassen, ruhigen und scheinbar sorgenlosen Gesicht, hinter dem alles zu hausen schien, was ich in meinem Leben als verachtenswert zu empfinden gelernt habe. Leichtsinn, Unbedachtheit… Feind Englands. Hätte man mich losgebunden, hätte man mir eine Waffe gegeben, so hätte ich nach törichter Wiedergutmachung gelechzt. ‚Töricht‘ aus meiner heutigen Sicht. Vielleicht würden einige Pfade leichter zu beschreiten sein, wenn man die Geschehnisse, nicht erst im Nachhinein, in voller Klarheit sehen könnte. Aber es liegt mir fern, ihnen weiterhin vorwegzugreifen…<< 

 

Mit dem Morgen kamen für Ian nicht nur die ersten Strahlen der Sonne, sondern auch ein unangenehmes Erwachen voller Schmerzen. Das Seil hatte seine Haut aufgescheuert und von seinen Armen erreichte ihn ein Gefühl tauben Brennens, obwohl die Fessel mittlerweile nur noch seine Handgelenke hielt. Und das war bei Weitem nicht die einzige Stelle, die ihn, neben seinen angekratzten Stolz, plagte. Seine eisblauen Augen schienen Wayne aufzuspießen, der sich in Ians Augen, wie zum Spott, in seinem großen Sessel flegelte und dabei das Seilende stetig durch seine Finger zog.

Er trug einen roten, nicht zugeknöpften Ausgehrock und Beinlinge, die ab Kniehöhe in eine locker fallende Hose übergingen. Der Aufzug bildete einen auffälligen Kontrast zum hellen Schaffell, das den Sessel bedeckte. Wayne hatte ein Bein locker über die Lehne geschwungen und wippte damit langsam auf und ab, während er Ians Erwachen aufmerksam verfolgte.

Die verschiedenen Phasen der Erkenntnis, die über Ians sonst so gefasste Gesichtszüge liefen, schienen ihm ein eigenes Vergnügen zu bereiten. Ian setzte sich ruckartig auf und zuckte sofort zusammen. Das Laken rutschte ihm bis zum Bauch nach unten, entblößte nicht nur den Körper eines erwachsenen Mannes, sondern auch die unmissverständlichen Flecken der letzten Nacht. Beiläufig seine Beine ordnend, strich Wayne mit einem Seufzer durch sein Haar.

„Entschuldige, es war schwerer als ich dachte, mich zu beherrschen.“ Er lehnte sich vor. „Normalerweise bin ich besser.“ Er wirkte etwas planlos angesichts seiner nächsten Worte. „Ich habe eine Salbe. Die Damen sagen zumindest, das würde helfen, wenn man wund ist.“ Ob es für Männer auch taugte, war eben die Frage. Er beugte sich vor. „Aber ich muss dir ja nicht sagen, dass du keine Dame bist – offensichtlich.“ Seine Augen wanderten an Ian herab.

Man sollte nicht meinen, dass kein Selbstvertrauen hinter Waynes Worten gestanden hätte. Von seinen Fähigkeiten als Liebhaber war er durchaus überzeugt. Ian blieben, angesichts dieser Selbstgefälligkeit, die Worte ihm Hals stecken. Ein lautes Klopfen unterbrach die unangenehme Situation, bevor diese sich zu einem mittelschweren Desaster hätte auswachsen können.

„Die Tür ist offen!“ Wayne seufzte ergeben und lehnte sich wieder zurück in seinen flauschigen Sessel. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren und ein dunkelhaariger, hochgewachsener junger Mann trat ein.

Wayne tippte gegen die Armlehne und zündete sich lässig eine Zigarette an.

„Morgen, Gregory“, begrüßte er den Freibeuter, der vielleicht eine Handvoll Jahre älter war als Wayne, wenn überhaupt. Zumindest schien er Ian im Alter näher zu sein.

„Wayne, die Männer haben dich gestern Abend schon vermisst.“ Der junge Mann hatte immerhin den Anstand, den gefesselten Mann in Dracostas Bett geflissentlich zu übersehen. „Und nachdem Emilie die halbe Mannschaft unter den Tisch gesoffen hat, flogen schon die wildesten Wetten durch das ‚Blue Berry‘, welche Betten du wohl diese Nacht besucht hast.“

Wayne blies einen dünnen Rauchstrahl durch die Lippen. „Sag ihnen, ‚mein Eigenes‘.“

„Sag das mal Emilie. Sie war der festen Überzeugung, dass du doch noch einen Abstecher zu ihr machst. Allerdings hat sie nicht erwähnt, wer…“, sein Blick ging kurz zu Ian und er runzelte ansatzweise die Stirn, “gerade dein Bett mit dir teilt“

„Gut für die andere Hälfte der Mannschaft. Emilie ist sehr großzügig, wenn sie angesäuert ist.“

„So ungefähr.“ Gregory zeigte ein eindeutiges Grinsen und Wayne hob amüsiert die Brauen. „Ich wusste allerdings nicht, dass du neuerdings so schwingst.“ Eine leise Missbilligung in Gregorys Stimme war nicht zu überhören. „Das war viel Ärger für einen rangniedrigen Kapitän.“ Er sparte sich das ‚Nichts für ungut‘. Ihm war ziemlich egal, dass der Gegenstand des Gesprächs zuhörte. „Und ich kann darauf verzichten noch mal deinen Aufzug anzuziehen, nur damit du Matrosenurlaub spielen kannst“, fügte Gregory missgelaunt an.   

„Das hatten wir alles schon geklärt, dachte ich.“ Waynes Tonfall bewegte sich irgendwo zwischen zu lockerer und stummer Warnung, was sich auch in seiner ganzen Körperhaltung widerspiegelte. „Außerdem hat niemand einen Grund sich zu beschweren, soweit mir bekannt ist.“ Sein Blick ging zu Ian, der in unterdrückter Wut sein Gesicht abgewandt hatte.

Es war erstaunlich, wie er selbst in dieser Situation versuchte, Haltung zu wahren. Trotz gebundener Hände, trotz der Spuren lag eine atemberaubende Linie zwischen seinem Nacken und dem leicht gesenkten Kopf, der nur den Blick auf seine geschwungenen Lippen freigab. Ohne den Schutz der Uniform, mit frei fallenden Haaren, die in ihrem Schwarz seine Augen verbargen, rang der Anblick sogar Gregory einen zweiten Blick ab, bevor er angewidert das Gesicht abwandte. Wayne zog mit gehobener Braue etwas Rauch ein und warf die gerade mal angerauchte Zigarette in den Kamin.

„Darf ich vorstellen Gregory Toothon, das ist Ian McLane, Kapitän der ‘Seagull’. Er ist unsere wertvolle Beute.“ Er schwang sich hoch und legte eine Hand auf Gregorys Schulter, leicht zudrückend. „Vergiss das nicht.“        

Gregory warf seinem Freund einen spöttischen Blick zu. „Wie könnte ich? Du treibst dich wochenlang rum, ein Überfall wird abgeblasen, eine halbe englische Flotte gekapert, zwei der Neuen liegen wegen dir höchstpersönlich auf der Matte und spucken Zähne, ein Geldtransport fällt in unsere Hände und alles was unser Dracosta behalten will, ist ein einzelner Offizier, der nicht mal ein klägliches Lösegeld bringen wird.“ Sein Ton verlor an Spott und wurde neutraler. „Glaub mir, es liegt mir fern, irgendjemand abzuwerten. Ich spreche nur Tatsachen aus.“

Während und nach der Vorstellung hatten weder Gregory noch Ian einen einzigen Blick gewechselt. Ian, weil er sich weigerte, auf diese Weise klein bei zu geben und Gregory, weil er, seiner Meinung nach, schon genug gesehen hatte.

„Es geht mich nichts an, mit was du deine Freizeit verbringst“, fuhr Gregory ungerührt fort.

Ian ballte die Hände zur Faust und Wayne verlagerte unmerklich sein Gewicht, ohne dabei Gregory zu unterbrechen, der zu Ende brachte, was er zu sagen hatte.

„Aber es wird Zeit, dass du endlich runter gehst und dein Gesicht zeigst.“

„Schon gut!“ Wayne zog ein Messer, warf es leicht hoch und fing es mit der Klinge nach oben. Ohne einen weiteren Kommentar setzte er es an das Holz des Bettrahmens, genau zwischen Ians Arme, und durchtrennte seine Fesseln. Der plötzliche Blutfluss war fast unangenehmer als die vorherigen Fesseln. Ian atmete scharf ein. Er konnte seine Finger kaum öffnen, so steif waren sie. Trotzdem sah er aus, als wollte er nicht weniger, als jeden Moment an Waynes Kehle zu gehen. Stattdessen bekam er die kühle Klinge an seine eigene gepresst. Doch selbst der kalte Stahl vermochte nicht, den Blick aus seinen eisigen Augen löschen.

„Ich bereue jetzt schon, gehen zu müssen.“ Wayne zog das Messer zurück und ließ es in seinem Stiefel verschwinden.

„Kleidung findest du dort drüben. Keine Sorge, die Besitzer vermissen sie schon lange nicht mehr.“ Wayne lächelte einen unübersehbaren Beweis seines Charmes. Es war wirklich nicht schwer zu verstehen, dass die Frauen ihm gerne nachgingen.

„Gehen wir!“ Wayne gab Gregory einen Wink mit den Augen und warf Ian noch einen Seitenblick zu, bevor er sich abwandte. Der letzte Moment im Zimmer gehörte Gregory, der einen langen undefinierbaren Blick zum Bett warf und schließlich die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

„Verstärkt die Wachen und bringt ihm was zu Essen und zu waschen“, befahl Wayne lässig an die Männer gewandt, die auf Wachposten herumlungerten. Mit einer routinierten Bewegung ließ er das Schloss einrasten.

„Wenn er was anderes will, gebt mir Bescheid“, winkte er mit einem belustigten Lächeln und trat aus dem Gebäude. Gregory folgte Wayne in einem konstanten Abstand von einem Schritt ins Freie.

Die morgendliche Sonne brach sich im grünen Blattwerk der wenigen Bäume und warf lange Schatten über den Trampelpfad, an den sich die geduckten Hütten schmiegten. Die salzige Brise des Meeres schwängerte die Luft und wurde zu einem frischen Windstoß in dem abgestandenen Mief der riesigen, aber behelfsmäßigen, Spelunke des Freibeuternestes, der ‚Blue Berry‘, als Wayne kraftvoll die Tür aufstieß.

„Alles klar, ihr Seewölfe? Ist es mal wieder so weit?“ Er stellte seinen Fuß unüberhörbar auf einer Kiste ab und stützte seinen Ellbogen locker auf dem gehobenen Oberschenkel. In diesem zusammengewürfelten Haufen war er wohl, allein wegen seiner Ausstrahlung, die Krönung undisziplinierten Verhaltens, dabei war der Rest der Spelunke bereits von sehr fragwürdig aussehenden Typen gefüllt. Umso erstaunlicher waren die leisen Pfiffe und die immer wieder aus verschiedenen Ecken hallenden ‚Ahoi, Dracosta!’ Rufe, während ihm mit schmierigen Bechern zugeprostet wurde.

Gregory ließ sich derweil breitbeinig auf einen freien Platz sinken, während sich schon die erste Bardame auf seinem Schoß niederließ und einen Arm um seine Schultern legte. Die meisten Frauen hier waren leichte Mädchen, denen das Leben hier, unter eigenem Regime, immer noch besser behagte, als die brutalen Zustände in den billigen Bordellen.  

„Ich hoffe ihr ward brav ohne mich!“ Ein lautes Grölen und Lachen erhob sich.

„Und wie war es bei den englischen Speichelleckern, Dracosta? Hast du keine Entzugserscheinungen bekommen?“ Wieder lachen. Wenn es Mitglieder gab, die Wayne nicht abkonnten, waren sie entweder unauffällig leise oder nicht im Raum. Egal was nun zutraf, ausgelassener hätte die Stimme nicht sein können. Das hier war nicht irgendeine Ansprache, Waynes Fuß stand nicht nur auf irgendeiner Kiste, sondern auf Beute und diese stapelte sich hinter ihm bis unter die Decke. Es wurde Zeit den Gewinn aufzuteilen.

„Oh, ja das wüsstest du wohl gerne?“, schoss Wayne zurück und stützte sein Kinn auf. „Unsere holde Königin schätzt zwar stramme Recken in Uniform, aber auf diesen Schiffen sucht man immer vergeblich nach etwas Gesellschaft für die kalten Nächte… nicht so wie im eigenen Hafen.“ Er legte einen Arm um eine Bedienung, die an ihm vorbeikam. Das Mädchen kicherte und entblößte dabei ein paar Zahnlücken.

„Immer doch, Dracosta“, kokettierte sie und schob eine Hand unter den oberen Teil seines Ausgehrockes. Wayne neigte seinen Kopf und flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr. Sie schlug die Hand vor dem Mund und kicherte, bevor sie Wayne den Becher in die Hand drückte, den sie gerade hielt. Waynes Augen folgten ihr amüsiert, während sie davon eilte.

„Hey, das war meins!“

„Lass uns auch noch was zu saufen übrig, du Schwerenöter!“

Mehrere Rufe überschnitten sich gleichzeitig, aber gegen den ausgelassenen Lärm in dem überfüllten Raum, kamen nur die wenigsten an.

Waynes flache Hand traf lautstark das spröde Holz der Kiste.

„Fangen wir an!“, verkündete er mit aufblitzenden Augen und streckte eine Hand zur Seite. Dachte man vorher, es könnte nicht lauter zugehen, fand man sich jetzt eines Besseren belehrt. Umso unheimlicher war die regelrecht aggressive Stille, die sich ausbreitete, als Wayne eine Liste gereicht wurde. Wenn es um Beute ging, stand sich jeder selbst am nächsten.

„Flicket, du Greisenknochen, wer soll denn diese Sauklaue entziffern können?!“ Er schwenkte das Papier. „Schreib das nächste Mal, ohne deine Hand im nächstbesten Mieder zu versenken.“ Man konnte sagen, was man wollte, aber Wayne wusste, wie er seine Leute abzulenken hatte. Das gehässige Lachen, das kurz aufbrandete, lockerte die angespannte Stimmung spürbar.

Wayne ging die Liste durch, klopfte kurz gegen die entsprechenden Kisten und begann den verschiedenen Schiffen die Beute zuzuteilen.

„Wie versprochen, mein Anteil geht an alle! Nur der Engländer gehört mir.“

„Der kann einem ja fast leidtun.“

„Dracosta ist eben rachsüchtig!“

„Lass aber noch was von ihm übrig, Dracosta! Er ist immer noch ein bisschen Gold wert, solange er nicht vollends den Löffel abgibt.“

„Soll er doch, das ist noch zu gut für ihn. Wegen ihm wären wir beinahe abgesoffen! Allein wie er schon so eingebildet den Weg hochgeschwänzelt ist, als wären wir nicht da. Ich hätte dem Kerl am liebsten die Fresse poliert…“

Gregorys Gesicht hatte sich bei diesen Gesprächsfetzen zusehends verdunkelt. Mit einer fahrigen Bewegung leerte er sein Bier bis zum Humpenboden.

„Was ist? Warum so mürrisch?“, fragte das Mädchen auf seinem Schoß und rutschte leicht hin und her, während sie sich fester an den jungen Mann schmiegte.

„Nichts“, sagte er tonlos und schaute kurz zu Wayne, der gerade die Liste zusammenknüllte, über die Schulter wegwarf und einen Pfiff ausstieß. 

„In Ordnung. Und jetzt schafft das Zeug raus, damit wir feiern können! Die Getränke gehen auf mich!“

 

Ian hörte das Einrasten des Schlosses. Er hätte aufspringen, toben oder irgendetwas zerstören können, aber derartig sinnlose Aktionen entsprachen nicht seinem Charakter, egal wie sehr es ihm danach verlangen musste. Nach dem langen Liegen litt er nur umso mehr unter den morgendlichen Nachwirkungen der Gehirnerschütterung. Ihm war schwindelig und übel. Alles Zustände, die durch das Fesseln und die erzwungene Liegehaltung, die er selbst im Schlaf hatte aufrechterhalten müssen, nur verstärkt wurden. Es kostete ihn Überwindung diese geraubte, gestohlene und nun ihm vorgelegte Kleidung, als das anzunehmen, was es war: die einzige Möglichkeit - neben Fellen und befleckten Laken - sich ordentlich zu bedecken. Seine eigenen Hosen waren unauffindbar und sein Waffenrock war voller Ölabdrucke und Spuren der letzten Nacht, die es ihn anwiderte näher zu untersuchen. Und es gab nichts, das er weniger wollte als bereits nackt zu sein, wenn diese Tortur in die zweite Runde ging.

Doch es war nicht Dracosta, der nach wenigen Momenten den Raum betrat, sondern zwei ältere Männer. Einer bis an die Zähne bewaffnet, der andere einen Teller mit Eintopf und einen Brotkanten neben die Tür stellend, während sie Ian misstrauische Blicke zuwarfen.

„Macht Platz ihr Trottel! Das Teil ist schwer!“ Emilie schob sich mit einer Waschschüssel an den beiden vorbei. „Was seid ihr für Weicheier? Ihr tut ja fast so, als wäre der Kerl ansteckend! Bei ihm sieht’s unten rum auch nicht anders aus als bei euch.“

„Darauf würde ich nicht wetten.“ Meinte der ältere bärbeißig und lehnte die Muskete an seine Schulter. „Kannst gerne später mal nachschauen.“

„Vielleicht mache ich das ja.“ Sie wiegte ihre Hüfte und gewährte dem grinsenden Mann einen tiefen Einblick auf ihren wogenden Busen.

„Aber erst, wenn du das getan hast, was der da machen soll! Dich gefälligst Waschen.“

Sie warf Ian einen unterkühlten Blick zu und ließ die Wasserschüssel auf den Tisch plumpsen, so dass der halbe Inhalt über den Rand schwappte und der Waschlappen in einer kleinen Lache über die Tischkante schwamm.

„Nichts für ungut, Schätzchen“, sie musterte Ian, „aber Dracosta mag es sauber.“ Emilie wandte sich ab und scheuchte die anderen beiden raus.

„Du solltest nicht glauben, dass du Dracosta für dich gepachtet hast!“ Ihr Blick traf den stehenden Ian über die Schulter hinweg. „Er hat dich schneller satt, als du bis drei zählen kannst!“

„Danke für den Hinweis, Milady.“ Ian verbeugte sich als stünde er auf dem Deck seines eigenen Schiffes und hätte es mit einer Dame zu tun. Aber so normal diese Bewegung sein mochte, durch die Umstände, bekam es eine nicht zu übersehende spöttische Note.

„Pff“, Emilie zuckte kurz mit der Braue, „du hältst dich für einen harten Hund, oder? Aber er kommt trotzdem immer zu mir zurück, merk dir das lieber“, machte sie unmissverständlich klar und schlug die Tür derart heftig zu, dass ein merklicher Windstoß durch das Zimmer fuhr.

Ian presste in einer ungläubigen Geste seine Finger gegen die Augenlider.

„Ich bin hier nicht zu meinem Vergnügen, verdammt noch mal!“ Er wurde abwechselnd von Dracosta, Dracostas Frauen oder Dracostas Männern von der Seite angemacht. Alles lief auf eines hinaus… Dracosta, Dracosta, Dracosta! Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nicht übel Lust, die sowieso schon halb leere Wasserschüssel durch das Zimmer zu werfen. Aber es gab Spuren an seinem Körper, die er nicht noch länger auf der Haut ertragen wollte… 

Für Ian wurde es ein langer Tag. Bis er in der Lage war zu Essen, bestach das Essen durch fehlende Wärme – wenn der Eintopf denn je wärmer gewesen war als Zimmertemperatur. Es gab auch kein Besteck, wahrscheinlich, weil er es als Waffe hätte missbrauchen können. Die Tür blieb verriegelt und die Fenster vergittert. Sein unruhiger Gang durch das Zimmer endete nur allzu oft an der Tür und führte ihn unweigerlich zurück zu dem Kamin. Die Stille, das Nichtstun und die stetig präsente Ungewissheit machten ihn halb wahnsinnig.

Jeder andere wäre vielleicht unter dem Druck zusammengebrochen. Ian tat es nicht. Er nahm die Dinge Schritt für Schritt, so gut er es vermochte. Es war ihm nicht möglich das Zimmer zu verlassen, gut. Er würde irgendwann, irgendwie rauskommen. Solange er lebte, musste er das Beste aus seiner Situation machen.

Neben einem armlangen, gut verborgenen, Wandregal blieb er stehen. Die verblassten, goldenen Lettern auf den abgegriffenen Buchrücken zogen unwillkürlich Ians Aufmerksamkeit auf sich. Mit dem Finger folgte er den einzelnen Titeln und befreite schließlich ein unscheinbares Buch aus dunklem Leder aus der Enge der gedrängten Buchrücken. Es war auch dieses Buch, mit dem er sich, nach einem kurzen Moment körperlichen Unwohlseins, niederließ. In dem ganzen Raum gab es nur zwei echte Sitzgelegenheiten. Der Sessel und das Bett. In das Letztere hätte ihn im Augenblick keine Macht der Welt gebracht. Allein die Anwesenheit dieses bedrohlich wirkenden Gebildes war eine frustrierende Präsenz in seinem Kopf, die er lieber ausgeblendet hätte. Das Buch brachte ihm Ablenkung. Es mochte Stunden dauern, aber irgendwann war er so in den beruhigend, vertrauten Zeilen vertieft, dass er fast vergessen konnte, wo er sich befand.

 

Der Lärm in der ‚Blue Berry‘ erreichte seinen feuchtfröhlichen Höhepunkt kurz nach Mittag, als die Barmädchen Verstärkung durch ein paar Tanzmädchen bekam, natürlich angeführt von Emilie, die in ihrer typisch resoluten Art die Tür aufstieß.

„Vorwärts Mädels, heute gibt’s wieder was zu holen“, sagte Emilie und stemmte die Hände in die Seite. Während die Mädchen nichts, bis weit unter die Unterröcke, der Fantasie überließen, setzte sich Emilie mit wiegenden Rock auf Waynes Oberschenkel und leerte den Rest seines Bieres, bevor sie ihn, unter anfeuerndem Grölen und Johlen aus der Stube, einen langen Kuss aufdrückte.

„DAS ist mein Dracosta!“, lachte sie offen. Zügellos feiernd und ungebunden. Er gehörte vielleicht nicht ihr, aber er gehörte auch niemand anderem.

Wayne ließ seinen Arm um ihre Taille und verlagerte sein Interesse wieder auf Gregory. Es schien ihn nicht zu stören, dass Emilie beiläufig seinen Ausgehrock öffnete und dabei auseinanderzog, während er das Gespräch wiederaufnahm.

„Wie viele neue waren das?“

„Drei“, antworte Gregory seine Stimme gegen den Lautpegel hebend.

„Einer in der Küche… und die anderen beiden sammeln noch ihre Gliedmaßen auf.“

„Ich erinnere mich.“ Waynes Mundwinkel zuckten hoch, er lehnte sich leicht zurück und rieb ansatzweise über seinen Knöchel. Für das, was sie Ian angetan hatten, waren ein paar Zähne und angebrochene Knochen kein großes Blutgeld. Er hatte ihn gefangen gesetzt haben wollen, nicht totgeschlagen.

„Die Reparaturen gehen voran, ich schick dir einen Überblick von den Schäden hoch, wenn sich alle zurückgemeldet haben.“ Gregory zuckte mit der Schulter. „Kann aber noch dauern.“

Nicht verwunderlich, denn das Saufgelage hatte schon gestern seinen Start genommen, wer jetzt noch nicht blau war, wäre es spätestens in ein paar Stunden.

Emilie schnaubte. Offensichtlich hatte sie, ihrer Meinung nach, jetzt lange genug ausgeharrt.

„Er hat sein Essen“, bemerkte sie laut. Das erste Mal bekam sie mehr als nur Waynes halbe Aufmerksamkeit und das befriedigte sie.

„Dein englischer Schoßhund. Er hat Essen, er hat Waschzeug…“ Sie drehte eine Strähne ihres Haares um ihren Finger und schien Wayne nicht zu beachten. „Ich war so nett es ihm hinterher zu tragen.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Jetzt solltest du etwas nett zu mir sein“, schmollte sie gekünstelt.

Waynes Lächeln wirkte eine Spur kälter, dann zuckte er mit den Schultern.

„Nicht heute, ich habe…“ Er pfiff leise durch die Zähne und wartete, bis das Barmädchen von vorher, sich von hinten an ihn drückte. „…schon eine Verabredung mit unserem ‚Nachwuchs‘. Und man soll seine Versprechen an hübsche Damen nicht brechen, nicht wahr?“

Das Mädchen kicherte geschmeichelt, denn so wirklich gesegnet hatte sie die Natur nicht.

Emilie lachte offen, sie hatte doch gewusst, dass Dracosta ganz der Alte blieb! Er konnte seine Finger nicht von den Frauen lassen. Den englischen Kapitän hätte er schon bald vergessen.

“Mein Bett steht immer frei, wenn’s dir nicht reicht. Du weißt, wo du mich findest“, zwinkerte sie selbstbewusst und setzte sich an den nächsten Tisch, wo sie schon mit stürmischer Begeisterung empfangen wurde.

„Gehen wir?“, fragte Wayne und bot der jungen Frau in vorbildlicher Manier seinen Arm. „Ich überlasse dir den Rest.“ Ein Geldsack landete auf dem Tisch und er klopfte Gregory kumpelhaft auf den Rücken.

„Klar, Wayne“, grinste Gregory. „Übertreib‘s nicht zu sehr, sie ist noch nicht lange hier.“

„Ich werde unsere unerfahrene Schönheit auf Händen tragen.“ Versprach Wayne gut gelaunt, schnappte das überrascht aufquiekende Mädchen und hob es auf seine Arme. „Man sieht sich!“

„Man sieht sich“, antwortete Gregory schmunzelnd. „Eine neue Runde!“, verkündete er spontan, den prallen Beutel hochhebend. Das begeisterte Tischklopfen begleitete Waynes Weg aus der Spelunke noch lange, nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war.

Kapitel 12

>>Leihen sie mir für einen Moment ihr geneigtes Ohr. Kennen sie das Geheimnis der Atemlosigkeit? Anstrengung? Natürlich, aber ist das nicht langweilig? Ich verrate es ihnen, Vergessen. Wie das, mögen sie fragen. Sie denken zu kompliziert. Vergessen zu atmen, so einfach ist das. Ich habe vergessen zu atmen, den Augenblick, als ich die Tür öffnete und nichts sah, als den sanften Schein der untergehenden Sonne auf einer ruhig lesenden Gestalt in meinem Sessel…<<

 

„Mein werter Kapitän überrascht mich immer wieder.“

Ian schaute überrascht auf und klappte das Buch zu. Was er sah, war ein offensichtlich angetrunkener Dracosta, mit offenem Ausgehrock, zerzaustem Haar und einem schweren Blick, der jeder von Ians Bewegungen blinzelnd folgte, als dieser aufstand.

„Thomas Gray…“, Wayne nahm das Buch an sich. „Wer hätte gedacht, dass du Gedichte liest?“

„Du kennst mich auch nicht.“ Mehr sagte Ian nicht zu dem Thema, er wich weder zurück, noch griff er an. Es war schwer zu sagen, was in ihm vorging.

„Das merke ich immer wieder.“ Wayne ließ sich in den frei gewordenen Sessel fallen. Er war immer noch warm.

„Aber das macht es interessanter“, lächelte er und lehnte sein Bein wieder locker über die Lehne. „Ich dachte, du würdest mich mit dem Seil oder der Waschschüssel angreifen, stattdessen…“, er hob das Buch, „das hier. Von all den Büchern dieses.“ Seine Finger fuhren bedächtig über die Seiten.

Ian antwortete nicht. Abweisender hätte eine Haltung kaum sein können, aber es war ihm nicht möglich zu verbergen, dass es hinter seiner Miene arbeitete - vielleicht versuchte er das auch gar nicht.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Stille.

„Immer herein!“ Wayne schaute erst Richtung Tür, als ein üppiges Abendessen und eine Karaffe Wein reingetragen wurden.

„Vielen Dank, Kleine“, strahlte er das junge, bestimmt nicht mehr als zwei Handvoll Jahre zählende, Mädchen an. „Stell es einfach da ab, wo du stehst.“

Wayne sprang auf und nahm ihre zierliche Hand. „Wenn du ein bisschen gewachsen bist, werde ich mich erkenntlich zeigen.“ An ihrer Nase ziehend, richtete er sich wieder auf. „Bist du so lieb, dass du noch das alte Zeug mitnehmen kannst? Und sag deiner Mutter meinen Dank.“

Das junge Mädchen nickte begeistert und eilte mit den alten Schüsseln aus dem Zimmer.

Ians Blick lag auf dem Türausschnitt. Er registrierte nicht nur das entschwindende Mädchen, sondern maß auch Dracostas Männer, die im Gang pattroulierten - oder einfach nur an der Wand lehnten. Seine Chance zu entkommen, würde wohl an dem fünften Mann enden, wenn nicht schon vorher. Das gab ihm ein galliges Gefühl. 

„Die Tochter der Köchin, noch etwas spät reif.“ Mit einem stillen Lächeln rieb Wayne sich über sein Kinn und schloss die Tür. „Aber wenn sie mal so wird wie ihre Mutter…“

Sein Seitenblick traf Ian, der in einer Mischung aus Abscheu und Unglauben, sein Gesicht abwandte. Wayne nahm einen Apfel und warf ihn leichthin in die Luft, bevor er sich wieder im Sessel niederließ.

„Ich war nicht viel älter als sie. Das habe ich schon erwähnt, oder?“ Wayne drehte den Apfel, in Nostalgie versunken, zwischen den Fingern. „Ein Geburtstagsgeschenk zum Zwölften.“ Er hob spöttisch seine Augenbrauen. „Seitdem ist fast jeder Tag mein Geburtstag.“

„Das glaube ich gerne.“ Ian klang nicht mal sarkastisch. Er glaubte es wirklich. Nur machte es ihm dieser Umstand weder leichter noch das Gespräch weniger makaber.

„Das Buch… warum genau das?“, fragte Wayne beiläufig.

Kurz zog ein überraschter Ausdruck über Ians Gesicht, dann lächelte er schwach. Makaber, bis zum Ende.  

„Mein Vater besaß es.“ Ian zuckte mit der Schulter. „Nicht dass es etwas zur Sache täte.“

„Vater…“, Wayne betrachtete das Buch und legte es dann zur Seite.

„Willst du gar nicht fragen, wo ich war?“

„Ich sehe es UND ich rieche es.“ 

„Wirklich?“ Wayne hauchte sich in die Hand, verzog das Gesicht und wedelte dann mit seinem nach schwerem Parfum riechenden Überrock. Es machte es nicht im Geringsten besser. Er stand auf und ließ den Apfelgrips beiläufig in den Kamin fallen. „Weißt du auch warum?“

„Weil heute dein Geburtstag ist?“, vermutete Ian sarkastisch. Der wahre Grund interessierte Ian nun wirklich nicht, oder, besser gesagt, er wollte sich nicht darum scheren. Anscheinend war die einzige Begründung, aus der er hier war… ja, welche eigentlich? Die letzten Tage waren voller unnachvollziehbarer Wendungen. Am Ende konnte es nur Rache sein. Rache für seinen Angriff auf die ‚Crying Nancy‘, der am Ende nicht mal großartige Früchte getragen hatte, wenn er ehrlich sein musste. 

„Kapitän, ganz falsch!“ Wayne schüttelte den Kopf und wurde dann ernst. „Ich kann dich ja kaum behelligen, wenn du dich erst mal wieder…“, sein Blick schweifte an Ian herab und fand ein unangenehm trunkenes Interesse an seiner mittleren Partie, „erholen musst“, endete er, ohne sich große Mühe zu machen, es mehrdeutig klingen zu lassen.

Er blieb direkt vor Ian stehen, aber er berührte ihn nicht. Der Dunst des Alkohols vernebelte nicht nur seinen Atem, auch seine Augen hatten diesen fiebrigen Glanz von unberechenbarer Wankelmütigkeit.

Bekanntlich ließ Alkohol die Hemmungen fallen, genauso bekanntlich konnte zu viel Genuss dazu führen, dass man auch gar keine Hemmungen mehr nötig hatte, weil sich sowieso nichts mehr rührte. Wayne schien irgendwo zwischen diesen Zuständen zu stecken. Fasziniert von dem, was er vor Augen hatte, und gleichzeitig benebelt genug, um sich nicht nehmen zu können, was selbst jetzt noch seine Fantasien reizte.

„Sie war gut. Ich habe sie zum Kommen gebracht… nur damit!“ Er zeigte Ian seine Zungenspitze in einer unflätig wirkenden Geste. Angeheitert wurde er unerträglich, befand Ian. Allerdings blieb die Frage, wie viel er überhaupt hatte bechern müssen, um diesen Zustand zu erreichen.

„Sie wollte es“, grinste er. Seine Augen wurden glasig, aber er berührte Ian nicht. „Ich tue es auch für meinen Kapitän, wenn er das befiehlt.“

Wayne hob seinen Blick wieder. Allein an seinem Ton hätte man nicht sagen können, ob er Ian nicht einfach nur böse auf den Arm nahm. In Ians Ohren jedenfalls klang es nach keinem Angebot, sondern einer Beleidigung. Im Reflex griff er an seine Seite, wo, in jeder anderen Konstellation, stets der Griff seiner Waffe auf ihn gewartet hätte.

Natürlich war da nichts, nichts außer Luft. Es blieb nichtsdestotrotz eine Geste, die für sich sprach. Es war auch nicht das, was Wayne hatte sehen wollen - erst recht nicht in Verbindung mit diesem kalten, ungerührten Blick. Wayne erkannte in diesem Moment nicht, wie falsch er sich Ian annäherte.

Diese blauen Augen schienen ihn nicht ernst zu nehmen. Sie verwehrten ihm jeglichen Zugang. Sie gaben ihm nicht das, was er verlangte, und es war eine Ironie an sich, dass er - bis er dieses Zimmer betreten hatte - befriedigt gewesen zu sein glaubte. Wut kochte in seinen Zügen auf. Der Alkohol machte es dem Frust leichter, genauso wie dem Zorn.

Er holte aus und was eigentlich ein harter Schlag mit der Faust hätte werden sollen, wurde erst im letzten Moment zur Handfläche. Ian rührte sich nicht. Es ging unglaublich schnell, doch er zuckte nicht mal groß zusammen. Der Schlag zwang seinen Kopf leicht zur Seite, dafür hätte der Schlag nicht mal stark sein müssen. Ian lächelte mit geschlossenen Augen. Es war ein schwaches Lächeln, aber es lag ein kleiner Sieg darin. Auch dann noch, als er seinen Kopf wieder anhob und Wayne  fixierte.

„Du bist nicht mehr als ein verzogenes Kind, Dracosta.“ Ian wischte sich mit dem Handrücken ein wenig Rot von dem Mundwinkel, wo er sich seine Lippe leicht an einem Zahn geschnitten hatte. Im Licht des Kamins wirkte es allerdings schwarz, wie die wolkenverhangene Nacht, die sich durch das Fenster erkennen ließ. „Es wundert mich, wie du so mehr als ein Ruderboot anführen kannst.“

Waynes Züge verloren jedwede Farbe, seine Hand ballte sich, er wirbelte wortlos herum und verließ das Zimmer. Für die nächsten langen Tage setzte er keinen einzigen Fuß mehr über die Türschwelle, die zwischen ihnen lag wie eine unüberwindbare Grenze.

 

Kapitel 13

>>Es mag ihnen, die sie jetzt so tiefen Einblick in unausgesprochene Dinge gewährt bekommen, abwegig erscheinen, aber die Angst, die in mir angesichts der Barren und der Ungewissheit quellen sollte, verschonte meine Gedanken. Ärger füllte den Grund meiner Seele, wie eine Nährgrube für Unkraut. Unkraut. Nichts anderes als das, denn diese Wut, in ihrer Rechtschaffenheit und ihrer Leere, war so hohl, wie die Pläne, die dieser Zeit meinen Kopf füllten. Hätte ich gewusst, was sich in mir formte, ich hätte es für alles, was meine Überzeugungen ausmachte, verleugnen müssen.<<

 

Ians Tage verfielen in einen unerträglichen Trott aus Unsicherheit und ungemütlichen Abwartens. Dracosta beschied ihm keinen Besuch mehr und nur selten wehten Geräusche von den entfernten Docks an sein Fenster. Wenn sich die Tür öffnete, war es meist Emilie, die das Essen betont abfällig auf den Tisch knallen ließ. Nicht selten verteilte sich der Inhalt einer Schüssel bei diesen Aktionen unbeachtet über das Tablett. Zumindest wurde ihm eingeräumt das Zimmer zu verlassen, wenn die Natur allzu sehr ihren Tribut einforderte. Es wurde nicht besser dadurch, dass er dabei keine Sekunde zugestanden bekam, in der er nicht beobachtet wurde.

„Schätzchen, wie wär’s, wenn du mal aufhörst, dich wichtig zu machen?“ Emilie hatte ein Talent dafür ihre dralle Gestalt in dem Zimmer zu platzieren, als wäre Ian ein überflüssiges Mobiliar. In gewisser Weise war er es wohl auch.

„Der Herr hat es ja fein. Hat ein Bett, hat Bücher…“ Bei diesem Wort verzog sie die Lippen, denn sie selber konnte nicht lesen. Das derartiges Gekritzel Sinn ergeben sollte, konnte schließlich auch nicht mit rechten Dingen zugehen. „Kann sich den Wams auf unsere Kosten voll schlagen…“, fuhr sie fort.

Ian sparte sich die Antwort. Einerseits, weil er, trotz allem, erzogen worden war, höflich zu Frauen allen Standes zu sein, egal wie rüpelhaft diese sich aufführen mochten; andererseits gab es darauf auch nichts zu erwidern. Ein Urlaub sah auch für ihn anders aus.

Emilie war an diesem Tag besonders hartnäckig. Sie ließ einfach Druck ab und eben genau an der, in ihren Augen offensichtlichen, Wurzel aller Probleme. Ungehalten nestelte sie durch den Rock an ihrem Strumpfhalter, an dem allerdings mehr als ein Strumpf befestigt war. Durch den Rock zeichnete sich die Form eines spitzen Messers ab. Hier trugen anscheinend nicht nur Männer Waffen.

„Man hat es schon leicht, wenn man hier rumsitzen kann, nicht wahr?“, stichelte sie mit vorgeschobener Unterlippe und klopfte ihren Rock aus, bevor sie Ian weiter anblaffte. „Und wir müssen Dracostas schlechte Laune ertragen!“

Seit ein paar Tagen führte Dracosta sich auf wie von einer Wespe gestochen. Er fluchte, schimpfte, becherte, lachte plötzlich auf, nur um dann den Nächsten, der ihn schräg anschaute, ins Koma zu befördern. Aus lauter schlechter Laune heraus nahm er wirklich alles in sein Bett, was nicht abgeneigt schien, und eigentlich hatte er, was das anging, sonst einen besseren Geschmack.

„Lass es dir schmecken.“ Es klang eher wie ein ‚Möge es dir im Hals stecken bleiben‘. Emilie stapfte mit Wutflecken auf den Wangen, aus dem Zimmer. Diese ganze Situation vergällte ihr selbst das Schäkern.

Emilie war nicht die Einzige, die unter Dracostas Launen litt. Sein enger Freund und Stellvertreter, Gregory, tat es nicht im geringeren Maße – wenn auch aus anderen Gründen. Im Gegensatz zu der Dirne war er allerdings weniger gewillt, das noch länger auf sich zu nehmen.

Dracosta grübelte, anstatt mit ihm Pläne durchzugehen, und er schockte die anderen Freibeuter, indem er ohne Vorwarnung die Seekarten, mitsamt Tisch, unter den aufgestützten Händen wegkickte, um dann wortlos aus dem Raum zu stampfen. Und das war nur die Spitze des Eisberges, mit dem sein Gebaren die letzten Tage auftrumpfte.

Ian blieb viel Zeit, um über Emilies Worte nachzudenken, während er den kleinen Blick in die Ferne genoss, den das vergitterte Südfenster ihm bot. Der Ausschnitt der Welt, der sich ihm hier bot, war nicht mehr als ein weiteres Dach, eine Biegung des Pfades, Felsen, vereinzeltes Grün, ein wenig blauer Himmel und die Andeutung des Meeres. Die salzig schmeckende, kühle Brise drang zusammen mit den Sonnenstrahlen durch die Gitter. Es war der richtige Platz zum Nachdenken. Ian hatte nicht vor noch länger hierzubleiben. Ihm war bereits vollauf bewusst, was hier jeder so gerne an die große Glocke hing: Sein Leben war verwirkt. Wenn einem nur ein Faden blieb, dann war es feige ihn nicht bis aufs unmöglichste aus eigener Kraft zu dehnen, bevor es jemand anderes tat. Am Ende trennte man lieber eigenhändig, was man sonst tatenlos verlieren würde…

In keinem besseren Augenblick hätte Gregory den Schritt in Dracostas Privatgemächer setzen können.

Beide musterten sich einen stillen Moment. Ian den unwillig aussehenden Mann, der jünger war als er selber, Gregory den aufrecht stehenden Offizier, mit dem leichten Schatten eines Bartes und den kalten blauen Augen, der über sein Auftauchen keine Überraschung zeigte. 

„Ich sage es, wie es ist.“ Gregory verzog die Lippen. „Ich kann dich nicht leiden und du kannst mich nicht leiden.“ Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, Ian reagierte weder ablehnend noch zustimmend. Eine Antwort wurde auch nicht erwartet.

„Schließt die verfluchte Tür richtig, verdammt noch mal!“, schnappte Gregory nach hinten. Endlich erklang das Einrasten des Schlosses. Jetzt waren sie wirklich ungestört.

„Ich hätte dich schon lange beseitigt, wenn das die Lösung gewesen wäre“, sagte Gregory in einem Ton, der zu bezweifeln ließ, ob er diese Lösung bereits ad acta gelegt hatte.

„Eine kleine Zahlung und du wärst auf Nimmerwiedersehen auf englischem Boden ausgesetzt worden.“ Gregorys Gesicht wurde düster. „Aber ich kenne Wayne.“

Unruhig, und doch wachsam, begann Gregory durch das Zimmer zu streifen. Am Ende blieb er genau da stehen, von wo aus er gestartet war: neben Ian. Ihn um etwas bitten zu müssen, da verging selbst ihm die Laune.

„Ich will, dass du ihm gibst, was er will.“

Es folgte Schweigen. Es waren Worte, die Ian nie von dieser Seite erwartet hatte, aber das konnte er nicht unbeantwortet lassen, egal wie lächerlich diese ‚Bitte‘ klang.

„Und warum bitte, sollte ich mich seinen Launen fügen?“, fragte Ian voller Ironie.

„Weil ich ihn kenne, seit er sich das erste Mal die Takelage hochgeschwungen hat.“ Gregory strahlte greifbare Selbstsicherheit aus.

„Er ist kindisch, launisch und kennt keine Grenzen…“ Das klang in Ians Ohren nach dem letzten Menschen, dem er persönlich auf ein Schiff - oder sonst wohin - folgen würde.

„Aber wir brauchen ihn. Ihn, seine Ideen und seine Art alle zusammenzuhalten“, endete Gregory, ohne seine Stimme zu heben.

„Gib ihm, was er will und er verliert sein Interesse an dir. Er wird dich fallen lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Gregory hatte keine Zweifel über diesen Punkt, kein Funken Unsicherheit trübte seine Schlussfolgerung. Dracosta mochte zwar nie lange einem Vergnügen treu sein, aber er kümmerte sich um seine Angelegenheiten. Normalerweise. Dieser englische Kapitän würde ohne Nachhilfe nicht auf dem Grund der See landen.

„Du kommst hier weg und damit ist uns allen geholfen. Überleg‘s dir.“ Gregory wandte sich ab und klopfte gegen die Tür, um ausgelassen zu werden. „Und überleg es dir gut“, riet er. Er hielt noch mal inne, ohne sich umzudrehen. „Ach, und rasier dich, der Bart steht dir nicht.“

Die Tür fiel gerade ins Schloss, als die Empörung in Ians Augen seinen Höhepunkt fand. Er lebte anscheinend nur, um Tag für Tag von diesem Pack geschnitten zu werden! Es gab kein Messer in diesen Räumen, und seit Wayne wutentflammt das Zimmer verlassen hatte, hatte auch kein Rasiermesser diesen Raum gesehen - nur Lappen und lauwarmes Wasser! Als würde man ihm etwas anvertrauen, mit dem er gefährlich werden könnte!

Es wurde höchste Zeit hier auszubrechen. Der erste Gedankensamen war gesät und er fiel auf einen nährreichen Boden angefüllt von Emilies Sticheleien und Gregorys dreisten Forderungen. Dass Gregory tatsächlich, wohl um einen kleinen dezenten Denkanstoß zu liefern, ein Rasiermesser hochschaffen ließ, war der letzte Schubs, den Ian brauchte, um in einer seiner hervorstechendsten Eigenschaften zu brillieren, die so lange auf Eis hatte liegen müssen: Den Hang in einer aussichtslosen Lage auf eine selbstverachtende Weise zu reagieren, die selbst einen Dracosta unvorbereitet treffen konnte.

Mit nichts als einem Rasiermesser, würde er auf einer, von Freibeutern angefüllten, Insel ausbrechen und - so selbstüberschätzend das auch klingen mochte - SEINE persönliche Wurzel des Problems finden, um diese auf seine Art zu beseitigen - nachdem er sich rasiert hatte.

 

Kapitel 14

>>Genug, GENUG! Es war genug der Schmach! Können sie es sich vorstellen? Tag für Tag, diese Erniedrigung missbilligender Blicke und missbilligender Worte? Verurteilt zu entbehren, die Gedanken zurückzuhalten, ohne sie in das Gesicht zu schleudern, das sie verdient hätte. Wer ist in der Lage in diesen Augenblicken seine Würde zu bewahren, wenn ihn Verächtlichkeit trifft und Worte auf ihm abgeladen werden, wie überzähliger Ballast. Was Gregory andeutete, fand einen dankbaren inneren Zuhörer, zeigte mir – ohne dass ich es mir eingestand - Tür und Tor. Und doch nahm ich nicht den einfachen Weg in den Tod, der nur einen Schnitt entfernt lag. Ich wollte heraus aus diesem beengenden Raum. Dracosta die Möglichkeit nehmen, mich zu ignorieren, mich ihm stellen. Es wäre unaussprechbar gewesen zu gestehen, dass sich tief in meinen Wünschen etwas geregt haben musste, was im Grunde nichts mit Zorn zu tun hatte. Vielleicht, das will ich den Wenigen gestehen, die meine Worte hören, war da ein verborgener Teil von mir, der genau das ersehnte, was auf mich zukommen sollte. Wäre es mir vergönnt gewesen zu sterben - denn auch dies war eine Möglichkeit, die ich nicht verleugnen will - hätte ich mir verwehrt, am eigenen Leib zu erfahren, dass sich ein Pfad vor mir auftat, der jede Ehre umgehen konnte.<< 

 

Ausbruch, doch wie ihn bewerkstelligen? Ian hätte eine Krankheit vorspielen können, er hätte mithilfe des Kamins ein Feuer entfachen, Schreien, Rufen und Toben können, bis jemand durch die Tür trat - oder sich nicht minder verwinkelte Pläne ausdenken, die jedem Zuhörer Kopfschmerzen bereitet hätten. Stattdessen war seine Flucht so frontal, wie sie nur sein konnte: mitten durch die Tür, an der verduzten Emilie vorbei, der die abendliche Suppenschüssel - mit ihrem fast erkalteten Inhalt - regelrecht in das Gesicht klatschte, während Ians Hand mit einem ‚Verzeihung, Madam’ unverfroren ihren Rock hochwarf und sich in demselben Moment um den Griff des versteckten Messers legte, als ein unglücklich aufheulender Aufpasser seinen Fuß zwischen aufschlagender Tür und der Mauer wiederfand. Ian hatte lange genug still gesessen und zugegebenermaßen war ein echtes Messer besser als eine Rasierklinge.

Wie Wayne ihn mal so schön in seine Wunden gerieben hatte: ‚Ich weiß, du bist körperlich stärker, aber du hast dich noch nicht voll erholt‘. Das war seine eigennützige Wortwahl gewesen, die er auch genauso gewissensfrei für sich zu nutzen gewusst hatte.

Im Laufe der verstreichenden Tage hatte Ian genug Zeit gefunden, den Willen und Körper zu nähren, um sich vollkommen wiederherzustellen. Nachdem er vorher nie mehr getan hatte, als still am Fenster zu sitzen, fast immer mit einem Buch auf dem Schoß, nicht selten die Sterne betrachtend, nachdem er nie eine Beleidigung zurückgegeben hatte oder es gar im geringsten Ansatz gewagt hatte aufzubegehren - egal wie nachlässig seine Versorgung über die Tage geworden sein mochte - war er in manchem Munde schon zu dem Weichei mutiert, als das man die englischen Soldaten der Marine hier so gerne betitelte.

Manch farbenprächtige Sauflieder waren von suffheiseren Kehlen aus den zusammengeschusterten Tavernen hochgeweht, die ihn da farbig belehrt hatten, was man von seiner Sorte hielt. Auch seine Wachen hatten lautstark und mit einer besonders diebischen Freude eingestimmt, damit er es auch ja mitbekam. Jetzt wurden den Männern zurückgezahlt, ihn dermaßen unterschätzt zu haben. Es waren derer vier, die Wache standen, aber nachdem einer bereits halb ohnmächtig vor Schmerz über seinen Fuß zusammengesackt war, blieben nur noch drei. Drei völlig überrumpelte Gestalten, die keine Zeit hatten, mehr als blöd zu starren, da bekam schon der Erste Ians Schulter in die Magengrube und krachte rücklings durch ein Fenster, das von schmucken Schilfrohren durchzogen worden war, die jetzt allerdings nur noch als gebrochene und gefaserte Stümpfe aus dem Rahmen starrten. Der schwere Leib stürzte in einen Busch wie ein Sack und blieb nach Luft ringend liegen.

Durch die restlichen beiden Wachstehenden brach Ian einfach hindurch. Die bulligen Fäuste, die ihn zu treffen suchten, gingen ins Leere, Ian war einfach zwischen den beiden Männern durchgerutscht und rannte in den Tumult, der jeden Moment draußen auszubrechen drohte, wenn klar wurde, dass der Gefangene einen Fluchtversuch gestartet hatte. Es war eben selten, dass ein Mann einfach so aus dem Fenster segelte und auch Emilies unüberhörbares Organ, sorgte für den nötigen Alarm.

Sein einziger Schutz, und der Grund, der ihn schlussendlich erstaunlich unbehelligt in die provisorischen Kais vordringen ließ, war seine Bekleidung. So fein diese auch war, seine verräterische englische Uniform war sie nicht. Diese hatte Wayne ihm bis jetzt nicht vollständig wiedergegeben - vielleicht bewusst, vielleicht weil er nicht daran gedacht hatte, diese für ihn unbedeutende Kleinigkeit zurückzubringen. Und wie hieß es so schön: Ein frisches Ei fand sich nur schwer, wenn genug faulige außen herumlagen.  

Doch nur kurz später hallten bereits alarmierende Schreie und Rufe durch die eng stehenden Hütten. Freibeuter und Schankmädchen strömten in die Gassen zwischen den Häusern. Sie versperrten ihm den Weg mit Dolch und Messer und doch konnten sie seinen vollen Lauf nicht bremsen, bis er an dem Knotenpunkt des Docks - einer Art großen Platzes - von einem Kreis von stichelnden und beleidigenden Leibesmassen eingekeilt wurde, weder vor noch zurückkam, ohne dass sich der Ring um ihn zu schließen drohte. Es hatte so kommen müssen, knirschte er innerlich, doch nicht so schnell.

Er, der sich nicht auskannte und auf seinem Durchbruch von mehr und mehr Freibeutern geschnitten wurde, bis ihm kein Fluchtweg mehr blieb… und er hatte Wayne nicht mal aus den Augenwinkeln zu sehen bekommen! Es war erstaunlich genug, dass das, zur größten Wut von Emilie, erbeutete Messer, zu nicht mehr eingesetzt worden war als Ablenkung und Einschüchterung. Im Angesicht der Waffen, die sich ihm jetzt entgegenreckten, war das kleine Messer nicht mehr als ein Zahnstocher, an dem er sich entschlossen festhielt. Es war Abend, die Stimmung war gut gewesen und doch kippte sie langsam in Aggressivität um.

„Komm schon, englischer Hund! Trau dich!“, provozierte einer ums andere Ian dazu sich vorzustürzen.

„Was ist? Zeig uns was, großer Kapitän.“

„Beiß doch. Wir wissen mit bissigen Kötern umzugehen.“

Hier und da ertönte ein Lachen zwischen den Rufen. Einige fanden das mehr als urkomisch. Ian wechselte das Messer schwer atmend von links nach rechts, bereit einem Angriff entsprechend zu antworten, aber es kamen nicht mehr als kurze Spaßvorstöße, um ihn nur mehr und mehr in die Ecke zu treiben, wie die Ratte, die er war. Es war ein Patt, dessen Ungunst vollständig auf Ians Seite lag.

„Lasst ihn ganz, er gehört Dracosta!“

„Ach was, der wird es schon nicht vermissen, wenn dem Kleinen was fehlt.“ Das Gelächter riss an Ians Nerven und füllte die Luft.

„Schafft Dracosta bei!“, verlangte er im Befehlston.

Für einen Moment hielt tatsächlich verblüfftes Schweigen in den Reihen Einzug.

„Bei Poseidons Schwanz, der hat entweder Mumm oder ist dumm wie die Liese. Der befiehlt uns!“

„Holt Wayne“, verlangte Ian erneut. Er gestand sich nicht ein aufzugeben. Für jemanden wie ihn war Nichts zu tun und Nichts tun zu können schlimmer, als von der Willkür dieser Meute abhängig zu sein.

„Da wird einem ja das Bier gallig. Was soll der Lärm? Habt ihr Mal wieder eine Dockratte gefangen?“, fragte eine unverkennbare Stimme. Es war erstaunlich, wie schnell der Lärm auf ein erträgliches Maß gespannter Erwartung absackte, obwohl die meisten nur durch die vereinzelten Rufe die Ankunft ihres Anführers mitbekamen.

„Ey, Dracosta da verlangt einer nach dir!“, brüllte einer und hob lachend seine Flasche.

„Na wie gut, dass ich jetzt hier bin“, kam es amüsiert zurück. Das entlockte ein paar raue Lacher. Ian wurde dieser immer überdrüssiger.

„Und wer ist der…“, die sich öffnende Gasse machte die Frage überflüssig, „Bedürftige?“, endete Wayne mit einem Aufblitzen in den Augen.

„Das ist mal eine echt große Dockratte, oder Dracosta?“

„Und vor allem bissig“, bemerkte Gregory, Wayne mit den Augen auf das Messer aufmerksam machend. Und verdammt uneinsichtig, sagten seine Augen, als er Ian einen genervten Blick zuwarf. Aber Ian hatte nur Augen für Wayne und Wayne hatte nur Augen für Ian. Nur ihre Ausdrücke hätten nicht unterschiedlicher sein können, Ians entschlossen und Waynes mit einem tadelnden Schmunzeln. Hinter beiden verbarg sich mehr, als das bloße Auge sah. Es blieb eine Ahnung in der Luft, die den Salzgeruch des Meeres trug.

„Ich fordere dich heraus, auf das, was du unter Ehre verstehst“, sprach Ian in die gespannte Stille. Seine Stimme war rau von der Anstrengung, die ihn so weit gebracht hatte, trotzdem formte er - mit der Aussprache eines gebildeten und stolzen Mannes - jeden einzelnen Laut klar und deutlich. Man konnte das Gewicht seiner Worte in seinen Augen ablesen, wie in einem Spiegel, ein blauer Spiegel. „Und wenn ich gewinne, lässt du mich frei.“

„Da stinkt doch was“, murmelte eine Schankmaid.

„Und…“, die Nuance in Waynes Augen nahm einen anderen Schimmer an, „nur so aus Neugierde… was, wenn ich gewinne?“

„Dann…“, es war dieser Moment, an dem sich Ians Blick bewusst auf Gregory legte. Gregory wechselte von misstrauischem Unglauben zur Überraschung, dann verbarg er hastig jegliche Mimik, als fürchte er die Folgen.

„Dann…“, setzte Ian fest an, „schwöre ich, bei allem, was mein Herz bewegt, nicht mehr aus eigener Kraft zu fliehen.“

„Was soll‘n das für ein Gewinn sein?“, flüsterte einer.

„Und?“, bohrte Wayne betont desinteressiert nach. Doch der Eindruck täuschte. Das hieß nur, dass dieses Angebot ihn reizte. Wirklich reizte.

„Ich füge mich deiner Willkür.“ Ians Schultern waren selbst in diesem Augenblick gerade, dabei musste es ihm schwerfallen, diese Worte mit all ihren Hinterbedeutungen auszusprechen. Jedoch sah er auch nicht aus, als habe er vor, seine Freiheit zu verschenken. 

Wayne antwortete nicht sofort. War die Stille vorher angespannt gewesen, war sie jetzt greifbar. Erst mit Waynes langsam erscheinendem Lächeln löste sich die Stille in Nichts auf. Was hier geschah, war etwas, das nie hätte passieren können, wäre Ian Wayne in dem Zimmer seiner Gefangenschaft gegenübergetreten. Es gab Zeugen.

„Und dafür hast du dir die ganze Mühe gemacht?“

Unter Jubeln und Grölen der Nächststehenden streifte Wayne seinen Ausgehrock ab und warf ihn in die Menge. In diesem Moment war er Dracosta, allein weil er von seinen Mannen umgeben war. Aber Waynes Wünsche waren Dracostas Wünsche. Ein Name konnte nicht ändern, was eine Person war. „Ich könnte dich einfach wieder nach oben schaffen lassen“, erinnerte er Ian schmunzelnd.

„Aber dann wüsste deine ganze Meute“, provozierte ihn Ian ohne Anzeichen von Angst. Er war zu weit gegangen, um jetzt noch zu bereuen. Sollte es geklärt werden. „dass du es nicht mal wagst, eine Herausforderung wie ein echter Mann zu nehmen, weil du verlieren könntest“

„Ouh~!“, kommentierte das Pack den Tiefschlag. Das Schauspiel wurde zusehends kurzweiliger.

„Komm schon, zeig‘s dem Großmaul, Dracosta!“

Wayne hob eine Hand, um den Lautstärkepegel wieder nach unten zu regeln.

„Weil ich deinen Mut anerkenne…“

„Wayne“, mahnte Gregory besorgt, als sein Freund beide Steinschlagpistolen an die Seite abgab und ihm beiläufig eine Hand entgegenreckte.

„Deinen Dolch, Greg“ Wayne klang nicht so als würde er Einwände akzeptieren. Niemand der Dracosta mit einem Dolch hatte kämpfen sehen, zweifelte daran, dass Ian die geringste Chance trug. Er war nicht umsonst ihr Dracosta. Und Wayne war ausgeruht, Ian hingegen abgekämpft. Am Ende mochte Ian genauso wenig Ahnung von den Tücken des Straßenkampfes haben, wie ein Bauer vom Seekartenlesen. Gregory zog seinen Dolch und legte ihn Griff voran in die Hand seines Freundes.

„Ich hoffe du hast nichts gegen die Wahl der Waffen.“ Ein unterschwelliges Glänzen verbarg sich in Waynes Augen, während er den Dolch nachdenklich wog. „Aber als Herausgeforderter bleibt die bescheidene Wahl auf meiner Seite, wenn ich mich recht entsinne.“

Der Griff des Dolches war dezent verziert, die Klinge von einfacher, aber guter Verarbeitung. Ein Familiensiegel spannte über dem Knauf. Er hatte diesen Dolch schon mehr als einmal gesehen, diesmal aber würde er ihm gute Dienste leisten und nicht Gregory. Mit einer lockeren Bewegung warf er das schwere Messer zielgenau vor Ians Füße, wo es mit einem dumpfen Laut auf den festgetretenen Boden traf.

„Ich kann dich ja nicht mit einem kleinen Weibermesser kämpfen lassen.“ 

Wayne betrat den Kreis, den die Männer um Ian aussparten, als dieser das erbeutete Messer fallen ließ und stattdessen den Dolch anhob. Es war Ehrgefühl oder sein Drang zur Ehrlichkeit, die ihn das andere Messer mit dem Fuß beiseite scharren ließen. Das überflüssige Messer wurde von einem Mann aufgehoben und grinsend nach hinten gereicht. Einer von ihnen mochte sogar überlegen, es zu behalten - besonders wenn dieser jemand zufälligerweise einen Rock und Schminke trug. So oder so, es verschwand auf Nimmerwiedersehen zwischen den unzähligen Körpern, die den lebenden Wall dieser Arena bildeten.

„Das Gesetz der Freibeuter, wer das erste Blut zieht, hat gewonnen.“ Wayne zog seinen eigenen Dolch.

Die Meute antwortete mit berauschender Eindringlichkeit. „Blut! Blut! Blut!“

„Fangen wir an.“ Eine Klinge hohen Wertes führte er. Das verriet der reine Glanz des wohlgeformten Stahls. Den Griff zierte schlichtes Leder. Umso prunkvoller wirkte der helle Halbedelstein in der Farbe frisch sprudelnden Quellwassers, der den Knauf überspannte.

Von Anfeuern, Rufen und aggressiven Parolen getragen, begannen Ian und, Wayne sich zu umkreisen. Der Druck war enorm und er lastete schwer auf Ian. Er, bereits schwer atmend, beleidigenden Sprüchen und abfälligen Handbewegungen ausgesetzt, fand es schwer sich zu konzentrieren. An seiner Stelle war ungewiss, was mit seinem Rücken passieren würde, wenn ihn ein Unglück in die aufgeheizte Meute stolpern lassen sollte.

In diesem Kampf zu parieren, ohne sich zu verletzen, war so gut wie unmöglich. Die Folge an Vorstößen, das Geschick mit dem Wayne den Dolch von einer Hand in die andere wirbelte, drängte und vorstieß suchte seinesgleichen. Es brauchte nicht lange, um Ian merken zu lassen, dass er im Nachteil war. In diesem Kampf ging es um die Schärfe des Auges, die Schnelligkeit der Reflexe und die Erfahrung. Insofern half Ian zumindest der strenge Drill, durch den er in seiner Ausbildung gezwungen worden war. Ihm gelang es, Stößen auszuweichen, die ihn ins Straucheln hätten bringen sollen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Das nervenzermürbende Kreisen begann von vorne, wieder und wieder. Antäuschen, zurückweichen, wann war der rechte Moment gekommen? Es ging um so viel für beide. Und noch floss kein Blut – zum Leidwesen der Zuschauer.

„Blut! Blut! Blut!” Der Singsang hatte wieder begonnen, erst in den hintersten Reihen, leise, dann langsam die Reihen überschwemmend, lauter, eindringlicher werdend. Ob Frau oder Mann, in dieser Stimmenmasse zerflossen die Unterschiede für das rauschende Ohr wie Eis in der Sonne. Dracosta-Rufe brandeten auf und doch war es Ians Dolch, der sich mit dem Geräusch reißender Spitze in Waynes Ärmel fraß. Ein klaffender Schlitz verblieb in dem edlen Hemd.

Wayne Finger strichen über das aufgeschlitzte Hemd, streifte über seinen entblößten Oberarm, den es freigab. Als er die Finger hob… Kein Blut. Das begeisterte Brüllen schwoll ins ohrenbetäubende. Es brauchte keinen Wahrsager, um zu wissen, auf wessen Seite der Mob war.

Ian begann der Schweiß, in die Augen zu tropfen. Keine Zeit die brennenden Tropfen wegzuwischen, keinen Schritt mehr übrig zum Zurückweichen. Erschöpfung wurde zu unsicheren Schritten und jetzt begann Wayne, nein Dracosta, gnadenlos anzugreifen. Kein Spiel mehr. Vielleicht weil er gerade den Hauch der Bedrohung verspürt hatte, etwas aufs Spiel zu setzen, was für jeden anderen ein lachhafter Gewinn darstellen musste.

Der Engländer war sowieso gefangen. Wen scherte es, ob er floh oder sich unterordnete? Nun, wenn es eine Erniedrigung war, stand die Sache vielleicht anders. Was die Gemüter aber wirklich bewegte, war der Kampf vor ihren Augen. Und nichts anderes als der Kampf. Selbiger fand ein jähes und brutales Ende als Ian ins Straucheln kam, als ein gnadenloser Tritt Waynes gegen Ians Knieseite ihn schwer auf den Rücken stürzen ließ, ihm die letzte Luft aus Ians Lungen trieb. Der kalte Stahl legte sich unter Ians blaue Augen.

„Du hast verloren“, und damit zog Wayne eine blutende Linie auf Ians Wange. Die Menge überschlug sich vor Zurufen, als Wayne sich mit einem Ruck aufrichtete und den siegreichen Dolch in die Höhe hob. Erst in diesem Augenblick rutschte Ian der Dolch, der nicht mal sein eigener war, aus den kraftlosen Fingern und er schloss ermattet die Augen.

Kapitel 15

>>Seine Herausforderung, sein Wille… Wir wussten beide, warum er diesen Weg gewählt hatte. Einen Wunsch, den ich ihm nie erfüllen würde, und einen Wunsch, den ich ihm nie verzeihen wollte. Ah, entschuldigen sie, das muss ich entschärfen: einen Wunsch, den ich ihm nie verziehen hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, diesen Fluchtweg erfolgreich einzuschlagen. Aber ich sage ihnen nur eines: Der Sieg war mein! Möge er auf ganzer Linie sein, mein widerspenstiger Kapitän.<<

 

Der vereinsamt liegende Dolch fand einen Weg zurück in Waynes  bedächtige Finger.

„Lass die Fässer herschaffen, Greg!“ Mit einem festen Wurf schleuderte er das Messer zurück zu seinem Besitzer, der den Dolch geschickt aus der Luft griff und in einer energischen Bewegung zurück an seine Seit steckte. Mit einem kurzen Wink gab Gregory den Befehl weiter, ohne den Blick mehr als eine Sekunde von dem bedeutungsvollen Geschehen in diesem Kreis zu wenden. 

„Mir ist nach feiern!“, rief Dracosta in die Menge. Damit war er wohl nicht alleine. Unter den Mannen brach der ausgelassene Teufel los.

„Auf deine Ehre, alles, was dir heilig ist und die Königin. Dann lass ihn noch mal hören“, Wayne beugte sich so tief über Ian, dass Ians Atem sich mit seinem mischte, „deinen Schwur“

„Ich schwöre…“, in diesem Lärm und Tumult war Ians Stimme so klar wie seine Augen und doch erreichten seine Worte nur Waynes Ohren, „ich werde nicht mehr versuchen zu fliehen.“ Ians Augen beschatteten sich. „Ich schwöre…“

„‘Du schwörst‘… was?“ Wayne kostete die Situation aus. Es Ian leichter zu machen, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Wayne war anscheinend genau das, was seine Leute schon mehr als einmal erwähnt hatten: nachtragend.

„Ich schwöre, ich werde mich dir unterordnen“, presste Ian hervor. Das war das Erniedrigendste, was er je hatte sagen müssen. Aber ihn zu unterschätzen wäre töricht. Sein Stolz war noch nicht gebrochen. Jedoch angekratzt war er durchaus.

„Du erkennst mich als Dracosta an?“, fragte Wayne amüsiert nach.

„Ich werde mit dir schlafen.“ Bei diesen direkten Worten verschlug es sogar Wayne die Sprache. Mehr als eine unerwartete Emotion riefen ihm rote Flecken auf die Wangen. Ian hingegen blinzelte nicht einmal.

„Ich gebe dir, was du willst, aber…“, da war es. Das Samenkorn. Gregorys Worte. Emilies Worte. „Wenn es nichts mehr gibt, das du von mir verlangen kannst, dann bin ich frei.“

„Hältst du mich für einen Unmenschen? Wenn ich nichts mehr von dir will, also?“ Mit einem Lachen wurde Ian von Waynes eindringlicher Präsenz entlassen, als dieser schwungvoll aufstand. „Das versteht sich von selbst.“

Manchmal trug Wayne eine Art zur Schau, die nicht zu seinem Alter passen wollte. Zu selbstsicher, zu viel Erfahrung mimend, das Auftreten eines Menschen, der sehr lange bekommen hatte, was er wollte und vielleicht auch genauso schnell aus den Augen verlor, was ihm mal angeboten wurde. Vielleicht hatte Gregory mit Waynes Wankelmütigkeit nicht ganz unrecht, Ian schien in diesem Punkt zu demselben Schluss gekommen zu sein. Es wäre vielleicht der beschwerlichere Weg, aber er würde vielleicht tatsächlich zu seiner Freiheit führen.

Mit Rattern und unter lautstarker Begrüßung wurden die auf Bollerwagen angerollten Weinfässer in Empfang genommen. Es oblag Dracosta den ersten Stich zu setzen und dieser war sichtlich gut gelaunt, ein seltener Anblick in den letzten Tagen.

„Greg, hilf ihm hoch“, befahl er mit einem Strahlen, das seinen Tagen als unbedarfter Jamie alle Ehre machte.

„Ich wage zu bezweifeln, dass er das möchte“, murmelte Gregory wenig begeistert. Er machte trotz des Befehls keine Anstalten, Ian eine Hand entgegenzustrecken. Es war auch überflüssig. Ian kämpfte sich mit stoisch zusammengepressten Lippen auf die Füße. Zumindest eines seiner Beine musste ihn höllisch schmerzen. Es konnte einem schon ein wenig Bewunderung abringen, wenn man wusste, wie viel er hatte überwinden müssen, um hierher zu gelangen. Lady Fortuna schien es jedoch wenig beeindruckt zu haben, wenn man den Ausgang besah.

Gregory nahm kommentarlos eine sichernde Position neben Ian ein - ob nun zu seinem Schutz oder um ihn zu überwachen - war unmöglich zu erkennen. Gregorys Gesichtszüge blieben mehr oder weniger nichtssagend. Nur ab und an traf Ian ein langer, prüfender Blick aus seinen Augenwinkeln.

Wayne schwang sich behände auf das oberste der drei, in Form einer Pyramiden gestapelten, Fässer. Er überragte die Menge in lockerer Haltung. Selbst in den hinteren Reihen waren die Schmutzstreifen des Kampfes auf seiner Kleidung und das breite Lächeln, mit dem er seine Ankündigung eröffnete, zu erkennen.

„Hört her. Ab heute - nein ab jetzt! - ist der englische Kapitän kein englischer Kapitän mehr!“ Erstauntes Schweigen und gespanntes Raunen waren seine Antwort.

„Er genießt freies Geleit, freien Umgang und Dracostas Schutz! Wer den Mut hat Dracosta herauszufordern, hat das Recht einer der Seinen zu sein!“ Ein paar vereinzelte, zustimmende Rufe. Es war eine raue Gesellschaft. Respekt war etwas, das man sich erkämpfte und es gab nicht viele, die den Schneid besaßen, Dracosta offen in seiner Lieblingsdisziplin gegenüberzutreten. Ian schwieg dazu, obgleich seine Miene Bände sprach. Er hatte nicht vor, einer von Waynes Handlangern zu werden. 

„Es ist ja nicht so, als würden wir unsere Königin nicht ehren, nicht wahr, Freunde?“, grinste Wayne, die Masse aufheizend. „Wir danken ihr Tag für Tag für ihre milden Gaben.“ Seine Hand klopfte bezeichnend auf das königliche Emblem auf der Seite des obersten Fasses. Der Zapfhahn wurde hochgeworfen und von Wayne schwungvoll angesetzt. Die letzten zweifelnden Stimmen überzeugte der sprudelnde Wein von einem Besseren. Es war ein gemischter Haufen, nicht wenige selber ehemalige englische Soldaten. Sie kümmerten sich nicht allzu viel, um die Männer und Frauen die bei Ians Flucht zu Schaden gekommen waren. So ein blaues Auge oder eine Prellung holte man sich hier farbenprächtiger und schneller von ganz alleine, wenn man in eine der allseits beliebten Prügeleien geriet. Frei nach dem Motto: Was einen nicht umbrachte, machte einen hart. Es war nur Ians Haltung, die bezweifeln ließ, dass er je einer von ihnen werden würde.

In diesen Minuten gab es aber bestimmt nur wenige, die noch solch tiefgängige Gedanken wälzten. Krüge, Gläser und was an Auffangmitteln zu Händen war, wurde unter das fließende Rot gehalten. Das Dock verwandelte sich in einen Haufen drängender und pöbelnder Menschen im Ansturm auf die großen Fässer, bis der Wagen unter dem Druck der Massen leicht zu ächzen und zu schwanken begann. Wayne schwang sich flink über die hintere Kante des umwogten Bollerwagens und kam mitten durch die Menschenmenge auf Ian und Greg zu. Sein Ausgehrock fand zu ihm zurück. Die Frage, wessen Hände das abgelegte Kleidungsstück zurückreichten, sollte unbeantwortet bleiben. Tatsache blieb, dass Wayne den, in Bordeaux gehaltenen, Überwurf bereits locker über die Schulter geworfen hatte, als sein Blick von Gregory auf Ian glitt und dort blieb. 

„Greg, den Rest überlass ich dir.“ Da waren ganz andere Aussichten als Wein, die ihn fesselten. Er richtete kein direktes Wort an Ian - selbst nicht, als er an Ian vorbeiging - und doch wandte dieser sich ohne Aufforderung um, um langsamen Schrittes Wayne zu folgen.

Sie gaben ein interessantes Paar ab. Es war ein durchaus sehenswerter Anblick. Waynes, im Sonnenlicht rotbraun glänzendes Haar mit den unbändig nach außen gebogenen Spitzen, Ians in einem tiefen, glatten Schwarz. Sie sahen nicht aus wie das, was sie waren. Wayne mit dem Ausdruck jugendlicher Kraft in seinem Gang und doch der Kopf von Mannen, die teilweise dreimal so alt waren wie er. Ian, verrissen und wahrscheinlich Schritt für Schritt im unsichtbaren Schmerz gehend, in Wirklichkeit ein Kapitän der Krone. Und doch war er im Moment nicht mehr, als ein Gefangener seiner Umstände.

Ein interessantes Paar fürwahr, das musste selbst Gregory zugeben, während er den Beiden mit den Augen folgte, bis auch er Ablenkung fand.

„Was soll das lange Gesicht, Greggy?!“ Ein bärtiger Mann nahm ihn in einem kumpelhaften Griff, ohne dabei aufzuhören, zwei volle Becher zu schwenken. „Jetzt wird gefeiert! Morgen sitzt dein Kopf vielleicht nicht mehr so gerade.“

„Ich dachte nur gerade“, Gregory hob einen Mundwinkel, „wie viel einfacher es wäre, wenn die Blauröcke nur Mädchen rekrutieren würden.“

„Da hast du recht, mein Freund! Das wär ein echtes Fest!“ Eine Vorstellung, die dem rauen Gesellen gefiel.

Sein Becher zog eine lange Linie über den Horizont und verteilte ungewollt rote Flüssigkeit bei seinen schwappenden Bewegungen. „Schiffe voller Weiber, die nur darauf warten, den Bug geknallt zu bekommen!“

„So nennt sich das neuerdings?“, fragte Gregory mit einem lauter werdenden Lachen. „Jetzt gib schon her!“ Freimütig nahm er sich einen der Becher. „Nur weil du zwei Hände hast, brauchst du nicht in jeder davon Ballast herumzuschleppen!“

Bevor die Feier in eine Massenschlägerei ausarten würde, wollte er seine Kehle wenigstens angefeuchtet haben.

 

Dieser Weg war anders als jeder zuvor. Dass seine Schritte so schleppend gingen, mochte nicht nur an dem Stechen in seinem Bein liegen, ohne Zweifel auch daran, dass er aus eigener Kraft dahin kehrte, wo er vor nicht allzu langer Zeit ausgebrochen war. Das angeschlagene Fenster, mit den Reststümpfen der Stäbe, erzählte noch von dem Mann, der diese unfreiwillige Abkürzung in die Büsche hatte einschlagen müssen.

Ansonsten waren die Flure leer. Ein weiterer Unterschied zu vorher. Es gab keine Wachen und es kamen auch keine. Doch das Zimmer war unberührt. Die Waschschüssel, das Buch auf dem Stuhl, der eingetrocknete Fleck, der noch immer einen leichten Geruch nach Suppenbrühe verbreitete, da wo Emilie gestanden hatte. Alles so, wie er es hinter sich gelassen hatte. Es konnte kein gutes Gefühl sein, Fuß in das Zimmer zu setzen, in dem er so lange tatenlos der Dinge hatte harren müssen. Genau eine Tat später war er wieder hierher zurückgekehrt.

Wayne ließ die Tür los, als Ian an ihm vorbei das Zimmer betreten hatte.

„Entschuldige, das muss wehtun.“

„Was genau?“, fragte Ian beißend zurück.

„Hah!“ Wayne ließ sich lachend in den Sessel fallen. Sein Ausgehrock landete unbeachtet auf einem Hocker. „Lassen wir das erst mal…“ Seine Augenbrauen zuckten kurz. „Vielleicht später.“ Mit wenigen Bewegungen hatte er eine Zigarette gezogen und angezündet. Breitbeinig lehnte er sich zurück, ein Ellbogen locker auf die Lehne gesetzt.

Seltsam, wie still es werden konnte, wo beide so viel zu sagen hatten.

„Sehr bescheiden. Und was jetzt?“, fragte Ian fest in die Stille. Im Gegensatz zu Wayne stand er noch immer. Sein Gewicht ruhte fast vollständig auf seinem linken Bein und entlastete damit sein Rechtes.

„Ich überlege noch, was ich zurzeit am Meisten von dir will.“ Wayne blies halb lächelnd einen dünnen Rauchstrahl. „Mach einfach, wonach dir ist.“ Im Augenblick schien Wayne einfach nur seine Reaktionen beobachten zu wollen.

Ian ging ein paar Schritte, nicht durch den Raum und auch nicht auf und ab, sondern direkt auf Wayne zu. Waynes Augen erwachten zu einer anderen Art von Interesse.

Nur einen Schritt vor dem Sessel blieb Ian stehen.

„Es wäre mir lieber, du sagst es ohne Umschweife.“

„Gut, wie du willst. Ich war lange genug kindisch.“ In einer energischen Halbdrehung hatte Wayne die Zigarette ausgedreht und entsorgte auch diese in den Kamin. Er umfasste Ians Handgelenk. „Zieh dich aus!“

Ian zögerte in einem Anflug sichtlicher Abwehr. Sein Ehrgefühl machte es ihm nicht leichter, auch wenn es am Ende den Ausschlag gab; sein Wort war bindend – zumindest für ihn.  Zuerst verhalten, dann sicherer, öffnete er die Knöpfe des Waffenrockes. Sein Waffenrock war noch verdreckt vom Kampf. Staub bedeckte die Rückenpartie und ganze Streifen die Seiten, wo er auf seiner Flucht etwas wie Holzplatten gestreift haben musste. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern. Der letzte Knopf war offen, doch als Ian das Hemd abstreifen wollte, hielt Wayne ihn auf.

„Die Hose“, erklärte er, seinen Blick von der Aussicht auf Ians Oberkörper losreißend. „Ich meinte die Hose.“ 

„Warum sagst du es dann erst jetzt?“

„Ich wollte dich nicht unterbrechen.“ Zumindest einer empfand hier offensichtliches Vergnügen. „Es war sehr anregend.“

Was sollte man darauf antworten? Ian nahm es hin, weil er sonst nicht viel mehr hätte tun können, als trocken zu lachen. Und verschroben genug war diese Situation ja, solange man nicht selber mitten drinnen steckte.

Als Ian aus den Stiefeln stieg und schließlich die Hose abstreifte, landete die Hose nicht achtlos auf dem Boden, sondern er hängte sie bewusst über den Unterarm. 

„Ach, schmeiß das Ding weg! Ich lass dir eine Neue bringen.“ Und schon befand sich die Hose nicht mehr auf Ians Arm, sondern, zu seinem stillen Missfallen, mitten auf dem Boden. So ergaben sich allerdings ein paar Schonsekunden, bevor das Unvermeidliche passierte. Waynes Blick schweifte unwillkürlich auf Ians Lendenzone. Seine Schultern begannen zu zucken. Es dauerte nicht lange, dann brach er in haltloses Gelächter aus. 

„Deine…“, er versuchte krampfhaft weiteres Lachen zurückzuhalten und biss sich vergeblich auf die Unterlippe, “entschuldige… deine… deine Unterwäsche ist ein Stück Bettwäsche, Ian!“

Es war Ian anzurechnen, dass er die Würde besaß, das nicht als Beleidigung aufzufassen.

„Ich hatte entweder das oder gar nichts. Keine belastende Entscheidung.“

„Du bist unglaublich! Das so trocken zu sagen!“ Wayne lachte immer noch. „Ich hatte wirklich gehofft, du würdest die Unterwäsche weglassen!“ 

Wenn das der Grund war, warum Ian nie frische bekommen hatte, war dieser Umstand perfide genug, um Ärger zu verspüren.

Es dauerte, bis ein halbwegs ernster Ausdruck den Weg zurück in Waynes Gesicht fand. Es gab auch einen ernsteren Grund, warum er von Ian verlangt hatte, sich zuerst seiner Hose zu entledigen. Hintergedanken hin oder her, vorerst hatte er noch ein sorgenvolleres Ziel.

„Zeig mir dein Bein, Ian“, bat Wayne das letzte Lachen abschüttelnd. In diesem Moment wirkte er nicht mehr wie Dracosta, nicht mehr wie ein Draufgänger, einfach nur wie ein besorgter, junger Mann.

Die Sekunde, die verging, bis sich Ians Fuß schließlich auf die freie Fläche zwischen Waynes Knien stellte, entsprang keinem Trotz, sondern der Verwirrung, welches von Waynes Gesichtern denn nun sein Wahres darstellte. 

„Das wird eine saftige Prellung.“ Waynes Hand strich über Ians Knieseite. „Erstaunlich, dass du damit läufst, ohne blass zu werden.“

Ian atmete langsam aus. „Blass bin ich bereits seit Anbruch des Tages“ Seine Arme hingen entspannt an seiner Seite. „Das macht keinen Unterschied mehr.“ Er zog sein Bein zurück.

„Doch, es heißt wir werden ein paar meiner ‚kindlichen‘ Sonderwünsche nach hinten verschieben müssen. Wir wollen dich doch nicht überanstrengen.“ Man konnte dem Eindruck nicht entfliehen, dass Wayne mit seinen steten, kleinen Sticheleien Ians Beherrschung und vielleicht auch die Ernsthaftigkeit seines Schwurs antestete.

„Dafür, dass du sonst so reagierst, als würden abwertende Worte dein Ohr nicht erreichen, scheinst du mit deinem Alter ein auffälliges Problem zu haben“, bemerkte Ian mit stillem Amüsement hinter seinem ruhigen Gesicht.  

„Vielleicht.“ Wayne fand immer wieder Gefallen, an Ians Art zu reden. Beide Hände schoben sich unter Ians Hemd und breiteten es aus, bis es nur noch die Schulter bedeckte und als teilende Linie Ians halbes Schlüsselbein vor Blicken schützte.

„Ich bin nicht gerne ein Kind für jemanden, mit dem ich das Bett teilen will.“ Und es wurmte Wayne nicht wenig, dass er Ian sogar noch immer glauben lassen musste, er wäre älter - hatte er ihm doch damals ein falsches Alter in der Bar genannt. Es war so, als hätte Ian mit seinen Worten mehr recht, als er ahnte. Das machte es nicht besser.

Ian blickte nur weiter auf Wayne herab.

„Dann solltest du vielleicht versuchen, nicht mehr wie ein verzogenes Kind zu handeln“

Die warmen Hände gruben sich unnachgiebiger in Ians Seiten, um genauso schnell das Hemd zu packen und Ian mit festem Zug zu sich runter zu reißen, bis ihm keine andere Wahl blieb, als Stütze auf den Lehnen zu suchen. Es lagen Empfindungen in Waynes Gesicht, in seinen eindringlichen Augen, die jegliche Kindlichkeit Lügen straften. Zumindest in dieser Hinsicht war er ein Erwachsener. Ein Erwachsener, der es einfach nicht anders kannte, als zu bekommen, was er verlangte.

„Ian-“, so leise, so anstachelnd und nicht mehr als eine Handspanne von Ians beschatteten Augen entfernt. “So leicht entkommst du mir nicht. Nicht mit Worten, nicht mit Taten.“ Noch leiser. „Wir sind beide keine Kinder mehr.“ Sie waren sich so nah und doch legten sich Waynes Lippen nicht auf Ians. Er erinnerte sich an die frustrierenden Momente, in denen Ian so nah davor gewesen war ihn zu küssen und doch war es ihm nie vergönnt gewesen, diesen Moment in Aufregung und Triumph auszukosten.

„Du wolltest mich besiegen und frei werden?“ Waynes Stimme wurde bitter. „Nie hast du es zu Ende gebracht, Ian. Also warum nicht jetzt? Küss mich!“, verlangte Wayne, für jetzt und jeden vergangenen Augenblick zuvor. „Und vergiss nicht, mich Wayne zu nennen…“

Kapitel 16

>>Eine Hand, die sich um einen warmen Hals schloss. Überwältigend. Gewalttätig. Sanft. Lippen im Zwist. Eine Zunge. Atemlos. Was er verlangte, rief nach einer Antwort. Es gab nicht mehr, als diesen kurzen Moment des Zauderns. Es war so einfach. Es hätte es nicht sein sollen.<<

 

Verstreute Kleider. Zwei Körper in tiefer Vereinigung. Ians unversehrtes Bein auf Waynes Schulter ruhend, Waynes Hand mit sanftem Druck und bestimmten Fingern das Knie umfassend. Vor dem Bett kniend, folgten aufdringliche Fingerkuppen gemächlich einer unsichtbaren Linie auf Ians Innenschenkel, weg von der vor Blicken verborgenen blauen Verfärbung und weg von der zitternden Kniebeuge, die sich so locker und doch so unleugbar an Waynes Seite gelegt hatte, bis hin zu Ians Beinansatz.

„Zeig es mir noch mal“, verlangte Wayne eindringlich.

Ian griff lautlos aufstöhnend in die Decke. Mit gesenktem Kopf stützte er sich auf seinen Unterarm. Seine rechte Seite nach oben, seine linke auf der aufgeworfenen Decke ausgestreckt.  Noch immer bedeckte sein Hemd seinen Rücken, klaffte nur auf, wenn sich Waynes Bewegung zu heftig auf ihn übertrug. Schwarze Haare bedeckten seine Gesichtshälfte und klebten dunkel an seiner feuchten Wange. Schwere Atemzüge hoben Ians schweißglänzende Bauchdecke. Es sah fast so aus, als weigerte er sich, doch er tat es, er zeigte Wayne, wie er ihn anzufassen hatte, wie er seine Finger um ihn schließen musste.

Es war das, was Wayne wollte: Angeleitet werden. Ian, der ihn bewusst führen musste. In seinem Versuch gegen seine eigenen Schwachpunkten zu bestehen, zeigte Ian nur mehr seiner fesselnden Mimiken widerstreitender Empfindungen.  

„Warum… so leise, Ian?“

„Nn…“ Diesmal schüttelte Ian deutlich den Kopf. Die Bewegung endete in einem Keuchen sich festkrallender Finger. Waynes Hand, die so schnell lernte, Ungewohntes und Bekanntes, und Ian nicht die Zeit eingestehen wollte sich zu fassen.

„Langsam“, presste Ian hervor, „mach… langsam!“

„Du willst doch gar nicht, dass ich aufhöre.“ Selbst Waynes Stimme klang heiser durch die Anstrengung. „Schau… nur noch ein wenig mehr…“ Wie fasziniert Wayne von Ians Zustand war. Und nicht weniger gefesselt von den unmissverständlichen Anzeichen des nahenden Ergusses. Nur hatte er nie erwartet, einen Spiegel seiner eigenen Sinnesfreuden in dem Gesicht eines anderen Mannes wiederzufinden. Eines Mannes, den er eigenhändig so weit brachte. Das war der Punkt. Er überreizte Ian und er tat es mit voller Absicht, nur um zu sehen, wie dieser mit sich kämpfte.

„Du hättest sterben können.“ Da lag ein stiller Vorwurf und leise Aggression in Waynes gesenkter Stimme.

Ians Antwort bestand darin, keine zu geben.

„Aber du lebst… fühlt es sich nicht gut an…“, tief stieß er in Ian. Seine Stimme sank zu einem Raunen. „zu leben?“

Ian keuchte auf, sein Bein krampfte sich um Waynes Schulter. Als die Entspannung kam, rollte sein Arm in kraftloser Erschöpfung zur Seite. Atemschöpfende Sekunden, in denen das von Wayne gehaltene Bein sich in erneuter Liebkosung von aufreizenden Lippen fand, dann beugte sich Wayne herab. Seine Hand erneut in aufreizendes Streicheln verstrickt.

„Noch einmal…“ Eine leise Stimme. “Ich bin noch lange nicht fertig…“

 

Eine Ewigkeit der verausgabten Sinne später, lag Ian ausgelaugt und ausgestreckt auf dem weichen Bett. Die Wärme und die regelmäßigen Atemzüge neben ihm gehörten zu Wayne. Die Arme im Nacken eingeschlagen und den Blick in die Höhe gerichtet, tat Wayne nicht mehr, als mit einem Ausdruck tiefster Befriedigung ein Bein zu strecken.

Ians Kopf rollte zur Seite. Was seinen ermüdeten Blick fesselte, war die kleine silberne Dose, die auf Augenhöhe neben dem Bett stand. Und die Wayne mit einem Aufblitzen der Augen gezückt hatte, kurz bevor es zur Sache ging. Die Bewegung und die folgende unmerkliche Gewichtsverlagerung lockte Waynes Aufmerksamkeit.

„Ach das.“ Wayne setzte sich auf und strich durch sein eigenes feuchtes Haar. „Eine Mischung, die von den Mädchen aus dem Gewerbe benutzt wird. Sie sagen es hilft Wunder und hält länger als das Öl“, grinste er zweideutig und schloss die Augen. „Riecht gut, brennt nicht… und - nun ja – wäre sehr praktisch, wenn man dem Kerl nichts abgewinnen kann, der sich auf einem zu schaffen macht.“ Was normalerweise der Fall war, wie man sich auch ohne viel Einfühlungsvermögen vorstellen konnte.

„Und du trägst es ständig mit dir rum?“ Fragte Ian ein wenig müßig der langen Antwort. Er hatte das Gefühl sich mit derartigen Fragen in das eigene Fleisch zu schneiden.

„Meistens“, räumte Wayne wahrheitsgemäß ein. „Es schadet nie. Gerade wenn es etwas länger dauern soll und das Öl hinterließ mir zu viel Sauerei.“ Er zuckte müßig mit den Schultern und stützte sich grinsend über Ian. „Oder wenn man es auf die Schnelle auf gewisse ‚Hintertürvergnügungen‘ bei den Damen abgesehen hat, wurde mir verraten. Eine Spielart, die ich erst vor Kurzem für mich entdeckt habe.“ Mit einem Übermaß an guter Laune ließ er sich zurück in die Kissen sinken.

Ian wusste sehr wohl, aus welchem Grund man derartige Hilfsmittel bei sich trug. Im Gegensatz zu Wayne hatte er allerdings noch nie das Bedürfnis verspürt, mit Frauen das Bett zu teilen, egal, über welchen weiblichen Eingang die Rede war. Es war für ihn beunruhigend genug, sich derartige Praktiken vorzustellen. Man sollte meinen, Frauen würden es anders bevorzugen, wenn sie schon die Möglichkeit besaßen.

„Du weißt gar nicht, was ich alles in der letzten Zeit getan habe“, sprach Wayne in Ians Gedanken.

Ians Augen beschatteten sich. Nach was diese Offenbarung für ihn klang, musste nicht erläutert werden. Es war einfach geschmacklos.

„Bitte hab den Anstand und verschon mich mit den Prahlereien deiner zügellosen Lebensweise“, äußerte er unterkühlt.

„Warum sollte ich prahlen?“, erwiderte Wayne empört und doch grinsend. Es war erstaunlich genug, wie man tatsächlich prahlen konnte, während man im selben Atemzug behauptete, es nicht zu tun. „Du bist aber auch empfindlich.“

Allein es auszusprechen, machte es natürlich nicht besser, aber Wayne war einfach zu ausgelassen, um sich diesen Kommentar zu sparen. Es folgte eine lange Phase der Stille, in der Waynes Blick auf Ians Rücken lag, ohne dass er irgendeine Art der Antwort bekam. Unter dem Laken spreizte Wayne leicht die Beine und atmete seufzend aus, während er den Blick wieder an die Decke richtete.

Ian hatte die Augen geschlossen. Er war es leid, unentwegt den Raum vor Augen zu haben. Das Laken bedeckte seine Hüfte und legte sich in Falten in sein Kreuz, um fast dezent seine gleichmäßigen Atemzüge zu unterstreichen.

„Das war so ein verdammtes Ärgernis damals“, unterbrach Wayne mit entspannter Stimme die Stille und nahm so seinen Gesprächsfaden unbeeinflusst wieder auf. „Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass du, nun, ‚so rum‘ wärst. Eine echte Pleite war das…“ Er schien das einfach an Ian loswerden zu müssen oder war - zumindest was das anging - sehr gesprächig. „Ian, nach dem Besäufnis habe ich dir was in den Becher gemischt“, eröffnete Wayne ihm völlig unvorhergesehen.

Ian drehte sich langsam, bis sich ihre Blicke kreuzten.

„Es hat mir nichts gebracht“, erklärte Wayne weiter. „Es war ein wenig zu stark. Ich konnte nichts mehr mit dir anfangen und ich war frustriert, weil du auf mir zusammengesackt warst.“ Er zuckte nachlässig mit den Schultern. „Ich muss gestehen, dass ich vielleicht auch ganz froh hätte sein können. Ich bin es nicht gerade gewohnt, dass mir ein Mann an die Wäsche geht.“ Kurz leuchteten seine Augen in einem inneren Lachen auf. „Aber es war eine überraschend anregende Sache, mit einem angemessen peinlichen Ende.“

Ian mochte darüber nachdenken, ob er Wayne an die Gurgel gehen oder ihm seine Dreistigkeit anrechnen sollte. Es war schlimm genug, dass er nie in der Lage gewesen war, seine Anflüge instinktiven Misstrauens, die ihn manchmal um Jamie erfasst hatten, in handfeste Erklärungen zu verwandeln.

„Und die Fleischvergiftung?“, fragte Ian ohne ein Schwanken in der Stimme. Er begann zu ahnen, dass so manches aus handfesten Gründen nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Das Bild hatte schon begonnen, sich zusammenzufinden. Er brauchte nur noch die Bestätigung.

„Ein nettes Mittel, das sich umständehalber selber mit dem Mageninhalt entsorgt. Gut, dass der Koch so verschnupft war, denn es riecht vor dem Kochen arg eklig“, erwiderte Wayne ohne mit der Wimper zu zucken. Es verstand sich von selbst, warum er selber ebenfalls dem Mittel zum Opfer gefallen war.

„Die Seile.“

„Säure.“

„Die Lunten?“

„Das war der Sturm, nicht ich.“ Waynes Grinsen flackerte auf. „Ansonsten hätte ich mich irgendwie darum kümmern müssen. Wenn wir ein Schiff kapern, durchsieben wir es nicht.“ Amüsiert tippte er gegen seine Stirn. „Diese Nonchalance gilt aber selten für die Gegenseite.“

Schön und gut. Ian arbeitete sich zu den Umständen vor, die er wirklich wissen wollte. Alles andere hätte er sich auch ohne Waynes allzu bereitwillige Bestätigungen erschließen können.

„Wenn du schon dabei bist, alles auszubreiten, warum kommen wir nicht zu dem signifikanten Part?“ Ian wirkte auf eine lebenserfahrene Weise ruhig. Es zeigte auf beunruhigende Weise sein Interesse.

„Welchen?“ Die Fragestunde schien Wayne zu vergnügen. Er hatte die schlechte Angewohnheit sich vor Ian gerne zu brüsten und versuchte auch gar nicht großartig diese Unart zu verbergen.

„Wer ist Jamie O’Nellie?“

Obwohl doch so vorhersehbar, traf diese Frage das erste Mal auf einen kurzen Ausdruck von Missbehagen auf Waynes Zügen. In Wahrheit nicht wegen der Frage an sich, sondern wegen anderer Hintergründe, die allerdings von der Frage verschont blieben. Aus diesem Grund fing sich Wayne auch derart schnell wieder, dass seine kurze verräterische Reaktion nur wie ein Hirngespinst wirkte.

„Es gibt Jamie O’Nellie“, gestand Wayne, die Arme ausbreitend, ein. „Oder sagen wir besser: Es gab Jamie O’Nellie. Er ist in einer Havarie mit seinem Schiff von Mutter See verschluckt worden. Gott, sei seiner Seele gnädig.“

„D-“ Ian hatte das Gesicht verzogen. Das sollte wohl ein Scherz sein?! So einfach war das nicht, sich als Toter auszugeben. Zu seinem Glück oder Unglück ließ ihn Wayne nicht mal den Ansatz seiner ärgerlichen Erwiderung aussprechen.

„Und bevor du weiter fragst, ich habe so hochstehende Beziehungen, dass es deinem Seelenheil nicht gut tun würde die  Namen zu hören.“ Wayne unterbrach bewusst den Blickkontakt mit Ian.

„Es reicht, wenn du weißt, dass Jamie nie als verschollen verzeichnet wurde.“ Da fiel ihm sogar etwas Passenderes ein.

„Ja, sagen wir, den Jamie, der mal gedient haben mag, gibt es schon lange nicht mehr in den Unterlagen. Aus praktischen Gründen versteht sich.“

Das war ein Schock für Ian. Piraten, dieses Pack, sollten das Militär infiltriert haben? Beziehungen zu wem? Das war unmöglich! Das musste unmöglich sein, nur leider wusste sein Verstand, dass sich überall ein offenes Ohr fand, wenn man nur lange genug suchte und genug zu bieten hatte. Es war beschämend genug und nicht zuletzt eine Quelle eines tiefen Frustes, der sich in Ian breitmachte. Die entspannte Stimmung kühlte merklich ab. Aber irgendwann hatte ein offenes Wort kommen müssen - besser jetzt als später.

„Und nur für den Fall, dass du dich für meinen meisterlichen irischen Akzent interessierst“, lenkte Wayne auf ein viel ergiebigeres Thema. „Mein selbst ernannter Ziehvater war Ire.“

Ian schüttelte nur den Kopf.

„Nur noch eines…“ Er hatte nicht vor nach Namen zu fragen, auch wenn es das Nächstliegende gewesen wäre. So überraschend anders fiel auch sein nächstes Thema aus.

„Was sollte dieses Ausbruchtheater, als du durch diese Tür gesprungen bist?“

Waynes Schweigen verriet seine Verwirrung. Damit hatte er nicht gerechnet. Kein Bohren, kein Sticheln und kein Versuch ihn zum Reden zu bringen, trotz seiner nur allzu offensichtlichen Ablenkung. Entweder war Ian weniger hartnäckig, als er geglaubt hatte, oder er hatte ihm einiges voraus.

„Ach das“, winkte Wayne ab. „Es war doch gar nicht so ein schlechter Spontaneinfall. Mir war klar, dass du wohl kaum ‚klar und in Ordnung’ sagen würdest, wenn ich sagen würde, ich wäre die Wurzel deiner Probleme“, erklärte er und setzte im Folgenden einen schwärmerischen Ton auf, der Ian problemlos die Gesichtsfarbe raubte, so lächerlich vorgetragen waren die Ausführungen, die er aufgetischt bekam.

„Zweisam wären wir in den hinteren Inselbereich geflohen und in der Einsamkeit und Verzweiflung hättest du freiwillig Trost in meinen Armen gesucht.“ Wayne besaß die völlig fehlplatzierte Dreistigkeit, sich demonstrativ selber zu umarmen und zu schunkeln. Ian verlor jegliche Fassung, man hätte auch sagen können, dass ihm seine Gesichtszüge entgleisten.

„Komm schon, so schlecht war das auch nicht“, versuchte Wayne sich zu verteidigen. „Woher sollte ich wissen, dass -“

„Dein Mädchen ihr kaltes Bett anwärmen wollte?“, half Ian in einem Ausbruch von Sarkasmus weiter.

„Ah, ja. Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Aber zugegeben, meine Gedanken waren anderweitig gefesselt.“

Ein Kind. Wayne, der große Dracosta, hatte das Gemüt eines Siebenjährigen! Das war ein Witz. Wie konnte er gleichzeitig ausgeklügelte Strategien erarbeiten, um wieder und wieder unversehrt und siegreich aus den schwersten Schlachten zu finden, wenn er auch nur im Ansatz glaubte, dass so eine alberne Idee funktionieren konnte?!

Ian konnte es nicht glauben, aber es war so verdreht, dass er wirklich nicht anders konnte, als aufzulachen. Es war einfach zu verrückt. Das mochte auch Wayne irgendwie auch aufgehen. Im Angesicht von Ians Lachen konnte er jedenfalls nicht anders, als mitzumachen. Es waren zwei verschiedene Arten des Lachens und doch fand die Spannung im Raum endlich ein Ventil. Und die Lockerheit blieb selbst, als das Lachen langsam verklang. Das Schweigen, das folgte, war für keine der beiden Seiten unangenehm. Es wäre schön gewesen, hätte der Frieden noch länger anhalten können. Doch er fand ein jähes Ende, als Wayne sich mit einem Strecken aufsetzte. Mit einer Hand fuhr er sich in einer nachlässig wirkenden Geste durch sein Haar, um dann mit lockerem Schwung aus dem Bett zu springen.

„Die Arbeit ruft“, erklärte er ohne sich umzudrehen, stattdessen lag sein Blick auf dem kleinen Ausschnitt des Horizontes im Fenster. Unbekleidet durchquerte Wayne den Raum auf der Suche nach seinen Kleidungsstücken, die routiniert, anzog und verschloss. Von Ausgehrock bis zu den Stiefeln… bis auf das kleine Tuch, das die Außentasche seines Waffenrockes geziert hatte, fand er alles wieder. Ihm schien nicht die Idee zu kommen diese wichtige ‚Arbeit‘, die ihn zu so später Stunde noch aus dem Bett treiben konnte, einen Namen zu geben. Nach dem Himmel zu urteilen, war die Sonne gerade dabei unterzugehen.

„Beschäftige dich derweil, wie auch immer du möchtest“, beschied er Ian, mit den Gedanken offensichtlich schon woanders. Beiläufig schloss Wayne die Knöpfe über seinem Handgelenk und prüfte den Sitz, bevor er an der Tür stehen blieb.

„Bier, Schnaps und was du sonst noch brauchen solltest, geht auf meinen Hut. Du brauchst dich also nicht zurückzuhalten.“ Mit einem gezwinkerten Schnalzen ließ Wayne die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Seine Schritte entfernten sich stetig von dem Raum, bis sie nicht mehr zu hören waren. Das hieß es also Dracostas Gast zu sein. Ian schloss die Augen. Er hatte nicht das Wort erhoben und er tat es auch jetzt nicht – zumindest nicht hörbar. Seine Miene war so ungerührt, wie in dem Moment, als er seinen Schwur für Waynes Ohren ein weiteres Mal formuliert hatte. Es war unumstritten, dass Gregorys und Emilies Worte offensichtlich genug Wahrheit enthielten, um ernst genommen zu werden. Wayne schien sich nicht sehr um Dinge zu scheren, die er bereits erobert hatte.

Es entsprach seiner Einschätzung, dass Wayne in emotionalen Dingen noch nicht in das Erwachsensein gefunden hatte: Er war der Freiheit anscheinend tatsächlich näher gekommen als die ganzen Tage zuvor. Egal wie abwegig und verdreht dieser Weg war, den er jetzt eingeschlagen hatte, er schien zu funktionieren. Daran ließ sich nicht rütteln.

‚Gib ihm, was er will und er verliert sein Interesse an dir. ‘ Das waren offensichtlich Folgen des stetigen Überflusses, denen Wayne sich aussetzte. Er mochte den Unterschied zwischen Liebe und Sex nie verstanden haben und das war auch besser so. Aber warum nur hinterließ dann diese Tatsache einen galligen Nachgeschmack auf Ians Zunge?

Kapitel 17

>>Mein Ian. Ihn zurücklassen zu müssen, wie er erschöpft und verlockend unter den Laken lag. Meine Damen und Herren, Scham auf ihre rote Ohren, aber ich darf sagen, dass ich die Nacht lieber länger hätte und die Pflichten kürzer. Ian hätte es bestimmt mir nicht gedankt, wie ich lachend gestehen muss.<<

 

Stunden vergingen, die Nacht breitete ihre sternenbedeckte Decke über den Himmel. Es konnte nicht angehen und doch fand Ian keinen Schlaf. Verspannt setzte er sich auf. Das kühle Laken fühlte sich feucht an. Eine Welle von Ekel brach sich in einem Ausbruch von Wut Bahn, als Ian das Laken zerknüllt in Richtung Kamin feuerte, bevor er steif aufsprang und sich schwer versucht fühlte, einen flauschigen Bettvorleger dem Laken hinterher zu schicken. Einfach nur kühler Boden hätte seinem Gemüt besser getan. 

Unterdrückt mit den Zähnen knirschend, strich sich Ian durch das Haar, während sein Blick angeekelt durch das Zimmer flog, um schließlich wieder zurück in einen Ausdruck unerschütterlicher Distanziertheit zu finden. Der Mond verriet ihm, dass es weit nach Mitternacht sein musste. Das schwache Licht umschmeichelte die Accessoires, die dem Raum diesen Eindruck eines regelrecht anmaßenden Spielzimmers verliehen, und das auf eine Art und Weise, die Ian in seinem Zustand einfach nicht eine Minute länger um sich ertragen wollte.

Es hieß, er sei frei sich zu bewegen? Gut, er würde genau das tun, was Wayne ihm so gedankenlos vormachte: das Zimmer hinter sich lassen. Aber nicht so, wie er jetzt war. Doch selbst als er alle Kleidungsstücke beisammenhatte, jeder Knopf saß und jede der Schmucknähte da anlag, wo sie hingehörten, blieben die Knitterfalten und Schmutzstreifen wie ein Mahnmal seines verlorenen Kampfes bestehen. Als hätte er diese Erinnerung gebraucht. Ein kurzes Hände ballen, ein weiteres Ordnen seiner Haare, und er verließ aufrechten Schrittes das Zimmer. Die  angelweit offenstehende Tür war seine Form stillen Trotzes, wenn nicht gar ein deutlich gesetztes Zeichen für den Fall, dass Wayne aus einer Laune heraus wieder, in das Zimmer zu schneien gedachte.

Vom Schiffsdock her wehten betrunkene Stimmen mit der kühlen Luft zwischen Fels und flachen Gebäuden hin und her. Kaum Lichter brannten hier oben, aber dafür strahlte die Strandsichel in dem sanften Licht verstreut flackernder Fackeln. Wo das Wasser schwappte, wurden aus jeder Lichtquelle zwei. Es wirkte fast so, als wäre alles Leben bei den schwarzen Silhouetten der Schiffsleiber versammelt.

Trotzdem war es weder ein lockender noch ein anziehender Anblick, während er mit beträchtlicher Anspannung den Fuß zwischen die Freibeuter setzte. Misstrauische Blicke streiften ihn, genauso wie alkoholtrübe. Manche bewusst zu laut geflüsterte Schmähung und anzügliche Anmerkung erreichte sein Ohr, ohne den Anschein zu hinterlassen, dass er sie gehört hätte. Seine Gedanken waren genug Antwort. Er war nicht feige. Ian hatte einen fast selbstverachtenden Hang nicht zurückzuweichen, wenn man auf ihn herabblickte. Eine Eigenschaft, die seine Mannschaft schätzte und ihm gleichzeitig auf ewig einen Weg in die höheren Ränge des Militärs verwehren würde. Selbst dass er jetzt ein eigenes Schiff führte, war nicht auf blütenrein weiße Armeeakten zurückzuführen, sondern auf dem entschiedenen Machtwort seines alten Kommandeurs und dem Mangel an ausgebildetem Führungspersonal, den die letzte Kriegsphase nach sich gezogen hatte.

Was für ein Mensch war es also, der mitten in einer ausladenden Feier unberechenbarer und ihm, im Alkoholrausch nicht unbedingt gutgesinnter Menschen, eine brechend volle Schankhalle - denn alles andere hätte den Ausmaßen des Raumes nur gespottet – betrat und sich, gegen alle ungläubigen Visagen zum Trotz, an einen halbbesetzten Tisch setzte? Jemand dem man vielleicht Respekt zollen konnte, nachdem man am nächsten Morgen Brummschädel und festgewurzelte Abneigung hinter sich gelassen hatte - oder dem man wahlweise ein blaues Auge schlagen wollte.

Der besetzte Tisch verfiel auf jeden Fall auf angespannte Weise in Stummheit, als wäre Ians Präsenz ansteckend. Was allerdings hier an Lautstärke verloren ging, gewannen die anderen Tische hinzu. Die Stimmung wollte auf jeden Fall an dieser Holzrunde nicht mehr so recht aufkommen, selbst als man beschloss, den Eindringling zu ignorieren.

Am Ende wurde der Tisch leer - bis auf einen schnarchenden Vollbartträger, der es nicht mal bemerkt hätte, wenn sich ein Ochse auf ihm niedergelassen hätte. Die Bedienungen waren sich auch ohne Worte einig, Ian wie die verqualmte Luft zu behandeln. Wenn seine blauen Augen in ihre Richtung gingen, hatten sie vorgeschobenerweise immer etwas zu tun. Nur die Jüngste fühlte sich von ihm ertappt und schaffte es nie lange, ihren unwohlen Blick in seine Richtung zu unterdrücken, während sie nervös an einem Holztablett fingerte. Er sah ja nicht schlecht aus, da waren sich die meisten Frauen hier schon einig. Auch sein Auftreten wäre ansprechend, wenn es nicht so abweisend gewesen wäre – was natürlich auch seinen eigenen Reiz haben konnte, jedoch selten Freunde zauberte. Außerdem war Dracosta nicht da, also wer wusste schon, wie dieser Mann wirklich behandelt werden sollte? Es war schon unglaublich genug, dass er in dieser dreisten Haltung hier unter ihnen saß!

Es blieb an Gregory sich zu erbarmen und er tat es nicht unbedingt mit Feuereifer. Die Schankmaid von seinem Schoß bugsierend, ließ er seinen Humpen an seinem alten Tisch zurück.

„Du bist ein Problemkind, K-a-p-i-t-ä-n.“ Gregory ließ sich locker nieder. „Nicht dass ich das nicht respektieren würde, aber so wird das nichts.“ Er wirkte ruhig, wenn auch etwas wie ein Babysitter, der feststellen musste, dass das Kind einfach nicht im Bett bleiben wollte. Hätte er nicht plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen, wäre dieser Eindruck vielleicht sogar geblieben.

„Verdammt, bringt endlich zwei Krüge hier rüber!“ Gregory strich seufzend durch sein Haar.

„Wayne ist nicht hier“, brachte er schließlich zur Sprache. So hatte Gregory Ians in die Runde gehenden Blick interpretiert.

Ians Augenlid zuckte einmal verräterisch, bevor sein Gesicht schlichtweg undurchdringlich wurde.

„Das konnte ich bereits feststellen.“

Er schloss seine Hände um den schweren Krug, der überschäumend vor ihm abgestellt wurde.

Es war nicht die angenehmste Situation. Seit Gregory demonstrativ Platz genommen hatte, hatten sich die übrigen Gemüter wieder dem Feiern und dem Suff zugewandt. Aber zwischen Ian und Gregory drohte ein Vorhang des Kräfte ringenden Schweigens auszubrechen. Es war unverhofft genug, dass weder Gregory noch Ian in diesem Moment der Kopf danach stand, sich gegenseitig auf Herz und Nieren zu prüfen. Ian lockerte seine Haltung so weit, dass Gregory sich aufseufzend am Kopf kratzte.

„Er ist da hinten.“ Sein Daumen zeigte die ungefähre Richtung, irgendwo hinter dem Saal. „Und das kann lange dauern.“ Gregory hob eine Augenbraue. „Nun, ich kann wohl getrost davon ausgehen, dass du nicht mit unseren Regeln auskennst. Das ist bestimmt kein Bestandteil eurer glorreichen Militärausbildung.“ So ganz ohne Ian von der Seite anzumachen, ging es wohl nicht.

Aber es prallte derart wirkungslos an Ian ab, dass Gregory doch neidlos eingestehen musste, dass ihn alles andere an diesem Punkt enttäuscht hätte. Er hatte schon Schlimmeres in Ians Gesicht losgelassen, und selbst wenn er für Ian nicht gerade Zuneigung empfand, hieß das nicht, dass ihm eine Memme lieber gewesen wäre.

„Ich will dein zartes Militärherz nicht schocken, aber seit heute Mittag steht wieder was an“, eröffnete er ohne allzu viel Gefühl im Ausdruck.

Ian reagierte nur mit einem kurzen Achselzucken. „Danke der Fürsorge. Ich rege mich darüber auf, wenn ich mehr tun kann, als hier rumzusitzen.“

„Weise“, gab Gregory neidlos zu und schwenkte wieder auf das Thema zurück, das er eigentlich angehen wollte.

„Vor jeder Beutefahrt gibt es eine Wahl. Die Mannschaften wählen den Kapitän ihres Schiffes.“ Er zuckte mit den Schultern. „Immerhin, man bekommt mehr Geld, aber auch den Ärger, wenn man Mist baut.“ Ein ungeniert großzügiger Schluck aus seinem Krug schien zu sagen, dass er – einmal angefangen - keine Kopfschmerzen darüber empfand, jetzt für das Gespräch verantwortlich zu sein. So eine kleine Unterrichtsstunde war besser, als sich alleine mit seinem Krug zu langweilen.

„Dracosta ist anders. Das Flaggschiff und die anderen Schiffe stehen immer unter Dracostas Befehl. Seine Mannschaft wird von IHM gewählt.“ Also die ‘Crying Nancy’ und ihre Besatzung. Ein Schiff, an das Ian keine einzige gute Erinnerung verband. Im Gegenteil, im Moment war es ein rotes Tuch - allerdings ein nur halb so großes wie Dracosta selber.  

„Der Dracosta hat immer das letzte Wort. Passt ihm ein Kapitän nicht, muss so lange weitergewählt werden, bis er seine Zustimmung gibt. Und nachdem die Hälfte der Männer gerade im Vollrausch wählt, kann es schon mal dauern“, fügte Gregory an, bevor er sich zurücklehnte und mit der Hand in den Saal wies. „Wer hier sitzt, hat nichts mit dem ‚Ausflug’ zu tun. Mich und deine Wenigkeit eingeschlossen“, endete er.

„Dann können wir ja nur froh sein, dass wir unsere Gesellschaft so sehr genießen.“ Ian hob den Krug zu einem halbherzigen, aber satt ironischen Gruß.

„Ganz mein Gedanke“, prostete Gregory zurück. Zumindest waren sich beide einig, was sie voneinander hielten.

Kapitel 18

>>Es gibt Zeiten da muss man dem Passiven und Zeiten da muss dem aktiven Sein frönen. Meine Damen, meine Herren, wie das Blut singen kann, wenn man seinen Verstand an den Möglichkeiten der Zukunft wetzt! Meine Augen, sie richteten sich auf ein strahlendes Morgen. Es kam mir nicht der Gedanke, mich in denjenigen zu versetzen, der, an sein Wort gebunden, an meiner Seite verweilen musste. Um ehrlich zu sein, gingen meine Gedanken nicht mal den ersten Schritt dieses Weges. Liebe macht nicht nur rosig, sie macht auch manchmal blind und eigensinnig, denken sie nicht?<<

 

Eine ganze Nacht, ein neuer Morgen. Irgendwann musste die ausgelassene Stimmung unweigerlich ein Ende finden. So lange wartete Ian nicht ab. Gregory hatte ihm viel mitgegeben und wenig davon hatte Gefallen in Ians Ohren gefunden. Es hätte auch kaum etwas gegeben, das ihn milde gestimmt hätte. Umso sinnloser erschien ihm die noch immer offen stehende Tür zu Dracostas leeren Räumen. Wayne war nicht da. Wäre er da gewesen, hätte Ian vielleicht nicht den plötzlichen Entschluss gefasst, seine neue Bewegungsfreiheit spontan etwas auszubauen. Er beschloss den Raum, seinem alten Gefängnis, den Rücken zu kehren und sich ein eigenes Plätzchen zu suchen. Selbst wenn es nicht mehr war als Trug. 

Ohne Gregory hätte er es natürlich niemals durchziehen können. Seine Zustimmung und seine Vermittlung waren das, was Ian brauchte. Doch Gregory fand allein den Gedanken erheiternd genug, dass jemand Waynes Räume zur Abwechslung mal verließ, anstatt sich dort einzunisten, um Ian persönlich jeden einzelnen freien Raum zu zeigen, der ihnen zur Verfügung stand.

Dass Ians Wahl auf einen Raum fiel, der weder schmuck noch besonders groß war, überraschte ihn nicht allzu sehr. Bei Weitem kurzweiliger war die Tatsache, dass sich Wayne ab jetzt in die sprichwörtlich letzte Ecke begeben musste, um Ian zu finden. Diese Kammer von Raum, diese Notunterkunft voller Regale und vergessener Bücher, lag so vergessen, dass selbst Wayne eine Karte hätte zücken müsste, um Ian auf Anhieb aufzuspüren. Waynes Gesicht in diesem Moment hätte Gregory nur zu gerne gesehen, aber ihn brummte der Schädel vom Vortag und er wollte schlafen. So war Ian allein, als Wayne am reichlich späten Vormittag zu ihm fand. 

„Was machst du hier?“ Wayne versperrte alles andere als begeistert den Türrahmen. Die Besprechung, das sah man, hatte ihn ausgelaugt. Erschöpfung hatte Schatten unter seine Augen geschlichen. Während er abwesend durch sein zerzaustes Haar strich, brachte er nicht eine der Strähne seiner braunen Haare in Ordnung.

„Ich ziehe um.“ Ian hatte mit einem kurzen Blick aufgenommen, was eine durchgearbeitete Nacht aus Wayne gemacht hatte. Vielleicht mutmaßte er hinter Waynes Zustand mehr auslaugende Tätigkeiten als nur Reden. Mutmaßungen, die er jedoch weder sein Gesicht, noch seinen Tonfall trüben ließ.

„Das sehe ich.“ Wayne tippte gegen seinen Nasenrücken.  

„Nun“, Ian wirkte kalt wie Stein, „Ich darf mich frei bewegen, wenn ich mich recht erinnere?“

Waynes unwilliger Blick schien zu sagen, dass er diese Art von Freiheit, die Ian sich gerade gönnte, nicht besonders befürwortete, aber trotzdem nichts fand, dass er auf die schnelle einwenden konnte, ohne wie ein störrisches Balg zu wirken. Er erhob erst das Wort als Ian ihm dem Rücken zukehrte.

„Etwas überflüssig findest du nicht?“, fragte Wayne süffisant. Der einfache Raum und die schlichte Aufmachung kamen ihm unnötig spartanisch vor. Allein die Tatsache, dass Ian umzog war überflüssig genug. „Mein Raum ist groß genug für uns beide.“ Sein zweiter Blick drückte schon etwas mehr Verachtung für diese Kammer aus, die mit nicht mehr lockte, als den Büchern, die er hier zwischengelagert hatte.

„Es ist dein Raum“, betonte Ian ausdruckslos. „Die ganze Insel ist eine Ansammlung DEINER Räume, und insbesondere Betten, wenn ich mich recht erinnere“ Das trockene Lachen, das Ians Worte begleitete, tat wenig um die Stimmung aufzulockern. Und einmal angefangen hörte Ian auch nicht so schnell wieder auf.

„Wie ich höre, benutzt du alle mit Freuden.“ Das saß. „Und wie Gregory freundlicherweise erwähnt hat, beendest du jede Besprechung in dem Bett einer anderen.“ Ian hatte die Arme verschränkt. „Da sollte Dracostas ‚Lieblingsspielwiese‘ nicht besetzt sein, findest du nicht?“

Das waren zu viele Punkte, um sie durchgehen zu lassen, Gregorys Name wurde unglücklicherweise zum hervorstechendsten Nagel für Wayne.

„Das hat er dir also gesagt?“ Ein ärgerlicher Zug umschlich Waynes Mundwinkel. Es war schwer zu entscheiden, ob er seinen Ärger gegen Ians Profil oder den nicht anwesenden Gregory schickte. „Er scheint dir ja viel zu erzählen.“

„Ich sehe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.“ Ians Augen blieben an einem falsch geknöpften Knopf an Waynes Waffenrock hängen.

„Vielleicht stimmt es ja“, zuckte Wayne leichthin mit den Schultern, während er ins Zimmer trat. „Aber jetzt bin ich hier.“

„Das sehe ich“, griff Ian Waynes vorherige Worte auf und ließ auch die Geste nicht fehlen. „Fragt sich nur warum?“

„Um zu schlafen natürlich, was sonst?!“ Wayne fiel mehr in das schmale Bett, als dass er sich legte. Seine Erschöpfung brach sich so schonungslos offen den Weg vor Ians Augen, dass man nur ahnen konnte, wie müde er sein musste. „Leg dich zu mir, Ian“, verlangte Wayne ohne die Augen zu öffnen. Fordernd klopfte seine Hand die Bettkante. „Komm schon, das ist ein Befehl“, wiederholte Wayne nach ein paar Sekunden der Stille.

Das einfache Bett knarrte leise als Ian sich mit regloser Mine - das Gesicht in den schmucklosen Raum gerichtet - neben Wayne legte. Das Bett war nicht für zwei Mann gedacht.

„Du riechst gut“, murmelte Wayne und drückte seine Nase in Ians Nacken. Ians Augenbrauen zuckten ungläubig zusammen. Die Überraschung hatte einen Riss in seine Mauer aus Abwehr springen lassen.

„Ich habe kaum geschlafen, nicht geduscht und ein komplettes Zimmer umgeräu-", protestierte er. Niemand roch danach gut! Das war Unfug!

„Jetzt wo du es erwähnst“, kam es von Wayne. „Du stinkst wie eine Ziege… und bekanntlich schwören einige Männer auf die Vorzüge von Ziegen. Belassen wir es dabei.“ Beiläufig glitt Waynes Arm über Ians angespannte Seite.

„Das war ein Scherz“, unterbrach Wayne Ians Ärger. Mit einem Rascheln schob sich Waynes Hand an dem geknöpften Saum vorbei unter den schweren Samt von Ians Waffenrock. Selbst das kühle Hemd war heiß unter seinen Fingerkuppen.

„Das…!“ Ian war immer noch wütend.

„Shh“, mahnte Wayne. Ian war seine Entspannung. Wayne machte ihn dazu, ob er es wollte oder nicht. Seine Finger spielten gemächlich an Ian, bis er die feste Spitze einer zusammengezogenen Brustwarze durch den vagen Schutz des Hemdes spürte.

Ians Verstand war oft so unterkühlt wie seine Worte scharf, doch es gab auch Laute, die es sich lohnte, ihm zu entlocken, und wenn es nur das Echo unregelmäßiger Atemzüge war, die ihn in den Schlaf begleiten würden. In einen tiefen erholsamen Schlaf, den Wayne im Moment so dringend nötig hatte wie Ians Gesellschaft.

Er schlief ein und Ian blieb mit offenen Augen liegen. Es war erniedrigend jeder Laune folgen zu müssen wie ein Schaf seinem Scherer. Doch wenn Wayne es gewagt hätte, seine Hand dreisterweise in seiner Hose einschlafen zu lassen, hätte er selber nicht sagen können, wie er reagiert hätte. Auch jetzt blieb ihm die Hand zu sehr bewusst. Selbst wenn er es sich nicht eingestanden hätte, waren ihm die Auswirkungen der aufdringlichen Fingerkuppen noch lange nachdem Wayne in einen sorglosen Schlaf gefunden hatte geblieben.

Kapitel 19

>>Er hat ihn mir gelassen, diesen einen Raum. Ohne dass er es zu Wort brachte, wusste ich, warum er dieses kleine Zugeständnis bestehen ließ. Wenn meine Gedanken einen Weg zurückfinden, erinnere ich mich wie oft und mit welcher Selbstverständlichkeit er vor meinen Augen in diese schmale Tür trat. Nicht zuletzt, um zu zeigen, wie gering der Unterschied war, wo ich mich aufzuhalten gedachte. Ein Dracosta hat seine Pflichten gewissenhaft auszuführen und Regeln zu folgen. Das war eine unerwartete Erkenntnis, genau wie der Anblick von diesem braunen Schopf, wie er inmitten von Rollen, Zetteln und Federn über Karten brütete, als wäre sein Verstand urplötzlich an den vergilbten Seemeilen gealtert. Irgendwann, so schien es, war es mir anvertraut, das Abendessen für ihn anzutragen. Den ganzen Weg, von der nicht nennenswerten Küche, bis in sein weitläufiges Arbeitszimmer, wo Abend für Abend ein Paar Augen nur dankbar darauf zu warten schien, sich von den Aufgaben lösen zu können. Wie er die Karten auswendig lernte, so schien er es meinem Leib angedeihen lassen zu wollen. Wie oft und unermüdlich er nur meine Anwesenheit verlangte, um mir, zu meinem endlosen Ärger vorzuschwärmen, den absoluten Glückspunkt der Frauen gefunden zu haben wie andere einen Schatz, und wie erfreut er war, als er etwas Vergleichbares an mir aufspüren konnte; nur viel leichter zu bedienen, wie er so gern und überflüssigerweise betonte. Ohne hier auf anatomische Nichtigkeiten eingehen zu wollen, auch ein Mann trägt mehr als nur eine erogene Zone. Erfahrene Damen hätten es ihm verraten, vielleicht auch zeigen können. Doch war es für ihn nur ein Spiel, ein Test zu beweisen, was er vermochte. Das war meine persönliche Ansicht, Gott mochte für sich klären, was nun der Wahrheit entsprach oder nicht. Unberührt erblühte Frauen waren für ihn wohl das reine Vergnügen, der Triumph einem jungen, unerfahrenen Körper neue Welten zu eröffnen. Er verwöhnte, er ließ sich nicht verwöhnen. Es gab nicht mal viele, die sich das Recht herausnehmen konnten, es zu versuchen. Wie ungewöhnlich, dass er Selbiges so endlos von mir einzufordern nie müde wurde. Um präzise zu sein: seit dem Tag an dem ich dem Mittel erlag und dem unwissenden Schlaf frönte – welche Schmach diese Erinnerung birgt. Doch Wissen ist der Samen, der mit der Zeit keimt, und so hätte es meinem Alter Ego nie aufgehen können, dass Wayne sich nach etwas verzehrte, was er von niemandem sonst einzufordern den Mut fand. Vielleicht war er deshalb so versessen gewesen, eine derartige Farce ins Rollen zu bringen, nur um einen unbedeutenden Kapitän zu erbeuten. Dieser Dracosta schien seine eigenen Anwandlungen nie hinterfragen zu können.<<

 

Ian betrat den weinroten Teppich, der ihn sicheren und lautlosen Schrittes an Waynes schweren Schreibtisch führte. Ein weites Fenster spiegelte den Schein des beleuchteten Raumes gegen den dunklen Abend. Wayne, so hatte Ian schleichend begonnen ihn selbst im größten Zorn zu nennen, pflegte spät zu essen. Das Licht in seinem Arbeitszimmer war goldgelb wie Honig. Es setzte warme Akzente auf das dunkle Rosenholz der wuchtigen Möbel. Eine seltsame Mischung aus Ordnung und Unordnung hatte den Raum erobert. Mit der wachsenden Arbeit und dem gnadenlos näherrückenden Tag von Waynes Aufbruch, schienen die Stapel an Rollen und Büchern stetig zu wachsen.

Die Zeit änderte einiges. Seit Ians Umzug in das neue Zimmer waren gute drei Wochen vergangen. Wayne hatte keinen Grund mehr gefunden, sich über Ians Verhalten zu beschweren. Wenn es umgekehrt nicht genauso war, konnte Ian es hinter seiner ruhigen Miene besser verbergen, als Wayne es lieb sein mochte. Doch ein Abend an dem Ian ihn nicht mehr aus seinen tiefen Berechnungen zurückholte, wäre ihm selbst nach dieser kurzen Zeit bereits als unvorstellbar erschienen. Er war zu einer beruhigenden Konstante geworden.

Von den duzenden Mannen, die Tag für Tag sein Zimmer aufsuchten, um sich mit ihm zu bereden, war Ian immer der Letzte und neben Gregory einer der wenigen, die unangemeldet eintreten durften – auch wenn er von diesem Recht nie Gebrauch machte.

Um genau zu sein, rief Wayne Ian auch tagsüber zu sich. Egal was er tat, egal wo er war, er hatte sofort zu kommen. Manchmal um einfach nur hinter dem Stuhl zu stehen, ein anderes Mal, um ihm mit Rat beizustehen, wenn Gregory anderen Pflichten nachging. Selbst ohne Ian zu tief in Pläne einzuweihen, war Ian doch ein gestandener Kapitän mit einiger Erfahrung, die Wayne wertzuschätzen begonnen hatte. Er hatte ein scharfes Auge und einen scharfen Verstand.

Ian blieb vor dem Schreibtisch stehen. Es vergingen mehrere Sekunden, ohne dass etwas geschah. Eben die Sekunden, die Wayne brauchte, um Ians Anwesenheit zu bemerken.

„Essen.“ Das Tablett stand bereits in Waynes Lieblingsraum. Bei seinem Sessel, den vielen Fellen und einem prasselnden Kaminfeuer.

„Ist es schon so weit?“ Ein schlanker Zirkel wurde beiseite gelegt. Wayne schaute zu Ian auf. Was immer ihm durch den Kopf ging, er brauchte einen Moment, um sich davon zu befreien. Aufseufzend strich er durch sein Haar und lehnte sich zurück. „Ich komme einfach nicht auf die richtigen Koordinaten!“, genervt trommelte er mit den Fingern auf der Karte. 

„Und? Was gibt es heute?“ Das gehörte zu seiner Routine. Anfangs hatte Ian immer nur mit einem ‚Ich habe nicht die Deckel gehoben’ geantwortet. Nach dem vierten Mal in Folge war es ihm überdrüssig geworden, also sorgte er seitdem dafür zu wissen, was auf Waynes Teller kam.

Die Männer und Frauen fanden es allerdings schon fragwürdig genug, dass jemanden wie ihm das Mahl anvertraut wurde. Nicht dass er großartig etwas tun konnte, außer rein zu spucken, aber es blieb einfach genauso wenig nachvollziehbar wie Ians Position in dieser Gemeinschaft.

„Französischer Käse, Trauben und Ofenbrot wie für den König von Spanien“ 

„Und königlicher Wein, hoffe ich“, seufzte Wayne mit einem zur Entspannung findenden Lächeln, während er sich ausgiebig streckte.

„Den auch.“ Ian beugte sich mit konzentriertem Blick über die Karte. Obwohl sein Finger über die handgezeichnete Karte fuhr, faszinierte Wayne mehr der Anblick, wie Ians schwarzes Haar nach vorne fiel.

„Hier“,  Ians Fingerkuppe pinnte treffsicher eine Zahl nieder. „Das Raster ist falsch beschriftet.“ Ein schlichter Schreibfehler, wie er sich schnell einschlich.

Wayne sah sich unerwartet aus seiner Betrachtung gerissen.

„Tsch, der ist mir entgangen“, ärgerte er sich. „Warte einen Moment, das bessere ich gleich aus.“ Er griff die Tusche und durfte feststellen, dass der Rest eingetrocknet war. „Auch das noch!“ Er knallte das Pöttchen zurück und stand ungehalten auf. „Lassen wir das“, beschied er so plötzlich, wie er sich erhoben hatte.

Ian wartete einfach nur ab. Wenn er etwas in den vergangenen Tagen gelernt hatte, dann war es, dass es keinen Sinn hatte, bei solchen Nichtigkeiten seine Meinung abzugeben. Es spielte keine Rolle, wie er es halten würde, es waren nicht seine Aufgaben.

Mit einem ausgiebigen Kreisen seiner Schultern kehrte Wayne wieder in sein sorgloses Ich zurück. Eine erstaunliche Verwandlung. Er wirkte einfach nicht als könnte er verantwortungsvoller Arbeit irgendwas abgewinnen. Und wenn man ihn plötzlich brachial Fluchen und Toben hörte, konnte man gut und gerne glauben, dass er lieber eine andere Berufung hätte wählen sollen. Es war ein Anblick, der es wert war, eine Stunde über Waynes Schulter geblickt zu haben.

„Dracosta! Ich muss mit dir reden!“ Emilie stürmte zorngerötet in den Raum. Sie hatte genug Luft gezogen, um wahlweise ihr Korsett zu sprengen oder jede Schriftrolle einzeln aus dem Fenster zu zetern. Ian wurde ihr da zu einem gehörigen Dämpfer.

„Alleine!“, setzte sie nach. „Sofort!“

Wayne reagierte halb ärgerlich, halb amüsiert. Bis er sich entschieden hatte, ob Emilie sich einen Schritt zu viel herausgenommen hatte, war Ian schon mit einer angedeuteten Verbeugung zurückgetreten.

„Ich gehe vor.“

„Ich komme gleich nach“, versprach er Ian.   

„Keine Sorge, ich finde den Weg alleine“ Ian verharrte kurz neben Emilie. „Miss Lesage“, verabschiedete er sich kühl aber höflich. Seit er ihren Nachnamen kannte, benutzte er ihn reichlich.

„Ja, ja~“, winkte Emilie ab ohne ihn anzusehen. Es war nicht so als würde sie Ian hassen. Er hatte einfach zu viel von Waynes Zeit, ohne dass es ihn zu scheren schien, und sie hatte gleichzeitig zu wenig, obwohl sie sich redlich bemühte, das zu ändern. Das allein ärgerte sie maßlos.

Ian schloss die Tür hinter sich. Mit dieser einen Bewegung sperrte er alle weiteren Worte, die fallen mochten, hinter die stabile Tür. Etwas Vergleichbares passierte mehrmals am Tag – zumindest aus seiner Sicht. War es nicht Emilie, war es Gregory, und war es keiner von beiden, war es jemand anderes. Immer gab es Streit oder Probleme, die nur der allwissende Dracosta lösen konnte. Es musste Ian schwerfallen, das zu verstehen, obwohl er sich ehrlich eingestehen musste, dass Wayne mehr Seiten hatte, als er auf den ersten Blick preisgab. Seine Ideen waren voller Leben und Einfallsreichtum, doch verletzten sie zu oft, was Ian als Recht schaffend betrachtete. Deswegen konnte er Wayne keine Achtung zollen, ohne sich selbst zu verachten.

Ian blieb vor dem flachen Tisch stehen, auf dem das silberne Tablett auf Wayne wartete. Dort hatte er es vorher abgestellt. Langsam wandte sich sein Blick zur Seite. Vorhin hatte er keinen zweiten Blick an diesen Raum verschwendet, den er schon so in und auswendig kannte. Aus wenigen Minuten wurden mehr. Das Warten ließ ihn auf Suche nach Beschäftigung aufmerksamer werden. Wieder fand er sich vor dem Regal mit den Blattgold-verzierten Büchern. Sein Finger folgte den Buchrücken, dann verharrte er. Dort auf dem zugestellten Nachttisch lag etwas. Ein Brief. Ein dunkelrotes Siegel aus Wachs hielt das gefaltete Pergament zusammen. Dieses Siegel… Ian streckte die Hand nach dem Brief aus, doch noch, bevor er ihn anheben konnte, wurde ihm das Papier entrissen.

„Was machen wir denn da?“ Wayne hielt den Brief demonstrativ neben sich in die Höhe. Für Ian war es als wäre Wayne aus dem Nichts aufgetaucht. Er schrak regelrecht zusammen. Es gab keinen Grund sich irgendwie ertappt zu fühlen, trotzdem war er sichtlich aus dem Gleichgewicht geraten und erst dieser Anblick ließ Wayne schmunzeln. „Lesen auch aufrichtige Menschen fremde Post?“, hakte er amüsiert nach.

Ian wurde blass als hätte Wayne ein rotes Tuch geschwenkt. „Das ist das Siegel des Königshauses!“

„Und das ist Papier.“ Wayne zuckte mit den Schultern, während er mit dem Pergament wedelte. „Ich meutere ‚königliche‘ Schiffe und darauf gibt es nicht nur ‚königliches‘ Gold“, lachte Wayne. „Denkst du, ich mache vor ‚königlicher‘ Privatpost halt, nur weil da jemand sein Siegel in warmes Wachs gedrückt hat? Ist das so überraschend?“

Nein, war es nicht. Ian schien selber nicht zu wissen, warum es ihn so sehr aufwühlte. Es war allein das Prinzip, oder besser dieser Prinzipienbruch, der ihm schwer zu schaffen machte. Schiffe, Transportgüter – das war eine greifbare Beute mit Sinn. Doch Siegel zu brechen war eine unnötige Handlung - zumindest für einen Menschen wie Ian.

„Information, Ian, Information“, Wayne faltete das Pergament auf,  „du weißt das ist am Ende alles.“

Ian legte eine Hand über seine Nasenrücken und rieb den dumpfen Druck hinter seinem Schädel weg. Was er wusste oder nicht wusste, verstand oder nicht verstand, als richtig oder nicht richtig empfand, konnte er nicht abstellen. So schnell änderten sich Menschen nicht.

„Das Siegel zieht dich an, wie? DAS nenne ich loyal!“ Wayne hielt ein Auge geschlossen. „Aber Loyalität ist rar und gedankt wird es einem nicht“, seufzte er. „Vergiss das lieber nicht“, fügte er neunmalklug grinsend an, knüllte den Brief zusammen und warf ihn achtlos in die nächste Ecke.

Wayne breitete sich ausatmend auf dem Sessel aus, hob das Glas vom Tablett und ließ den Rotwein im sanften Widerschein des Kamins im Glas rollen. Ian lehnte sich neben dem Fenster an die Wand, nur sein Profil Wayne zuwendend, während er in den Abend hinausschaute. Es war fast wie jeder der letzten Tage, nur dass dieses Mal auch Wayne seine eigenen Gedanken zu wälzen schien. Trotzdem hatte das Schweigen schon lange an Schärfe verloren. Selbst wenn Ians Blick ab und an Wayne beim Essen streiften oder ein Scheit knackend in sich zusammenfiel, schien die Welt so zu sein, wie sie sein sollte. Selbst wenn diese beiden Menschen auch nach einem langen Tag, die Welt nie durch die Augen des anderen sehen konnten.   

Kapitel 20

>>Meine Damen, meine Herren sie werden mit Freuden hören, dass die Zeit des Stillstehens vorbei ist. Beim nächsten Sonnenaufgang ruft das Abenteuer, wie ich es gerne nennen möchte. Dieses Abenteuer hieß Schuften, lange Ungewissheit und schließlich - daran durfte man nie zweifeln - nichts anderes als Erfolg. Mit den Augen voraus sollte es mir verwehrt sein, hinter mich zu blicken. Wie viel kann sich wohl in ein paar Wochen ändern? Jedoch die eigentliche Frage ist: Wer wäre es, der sich ändern würde?<<

 

Da war er wieder, der Brief. Er schien Ian zu verfolgen wie eine fleischgewordene Plage auf Pergament. So zusammengeknüllt, wie er auf Waynes Schreibtisch lag, musste es einfach der gleiche sein. Doch dieses Mal ließ Ian seine Finger von dem Siegel und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um Neugier oder fruchtlosen Ärger zu schüren. Er hatte eine ganze Nacht Muße gehabt, um sich klar zu werden, dass seine Empörung noch andere Wurzeln haben musste. Der Brief erinnerte ihn an das, was er eigentlich tun sollte. Egal wie man es ausdrückte, diese Tage und Wochen hatte er mehr Zeit mit Wayne verbracht, als mit irgendjemandem sonst. Fast jede Nacht hatte Wayne bei ihm gelegen. Der Abstand zu Wayne, die anstehende Raubfahrt, die beginnen sollte und die Wochen ohne Wayne, waren notwendig, um Ian wieder er selbst werden zu lassen. Trotzdem blieb ein schaler Geschmack auf seiner Zunge, vielleicht war es Sorge. Die Tür öffnete sich und Wayne trat ein.

„Fertig?“ Wayne streifte einen schlichten, aber edlen Waffenrock über. „Ich schwöre bei Gott, wenn ein einziges Mal alles rund laufen würde, würde ich die Frauen für immer aufgeben“, grinste er, im vollen Bewusstsein Ian damit auf die Füße zu treten. Hinter den blauen Augen schien Eifersucht etwas wie ein Fremdwort zu sein, egal wie sehr man ihn reizte. Auch jetzt war das kurze Zucken in Ians Mundwinkel eher eine Reaktion auf diesen dummen Spruch an sich und nicht auf dessen Inhalt. Ian, die harte Nuss, das war auch etwas, was Wayne an Ian faszinierte.

„Es geht mich nichts an, aber alles blauäugig anderen zu überlassen, wäre grob leichtsinnig.“ Was das anging, war Ian klarer Vertreter der ‚Vorsorge ist besser als Nachsorge‘ Devise. Wayne war allerdings kein Anfänger und der Grund für seine Genauigkeit, hätten Ians Zielen nicht fernerliegen können.

„Das brauchst du mir nicht sagen.“ Wayne legte sich das Cape um und prüfte den Sitz. Als er seinen federbesetzten Hut anzog, stach er gegen das schlichte Dunkelbraun ab wie ein Papagei. „Ich habe nicht vor, die Hände zu heben, weil uns plötzlich die Munition alle geht.“

„Gesprochen wie ein echter Kapitän.“

„Du nimmst mich nicht wirklich ernst, oder?“

Die künstliche Pause vor Ians Antwort funktionierte augenscheinlich besser, als Waynes Versuch ihn zur Eifersucht zu bewegen.

„Nicht wirklich.“

Kurzes Schweigen, dann lachte Wayne.

„In Ordnung, damit kann ich für heute leben. Gehen wir zu den Schiffen.“

 

Die vertäuten Schiffe wurden von der kalten See umspielt. Insgesamt drei der vor Anker liegenden Schiffe würden morgen früh ausfahren. Das Wasser in der Bucht war tief genug, dass die Schiffe nicht mitten in der Bucht ankern und mühsam über Beiboote beladen werden mussten. Wayne folgte der provisorischen Pier mit selbstbewussten Schritten. Dass er seinen Weg fest vor Augen hatte, zeigte nicht nur die Zielstrebigkeit in seinen Bewegungen, sondern allen voran auch sein Gesichtsausdruck. Hinter seinem tatendurstigen Lächeln verbarg sich eine konzentrierte Entschlossenheit. Es war überflüssig zu erwähnen, aber ihm verstellte sowieso niemand den Weg. Hier und da winkte ihm nur eines der Mädchen zu. Wayne wurde nicht müde in Erwiderung leicht seinen Hut zu heben.  

„Fangen wir mit der ‚Lilly of the Valley‘ an.“ Das war das Schiff linker Hand der ‚Crying Nancy‘. 

Wayne wechselte ein paar Worte mit dem gewählten Kapitän des Schiffes, dann begann er mit der Kontrolle. Erst die Ausrüstung, dann die Wasservorräte, über die Waffen und schlussendlich Schiffsrumpf und Allgemeinzustand.

Für jedes Schiff wiederholte er die zeitraubende Prozedur. Wenn das eigene Leben von solchen Dingen abhing, konnte man einen peniblen Hang zur Genauigkeit entwickeln. In ihrem Geschäft wurden selten Fehler verziehen. Als Letztes betrat er das weite Deck der ‚Crying Nancy‘. Für sein Schiff galt dasselbe wie für alle anderen, wenn nicht sogar noch strenger. Er atmete tief ein.

„Warst du schon mal hier?“, fragte Wayne Ian über die Schulter. Das große Schiff hob und senkte sich sanft mit dem ruhigen Wellengang der Bucht. Seile knarrten leise, die Segel warteten auf den Moment, an dem sie den Wind bändigen konnten. Mit einer Handbewegung schickte Wayne die Mannschaft auf Abstand.

„Nicht freiwillig“, antwortete Ian.

„Was ich dir schon länger sagen wollte: Du bist manchmal etwas zu direkt, Ian.“ Wayne zog sich den Hut vom Kopf und ließ die Meeresbrise frei durch sein Haar fahren und mit seiner Kleidung spielen. Es roch nach Meer, Holz und Salz. Ians Waffenrock wehte Blau auf. Er trug die englische Uniform, wann immer es ihm möglich war. 

„Die ‘Seagull’ war ein schönes Schiff. Sie hatte viel mit ihrem Kapitän gemein, findest du nicht?“ Wayne schaute von Ian aus in die Ferne. Er sann nach, ließ vielleicht einfach den Anblick seine Gedanken lenken. „Du hättest mir nie verziehen, wenn ich deine Lady versenkt hätte.“

Ein paar Möwen schrien über ihren Köpfen. Es war Wayne, der sprach, Ian schien ihm einfach nur zuzuhören. Was mochte hinter seinen Augen vorgehen? Erinnert an die ‘Seagull’, an seinen alten Platz an Deck…?

Das Wasser gluckerte gegen den Schiffsrumpf.

Ian schwieg.

„Irgendwann wird das hier meine letzte Schlafstätte.“ Es lag keine Trauer in Waynes Stimme, eher etwas wie Melancholie.

„Es ist kein schlechtes Grab“, gab Ian zu verstehen, während sein Blick Waynes in das weite Blau folgte. Das war etwas, dass nur Menschen wie sie nachvollziehen konnten, die ihr Leben mit und auf dem Meer verbrachten. Ian hielt die Reling in festem Griff. Das war eine Welt, die nur noch Wayne für sich beanspruchen konnte. Ian würde seinen Stolz nie seinen Wünschen opfern. Der Tag, an dem er mit Wayne auf einem Deck fahren könnte, lag in der Ferne der Unmöglichkeit. Es war makaber, er verstand Wayne, aber es schien als verstünde Wayne ihn nicht.

„Wayne.“ Das musste Gregory sein. Niemand sonst ließ ohne Weiteres das ‚Dracosta‘ einfach weg. „Im Lager fehlen ein paar Fässer, wenn die Liste stimmt.“ Gregory reichte die Unterlange an Ian vorbei und zu Wayne.

„Ich kümmere mich darum, nachdem ich hier durch bin.“ Wayne wies Ian, ihm zu folgen. „Greg, überprüf die Schankstellen. Wenn sich einer aus den Mannschaften besäuft, bekommt er es mit mir zu tun!“  

„Das hatte ich vor.“ Es mochten Seeräuber sein, aber wer seine Disziplin zur falschen Zeit fallen ließ, war eine Gefahr für alle. Nicht nur das Schiff musste auf Vordermann sein.

„Danke.“ Wayne hatte sich wieder entspannt. Seine Aufgabe war noch nicht vorbei.

 

„Manchmal glaube ich Gottes Plan heißt: ‚Mach es nur kompliziert, wenn es sich auch lohnt!‘“ Mit der Liste in der Hand schritt Wayne Kisten, Säcke und Fässer ab. „Schau auch hinten nach“, wies er Ian geistesabwesend an. „Manchmal rollt was hinten runter.“

Das Lager war offensichtlich in einem Anfall von Hast beladen worden. Ian jedenfalls hatte aufgegeben, das System durchblicken zu wollen, während er sich durch die schmalen Nischen drückte, konnte er nur die Schlampigkeit dieses Lagersystems bemerken. Wenn er jemals fliehen musste, sollte er sich hier verstecken. Hier fand einen nicht mal eine verhungernde Maus wieder.  

„Ah, da haben wir es ja…“, erklang Waynes Stimme aus dem anderen Ende des Raumes.

„Ich hoffe euer Munitionslager sieht besser aus.“  Über einen schiefen Stapel Säcke kämpfte sich Ian zurück auf die freie Fläche in der Nähe des Eingangs. Gründlich klopfte er den eingefangenen Staub und die Spinnenweben von seinem Waffenrock. 

„Hast du etwa Angst, dass wir Äpfel statt Kugel verschießen?“, scherzte Wayne und schwang sich auf eine Kiste. „Das ist nur ein Zwischenlager und es fehlt mal wieder ein Weinfass…“ Kein Grund sich aufzuregen, schien sein Schulterzucken zu sagen. „Das passiert ständig. Einige wissen nicht, wann Schluss ist.“

„Dann sollte man es ihnen zeigen, bevor es überhandnimmt.“ Ian schnipste einen Fussel von seiner Schulter, bevor er seine Schultern durchdrückte. „Obwohl es mich eigentlich nicht meine Aufgabe ist, dir in das Fuhrwerk zu reden“, gestand er mit einem trockenen Lächeln ein.

„Nicht? Keine Sorge, das hatte ich sowieso vor.“ Wenn jemand rausfinden konnte, wer es gewesen war, dann er.  Man kannte seine Pappenheimer schließlich - und auch diejenigen, die es darauf anlegten, einer zu werden.

„Außerdem kann man mir alles sagen. Ich bin ein umgänglicher Mensch.“ Etwas schwer zu glauben, wenn man sah, wie er amüsiert mit der Liste gegen seinen Mundwinkel klopfte. „Oder bist du etwa doch mehr besorgt um mich, als du zugeben willst?“ So schnell war Wayne nicht gewillt dieses Thema fallen zu lassen.

„Sehe ich so aus?“

„Du siehst umwerfend aus“, versicherte Wayne mit einem Schmunzeln.

Ärgernis trat in Ians Augen. „Ich habe nicht gefragt, WIE ich aussehe!“

Doch Wayne schien ihn schlichtweg überhört zu haben. Allerdings auf eine Art und Weise, die Ian bewusst machen sollte, dass volle Absicht dahinter stand.

„Ich frage mich, um wen du dir Sorgen machst…“, fing er an. „Um mich? Deine Ehre? Das Schiff, das wir kapern werden?“ Zwischen jeder Frage lag eine betonte Pause.

„Soll ich dir verraten, was wir mit dem armen Frachter der Königin machen werden? Erst täuschen wir eine Havarie vor“, führte Wayne an. „Wir haben ein nettes Handelsschiff für solche Fälle ‚aufgegabelt’.“ Er stützte sich lässig auf sein Knie, während er mit der Ferse stetig gegen das Holz der Kiste klopfte, die seinen Sitz darstellte. Das war eine seiner schlechten Angewohnheiten, der Wayne nur zu gerne nachhing, wie Ian fand.

„Natürlich haben wir seinen Namen geändert…“, gab er ungeniert zu. Die genauen Details der Schiffspediküre überließ er Ians Vorstellung. Er machte lieber mit den bedeutenden Dingen weiter.

Er konnte regelrecht sehen, wie sich Ians Schultern spannten. „Nun, es gibt da eine sehr unübersichtliche Stelle auf diesem speziellen Transportweg des Geldfrachters… oder sollte ich lieber auf dessen ‚vermeintlich geheimer Transportroute‘ sagen?“ Waynes betonte Süffisanz verfehlte ihre Wirkung nicht. Ian wollte das nicht hören. Sein innerer Zwiespalt schaffte es bis in seine Stimme.

„Das reicht!“, verlangte er, doch Wayne nahm sich die Freiheit, ihn zu ignorieren.

„Wir setzen den Frachter auf und dann, wenn sie kommen, um ihren in Not geratenen Landsleuten zu helfen… kaum geschützt, weil die Route ja ‚geheim’ ist.“ Auf diesem Wort ritt Wayne mit Genuss herum, wie es schien, allein weil mit jedem Mal Ians Augenlid zuckte.

„Ich sagte, DAS REICHT!“, platzte es aus Ian hervor.

Ihre Blicke zu kreuzten sich. Es war ein Wortloses ringen ihrer Willenskräfte.

„Warum ärgerst du dich? Niemand sagt, dass ich es lebend zurückschaffe…“, setzte Wayne an. „Wir könnten auf ein Riff laufen, in einen Sturm kommen…“ Wayne schaute Ian an. „Ich könnte eine verirrte Kugel auffangen… Dracosta, gestorben Anno Domini, ohne Mutter, ohne Familie…“ Keiner von beiden wandte die Augen voneinander ab. „Du wärst wieder frei. Du könntest wieder zurück auf dein Schiff.“

Er wollte Ian aus der Reserve locken. Wenn nicht jetzt, wann dann? Sein kleiner Ausflug würde mehrere Wochen dauern. Waynes Finger legten sich an die Kante der Kiste, auf der er thronte. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Ian kurz davor war, den Spieß umzudrehen. Nur nicht mit Worten. Ein Schritt brachte Ian Wayne näher.

„Wäre ich das?“, fragte er mit unbewegtem Gesicht. Befreit von was genau, fragte er sich.

„Nein, das wärst du nicht.“ Wayne packte Ians Handgelenke und hielt sie fest. Doch Ian zog seine Hände nicht zurück, sie legten sich auf Waynes Oberkörper und auf einmal hatte Wayne nichts mehr zu sagen. 

Obwohl Wayne auf mehr Frauen zurückschauen konnte, als an Namen auf den Zettel in seiner Hand gepasst hätten, pflegten sie beide die Dinge anders anzugehen. Erfahrung verhalf zu mehr Sicherheit, aber da gab es auch noch den Unterschied im Alter. Ian hatte seine Zeit nie großartig mit Frauen verbracht, aber durchaus mit Männern, wenn es ihn gereizt hatte. Auf seine Art war er der Erfahrenere und doch war es das erste Mal, dass er unaufgefordert Hand an Wayne legte. Der Stoff glättete sich unter Ians Hand. Waynes Gesicht senkte sich mit Ians niederkniender Gestalt. Es gab nichts, das Wayne hätte sagen können. Er war völlig gefesselt, von dem Anblick eines sich langsam niederknienden Ian und den Bildern, die ihm unwillkürlich in den Kopf schossen. Er war regelrecht hilflos.   

„Du…“ Wayne konnte es nicht glauben. Vor allem, dass Ian gedachte, ihn so dreist zum Schweigen zu bringen. Als würde ihn ein wenig Eigeninitiative seitens Ian derart durcheinanderbringen, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. Das war eine ziemliche Frechheit! Dummerweise funktionierte es.

So brachte man also einen Dracosta zum Schweigen. Am Ende war Wayne eben doch ein junger Mann, mit all dessen Schwächen und Stärken. Vor allem mit den Schwächen, wenn man Ian fragte. Egal was er wie gesagt hatte, das Verlangen hatte unmissverständlich in seinen Augen gestanden, bis sogar Ian die Worte als das durchschaut hatte, was sie waren. Ein Versuch ihn völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen und gleichzeitig zu zwingen alle seine Aufmerksamkeit auf Wayne zu konzentrieren. Vielleicht etwas preiszugeben.

Ians Augen hoben sich keinen Moment von der verräterischen Gänsehaut auf Waynes Haut. Mit Lippen und Zunge befeuchtete Ian Waynes sich unruhig hebende Bauchdecke von den ersten Ausläufern der seitlich sitzenden Narbe bis zum Bund der Hose. Als er die Hose öffnete, legten sich Waynes Hände auf sein Haar. Der Druck war leicht aber unmissverständlich. Ian schob langsam seine Fingerspitzen unter den heißen Stoff von Waynes Hose und befreite ihn. In diesem Moment öffnete sich die Tür.

„Wayne, ich-“, es war Gregory anzurechnen, dass er zumindest schnell reagierte, obwohl er selber mehr als unerfreulich und vorwarnungslos, von diesem Anblick erwischt worden sein musste. Die zwei Mannen hinter ihm erhaschten nur einen kurzen Blick auf das Geschehen, bevor sie von Gregory wieder zurückbugsiert wurden.

Ian wandte seinen Kopf unangenehm berührt der Geräuschkulisse in seinem Rücken zu. Weder er noch Wayne bewegten sich viel. Das Bild war so unmissverständlich, dass jedwede Ausflüchte es nur schlimmer gemacht hätten.

„Raus! Und bleibt draußen, bis ich was anderes sage!“, war alles, was aus Wayne hervorbrach. Manchmal schien sich die ganze Welt dazu verschworen zu haben, ihm immer dann in die Quere zu kommen, wenn es interessant wurde!

Die Tür fiel zu und Wayne hatte nur noch Augen für Ian. Für das was er tun würde. Da lag etwas in Ians Augen, das Wayne nicht deuten konnte.

„Du willst doch nicht etwa aufhören…?“ Seine gesenkte Stimme schien nicht weiter zu tragen als bis zu Ians Ohren. Wayne grub seine Finger verlangend tiefer in das schwarze Haar, bis es zwischen seinen Fingern floss, als Ian den Kopf senkte.

„Nein.“ Ians Stimme war leise und klar, dann legte er seine Lippen um die Spitze von Waynes harten Schaft und bewies, dass er in diesen Sachen weit weniger Lehrunterricht brauchte als Wayne.

 

Gregory lehnte sich mit gerunzelter Stirn von außen an die Tür. Was es genau gewesen war, das ihn an diesem Bild so verstört hatte, blieb hinter seiner Stirn verborgen.

„Sucht euch eine Beschäftigung“, riet er den beiden Männern, die noch immer so aussahen, als könnten - und wollten - sie nicht glauben, was sie gerade gesehen hatten. Das war wohl auch eine Sache, die Gregory aufstieß. Natürlich musste der Zeitpunkt kommen, an dem jeder mitbekam, für was sich Dracosta einen Blaurock hielt. Aber von all denjenigen, die zuerst in diese Situation hätten stolpern können, musste gerade er die Eröffnung machen! Für so was gab es schließlich Zimmer. Gott war ihm schlecht. Die Vorstellung es mit einem Mann zu treiben widerte ihn an, gelinde ausgedrückt.  

„Macht schon! Sucht euch eine Beschäftigung!“, blaffte er die Männer etwas nachdrücklicher an. Endlich zogen die Zwei ab und ihm blieb die unfreiwillige Ehrenwache. Er hätte nie gedacht, dass Wayne so laut werden könnte. Obwohl nur gedämpft, hörte Gregory mehr als ihm lieb war. Es waren die nervenaufreibendsten Minuten seines Lebens, während er darauf harrte, dass sich die Tür endlich öffnen würde.   

„Und ich dachte immer du wärst der stille Typ. Unser Kapitän muss eine geschicktere Zunge haben, als man seinem Eisprinzessinnen-Gesicht zutraut“, empfing Gregory Waynes braunen Haarschopf mit verzogenem Gesicht.

„Lass ihn in Frieden, Greg.“ Waynes Worten fehlte es nicht an Schneidigkeit, aber seine greifbare Zufriedenheit ließ er sich auch nicht trüben. 

„Schon gut.“ Gregory spuckte missmutig aus. „Aber tu mir und ihm einen Gefallen und verlagere derartige ‚Tiefeninspektionen‘ in Zukunft auf dein Zimmer.“

„Das machen wir gerade.“ Wayne deutete Ian ihm zu folgen und warf Gregory achtlos die Listen zu. „Ein Fass fehlt, aber dieses Mal lasse ich es durchgehen. Es hat mir Glück gebracht.“

Gregory blieb nur der Anblick, wie die beiden Richtung Wohnviertel verschwanden. Soviel zu seinem Statusbericht über die von Wayne geforderten Reparaturen. Es war nicht unbedingt anders als sonst. Mann, Frau, was auch immer. Er wusste nicht, warum er sich so aufregte. Mit einem leisen Fluchen beschloss er, eine rauchen zu gehen, er hatte es dringend nötig.

 

Diese Nacht verbrachte Wayne mit nichts anderem, als damit Ians Körper für sich zu fordern. Er streichelte ihn, er hielt ihn, er legte Ians Hand an sich, nahm ihn auf all die Arten und Weisen, die er glaubte, missen zu müssen, bis Ian aus lauter Erschöpfung nicht mal mehr einen Finger rührte.

„Ich… kann nicht mehr.“

Ians atmende nackte Gestalt unter dem weißen Laken wurde von Wayne überschattet.

„Sag mir nicht, du bist zu alt.“ Wayne küsste langsam Ians Oberarm. „Das habe ich dir noch für vorhin geschuldet.“

„Fünfmal für einmal? Etwas an deiner Mathematik ist fragwürdig, und ich BIN älter.“ Nicht mal mehr seine Augen öffnete Ian. Vielleicht bereute er seine Initiative bereits.

Das brachte Wayne zum Lachen.

„Das Alter lasse ich nicht gelten, wie du bereits bemerkt hast.“ Seine Hand strich über Ians noch immer erhitzte Haut. Ian war dabei, vor Erschöpfung einzuschlafen. Doch der Morgen krähte und die Zeit des Aufbruchs war für Wayne gekommen.

Kapitel 21

>>So kam es - so muss ich es wahrheitsgemäß niederlegen - als mein müder Blick das schwache Licht des Fensters einfing, war der Raum leer. Rechte und Pflichten gibt es derer viele, doch in diesem Moment stand mir keine Pflicht zur Seite und kein Recht zur Hilfe. Durch das Fenster, den schmalen Ausschnitt der Bucht in der Ferne, hoben sich Masten im Wiegen der Bucht, bis sich die Schiffsleiber langsam voran bewegten, als wollten sie dem kleinen Ausschnitt des Fensters entkommen, um endlich ihrem Ziel entgegenzusetzen. Es wäre keine Last gewesen den Weg zum Kai zu nehmen, selbst nicht zu diesem Zeitpunkt. Doch ihm offen Beiwohnen, selbst wenn nur aus der Ferne, war ich nicht in der Lage.<< 

 

Am Fenster stehend, mit nichts bekleidet nicht mal einem Laken, verfolgte Ian regungslos, wie die Freibeuterschiffe ihren Weg aufnahmen. Er blieb so stehen, unpersönlich und bar jeglichen Gefühlsausdrucks. Während sein Blick den langsam entschwindenden Masten folgte, die aus dieser Entfernung nur aussahen sie Zahnstocher, vielleicht tat Wayne - die Augen auf ein Fenster gerichtet, das so weit weg war, dass er es nicht mal erahnen können würde - dasselbe.

 

Mit Waynes Aufbruch hielt eine Veränderung auf der Insel Einzug. Nicht nur für die Mannen, die jetzt unter Gregorys Kommando standen, sondern auch für Ian. Gregory hatte nicht versucht das Ausbreiten der Gerüchte über die Natur von Waynes und Ians ‚Beziehung‘ aufzuhalten, es wäre schlichtweg nutzlos gewesen. Mehrere Männer hatten Wayne und Ian in einer Situation gesehen, die sie wohl kaum für sich behalten würden. Die Neuigkeiten verbreiteten sich schneller als ein Lauffeuer, besonders dank der fleißigen Mithilfe der Mädchen, die sich über gar nichts mehr anderes empören wollten. Eigentlich war es ein Wunder, dass Emilie sich nie entschlossen hatte, diese Art von Lauffeuer zu entzünden.

Nur wenige Stunden nach Waynes Abfahrt, wurden sämtliche von Dracostas offiziellen und inoffiziellen Räumen, bis auf seinen Arbeitsraum, gesperrt. Es hatte keine gegenläufigen Befehle vor seiner Abfahrt gegeben. Die Stimmung gegenüber Ian war merklich untergekühlt - ohne vorher jemals allzu warm gewesen zu sein. Man wusste nichts mit ihm anzufangen und ihm ging es da nicht anders. Das Einzige, was ihn mit den Männern verband, war Wayne und Wayne war nicht anwesend.

Ian saß an dem äußersten Tisch der Schenke und kratzte mit dem Nagel eine Rille in dem alten Holz nach. Der Tisch hatte nicht nur die Farbe alten Treibguts, sondern auch dessen seltsam abgegriffene Oberfläche. Er erwartete nicht, dass jemals ein Krug etwas anderes tun würde, als an ihm vorbeizuwandern. Die Mädchen betrachteten ihn mit Abscheu und unterschwelliger Neugier, je nach Charaktereigenart, aber alle waren sich schlichtweg darin einig, diesen Kerl fürs Erste zu ignorieren. Es war nicht selten, dass Seemänner sich einander zuwandten - die Scherze und der schlechte Ruf kam schließlich nicht von irgendwoher, wenn es keine Fische gab, dann konnte sich die Angel schon mal selbstständig machen - aber Dracosta war als Ziel des Spottes tabu. Die Frauen hier mochten ihn. Ein gewisser Blaurock schien das nicht kapieren zu wollen, also machte man ihm auf die weiblich-nette Tour klar, was man von seiner Einmischung hielt.

Mehrere Tage in Folge verbrachte Ian in der Schenke, ohne bedient zu werden. Mehrere Tage, in denen er mehr als genug Zeit hatte, diesen Müßiggang zu hassen. Mehrere Tage, in denen im klar wurde, dass er ohne Wayne nicht mehr tun konnte, als alle Götter zu verfluchen. Es gab kein Buch in seinem Raum, das er nicht schon dreimal gelesen hatte - das war kein Kunststück, er hatte zu viel Zeit - trotzdem wusste Ian, warum er hier saß. Seine blauen Augen strichen mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes die Sitzenden ab und einige erwiderten seinen Blick mit einem misslaunigen Glimmen unter den Augenbrauen, während andere einfach nur abweisend den Blick abwandten. Auch diesen Abend wartete Ian vergeblich auf Gregory, während Emilie ihn mit verschränkten Armen aus der Ferne beobachtete. Schließlich erbarmte sich die dralle Frau und stellte sich missmutig neben Ian.

"Wenn man unseren Dracosta so leicht zurückzaubern könnte, würde die Hälfte der Frauen jetzt hier sitzen und vor sich hin faulen." Emilies Arm war fest in ihre Seite gestemmt, während sie auf ihn herabschaute.

Ian streckte seine Finger aus. Sein Blick hob sich bis zu Emilies beschürzter Mitte, deren Flecken ihm genau zu sagen schienen, wie viel und was sie in der letzten Stunde alles eingeschenkt haben musste. Ohne die Augen weiter wandern zu lassen, schloss er sie.

"Keine Sorge, Milady." Er stand mit ruhiger Miene auf. "Ich warte nicht auf euren Dracosta." Man konnte nicht sagen, dass er etwas anderes tat, als sie schlichtweg stehen zu lassen.

"Wenn ich das nächste Mal Mitleid mit ihm habe, sollte ich mir einen Gefallen tun und ihn gleich erschlagen!", brachte Emilie verärgert heraus, nachdem sie einen Atemzug verschwendet hatte, auf die schwingende Holztür zu starren.

"Hey Emy, hat er dich abblitze' lasse'? Du sollt'st doch wisse', dass er nicht auf Mösen steht."  

"Nur auf Dracostas Kanone", scherzte sein Tischnachbar.

"Und wenn du mir noch mal ungefragt an den Arsch packst, servier ich dir dein Bier auf deinen Schädel", gab Emilie schnippisch zurück, und schwenkte dabei ihre Hüfte gegen den Tisch, dass ihm der Krug Bier samt Inhalt im Schoß landete. Auf ihrem Weg zurück zur Theke streifte Emilies Blick noch mal die Tür. Etwas war im Busch und das gefiel ihr irgendwie noch weniger, wie die Tatsache, dass es sie nichts anging.

             

Emilie hatte nicht ganz unrecht, obwohl selbst sie nie geahnt hätte, was Ian wirklich wollte. Nur wenige Minuten später - die Zeit, die Ian brauchte, um von den Docks zu den geschützten Wohneinheiten zu kommen - klopfte er an die schwere Tür zu Waynes Arbeitstür. Dracostas Arbeitsraum wurde jetzt von Gregory eingenommen. Wenn dieser nicht anders zu finden war, blieb Ian nur dieser direkte Schritt, vor dem er sich bis jetzt gescheut hatte, ohne direkt sagen zu können, was es denn nun war, was ihm daran so missfiel, dass er lieber Abend um Abend an einem leeren Tisch ausharrte, in der Hoffnung Gregory würde auftauchen. Jetzt wusste er es.

Als er in diesen Raum trat - Dracostas Raum, Waynes Raum - war alles genauso wie immer, nur war es Gregory, der herein befahl, der auf dem Sessel saß und der sich ihm zuwandte, während er langsam die Finger verschränkte und die Ellenbogen, wie selbstverständlich auf die Pergamente vor sich stützte. In diesem Augenblick wurde Ian klar, dass Gregory, Waynes Freund, genauso gut Dracosta hätte sein können. Ein ernster und vorausschauender Dracosta, der trotz seiner jungen Jahre eine stille Autorität ausstrahlte, die den Raum füllte, als würde er hierhin gehören. Und obwohl es ihm hätte egal sein sollen, hatte diese Tatsache ihn erfolgreich von diesem Raum ferngehalten. Eine gefühlte Ewigkeit schien zu vergehen, in der keiner von beiden das Wort erhob, bis Ian schließlich an den Tisch trat.

Er griff unter Gregorys Blick hinter sich und zog unter einem gespannten Zucken von Gregorys Mundwinkel einen schmalen Dolch und legte ihn mit Griff und Schneide quer über Gregorys Dokumente. Die Klinge spiegelte das schwache Abendlicht aus der Fensterfront zu Gregorys Rücken, spiegelte einen Teil von Ians Gesicht. 

"Was soll das bedeuten?", fragte Gregory von dem Dolch aufschauend. Nie hätte er Ian das Recht zugesprochen wieder Waffen zu tragen, keinen Degen und keinen auch Dolch - sei er auch noch so klein. Wayne hatte es natürlich getan. 

"Bring es mir bei." Da war kein Schwanken in Ians Stimme und auch kein Zögern in seinen blauen Augen. Mehr brauchte er nicht zu sagen, Gregory wusste, was er meinte: Bring mir bei, damit zu kämpfen.   

 

"Nicht gut genug!" Ein tiefer Schlag mit dem Dolchgriff brachte Ian ins Taumeln. Schwer atmend griff er an seine Nase. Ein roter Streifen sickerte zwischen seinen Fingern hervor und tropfte langsam über seinen Handrücken. Der Schmerz war ein dumpfes Pochen mit dem metallenen Geschmack warmen Blutes. Ein weiterer Tritt traf ihn gegen das Schienbein und beförderte ihn schwer auf die Seite. Der Dolch rutschte aus Ians schwachen werdenden Fingern. Keuchend versuchte er sich wieder aufzurichten, bis Gregorys Gewicht ihn gnadenlos auf den Boden pinnte. Gregorys kalte Klinge berührte Ians Hals und streifte sein schweißnasses Haar.

"Nie, lasse niemals deine Waffe los!" Gregory zog den Dolch zurück. "Pause."

Er entlastete Ian und ging rüber zu dem hölzernen Geländer der flachen Lagerhalle. Um der Wahrheit Genüge zu tun, war es mehr wie ein provisorischer Schuppen mit einem weitläufigen quadratischen Zentrum, welches mit Sand und Späne ausgelegt worden war. Es hatte etwas von der Atmosphäre eines illegalen Boxrings. Einer dieser Orte, an denen sich raue Männer trafen, um ihre Dispute zu klären – für Geld, illegale Wetten oder schlichtweg aus Spaß an sinnloser Gewalt. Ian hatte sich nie die Mühe gemacht nachzufragen, was für diesen Schuppen hier galt. Zwei Scheunentore ließen das gleißende Licht und den salzigen Wind des späten Nachmittags in die weitläufige Halle.

Ian quälte sich auf die Beine. Sein Hemd zierten rote Flecken vergossener Blutstropfen und auch unter der Kleidung spürte er die Blessuren der letzten Tage mit jeder Bewegung protestieren. Selbst sein Gesicht war nicht verschont geblieben. Ein langer violett-blauer Streifen zog sich quer über seine Wange und ein tiefblauer Fleck zierte seinen Mundwinkel. Rote, tränende Augen zeugten von Gregorys Schlussattacke. Schwer stützte Ian sich auf den Holzbalken.

"Hier!" Gregory warf ihm eine Flasche mit Wasser und ein Stück Tuch zu. Ian umfasste das kühle, schmutzige Glas der Flasche und leerte den gesamten Inhalt über seinen hängenden Kopf.

"Wahrscheinlich verfluchst du mittlerweile deine Bitte mit jeder Faser." Von der Seite musterte Gregory Ians mitgenommene Gestalt und wie der Schwall Wasser als ein träger Strom aus rötlichen und staubigen Tropfen im Sand versiegte. Wenn Gregory etwas nicht getan hatte, dann es Ian leicht machen. Anfangs mochte noch ein nicht zu unterschätzender Teil Genugtuung ihn beherrscht haben. Nach mehreren Tagen, in denen er Ian die Hölle bereitet hatte, ohne ihn einmal in seiner Entschlossenheit schwanken zu sehen, war die Genugtuung schal geworden und hatte etwas wie widerwilliger Anerkennung Platz machen müssen.

"Du musst dir deine Ehrbarkeit abgewöhnen. Es gibt keine Fairness in diesem Kampf. Keinen Ehrenkodex und keine nach hinten gehaltene Hand. Keine Regeln, außer der, als Letzter stehen zu bleiben." Gregory spülte sich den Mund aus und spuckte das Wasser auf den Boden.

"Keine Sorge, die Sache mit dem Sand als Waffe habe ich schon verstanden", lachte Ian tonlos und ohne den Kopf zu heben. Seine Augen waren immer noch Rot von der Reizung. Reiben hätte es schlimmer gemacht.

"Du und er…", begann Ian. ‚Er‘ war Wayne, das war unzweifelhaft herauszuhören, "kämpft sehr ähnlich."

Die Art, wie sie den Dolch hielten, auswichen und zuschlugen war sich so ähnlich, dass Ian für einen kurzen Augenblick, von dem unheimlichen Eindruck überwältigt worden war, Wayne gegenüberzustehen. Jeden damit verbundenen unachtsamen, und daher unverzeihlichen, Moment hatte er bitter gebüßt.

"Das liegt daran, dass wir beide vom demselben Mann gelernt haben", gab Gregory bereitwillig zur Erklärung, während er sich drehte, um sich mühelos gegen die Abgrenzung lehnen zu können.

"Wir waren ungefähr gleich alt, mein Vater hat ihn mit unterrichtet. Lesen, Schreiben, Strategie, Etikette, Navigation, Kampf", vollendete Gregory die Aufzählung.

Als Ian ihm über seinen Oberarm hinweg einen Blick zuwandte, fuhr Gregory fort.

"Zu dieser Zeit war noch mein Vater der Dracosta, er starb vor ein paar Jahren zusammen mit Waynes Ziehvater." Gregory erzählte die Geschichte nicht für Ian, sondern für sich, um die Stille mit eigenen Gedanken und Worten zu füllen.

"Waynes Ziehvater war ein einfacher Matrose, er hatte nicht die Zeit, um Wayne mehr beizubringen, als ein paar fragwürdige, irische Hobbys und eine schlechte Aussprache, aber auf seine Weise muss er ihn geliebt haben, denn er hatte es eigentlich nicht mit Kindern." Gregory hob die Schultern. "Trotzdem hat er ihn aufgenommen."   

"Die Wahl zum neuen Dracosta war vor zwei Jahren." Nahm Gregory das Gespräch wieder auf, als Ian sein Schweigen nicht brach. "Er war 18, ich 19. Im letzten Zweimann-Kampf standen wir uns gegenüber…"

"Und er hat gewonnen", ergänzte Ian und richtete sich gegen den Protest seines Rückens zur vollen Größe auf. Die Schmerzen in seinen Gliedern schienen die Ruhepause als Ansporn genommen zu haben, mit voller Macht auf sich aufmerksam zu machen.

Gregory verlor den Hauch von Nostalgie in seiner Miene und tauschte ihn gegen Undurchsichtigkeit.   

"Nein", begann er seine schwer lastenden Worte, während er Ians Blick erwiderte. "Ich habe ihn gewinnen lassen…" Nur das, eine schlichtes Eingeständnis, dessen Begründung er für sich behielt.

Mit Gregory als Dracosta wäre zweifellos vieles anders gelaufen - besser, schlechter? Darüber mochte man streiten. Jedoch eins war sicher: Ian wäre niemals hier gestrandet.

"Ich wollte sehen, wohin er uns bringen wird, wie weit er kommt." Er lockerte seinen Stand. Gregory hatte immer voll hinter Wayne gestanden, doch nur in dieser einen Aktion - deren Endergebnis jetzt neben ihm stand - hatten sie keine Einigung finden können. Es war eine pure Laune, ein Spiel von Wayne, das dieser bis zur zwanghaften Exzessivität getrieben hatte, ohne auch nur einen vernünftigen Einwand gelten lassen zu wollen.

"Obwohl ich ihn heute vielleicht nicht mehr besiegen könnte", fügte Gregory genauso schlicht an. Kein Bedauern lag hinter seinen Worten, sondern nur die Gewissheit einer realistischen Einschätzung. Ian und Gregory waren in ihren Denkweisen ähnlicher, als Ian und Wayne es jemals sein könnten. Beide schwiegen, bis Gregory sich von der Wand abdrückte.

"In Ordnung, nächste Runde", erklärte er die Pause für beendet.

Doch etwas an Gregorys Worten wollte Ian nicht aus dem Kopf. Eine Ungereimtheit, die Ian nicht einfach so abschütteln konnte. Es brauchte eine Ewigkeit, bis sich das Puzzle - zu dem unmöglichsten aller Zeitpunkte - in Ians Kopf zu einer Lösung zusammenfand. Die Rechnung ging nicht auf! Wayne der behauptete er wäre 24, Gregory, der von ihrem Kampf erzählte, der vor zwei Jahren stattgefunden haben soll, als Wayne noch wie alt war---?!

"20!", sagte er fassungslos und ein weiteres Mal schickte Gregory ihn zu Boden.

 

"Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er sich älter gemacht hat! Aber das sieht ihm ähnlich." Gregory lehnte sich unterdrückt lachend an das grob gezimmerte Holz seines Stuhls. Ausnahmsweise hatte er sich entschlossen, Ian auch den Rest des Abends Gesellschaft zu leisten. Was er nicht ahnte: Ausnahmen hatten die Angewohnheit zur Regel zu werden. An diesem Tag war es jedoch noch eine Entscheidung, zu der er sich bewusst zwingen musste.

"Mit der Wahrheit hat er so seine Schwierigkeiten." Ians Stirn war bewölkt, aber das tat seinem gesetzten Gesichtsausdruck keinen Abbruch.

"So groß ist der Unterschied ja auch wieder nicht." Gregory ließ sich einen weiteren Krug bringen. Wenigstens hatte einer von ihnen beiden über diese Irrung so etwas wie Spaß. Zugegeben war es doch recht demütigend von einem neun Jahre jüngeren Jüngelchen, im Bett derart unterworfen zu werden. Da wog ein Jahr in Waynes Altersklasse wie ein halbes Jahrzehnt in Ians. Es erklärte aber auch Waynes Beeinflussbarkeit, trotz all der Erfahrung, derer er sich als der ‚Dracosta‘ rühmte.

Ian legte die Hände übereinander.

"'Irgendwann werde ich schon noch 24', oder so was in der Art, habe ich mir wahrscheinlich zu dieser Sache zu denken."

Gregory stoppte seinen Krug auf halbem Weg zum Mund, bevor er ihn mit konzentrierter Miene gänzlich zurücksetzte. "So ziemlich… und zufälligerweise trifft es Wayne genau."

Und wenn Ian Wayne tatsächlich derart zu verstehen begann, bereitete er Gregory eine ziemlich unvorhergesehene Überraschung, über deren fragwürdigen Freudengehalt sich dieser erst mal noch klar werden musste.    

Das Bier tat jedenfalls beiden gut. Es lockerte Körper und Geist und zumindest Gregory zeigte es offener als Ian, der selbst in seiner entspannten Haltung noch aufrecht saß, ohne blauen Flecken und Prellungen in irgendeiner sichtbaren Form nachgeben zu wollen.

"Also, was bringt dich zur See?", wollte Gregory um des Friedens willen wissen.

"Mein Vater war in der Flotte."

"Wie der Vater so der Sohn", schlussfolgerte Gregory ohne großes Aufheben.

"Vielleicht, ich habe ihn persönlich nie kennengelernt." Es schien Ian nicht sehr nahe zu gehen. Für ihn war seine Familie eine Existenz, aber keine Konsistenz. Kontakt gab es nicht genug, um ihn als nennenswert zu bezeichnen. Hätte man ihn gefragt, hätte er die Wahrscheinlichkeit auch nicht abgelehnt, dass er das Produkt eines vorbei, oder besser noch, aufspringenden Bauern gewesen sein könnte, und der Rest nur Geschichten seiner nach Geltung suchenden Mutter darstellte. Sein Familienregister nahm sich allerdings die Freiheit, offen dagegen zu sprechen.

"Und dann? Selbst wenn deine… wie nannte sie sich noch… ‚’Seagull’' kein Dreidecker ist, war das ein recht ansehnliches Schiff, dafür, dass du noch alle Zähne im Mund hast." Gregory zündete sich eine Zigarette an. Hier wurde offensichtlich recht gerne geraucht, wie Ian schon bei Wayne zur Genüge hatte beobachten können. Doch erst als er Gregory dasselbe tun sah, fiel ihm der erste Mal bewusst auf, dass Wayne, im Gegensatz zu Gregory, die kleine Angewohnheit hatte, den Rauch in der Mundhöhle zu rollen, bevor er ihn langsam ausblies. Es war lächerlich, aber es brachte Ian dazu den Blick abzuwenden, um von derartigen Bildern nicht heimgesucht zu werden. Gregory verstand die Bewegung natürlich schlichtweg falsch.

"Es geht mich natürlich nichts an", Gregorys Schulterzucken war regelrecht zu hören, "aber ich weiß sowieso schon mehr von dir, als ich je wissen wollte" Das wiederum musste schon mehr sein, als Ian hatte wissen wollen, trotzdem tat er Gregory den Gefallen, das Gespräch nicht versiegen zu lassen.

"Ich war bei dem französischen Übergriff bei den Brandern. Freiwillig. Es hat meine Loyalität offensichtlich ausreichend unter Beweis gestellt."

Brander waren ausgemusterte, umgerüstete Segelschiffe jeglicher Größe, deren Innenräume bis zum Rande mit brennbaren Materialien angefüllt waren und die kurz vor Feindkontakt gezündet wurden. Ihr Zweck auf ihrer letzten und endgültigen Fahrt diente keinem anderen Ziel, als feindliche Schiffe in Brand zu stecken und mit sich zu nehmen. Trotzdem mussten sie gesteuert und am feindlichen Schiff verankert werden, um auch sicherzustellen, dass das Feuer übergriff, so dass sie immer von einer Mindestbesatzung gesteuert werden mussten. Nur sehr selten verirrten sich junge Seemänner in diese Reihen.  

Aus Ians Ton wurde klar, dass er seiner vergangenen Aufgabe keine allzu große Bedeutung zumaß - vielleicht nicht mal als den wahren Grund anrechnete, warum er zu Schiff und zu kleinen Ehren gekommen war. Selbst wenn es die offizielle Begründung darstellen sollte, mit denen ihm dieser Posten schlussendlich zugesprochen worden war, war es genauso wenig abwegig, dass ein Mangel an Seestreitkräften bestanden hatte, oder dass ein Charaktertyp wie er, geflissentlich und fleißig bis zur Sprödigkeit, als besonders leicht lenkbar verstanden wurde. Außerdem hatte er einen ranghöheren Fürsprecher gehabt. 

Dass er nicht unbedingt leicht lenkbar war, sondern, im Gegenteil, einen Hang dazu hatte, seinen eigenen Ehrenkodex über alles andere zu stellen, hatte ihm nicht selten den Unmut seiner Vorgesetzten eingebracht – allerdings auch das Vertrauen seiner Mannschaft.

"Bran-", wollte Gregory besagtes Wort fassungslos wiederholen, doch verschluckte er sich derart übel, an seinem Unglauben, dass er es gerade mal bis zur Hälfte über die Lippen brachte. Das stecken gebliebene Husten kam so spät, dass man die schmerzhaften Sekunden zählen konnte, bis es sich endlich freibrach.

"Scheiße!" Hastig wischte Gregory die glühende Asche weg, die ihm - wie sollte es auch anders sein - genau zwischen die Beine gefallen war.

"Greg, wag es mir das Dach über dem Kopf abzufackeln und ich leg dich eigenhändig übers Knie!", kollerte Emilie durch den ganzen Raum. Seitdem die beiden sich gesetzt hatten, lag ihre Aufmerksamkeit mehr oder weniger misstrauisch auf dieser ungleichen Tischgesellschaft. Es hatte ohnehin schon nicht lange gedauert, bis die ersten hanebüchenen Vermutungen über diese Zusammenkunft über Schankraum, Krügen und Rum hinweg ihre Kreise zogen.

"Soll ich ganz ehrlich sein?" Gregory betrachtete den trüb aussehenden Bodensatz seines Glases. "Das erklärt so einiges…" Vielleicht nicht, wie Ian tatsächlich zu den Ehren eines Schiffes gekommen war, aber wie er es im Notfall einsetzte durchaus.

Kapitel 22

>>Auf dem Rücken liegend, Salz und Staub auf den rissigen Lippen, eine ferne Decke in trüber Erinnerung. Ein Himmel über schmerzendem Augenlicht, da sollte sie das erste Mal aufkommen, diese Frage. Warum? Fragte er sich. Warum tust du das? Welcher Offizier sucht mehr als Gehorsam, Ruhm und Ehre? Wer bedurfte mehr als eine treffsichere Kugel, um seinen Gegner niederzustrecken, mehr als Unbeugsamkeit um für die Dinge einzustehen, die es zu beschützen gilt? Diese ehrlose Klinge stand für alles, was er nicht war. Mein Griff zog sich in unwiderruflicher Entschlossenheit um ihren rauen Griff. Spielte es eigentlich eine Bedeutung, dass warum?<<

 

Von draußen drangen aufdringliche Stimmen an  Ians rauschende Ohren. Mit schmerzenden Fingern umschloss er den Griff des schweren Dolches und zwang sich zurück auf die Beine. Zwei Klingen trafen sich in einem gnadenlosen Duell aus Körpergewicht und Entschlossenheit. Man konnte die Dolchgriffe knirschen hören wie Knochen. Beide Kontrahenten warf es zurück. Mit Sand aufwirbelnden Ausfallschritten blieben sie stehen. Lästiger Schweiß ließ Ian den Kopf schütteln. Seine Atmung ging so gepeinigt wie Gregorys rau.

„Weiter!“

Gregory setzte Ian nach. Es forderte ihn heraus, dass Ian zusehends besser wurde. Erst hatte er darum gebeten, ihm für die Zeit des Trainings einen widerstandsfähigeren und schwereren Dolch zu überlassen, um sich an diese Waffe zu gewöhnen, und jetzt sah ihn Gregory jeden Tag mit diesem Dolch an seiner Seite, als würde das Metall allein durch das ständige Tragen ein Teil von Ians Persönlichkeit. Obwohl er von Gregory lernte, kämpfte er nicht genauso wie er, auch nicht wie ein Edelmann, der seinen Degen führte, denn auch damit wäre Gregory fertig geworden. Es war eher recht irritierend.

Gregorys Dolch fuhr, fruchtlos beiseite geschlagen, an Ians Seite vorbei. Ians Arm schlang sich um Gregorys Ellenbogen und es begann eine weitere keuchende Rangelei um Stand und Oberhand, bis beide sich erschöpft voneinander lösen mussten. Gregory spuckte Sand und Späne von seiner Zunge, ohne Ian aus den Augen zu lassen, Ian spuckte nicht. Diesmal griff er mit einem Dolchwechsel an, der zu früh kam, als dass Gregory den kurzen Moment ausnutzen konnte, um Ian den Dolch aus seinen Fingern zu schlagen.

Ians Klinge schrammte an Gregorys vorbei. Er bekam die flache Seite des geschmiedeten Metalls gerade noch schnell genug herumgerissen, um Gregorys gnadenlos auf seine Brust zielende Konter abzuwehren. Ian zwang es einen Schritt zurück, als er einen Tritt von Gregory auswich. Er musste den erfahreneren Gregory aus seinem stabilen Stand bringen. Eine andere Chance hatte er nicht. Zwei Schritte brachten ihn von Gregory fort. Alles oder Nichts. Für diese ganzen Tage der endlosen Quälerei warf er sich mit letzter Kraft in Gregorys Offensive. Nur mit Mühe schaffte es Gregory seine Klinge wegzuziehen, um Ian nicht ernsthaft zu verletzen.

„Bist du lebensmüde?!“

Es war diese Fassungslosigkeit, die Gregory aus dem Tritt brachte. Ian riss sein Bein herum, ihre Unterarme stießen unwillkürlich aneinander. Gregory war ein Kämpfer, dessen Niveau weit über Ians lag. Doch dieser Umstand war es den Ian gegen ihn wendete: Gregory wollte ihn nicht töten, konnte es sich in gewisser Weise nicht mal mehr leisten, ihn schwer zu verletzen. Das war nicht minder hintertrieben, als Gregorys beliebter Einsatz von Sand und was er sonst noch so in die Finger bekam.

Ians Ellenbogen rutschte Gregory in die Seite, traf dessen Nierenzone. Der bohrende Schmerz krümmte Gregory der Erkenntnis entgegen, dieses Mal - das erste Mal wohlgemerkt - von Ian überwältigt zu werden. In seinen sich weitenden Augen spiegelte sich die Sekunde, in der Ians Hand herumfuhr und sein Dolchgriff Gregorys Kiefer mit nur wenig gedrosselter Wucht traf, dass ihm der Schädel klingelte. Gregory ging in die Knie. Sein Versuch aufzustehen, endete in einem Taumeln und einem weiteren Fall in den Sand. Gregorys Gesicht war ein Schauspiel aufsteigenden Schmerzes, während er die Hand an den Mund presste. Er hatte sich auf die Lippe gebissen, zumindest schlimm genug, dass er blutete.  

„Ohoho… Scheiße… das war so was von…“, begann er wortringend. Sein lautloses ‚Au‘ brachte ihn auf eine ganz andere Bemerkung. „Ganz schön fieser Schlag für einen verweichlichten Marineoffizier“ Rang er sich anerkennend ab. Ein sichtlich schweres Eingeständnis, wen einem das Blut vom Mund lief.

Ian hielt seinen Dolch mit schwindender Kraft. Jeder Atemzug wurde zu einer Tortur aus tausend Nadeln. Am Ende seiner Kräfte stützte er seine Hände auf seinen Knien, sonst wäre er weggesackt.

„Wie soll ich denn so meine Schreibtischarbeit erledigen… oder… auweia… ein verdammtes Bier trinken ohne, wie ein Baby zu weinen?!“ Gregory hielt seinen schmerzenden Kiefer, als befürchte er ihn jeden Moment in der Hand liegen zu haben. Mit diesem Kommentar entlockte er Ian einen trockenen und kurzen Lacher. Nachdem Gregory noch alle Zähne im Mund hatte und so gut sprechen konnte, schien nichts gebrochen zu sein.

„Aa-haa…“ Während Gregory seinen Mund mit Wasser spülte, mahnte er Ian mit gehobener Hand zu schweigen. „Das nehme ich als Rache für die letzten zwei Wochen. Aber wenn du mir noch mal ins Messer springen willst, dann darfst du es als Verzierung in dir rumtragen“, gab er missmutig zu verstehen.

Ian schüttelte nur den erschöpften Kopf, während er Gregory mit dem amüsierten Glitzern anschaute.

„Ach, hör auf“, maulte Gregory mit einem nachgebenden Schmunzeln. „Also Kapitän McLane, was gedenken sie, mit ihren neuen ungebührlichen Fähigkeiten anzustellen?“

„Ich will kein neuer Dracosta werden, wenn du das meinst.“

Auch wenn er wusste, dass die Regeln der Insel seine Herausforderung und seine Teilnahme an dem Wettkampf um diese Position erlauben würden, hatte ihn der Gedanke nicht ein einziges Mal gereizt. Während Gregory sich wieder herrichtete, hatte Ian den Anstand, ihn nicht direkt anzusehen. Gregory spuckte noch einmal aus und wischte sich sein Gesicht mit einem Handtuch, bevor er die Kraft fand, sich richtig hinzustellen.

„Heute habe ich ausnahmsweise auch mal einen Krug voller Schmerztöter bitter nötig“, bemerkte Gregory zu Ian. Er warf Ian das Handtuch zu. „Du bist ein furchtbarer Dickschädel, ich dachte schon, du hättest die Schnapsidee, diese Taktik bei Wayne durchzuziehen“

„Schon vergessen? Habe ich schon.“

Gregory lachte auf und hielt sich dann schmerzgeplagt das Gesicht.

„Ouh… ich erinnere mich“, murmelte er undeutlich, während er seinen Kiefer einem weiteren Funktionstest unterzog.

„Lass uns gehen, bevor ich dir das wirklich anfange übel zu nehmen.“

Als sie aus der Halle hinaus in den dunklen Abend traten, brannten zwischen den schmalen Gassen und entlang des Strands Lichterketten aus Fackeln und beleuchteten das schwarze Wasser und die grob gehauenen Gebäude. Die vorher dumpfen Stimmen wurden klarer und vor allem so laut, dass man sie nicht mehr ignorieren konnte. Ian blieb stehen, Gregory tat es ebenfalls. Auf den Straßen feierten Männer und Frauen in bunten Reigen. Männer riefen und grölten Worte, die Ian nicht verstehen konnte. Gregorys Blick folgte den wilden Gesten, noch bevor Ian seine irritierten blauen Augen zum Horizont bewegte. Eine einzelne rote Kugel hang im Himmel wie ein fallender Stern. Als sie verlosch, zog ein neues Glimmen den Himmel herauf und erhellte ihn als kleines leuchtendes Auge. Gregory sprach aus, was die Männer und Frauen schon wussten.  

„Wayne kommt zurück.“

Jetzt verstand Ian auch die Rufe und den Sprechgesang.

„Dracosta“, sangen sie.

„Dracosta, Dracosta!“ Wieder und wieder.

Wayne kam zurück!

Am Eingang der Bucht pflügte die ‚Crying Nancy‘ mit tief liegendem Bug und singenden Takelagen durch die aufschäumende Gischt des Fahrtwassers. Hinter dem mächtigen Schiffsleib die im Dunkeln leuchtenden Segel der flankierenden Begleitschiffe.Die Signalkugeln tauchten die ‚Crying Nancy‘ in blutrotes Licht. Gregory sah nur noch, wie Ian die Augen schloss. Diesen Ausdruck hatte er noch nie auf dessen Zügen gesehen. War es Erleichterung? War es Entschlossenheit? Ein weiteres Mal ging Gregorys Blick in die Bucht. In diesem Augenblick fühlte Gregory nicht nur Freude über die Heimkehr seines Freundes, sondern auch die Ahnung eines folgenschweren Zwiespalts.

Kapitel 23

>>Suchend. So ungeduldig wie ein Eroberer, so voller jugendlicher Glut, strömte es durch meine Adern. Wo waren diese blauen Augen? Wo war er, derjenige, der meine Gedanken füllte, ohne es zu ahnen? Mit jedem englischen Schiff, das sich ergab, musste ein endgültiger Sieg über meinen stolzen Gefährten näher rücken. Die Wahrheit war so weit von ihm entfernt und ,trügerisches Weib, als die sich die Wahrheit zeigt‘ von mir dummerweise nicht minder.<<    

 

 

Zwischen den feiernden Menschenmassen, dem Jubeln und Grölen, schritt Wayne, der Heimkehrer, siegesstrahlend über das Dock. Glückwünsche entgegennehmend, Frauen lachend über den Arm legend und Männer mit deftigen Handschlägen begrüßend. Suchend und ruhelos wanderten seine strahlenden Augen dabei über die versammelten Köpfe, als gälte es jeden einzelnen der Mannen zu erfassen und die Menge nach einem verborgenen Schatz zu durchsuchen, der sich widerspenstigerweise seinen Blicken entzog. Hinter ihm folgten die Mannen der ‚Crying Nancy‘ mit knarzenden Kisten. Die Kraft dreier Männer war nötig eine Truhe hochzustemmen.  

„Seht her! GESCHENKE unseres armen Englands an die hochwohlgeborenen Spanier! Da sind sie bei uns doch besser aufgehoben, nicht wahr?“, rief Wayne in die Menge. Die Zustimmung wurde ein wildes Geflecht an zustimmenden Rufen. Über den gehobenen Armen fanden Waynes Augen, wie von einem Magnet gelenkt, endlich zu den beiden einsam stehenden Gestalten Gregorys und Ians. Flankiert von Männer und Frauen, schien es nichts zu geben, das ihn daran hindern konnte, den gewundenen Weg über den überfüllten Platz auf Ian und Gregory zuzugehen. Alles andere um ihn herum hörte auf Bedeutung zu haben - einfach weil er es so wollte. Schritt für Schritt bewegte er sich zielstrebig den Pfad entlang, bis es nur noch wenige Meter waren, die ihn von Gregory und Ian trennten. Sein Freund kam ihm die letzten Schritte entgegen und zog ihn eine ehrlich gemeinte Umarmung der Gratulation zur gesunden Heimkehr.

„Wurde auch Zeit, dass du zurückkommst. Du weißt ich hasse diese Papierarbeit!“ Gregory klopfte schallend auf Waynes Rücken.

„Und offensichtlich hasst der Schreibtisch dich nicht weniger, wenn ich mir so dein Gesicht ansehe“, schmunzelte Wayne, als er Gregorys farbenprächtigen Kiefer bemerkte. „Was denkst du eigentlich, warum ich mir so viel Zeit gelassen habe, um zurückzufinden? Ich hoffe von dem Stapel ist nichts mehr übrig!“

„Und ich dachte du hättest dich extra beeilt, weil dir nette die Gesellschaft hier fehlt…“, feixte Gregory mit einem offenen Lächeln.

„Es ist schon ein Jammer, dass all diese hübschen Perlen hier nicht mit zur See stechen dürfen“, stimmte Wayne mit großzügig nach links und rechts verteiltem Charme zu. „Das Vergnügen das Meer zu zähmen, bleibt leider nur uns Männern vorbehalten.“ Von den Mädchen gingen seine Augen über Gregory zu Ian.

„Ich hätte auch nicht gedacht, euch zwei so freimütig nebeneinanderstehen zu sehen, wenn ich zurückkomme“, stellte er im gleichen Atemzug und Ton fest, als wäre es nur auf den ersten Blick etwas Bemerkenswertes.

„Ich habe mich eben um ihn gekümmert, wie du es wolltest.“

„Offensichtlich.“

Ian stand so aufrecht wie eh und je, als könnte nichts in der Welt seine innere Zuversicht erschüttern. Er war wie ein Schiff, das sich keinem Sturm beugen wollte. Er rief ihn zu sich, ohne es  zu merken. Wayne trennte sich von der Gruppe und dem alten Kinderfreund, um sich zu Ian zu stellen, während er ihn allein mit dem Druck einer Hand auf seine Schulter daran erinnerte, dass er ihm gehörte.  

„Ian… wenn du glaubst, was ich mit diesen englischen Schiffen gemacht habe, ist ungehörig, wirst du dich wundern, was ich mit dir anstellen werde“, wisperte er nur für Ians Ohr, mit einem Lächeln, dass nur für bestimmt Ian war. Ohne es zu wissen, streifte Waynes Hand wunde und geprellte Partien auf Ians Körper. Ein schwaches Zucken verzerrte Ians Lippen, während er die Augenlider senkte. Ians abheilender Mundwinkel blieb ein Schatten auf seiner nicht beleuchteten Gesichtshälfte, unerkennbar für Wayne.  

„Du willst uns doch nicht alleine lassen Dracosta, oder?“, schob sich eines der Mädchen vor, um ihn nicht vergessen zu lassen, dass sie auch noch da waren.

„Das will er nicht… nicht wahr?“, säuselte die Zweite mit einem neckischen Augenaufschlag.

Den ersten Augenblick schien Waynes Lächeln fader als sonst, bevor es wieder zur vollen Ausdrucksstärke erblühte. Seine Hand tauschte Ians Seite gegen die willig dargebotenen Taillen.

„Natürlich nicht“, versicherte er den Mädchen mit einem Augenzwinkern. So ungezwungen, wie er sich Ian und Gregory genähert hatte, so einfach nahm er den Weg zurück in die Menge, wo die ersten Fässer den schäumenden Anstich zum Opfer fielen.

„Es gibt Dinge bei denen kann er einfach nicht Nein sagen“ Gregorys Worte trugen besser an Ians Ohr, als die sinnlosen Siegeshymnen, zu denen sich die Krüge hebenden Mannen hinreißen ließen.

Ian schloss die Augen und wandte sich ab, entlockte Gregory ein zweifelndes Stirnrunzeln.

„Ich gehe zurück.“

„Das solltest du nicht… Er wird bis zum Morgen nicht in seine Gemächer zurückkommen.“

„Ich gehe trotzdem“, wies Ian Gregorys Einwand geraden Rückens zurück. Mit gleichförmigen Schritten schaffte Ian sich einen Weg durch die ausgelassenen Gruppen an Männern und Frauen, die ihm widerwillig eine Gasse freimachten, um ihm dann voller Unmut nachzusehen.

„Was tust du nur, Ian McLane?“ Gregory richtete seine Augen auf die ferne ‚Crying Nancy‘. Und leiser. „Und was tust du nur, Wayne…“   

 

„Aufwachen…“ Mit dem ersten Zwitschern der Vögel und der Ankündigung der Morgenröte kam Wayne zu Ian. 

„Auf-wach-en…“ Worte, mehr als eines, aber nur dieses schien eine nachvollziehbare Bedeutung zu haben. Die Unfähigkeit sich zu bewegen oder gar zu atmen, weckte Ian. Waynes ganzes Gewicht ruhte auf ihm, seinen Armen, seinem Körper und zwang ihn zu vollkommener Regungslosigkeit. Waynes Gewicht erinnerte ihn an jeden blauen Fleck, der ihn quälte. Der Geruch von Alkohol und Frauen, den Wayne mit sich brachte, konnte er kaum ertragen. Unordentliches braunes Haar, zerzauste Klamotten und die grünsten Augen, die er je auf sich hatte liegen sehen, schienen die Stunden Lügen strafen zu wollen, die Wayne gebraucht hatte, um hierherzufinden.  

„Drei… vier…“, zählte Wayne auf. „Ich hab aufgehört mitzurechnen. Meine Zunge ist schon taub…“, verriet er Ian zu nah, als dass dieser es hätte ignorieren konnte. Jedes Wort war ein warmer Windhauch auf Ians Wange. „Aber ich habe mir Dinge für dich aufgehoben, Ian, die heute noch keiner zu sehen bekommen hat.“

Er nahm Ians Handgelenke in eine Hand. Seine Hand schob sich in Ians Hose.

„Darauf warte ich schon zu lange… viel zu lange, Ian.“

Umfasste und erkundete ihn, bis Ian gepeinigt Luft ringend die Augen schloss.

„Pardon… mein Fehler. Ich darf nicht zu schnell machen, sonst haben wir beide nicht viel davon… richtig, Ian?“

Wayne begnügte sich damit nur noch Ians Hose zu öffnen, so reizvoll es ihm auch im ersten Moment erschien, es Ian innerhalb von wenigen Minuten kommen zu lassen. Das wäre einfach zu wenig weltbewegend nach so zwei langen Wochen. Sich Ians Hals nähernd, schob er, unterdrückt atmend, Ians Kleidung zur Seite.  

Mit der Haut entblößte er blauen Flecken und Schrammen. Mit jedem Zentimeter, den er freilegte, eröffneten sich ihm mehr der Blutergüsse. Seine Atemzüge nahmen an Barschheit zu. Für ihn war das ein sehr ernüchternder Anblick.

„Was ist das?!“

Sie waren überall, abheilend und frisch, schmerzhaft, faust- und fingergroße abgeschürfte Haut, Prellungen in allen Farben. Waynes grüne Augen nahmen den Ausdruck von Eis an.

„Was ist das, Ian?“, wollte er wissen.

Kapitel 24

>>In Wut entflammte Augen, ein erbittertes Gesicht. Nicht länger schien der Heimkehrer ausharren zu können, um mehr als den Namen seines Freundes von meiner Zunge zu erzwingen. Sein Blut war zu rastlos um dem nachzugehen, was er allzu schnell bereit war, falsch zu verstehen. Es begann mit dem Rot der Wut, das seine Wangen einfärbte. Wayne, statt zu erkennen was vor dir lag, verlorst du deinen Weg in einem unüberlegten Moment und, wie es die Ironie so wollte, warst du der letzte, der es bemerkte.<< 

 

„Was hat das zu bedeuten?!“ Der Dolch aus Ians Besitz landete mit einem Schlag auf dem rauen Tisch vor Gregory, als gedachte Wayne ihn mitsamt der Lederscheide durch den Tisch rammen. Flach verblieben seine Finger auf der Waffe, während er Gregory mit den Augen aufspießte. 

„Warum sagst du das nicht mir? Bis vor einer Sekunde hat da noch meine Hand gelegen“, gab Gregory zurück. Mit dieser lockeren Haltung zwang er Wayne, eine trügerisch gefasste Haltung und einen Ton einzunehmen, der in seiner Leichtigkeit so falsch wirkte, wie eine eingerollte Schlange harmlos.

„Warum fangen wir nicht so an?“, begann Wayne neu. „Was genau hat dein werter Dolch an Ians Seite verloren?“ Er drehte den Dolch langsam um seine eigene Achse, bis der Griff mit dem unverwechselbaren Siegel in Gregorys Richtung zeigte. „Das ist doch dein Dolch, oder irre ich mich da etwa? Der Dolch von demjenigen, der mir verbieten wollte, einem gewissen ‚englischen Kapitän‘ auch nur die Scheide seines Degen zu lassen.“ 

Gregory hob seine Augen. Es brauchte Mut um Wayne in so einer Situation gegenüberzutreten. Es brauchte noch mehr Mumm ihm krumm zu kommen. Beides hatte Gregory allerdings schon immer zur Genüge besessen. Er setzte seine Hände betont entspannt auf den Tisch und zwang seine Stimme zur Ruhe. 

„Das war am Anfang und tut jetzt nichts mehr zur Sache, nachdem du ihm selber einen Dolch überlassen hast… Ich habe mich um ihn gekümmert, wie du es wolltest.“

Beide schauten sich in die Augen.

„Ich habe dir nicht aufgetragen, dass du ihn zusammenschlagen sollst!“, explodierte Wayne, die Hände auf dem Tisch ballend. Im letzten Moment brach er ab und ein falsches Lächeln verzog seine Lippen. „Fangen wir von vorne an…“, fügte er irritierend freundlich an. „Aus welchem Grund hast du dich genötigt gesehen, ihn so zuzurichten?“

„Er wollte den Umgang mit dem Dolch lernen. Es war sein eigener Wunsch.“

„Und du hast es natürlich getan.“ Waynes Stimme triefte vor Sarkasmus, seine ganze Haltung war eine stumme Drohung. „Es muss dir so eine Freude gewesen sein, ihn vor dir Kriechen zu sehen.“

Schweigen füllte den Raum zwischen ihnen beiden.

„Sag das noch mal, Wayne… Ich glaube ich habe mich verhört.“ Gregory richtete sich langsam auf. Sein Stuhl polterte über die unebenen Holzdielen. Holz schabte Holz, Nerven begannen sich blank zu legen, als Waynes Augen Gregory folgten, während dieser sich erhob.

„Ich wiederhole es gerne, wenn deine Ohren nicht mehr so ganz wollen…“ Nein, Wayne war noch nicht fertig. Das Grün seiner Augen nahm einen gefährlich, klaren Ton an. „Hast du ihm vielleicht auch gleich erklärt wie die Wahl zum Dracosta funktioniert, wo du schon mal dabei warst? Wäre es nicht unglaublich praktisch für dich, wenn er sich zufällig selber befreit?“

Und er war noch nicht fertig!

„Vielleicht leckt er ja deine Füße, wenn er von deinem ach so edlen Adelsnamen erfährt. Du hast es wahrscheinlich nicht erwarten können, ihm unter die Nase zu reiben, wie viel besser du bist als ich. War es schön mit ihm den halben Tag zu verbringen, wo du ihn doch angeblich nicht leiden kannst?“

Gregory verlor jegliche Gesichtsfarbe. Das war selbst für ihn zu viel. Für ihn stand Wayne einem Bruder näher, als jeder andere. Sie waren unter der schützenden Hand seines Vaters aufgewachsen, als dieser noch die Rolle des Dracostas eingenommen hatte, doch dieser verbale Schlag war einer, den nur Freunde mit dieser Härte austeilen konnten. Gregory stieß den Stuhl nach hinten weg und packte Wayne am Hemd.

„Lass es dir gesagt sein, Wayne, so lasse ich mich nicht mal von dir beleidigen…!“ Endlich fand auch Gregorys Wut ihren Weg ins Freie. Dieser Frust, den er zu schlucken hatte, seit Wayne Ian - gegen jeden seiner Einwände! - auf die Insel gebracht hatte. „Weißt du überhaupt, wie dreckig es ihm hier geht?! Denkst du, er hätte ohne mein Zutun auch nur irgendwas Essbares bekommen, das man so schimpfen könnte, als du weg warst? Er wird an jeder Ecke angemacht und deine Weiber machen ihm das Leben zur Hölle, sobald du ihm den Rücken kehrst! Hast du dir auch nur EINEN Moment darüber Gedanken gemacht?!“ Gregory hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die schlimmsten Auswüchse abzufangen. „Er ist keiner von uns und wird es auch nie sein! Vergiss Herkunft, ich verstehe ihn diese Tage besser als dich! Wann hörst du endlich auf, mit deinem Schwanz zu denken und schaltest deinen Verstand wieder an!“

Wayne zwang Gregory mit unnachgiebigem Griff von seinem Kragen weg, bis Gregory schmerzlich das Gesicht verzog.

„Keine Sorge, Gre-go-ry, ich sehe zurzeit mehr als klar.“ Erwiderte Wayne gefährlich leise. „Du wirst Ian nicht mehr nahe kommen. Ich will dich in keinem nennenswerten Umkreis von ihm wiedersehen, hast du das verstanden?!“

Gregory hielt die Haltung, selbst als Wayne seine Hand mit einem Ruck freigab. 

„Nicht mal du hast mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, Wayne!“ Erinnerte er ihn gepresst. „Vergiss das nicht.“

Darauf gab es nur fünf endgültige Worte. Sie fielen so endgültig wie das Zuschlagen einer Tür.

„Das werden wir ja sehen.“   

Kapitel 25

>>Trauter Kinderfreund aus alten Tagen, besonnene rechte Hand. Ehrlich in deinen Absichten, das warst du schon immer, mein Gefährte. Dass du es wagst, mir die Stirn als Spiegel zu bieten, seien dein größter Verdienst und deine größte Schandtat. Keine Vernunft der Welt kann gegen diesen Wahn bestehen. Bereite dein Selbst vor, diesem Strudel gegenüberzutreten.<<

 

    

Ein starker Wind zog über die Insel hinweg. Am Steg standen die Männer, um die Vertäuungen der Schiffe in den ersten, salzig riechenden Vorboten eines Sturms nochmals zu sichern. Auge in Auge mit den schreienden Möwen, verrichteten sie alle Notwendigkeiten und wandten sich dann wieder den angenehmeren Seiten des Lebens zu.

Seit Tagen war Gregory Waynes Schreibtisch ferngeblieben, und obwohl es genau das zu sein schien, was Wayne verlangt hatte, war Dracostas Gesichtausdruckslos, während er Ian Minute um Minute an seiner Seite hielt. Sein Dolch wirbelte und drehte sichin seiner Hand, in einem flirrenden Tanz von links nach rechts, hoch und runter, nur knapp an Fingern und Handrücken vorbei, und dann wieder von vorne. Seine Augen lagen dabei auf Ian, als versuchte er, etwas aus dem Blau dieser Augen zu zwingen, das sich weigerte, sich ihm zu offenbaren. Diese Augen waren wie ein unüberwindbarer Wall für ihn, eine unwirkliche Festung. Es gab nichts, was sich Wayne jemals verweigert hatte. Er konnte alles haben, Gold, Frauen, alles, nach was es ihm verlangte. Mit seinem Lächeln und seiner Art war er die gefährlichste Waffe. Für ihn war das Leben ein Spiel, dessen größter Reiz darin lag, es voll auszuschöpfen, ohne Reue und ohne doppelten Boden.

Dracosta zu sein und dem Leben ein Schnippchen zu schlagen, war ein Teil seiner Natur geworden. Wie konnte es sein, dass er hier saß und eine einzelne Person in der Lage war, ihn zu einem Flickentuch aus Schwachstellenzu degradieren? Wie konnte es sein, dass in ihm der Zweifel aufkeimte, er könnte in diesen blauen Augen jeder anderen Person nachstehen? Er wollte Ian seinen Namen stöhnen hören. Er wollte sich eingestehen, dass er über etwas in ihm Macht hatte und alles außer sich selber aus dessen Geist gebannt hatte. Das Gefühl war so übermächtig, es zuckte in seinen Fingern und brannte mit jedem Atemzug. Und diese blauen Augen schienen voller Mitleid auf ihm zu liegen! Der Dolch bohrte sich vibrierend in die Armlehne, sträflich vernachlässigt von der Hand, die die Klinge hätte fangen sollte.

„Geh raus.“

Ian sah aus, als wäre er verwirrt.

„Geh verdammt noch mal einfach raus!“, explodierte es aus Wayne. Ian hob den Kopf und verließ wortlos den Raum. Als sich die Tür schloss, bedeckte Waynes Hand sein Gesicht und sank schließlich über seinen Mund. Ians unbewegtes Gesicht, Ians Augen… Mitleid. Nein, kein Mitleid.

„Was… tue ich nur“, verzweifelte Wayne. Kein Funken Hohn hatte in diesen Augen gelegen. Er wusste selber nicht mehr, was er sah! Er sprang gehetzt auf,doch als er den Gang erreichte, war dieser menschenleer und in der Ferne hinter den Fenstern standen nur die dunklen Wolken.

„Ian?“

In Ians Augen hatte Sorge gestanden.

„Ian!“, hallte Waynes Stimme durch den Korridor. Doch da war niemandmehr.

Ian ging den steilen Weg herab und verlor sich in den Gassen, die,im Gegensatz zu ihren Bewohnern, seine Anwesenheit stumm zu tolerieren schienen.

Seine alte Uniform trug sich langsam aus. Niemand mochte es sehen, doch er bemerkte es. Die Nähte wurden dünner, das Blau blasserund das einstmals strahlend gestärkte Weiß,erinnerte ihn an die vergilbten Seiten eines langsam alternden Buches.

Ein drückender Föhn strich durch die Gassen, selbst seine schweren Schuhe klangen dumpf auf dem festgetretenen Untergrund. Langsam kam ihm Gregory auf dem beschwerlichen Aufstieg entgegen, mehrere Männer hinter sich, die ihm schweigend folgten. Gregory kreuzte Ians Weg, ohne den Blick zu heben. Ein geteilter Gedanke schien beide zeitgleich zum Stillstehen zu zwingen, immer noch ohne sich einander zuzuwenden.

„Hat er dir verboten, mit mir zu sprechen?“

Gregory wandte nur leicht das Gesicht, doch er wollte keine Antwort.

„Sag nichts, es spielt keine Rolle mehr. Ich tue das nicht für dich, sondern für uns. Dieser Irrsinn ist weit genug gegangen. Er wird dich freigeben müssen.“ Gregory setzte den nächsten Fuß auf und zerbrach den gefrorenen Moment mit unerschütterlicher Entschlossenheit. „Es gibt niemanden sonst, der ihm die Stirn bieten kann, wenn er so ist. Ich hätte damals gewonnen und diesmal werde ich es auch, wenn es sein muss.“

Die Männer folgten ihm, einen großen Bogen aus Spuren um Ian zurücklassend.

Die trügerische Ruhe erwies sich Ian das erste Malals falsch. Als hätte Gregory sie freigelassen, erhoben sich Stimmen von dem offenen Platz vor den Schiffen. Bis zu den Stegen hatten sie hier zur letzten Sauffeier gestanden, die Gläser gehoben und lauthals auf ihren Anführer angestoßen. Heute dagegenstanden die Freibeuter verstreut auf dem Platz und ihr Murmeln war erfüllt vor Unruhe.        

„Was eine ganze englische Kriegsflotte nicht vermag, vollbringt deine gottverwünschte Person ganz allein, Ian McLane!“ Emilie trat in Ians Rücken, die Arme unter ihre Oberweite gepresst, als gälte es, sich zusammenzuhalten. 

„Verflucht, schau nicht so. Warum gehst du nicht runter und schaust nach?“ Ihr rechter Arm löste sich und wies starr den Weg herab. Eine böse Ahnung legte sich auf Ian. Die folgenden Worte trieben ihn vor sich her und verfolgten ihn bis auf den weitläufigen Platz.

„Wenn du es nicht wagst, dann sage ich dir, was passiert ist!“

Ian begann zu laufen. Erst drei schwere Schritte, dann rannte er. Seine Stiefel hallten dumpf auf dem Boden, noch einen Meter, noch einen Schritt. Der Platz öffnete sich vor ihm und er rutschte strauchelnd, mit zu viel Schwung, über denlosen Untergrund und fand sich doch unfähig, noch einen Schritt zu machen.

„Hörst du, Ian McLane!“

Er hörte.

Emilies Stimme verfolgte ihn, sollte er es doch hören, wenn er es nicht verstand. Da stand ein das alte Fass verschlossen mit einem faustdicken Korken. Mit einem Dolch an das Fass geschlagen, hang ein einzelnes Stück Papier mit der Last eines  kunstvoll geschriebenen „D“. Ein rotes Rinnsal quoll aus dem Fass, tränkte das Papier wässrig rot und versickerte lautlos im sandigen Boden. 

„Er hat ihn herausgefordert, seinen besten Freund! Er hat ihn herausgefordert. Gregory hat Dracosta herausgefordert!“  

Kapitel 26

 

>>Heiß ist das Blut der Jugend. Geblendet durch die Spirale unbändiger Gefühle geht es im Kreis und stetig abwärts. Mit dir habe ich eine Herausforderung auferlegt bekommen, deren Lösung sich in keinem Buch findet. Wenn du deinen Weg in jugendlicher Unerfahrenheit auf das Spiel setzt, dann soll es an mir sein, dich wieder zurückzuführen. Siehe mein Beispiel unbeugsamer Dracosta, junger Wayne, und wünsche mir ‚Auf Wiedersehn‘.<<

 

 

 

 

 

Leise brandeten die Wellen gegen den Strand und versuchten, nach den zwei Füßen zu greifen, die sich hier achtlos niedergelassen hatten. Am Horizont türmten sich die Sturmwolken lautlos zu dunklen, bedrohlichen Giganten. Ein ehrfürchtiger und beängstigender Anblick. Ian saß in dem stärker werdenden Wind, der an seiner Kleidung riss. In seinem Gesicht lagen die Stärke und die Tiefe, sein Urteil und sein Unheil offenen Auges zu erwarten.  

 

Schritte näherten sich ihm knirschend und verhielten neben ihm. Auch ohne die Augen zu heben, schien Ian zu wissen, wer es war. Wayne setzte sich neben ihn, ohne das Wort an ihn zu richten. Beide blickten sie auf die Front schwarzer Wolken, während ihre Ellbogen sie nur wenige Millimeter von einer Berührung trennten.

 

In das Schweigen verschwanden die letzten Sonnenstrahlen und erste Tropfen fielen. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der Wayne in innerer Glut lächelte, als wollte er die Welt herausfordern. Ian fand seine Augen zu Wayne gezogen.

 

„Ich werde nicht verlieren, Ian.“

 

Mehr hatte Wayne nicht zu sagen, mehr gab es nicht zu sagen. Er stand auf, den Blick auf dem Unheil verkündenden Horizont, bevor er beiden, Ian und der Sturmfront, endgültig den Rücken zukehrte.

 

 

 

Auf dem Versammlungsplatz stand eine verhärmt aussehende Ansammlung Männer und Frauen in Wind und Wetter, einen großen Kreisin ihrer Mitte freilassend, in dem sich bereits die ersten Wasseransammlungen zu Pfützen zusammengefunden hatten. Der kalte Regen fiel in einem steten Guss herab und der scharfe Wind erstickte die Stimmen zu einem undeutlichen Murmeln.

 

Ian stand in den hinteren Reihen, nur unweit von dem beschlagenen Fass, das seinen letzten Tropfen bereits vergossen hatte. Ihm eröffnete sich ein Blick auf Rücken und verkniffene Gesichter. Alle Männer schienen sichauf dem Platz zusammengefunden zu haben. Seit der Herausforderung war nichts mehr so wie vorher.

 

Doch selbst hier fanden ihn Waynes Augen. Sie streiften aus den Augenwinkeln zu Ian dann sprach er zu einem Mann, der ihm die Jacke abnahm, während Gregory schweigend dastand und die Innenfläche seiner linken Hand massierte. In diesem unwirtlichen Wetter waren Ian, Wayne und Gregory die Einzigen ohne die aus alten, ölgetränkten Segeltuch grob geschneiderten Regenmäntel.

 

„Bringen wir es hinter uns, Wayne.“ Gregory schaute auf. „Das kann so nicht weitergehen.“ Die Männer hinter Gregory murmelten zustimmend. 

 

„Denkt hier noch einer so?“, fragte Wayne gefährlich ruhig. Blicke gingen zu Boden, andere blieben ungerührtund Wayne schaute zurück auf Gregory.  

 

„Sind alle hier, um Zeuge zu sein?“, wollte er wissen, eheein farbloses Lächeln über seine Lippen huschte. Es war der klägliche Rest eines lockeren Spruchs, der ihm zu jeder anderen Zeit über die Zunge gekommen sein mochte.  

 

„Das ist Wahnsinn“, murmelte Emilie. Von ihrem Überwurf perlte das Wasser in grauen Perlen zu Boden. Nur kurz schaute sie zu Ian auf und wahrscheinlich fand sie etwas in seinem Gesicht, wassie nicht dort erwartete hätte. „Und wie wahnsinnig, wenn selbst du verstehst, wie schlimm es steht.“

 

„Wäre es meine Aufgabe, diesen Irrsinn zu beenden?“ Ians Hand hielt seinen Ellenbogen. Regentropfen fielen von Ians Wimpern auf seine Finger.

 

„Das wirst du nicht können.“

 

Emilies hoffnungslose Antwort wurde von einer lautlos aufsteigenden Leuchtkugel überschattet, die den Himmel kurz in Rot tauchte, um dann in Wind und inWetter unspektakulär zu verlöschen. Mehrere Augenpaare schauten verständnislos in den Himmel, alarmierte Stimmenwaren zu hören, während Wayne und Gregory nur kurz nacheinander ihre Waffen griffen. Nichts kam so, wie geplant.  

 

„ENGLISCHE TRUPPEN IN DER BUCHT! WIR STEHEN UNTER ANGRIFF!“, hallte eine Stimmeüber die Köpfe hinweg, dann rollte auch schon das Geräusch gezündeter Kanonen zwischen dengeduckten Häusern, gefolgt von einem hölzernen Krachen, als eiserne Kugeln in den hölzernen Steg schlugen und einen Hagel aus Holzsplittern in die Luft jagten. Wie in Zeitlupe fiel der Mast der ‚Crying Nancy‘ und schlug auf die Wasseroberfläche. In einem Aufbäumen warf es das Schiff gegen den Steg.

 

„DECKUNG!“, schrie Wayne. „An die Waffen! Schützt die Schiffe!“

 

„Angriff! Wir stehen unter Angriff!“ Panik brach aus.

 

„Scheiße!“

 

Metallkugeln so groß wie Köpfe hagelten auf die Insel. Schlamm, Dreck und Steinsplitter spritzten durch die Luft. Die nächste Phalanx folgte mit einem Grollen, das sich an den Buchtwänden brach.

 

„Wer ist es?!“

 

„Diese verräterischen Bastarde…! Besetzt die Kanonen!“

 

Männer duckten sich tief, fluchend, Frauen schrien. Emilie fand sich gepackt, dass es ihr die Luft aus der Brust trieb, kurz bevor ein Fass neben ihr in tausend Teile explodierte.

 

„Vielleicht gibt es doch etwas, was ich tun kann.“ Das war Ians Stimme an ihrem Ohr.

 

Als sie keuchend die Augen öffnete, stand sie in einer buchtabgewandten Hausecke. Im ersten Moment war sie blind unterder Lasteines mit Wasser vollgesogenen Stoffes, nur langsam rutschte Ians blauer Waffenrock von ihrem abwehrend gehobenen Arm und landete schwer auf dem aufgewühlten Boden. Der Besitzer des Waffenrocks war verschwunden.

 

Männer liefen schreiend durcheinander. Gregorys Stimme brüllte Befehle. Zwei Beiboote legten an dem Dock an. Männer in blauen Waffenröcken sammelten sich auf dem Steg und die erste Reihe ging in die Knie, um das Feuer zu eröffnen. Andere droschen mit ihren Hiebwaffen auf die Vertäuungen der angebundenen Schiffe ein.

 

Wayne griff sich grob ein Gewehr vom nächstbesten Mann und zielte.

 

„Das ist nicht unmöglich!“, fluchte er. „Es ist unmöglich!“ Die Kugel schlug wirkungslos in das Holz. Zu weit war der Steg entfernt, als dass er hätte treffen können, und der Regen erschwerte ihm die Sicht.

 

„Wir wurden verraten, Wayne!“, rief Gregory über den Lärm, packte den Arm seines Freundes. „Die wollen uns entsorgen!“

 

Wayne lud durch und richtete das Gewehr ein weiteres Mal aus. Einen dunkelhaarigen Soldaten riss es zu Boden. Er war mitten im Ausholen getroffen worden.

 

„Ich weiß, gottverdammt! Sie haben sich die beste Zeit rausgesucht.“ Er lud nach, doch der nächste Schuss verstarb im nassen Schwarzpulver. „Wie viele Schiffe?! Kann einer was sehen?!“

 

„Zwei!“

 

„Das ist doch ein Witz!“ Wayne warf das Gewehr beiseite.

 

In der Ferne trieb die vom Steg abgetrennte ‚Crying Nancy‘ mit der Strömung in das offene Wasser. Der gebrochene Mast zerteilte das dunkle Wasser und die zerrissenen Taue wurden Spielzug des Windes. Ein weiteres Piratenschiff sank knarrend in Seitenlage. Wayne fuhr herum. Das Chaos versperrte ihm die Sicht, während er versuchte vorwärts zu kommen. Er packte Männer und Frauen an den Schultern. 

 

„Ian! Wo ist Ian?!“

 

Er trat in den am Boden liegenden Waffenrock. Der Stoff war voller Schlamm, Splitter und Dreck. Noch immer fielen Kugeln vom Himmel, doch die Gewehre am Steg waren verstummt. In diesem Moment wusste Wayne, wo Ian war.Er warf den Waffenrock beiseiteund lief. 

 

Er erreichte den Steg mit seinen zwei Steinschlagpistolen in der Hand. Die Männer hatten sich um Ian geschart, der zwischen der Insel und dem Beiboot stand. Es war Ians Mannschaft, einer der Männer blutete heftig aus einer Schusswunde am Arm. Das blonde Haar des ersten Maats war dunkel vom Regen. Er salutierte, und über Ians Schultern zog er den Waffenrock des Kapitäns, als das Geräusch zweierentsicherter Pistolen die Männer erreichte.

 

„Jamie O’Nellie…“ Diese Augen sprachen von einem Hass, der sich über Wochen und Monate hatte aufbauen können. „Ich wusste es vom ersten Moment, du bist ein Verräter!“ Der erste Maat griff seine Pistole und riss sie herum. Er war kein Mann, der verzieh. Wayne hatte ihm seinen Platz genommen und Wayne wusste, dass er ihm noch viel mehr genommen hatte.

 

„Ich weiß nicht, wen du alles bestochen hast… Du bist so falsch wie deine Identität. Hast du geglaubt, ich finde es nie heraus?!“ Carlton Smiths Stimme war spröde vor unterdrückter Wut. „Du bist einer von ihnen. Mit welchem Recht wagst du, auch nur dein Gesicht zu zeigen, anstatt dich in das Rattenloch zu kriechen, in das du gehörst?!“

 

Wayne zuckte mit keiner Wimper.

 

„Ich glaube, DU verstehst da etwas falsch. Mit welchem Recht bist DU hier, Mr. Smith?“

 

„Mit welchem Recht glaubst du, mir nehmen zu können, was man MIR gegeben hat? England ist nicht in deinem Rücken. Oder hat ihre Majestät nur noch zwei Schiffe übrig, um uns einen Besuch abzustatten?“

 

Die Haltung des ersten Maats versteifte sich bis hoch zu seinem Kiefer.

 

„Spotte nicht über mich!Es gab keinen Befehl, plötzlich hatte alles andere mehr Priorität… und ich weiß, es ist dein Zutun!“Carltons Augen brannten wie im Wahn.

 

„Aber ich brauche keine Erlaubnis, um hier zu sein! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich in die Hölle schicken will.“

 

Um den ersten Maat luden mehrere Männer ihre Waffen durch und richteten sie auf Wayne.

 

„Dann hast du dich schon selbst übertroffen, Carlton Smith!“, lachte Wayne im falschen Applaus, sein Lauf bewegte sich keinen Millimeter von Ian. Nicht mal der erste Maat wagte es das Feuer in seinem Zorn zu eröffnenund damit seinen Kapitän zu gefährden, denn er endlich wiedergefunden hatte.

 

„Glaub nicht, dass du gehen kannst, Ian McLane. Es interessiert mich nicht, wie sehr er dich zurück willund noch weniger, wie sehr du selbstzurück willst." Wayne zwang seine Stimme zur Festigkeit. „Bis es nichts mehr gibt, was ich von dir fordern kann… so waren meine Worte! Halte deinen Schwur, Ian McLane!“

 

Die goldenen Schulternähte schwangen über den leeren Ärmeln von Ians Waffenrock, den er selber mit einer Hand auf seiner Schulter hielt. Weitere Schritte und Stimmen polterten auf den Steg. Hinter Wayne kam Gregory entschlossen zum Stehenund mit ihm grobschlächtige Männer, deren Zorn ihre Gesichter verzog. Jeglicher, interner Zwist war angesichts des Feindes beiseite gewischt. Zwei Mannschaften standen sich hasserfüllt gegenüber und starrten in die Läufe und gezogenen Klingen ihres Gegenübers. Ian griff den Laufder Waffe seines erstenMaats und zwang diese nach unten. 

 

„Kapitän…!“, protestierte Carlton.

 

Doch Ian wartete wortlosauf den Moment, in demWaynes Forderung eine Stimme finden würde.

 

„Was ich will, Ian“, Waynes Stimme schnitt durch den Regen. Es gab nur ihn und seine Pistole, die zwischen Ians reglose Schulterblätter zielte. „Was ich will, Ian McLane, ist dein Herz.“

 

Ian senkte die Schultern, als hätten die Worte eine Last auf seinen Rücken gelegt, während er sich auf dem Steg zu Wayne umdrehte.

 

„Du kannst nichts von mir verlangen, was du schon hast.“

 

Da war vielleicht sogar ein schwaches Lächeln, als Ian die Augen schloss und zu seinen Männern trat, die ihn sofort flankierten. Ein Beiboot wartete auf ihn und draußen tat die ‚Seagull‘ dasselbe.

 

Die Zeit schien stillzustehen. Waynes Finger krampftensich um den Abzug, doch alles, was seine Hand vermochte, war,die Pistolen sinken zu lassen.

„Es ist vorbei, Wayne.“ Gregorys Hand legte sich auf Waynes Schulter.

 

Kapitel 27

>>Keine irdene Fessel kann dich binden. Kein Druck kann dich zerreiben. Das, nach dem ich mich verzehrte, ward mir bereits anvertraut! Wie dumm ich war! Jetzt bleibt die Leere und der Schmerz der späten Erkenntnis… doch glaubt nicht, dass es schon zu spät ist, das Blatt zu wenden. Der letzte Zug auf dem Schachbrett ist noch nicht getan. Und nimm dich in acht, die Königin setzt sich in Bewegung…<<

 

Sein Schiff. Das vertraute Deck der ‚Seagull‘.

„Sir.“

„Sir!“

„Willkommen zurück, Sir!“

Die sonst so disziplinierte Mannschaft begrüßte ihn mit der überschäumenden Erleichterung, einen verloren Geglaubten wiedergewonnen zu haben. Doch selbst mit einem unerfahrenen Blick war zu erkennen, dass die Seagull nur mit einer Notbesetzung segelte. Gerade genug, um die Kanonen und Takelagen zu besetzen.

„Feiern können wir später! Schaut, dass wir hier wegkommen! Vorwärts!“, forderte der erste Maat, seine Augen glänzten wie im euphorischen Fieber, doch er war blass vor Anspannung.

„GEBT ENDLICH DAS VERDAMMTE SIGNAL ZUM RÜCKZUG!“ Smiths Stimme überschlug sich vor Heftigkeit, als ihm die Reaktionen zu langsam erschienen. 

Ian schob seine Arme in die Ärmel des Waffenrockes, nass und vollgesogen war er, das drückende Gewicht war wie eine Last auf seinen Schultern. Knopf für Knopf schloss er den schweren Stoff. Die Farben leuchteten im Vergleich zu dem Mantel, den er zurückgelassen hatte.

Das Schiff ächzte und wiegte in dem unruhigen Wasser, es dauerte lächerlich lange, sich von der Stelle zu bewegen. Selbst die Strömung schien sich nicht einigen zu können, welchen Weg sie einschlagen wollte.

„General Conalis antwortet nicht! Er führt den Beschuss fort!“, meldete der Signalgeber gestresst, während er in schneller Folge Morsezeichen mit dem Morsescheinwerfer.  

„Dieser verdammte Holzkopf und sein Rachefeldzug!“, fluchte Smith.

„Versuchen sie es weiter! Zur Not fahren wir ohne ihn!“, hörte Ian den ersten Maat toben. Das zweite Schiff wurde also von General Conalis befehligt.

Ian wusste, dass Conalis den Verlust seines Sohnes nie verkraftet hatte. Er war einer derer, die am lautesten nach Vergeltung geschrien hatten, der tief im Schlamm gewühlt hatte, weil er sich sicher war, dass die Vernichtung seiner Flotte - der Tod seines Sohns! - ein abgekartetes Spiel gewesen sein musste. Man hatte bereits gemunkelt, er würde bald ‚pensioniert‘ werden, zwangsbeurlaubt war er bereits als Ian einer neuen Aufgabe zugeteilt worden war.

„Schießen sie Leuchtkugeln hoch, Conalis ist vielleicht verrückt, aber nicht dumm“, befahl Ian ruhig, während er seinen Weg Richtung Achtern aufnahm. Mit jedem Schritt schien sich sein Körper mehr und mehr daran zu erinnern, wie es war auf Deck zu stehen. Wirkten die ersten Meter noch wankend unter dem schweren Seegang, so erreichte er das Heck mit unerschütterlicher Sicherheit.  

Der rollende Donner der Kanonen war hinter ihnen erloschen. Bis auf den Sturm lag eine fast unheimliche Ruhe über der Insel. Wie Ferne weiße Punkte stieg eine Schar Tauben gegen den Sturmhimmel auf. Es gab keinen Gegenschlag und keinen Ansatz der Verfolgung. Ian schloss für einen Moment die Augen gegen den schneidenden Wind und den peitschenden Regen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Felsen der Inselbucht an ihnen vorbeizogen, und noch eine weitere Ewigkeit, bis sich die Konturen der Insel mit der dunklen Masse der Wellen am Horizont vereinten.

Gerade mal zwei Schiffe hatten den Überraschungsangriff geführt. Nicht viel anders als Freibeuter, welch Ironie, dachte Ian.

„Sie sind alle freiwillig hier“, sprach Smith in seine Gedanken. Es waren nur wenige Stunden vergangen und doch zeichnete sich bereits die Küstenlinie Englands ab.

„Wie habt ihr die Insel gefunden?“, wollte Ian wissen, ohne den Blick von dem Fahrtwasser zu nehmen. 

„Sie war direkt vor unserer Nase.“ Smith hatte seine Hände um die Reling gekrampft, als wollte er eigenhändig ein Stück herausbrechen. „Direkt vor unserer Nase, aber niemand hat sich dafür interessiert!“ Der Frust ließ seine Stimme nach Galle klingen. „Ich bekam einen Befehl die Sache beruhen zu lassen. Einen BEFEHL!“

Ian schwieg. Die dunkle See schien seine Vorahnungen widerzuspiegeln. Etwas war von Anfang an nicht richtig gewesen.

Smith ballte die Faust und schlug auf die Reling. „Hat dieser… dieser Schweinehund…?“ Er konnte Ian bei diesen Worten nicht mal ansehen. ‚Sie angerührt‘, brachte er nicht mal über die Lippen.  

„Lassen sie das meine Sorge sein“, erwiderte Ian.

„Wir haben Sichtkontakt zur Flotte!“, hallte der Ruf von Richtung Ausgucks. Vereinzelte Ausbrüche ausgelassenen, aber erschöpften, Jubelns waren zu hören. Der erste Maat nahm sein Fernrohr und begrüßte den Ausblick der Armada an Schiffen,  mit einem schwachen Lächeln.

„Haben sie endlich mal beschlossen etwas zu tun?“, murmelte er.

Ian runzelte die Stirn. Die schreienden Möwen waren ein untrügerisches Zeichen, dass es zum Hafen nicht weit sein konnte. Es gab also keinen Grund, warum die Flotte sie in Empfang nehmen sollte. 

„Ihr seid ohne Genehmigung in See gestochen?“, hakte Ian sicherheitshalber nach.

Das Gesicht des ersten Maats verdüsterte sich zusehends.

„Es war die einzige Möglichkeit!“, rechtfertigte er sein Handeln rigoros. „Wenn diese verbohrten Schreibtischeulen nicht ihre Ohren und Augen verschlossen hätten, wären wir vor Wochen schon da gewesen! Jetzt werden sie es nicht mehr verleugnen können, dass die Freibeuter direkt vor unserer Küste nisten, der Erfolg spricht für sich!“ 

Ian hatte Smith das Teleskop abgenommen.

„Das sieht nicht gut aus.“ Die Lichtsignale waren eindeutig, sie wurden aufgefordert, die Fahrt zu stoppen und weitere Befehle abzuwarten.

„Es scheint mein Mutterland hat mich schon lange abgeschrieben, vielleicht hätten sie besser daran getan, es auch zu tun.“ Wenn Bitterkeit in Ians Stimme lag, so gelang es ihm gut, sie zu verbergen.

Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als wolle Smith aufbegehren, doch am Ende entriss er nur das Teleskop aus Ians Fingern.

In jeder anderen Situation hätte Ian diese Respektlosigkeit nicht toleriert, doch es war kein Tag wie jeder andere, und die Wahrheit war, dass es keine Rolle mehr spielte.  

Als erst die ‚Seagull‘ und dann ihr Begleitschiff in die Zange genommen wurden und zurück zum Hafen geschleppt wurden, bewahrheiteten sich seine Ahnungen.

Einmal im Hafen angekommen, schwärmten Soldaten, über die verankerten Stege, auf die beiden Schiffe ein wie Heuschrecken. Ihre Gesichter waren grimmig und verschlossen. Ein dicklicher Admiral stemmte seine Gestalt breitbeinig in die Mitte des Decks, während er eine Schriftrolle aufzog.

„Ian McLane, sie sind im Namen der Krone festgenommen! Die Anklage lautet: Anstiftung zur Entfremdung militärischen Eigentums und Hochverrat.“ Ian wurde grob gepackt, noch während der Eklat vorgelesen wurde und auf die Knie gezwungen.

„Das… das macht doch keinen Sinn!“, stammelte Smith, doch er wurde von den Massen an Soldaten abgedrängt, die noch immer auf das Schiff strömten und einen lebenden Schutzwall aus Leibern zwischen der Mannschaft, Ian und dem Admiral bildeten. Ian wurde auf die Füße gezerrt und Richtung Planke gestoßen.

„Ruhe!“, schnauzte der Admiral in das Stimmengewirr. „Die Mannschaft und alle Offiziere sind fürs Erste in Gewahrsam zu nehmen!“ Sofort richteten sich die Waffen seiner Soldaten unerbittlich gegen die Mannschaft.

„Sie haben das Recht zu schweigen und ich würde ihnen anraten dieses Recht in Anspruch zu nehmen!“ Der Admiral rollte das Schriftstück in einer geübten Bewegung wieder ein. „Das Militärgericht erwartet sie, Gnade ihnen Gott.“

Kapitel 28

>>So Dunkel ist also der Fall oder ist so hell das Herz und der Glaube, dass man in dieser Dunkelheit zu bestehen vermag? Was ist Stolz? Was ist Ehre? Was ist Liebe? Für was kämpfen wir, wenn uns jegliche Brücken genommen wurden?<<

 

Es verging eine ganze Woche der Ungewissheit, bis Ian dem Militärrichter vorgeführt werden sollte. Das Gerichtsverfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Für ihn war das alles ein unwirkliches Schauspiel. Irgendjemand zog hier an seinen Fäden und die Schlinge zog sich immer fester um ihn.

Ian blickte in seiner Zelle auf, als sich schwere Schritte näherten. Er sah sich vier Wachen mit ausdrucksloser Miene gegenüber, die ihre Helme tief in die Stirn gezogen hatten. Wortlos wurde er aufgefordert, aus der Zelle zu treten und ihnen zu folgen. Man hatte keine Umstände oder Weg verschwendet, die Verhandlung fand im selben Gebäude statt, in dem er eingekerkert gewesen war. Ein Versammlungsraum war kurzerhand zu einem Richtsaal umgewandelt worden. Die Bestuhlung war genauso sporadisch wie spartanisch. Für die Angeklagten waren gar keine Sitzplätze vorgesehen.   

Als Ian, flankiert von der Wache, den Saal betrat, wurde die verhärmt wirkende Gestalt General Conalis aus der Anklagebank abgeführt – offensichtlich um Ian Platz zu schaffen. Sein kurzes Nicken in Ians Richtung war steif, aber in seinen Augen flackerte es in Mischung aus Trotz und Befriedigung. Conalis fühlte keine Reue, er hätte jedes Freibeuterschwein eigenhändig dreifach in die Hölle geschickt, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre. Nichts hätte ihm den Hass nehmen können, seinen Sohn an die Freibeuter verloren zu haben. Die Rettung Ians war ihm ein willkommener Vorwand gewesen.

Carlton Smith stand, zusammen mit der festgenommenen Mannschaft, in einem abgegrenzten Areal. Die Stimmung im Saal war gespannt und verschärfte sich weiter, als Ian den ihm zugewiesenen Platz einnahm.

„Kapitän McLane, nehme ich an.“ Die Stimme des militärischen Richters, der gleichzeitig den Posten eines hohen Offiziers innehatte, war von Natur aus dazu angetan, jeglichen Widerspruch im Keim zu ersticken. Es war auch keine Frage seinerseits, nur eine Feststellung.

Smith setzte an etwas zu sagen, wurde aber postwendend von dem Offizier unterbrochen.

„Und sie halten ihre Zunge im Zaum, mit ihnen habe ich nicht geredet!“, blaffte er durch den Raum. Er hob einen Schrieb, den er mit greifbarer Geringschätzigkeit studierte.

„Ian McLane, es wird ihnen vorgeworfen, mit Gesetzlosen verkehrt zu haben. Darunter Weitergabe vertraulicher, militärischer Informationen, die ihnen im Zuge ihrer Pflichten zur Verfügung standen. Unter anderem…“, der Blick, der auf Ian gerichtet war, bestach mit Abscheu, „zur Unterstützung freibeuterischer Bereicherung an weltlichen Gütern der Krone.“

„Das ist Verleumdung!“, platzte es aus Smith heraus, er war bis an die Absperrung getreten. Die Männer um ihn herum murrten, aber Unsicherheit und Angst hatten sich unter ihnen breitgemacht.

„Ich war all die Jahre an seiner Seite, ich…!“

„SIE HALTEN IHREN ELENDIGEN MUND, SONST SIND SIE ALS NÄCHSTES DRAN!“ Der Offizier schlug mit derartiger Wucht auf den Tisch, dass ein Stück des Holzes absprang. Er wies auf Ian, der den Zorn blitzenden Blick erwiderte, ohne die Augen zu senken.

„Gestehen sie den Anklagepunkt?“

„Ich verweigere die Aussage.“ Ians Stimme war ruhig, doch seine Hände waren zu blassen Fäusten geballt.

„Sie sind ein genauso unkooperativer, arroganter Sauhund, wie es in ihren Akten steht!“ Der Offizier knallte die Papiere auf die Schreibtischfläche.

„Haben sie sich jemals gefragt, warum sie es nie weiter als Kapitän gebracht haben?! Sie haben keine Familienehre im Leib, sie sind ein Emporkömmling, eine Schande für das ganze Militär! Sie können von Glück reden, dass es ihnen überhaupt vergönnt war, die höhere Laufbahn einschlagen zu dürfen, anstatt auf alle Ewigkeit die Latrinen zu schrubben! Und das war wohl nicht großmütig genug für sie?! War es das Geld oder wollten sie es allen Mal so richtig heimzahlen?!“ Dem Offizier war der Kopf mittlerweile in dem Maße zornesrot angelaufen, wie Ian blasser wurde.

„Und als wäre das nicht hintertrieben genug, stiften sie ehrbare Soldaten an, ihrem ehrlosen Beispiel zu folgen und Eigentum unserer Königin für ihre niederen Possenspiele zu entwenden!“

„Das ist eine Lüge! Sag ihnen, dass das eine infame Unterstellung ist, Ian!“ Sein erster Maat merkte nicht einmal, dass er vor lauter Aufgebrachtheit ins ‚Du‘ verfallen war. „Es gab keine Anstiftung!“, wiederholte er. Und er musste es ja wissen!

„Smith!“, warnte Ian ihn vor jeglichem weiteren Kommentar, doch der erste Maat, war zu erregt, um freiwillig aufzuhören.

„Wissen sie, welche Strafe auf Entwendung militärischen Eigentums steht?! Sie sollten sich ZWEIMAL überlegen, bevor sie hier noch EINMAL den Mund aufmachen!“, drohend lehnte sich der Offizier vor.

„Es gab keinen Kontakt!“, beharrte der erste Maat.

Mit zwei Schritten war Ian bei Smith und packte ihn beim Kragen, bevor sich Smith noch um selbigen redete. „Das reicht! Halten sie ihren Mund! Das ist ein Befehl!“ Doch Ian wurde bereits von den Wachsoldaten gepackt und zurückgerissen.

„UND SIE LASSEN IHRE HÄNDE BEI SICH!“ Der Offizier war aufgesprungen.

„Und zu ihrer Information, Herr Smith. Uns liegen Dokumente vor, die eindeutig einen Schreibwechsel zwischen Ian McLane und dieser Freibeuterbrut belegen!“ Wäre der Offizier nicht so eine schneidende Stimme sein eigen genannt, er hätte süffisant geklungen.

Ians Kopf fuhr fassungslos in Richtung seines Offiziers. Auch Smith sah so aus, als hätte er einen Tritt in die Magengrube erhalten.

„Das… ist… unmöglich“, würgte er. „Das war… er… ER… dieser Teufel!“

„Schafft mir die Mannschaft raus!“, befahl der Offizier mit überschlagender Stimme.

Smith war zu geschockt, um Gegenwehr zu leisten, der Rest der Mannschaft folgte wie Marionetten. Die schwere Tür fiel mit einem endgültigen Geräusch hinter ihnen ins Schloss.

„Jetzt ist endlich Ruhe. Ich hätte es von Anfang an ein Einzelverhör machen sollen“, knurrte der Offizier.

„Diese Dokumente…“, begann Ian, jeder Atemzug war ihm zur Qual geworden, doch er weigerte sich zu wanken.

„Gehen sie nichts an“, unterbrach der Mann gnadenlos, er war der Situation sichtlich überdrüssig geworden. 

„Ich bin kein Unmensch und mir missfällt vergeudete Zeit zutiefst“, begann er in einem Ton, der für seine Verhältnisse, als freundlich ausgelegt werden konnte. „Unter gegebener Sachlage ist ihre Verurteilung nur eine Formalität. Es interessiert mich also, gelinde ausgedrückt, nicht im Geringsten, ob sie gestehen oder nicht. Doch wenn sie noch einen Funken Anstand als Kapitän haben, halten sie ihre Mannschaft da raus und bekennen sich in allen Punkten als schuldig. Mir ist es egal, ob ein Kopf rollt oder 100.“

Ian formte stumme Worte mit seinen Lippen. 

„Ich kann sie nicht hören.“

Ian bewegte sich nicht, reagierte nicht.

„Ich kann sie nicht hören“, wiederholte der Offizier mit gerunzelter Stirn.

„Wo… muss ich unterschreiben?“, brachte Ian heraus.

Mit abschätzig gehobener Braue wurde er gemustert, als hätte der Offizier etwas anderes erwartet. Doch es schien ihm nur recht zu sein, die Angelegenheit schnell unter Dach und Fach zu bringen. Er schob ein Blatt Papier über den Tisch und forderte Ian auf heranzutreten. Feder und Tinte standen bereits am Platz.

‚Hiermit bestätige ich, Ian McLane, aus Eigennutz und Habgier, auf hintertriebene Weise Verrat an Mutterland und Krone…‘ Das vorgesetzte Schriftstück verschwamm vor Ians Augen. Seine Hand zitterte, als er unterschrieb, doch er biss die Zähne zusammen. Ein Tropfen Tinte fiel von der Federspitze und hinterließ einen tiefschwarzen Fleck auf dem Tisch.

„Erwarten sie keine Gnade.“ Der Offizier nahm das Blatt an sich und stand auf. „Ihr Schicksal haben sie sich selber zuzuschreiben.“

Kapitel 29

>>Vielleicht sollte ich befreit lachen. Noch nie fühlte ich mich der Leere so nah und gleichzeitig so lebendig. Geht es dir genauso, stolzer Gefährte? In diesem Moment der Verwirrung, des Verrats und des drohenden Todes ist dein Herz meinem am Nächsten. Lass uns zusammen in unserem gebrochenen Stolz schwelgen.<<

 

Emilie beugte sich über Wayne, der sich seinen Stuhl so gestellt hatte, dass er aus dem Fenster die Ausläufer der Bucht und den Himmel gleichzeitig sehen konnte. Er wusste nicht, dass es dasselbe Fenster war, das Ian in seinen ersten Tagen gewählt hatte, um in die Ferne zu schauen. Ihr ausladender Busen presste sich aufreizend an ihn, während sie sich auf seinen Schoß schob. Sie versuchte ihre Lippen auf seine zu legen, scheiterte aber an seiner gehobenen Handfläche.

„Mir ist nicht danach“, wehrte Wayne sichtlich desinteressiert ab und schob sie von sich.

„Und auch nach sonst niemanden, wie man so hört. Man sagt schon, da habe dir ein gewisser Jemand, nicht nur dein Herz, sondern deine Klöten gleich mit gestohlen“, bemerkte Emilie spitz, während sie ihren Rock mürrisch zurechtzupfte. „Ich sage ja nicht, dass du nicht brüten darfst, aber gesund kann das nicht sein, den Herzgebrochenen zu mimen.“ Sie verschränkte die Arme. „Zumindest dachte ich nicht, jemals den Tag zu erleben, an dem alles an dir steht, nur das eine nicht.“

Wayne gab ein schnaubendes Lachen von sich und brachte ein überraschend ungetrübtes Lächeln zustande. „Glaub mir, er verweigert nicht seinen Dienst, mir ist nur nicht mehr danach, Röcken nachzujagen.“

Emilie warf ihm einen langen, ungläubigen Blick zu und setzte schließlich eine gespielt beleidigte Miene auf. Sie hatte auch nicht erwartet, dass Wayne auf sie eingehen würde. Vieles hatte sich geändert seit Ian hier war, und noch mehr, seit er wieder fort war. Aber sie hatte durchaus ein Argument, mit dem sie Waynes Interesse ködern können würde. „Nun, wenn das so ist, interessiert dich wahrscheinlich auch nicht, was die rocktragenden Täubchen so angetragen haben“, sagte sie betont beiläufig, während sie sich leicht vorbeugte, dass es nicht nur den Ausblick tief in ihr Mieder erlaubte, sondern auch noch den Ansatz eines Zettels freilegte, der zwischen den weichen Rundungen verborgen gelegen war. Sofort hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.

Wayne sprang von seinem Sitz auf. „Gib ihn mir“, forderte er ohne Umschweife.

Emilie lachte. „Jetzt steht er also doch.“ Doch sie wollte es nicht zu weit treiben. Wayne so aufgeregt wie einen Jüngling zu sehen, war ihr Belohnung genug.

„Immer wenn es darauf ankommt, muss ‚Frau’ es selber machen. Ich frage mich ernsthaft, warum wir uns noch mit euch Mannsbildern abgeben“, spottete sie und zog den Zettel mit zwei Fingern aus ihrem Ausschnitt. Wayne nahm ihr den Zettel sofort ab und begann auf und ab zu laufen. Die Anspannung, als er das Siegel brach, wurde zur Befriedigung, als er über die Zeilen sprang und hämische Freude, als er am Ende angekommen war. Der Wechsel seiner Gefühle war so deutlich auf seinem Gesicht zu lesen, als trüge er sie als Flagge zur Schau. 

„Wie die Vögel zwitschern, wurde ein gewisser Jemand wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.“ Emilie musterte Wayne aus den Augenwinkeln, doch er gab mit keinem Zeichen zu verstehen, dass er ihr auch nur zuhörte. „Ich frage mich, ob ein anderer gewisser Jemand da nachgeholfen hat…“, fuhr sie langsam fort. Wayne war stehen geblieben, doch sein Gesicht war ihr abgewandt.

„Lass ein kleines Schiff startklar machen, ich habe einem Spektakel beizuwohnen.“

Für einen Moment erhellte sich Emilies Gesicht in Erleichterung. „Wie viele Männer brauchst du für den Rettungstrupp?“, wollte sie sofort wissen.

„Keinen“, bemerkte Wayne trocken. „Ich gebe Bescheid, wenn ich wieder abgeholt werden will.“ Waynes Antwort, setzte ihrer Erleichterung mehr als nur einen Dämpfer auf.

„Du kannst doch nicht beiwohnen wollen, wenn er…“, allein der Gedanke war ihr so widerwärtig, dass sie sichtbare Übelkeit überkam. „Denkst du nicht, das ist etwas arg geschmacklos?!“, empörte sie sich schließlich, doch Waynes befreites Lachen, brachte sie vollkommen aus dem Konzept.

„Und darum sind wir Mannsbilder der Meinung, dass ihr Frauenzimmer weniger denken und mehr euren Arsch bewegen solltet.“ Wayne drehte sich um und wies ihr mit einer übertriebenen und galanten Verbeugung die Tür. „Zu den Schiffen geht es hier lang, Milady.“ 

 

Eine ganze Woche hatte Ian in einer dunklen und ungemütlichen Kutsche zugebracht. Niemand hatte es für nötig befunden ihm mitzuteilen, wohin es ging, doch dass es seine letzte Fahrt sein sollte, darüber wurde kein Hehl gemacht.

Doch selbst mitten in der Nacht waren die Gassen und Gebäude ihr Ziel unverkennbar, und jeglicher Zweifel ausgeschlossen, als die Kutsche eine Zeit lang der Themse folgte: London. Das Schwanken und Schaukeln der Kutsche auf den holprigen Straßen hätte einen an starken Seegang erinnern können, wenn nicht jedes Schlagloch, jeder Stein und jede Wurzel auf der schier endlosen Fahrt einen derartigen Ruck durch den Wagen geschickt hätte, dass das Sitzen auf der polsterlosen Sitzbank nach kürzester Zeit zur reinen Qual wurde. An Stehen war sowieso nicht zu denken.

Ian wurde nur dann kurz aus dem Gefängnis des dunklen Innenraum entlassen, um die nötigsten Geschäfte zu verrichten, oder wenn sie für die Nacht anhielten.

Es war wohl eine gute Übung für das, was ihm bevorstand.

Als er schließlich in einer tristen Zelle des London Towers saß, war ihm jeglicher Ausblick nach draußen verwehrt. Das einzige Licht kam von Fackeln, die mit ihrem unsteten Licht den Gang erhellten. Drei Mal am Tag wurde eine unappetitliche Mahlzeit in die Zelle geschoben. Er hatte die Wahl sie zu essen oder zu hungern, aber es half zumindest dabei, ein dürftiges Zeitgefühl zu wahren.

Ian saß auf der Pritsche, die Finger ineinander verschränkt und seine Augen blicklos auf den Boden gerichtet. Man hatte ihm makabrerweise seine Uniform gelassen, aber sie war mitgenommen, zerknittert und sichtlich verschmutzt. Wann es Zeit für seine Vollstreckung sein sollte, hatte man ihm nicht mitteilen können, und diese ständige Ungewissheit hatte ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem hätte jeder Außenstehende seine Haltung nur als gefasst beschreiben können. Er schrie nicht, tobte nicht, appellierte nicht. Wenn man das Wort an ihn richtete, war sein Blick klar und hatte nur wenig von seiner natürlichen Autorität verloren. Vielleicht verspürte hier und da jemand Interesse an der genauen Natur seines Schicksals, jedoch tat es einem nicht gut, sich zu sehr um die Angelegenheiten der Gefangenen zu scheren – einige blieben zwar Jahre, gar Jahrzehnte, doch andere hielt man nicht mal für ein paar Tage eingekerkert. Man tat besser daran, sein Mitgefühl bei sich zu behalten.

Neben den Essenszeiten genoss er eine karge Gesellschaft nur, wenn in seiner Zelle für einen Bruchteil von Hygiene gesorgt wurde - etwas, das schon weit mehr war, als manch anderen angediehen wurde, die hier einsaßen.

Als er diesen Tag Schritte hörte, waren es merklich mehr als sonst und auch zu keiner der üblichen Zeiten. Ians Schultern spannten sich unwillkürlich an. Doch er hob den Blick erst, als die Laute eindeutig vor seiner Zelle verhielten. Die blank polierten Stiefel bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem schmutzigen Boden.

„Sie haben Besuch.“

Ian hob den Blick und sah sich einer Delegation aus Wachen und Soldaten entgegen, die einen höfisch gekleideten Gesandten begleiteten. Einen Gesandten, der Waynes Gesicht trug. Sein vorwarnungsloses Aufspringen versetzte die Wachen sofort in Alarmbereitschaft. Wären nicht die Gitter gewesen, hätten sie ihn angesichts seiner Reaktion sofort eingekeilt. Auch so blieb ihr Blick misstrauisch. Wayne deutete eine leichte Verbeugung an.

„Ihr könnt gehen, ich will mit ihm unter vier Augen sprechen.“ Wayne vermochte, den hochnäsigen Ton der Hofangestellten aufs Perfekte zu imitieren, während er mit ein paar Schriftstücken wedelte.

„Mit Verlaub, Sir, das wird hier nicht gerne sehen“, schnarrte die Wache in einer Mischung aus Unbehagen und Verstimmung.

„Warum? Weil er die Gitter ausreißen könnte und mich damit erschlagen?“ Obwohl Wayne kleiner war, schaffte er es den Eindruck zu vermitteln, angeödet auf dummen Pöbel herabzuschauen. „Lasst das meine Sorge sein. Ich weiß, was ich tue.“

Für einen Augenblick vermittelte die Wache den Eindruck, als wäre ihnen der Gedanke, dass Ian in ihrer Abwesenheit zuschlagen könnte – am besten mit seinem Notdurfteimer - gar nicht mal so unangenehm.

„Wie ihr wünscht, Sir. Wir bleiben in Rufweite.“ Die Männer machten auf den Hacken kehrt.

Erst als ihre Stimmen verhallt waren, lockerte Wayne seine Haltung und rollte demonstrativ mit den Schultern.

„Kein Wunder, dass der Hofstaat immer so verkniffen hereinblickt, diese Klamotten sind eine noch schlimmere Zumutung als deine!“ Er zog mit wenig Erfolg an seiner Halskrause, doch jegliche Hochnäsigkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Er betrachtete Ian, der sich in der ganzen Zeit nicht gerührt hatte, mit einem belustigten Glitzern in den Augen.

„Du siehst schlimm aus“, befand er. „So viel zu ‚alles für das Mutterland‘, hm?“

Ians Blick verdüsterte sich. „Wie bist du hierhergekommen?“, verlangte er zu wissen. Er machte endlich einen Schritt nach vorne.

„Mit einem Schiff und einer Kutsche. Wie bist du denn hierhergekommen?“, fragte Wayne feixend zurück.

Ian packte die Gitterstäbe. Nach einem drückenden Moment der Stille seufzte Wayne. Der erschöpfte Laut ergänzte sich mit seinem ersterbenden Lächeln.

„Wie bist du hierhergekommen?“, wiederholte Ian hartnäckig.

„Das willst du im Grunde gar nicht wissen, glaub mir“, war Waynes schlichte Antwort. „Es spielt auch keine Rolle.“

Das Glitzern kam zurück in seine Augen. Er rollte das Papier in seinen Händen aus und hielt es Ian so nah vor das Gesicht, dass er es selbst in dem flackernden Halbdunkel der Fackeln würde entziffern können.

„Alles, was du wissen musst, ist, dass ich dich hier rausholen kann… alles, was du tun musst, ist hier zu unterschreiben.“ Wayne hatte die Stimme zu einem eindringlichen Ton gesenkt. „Überschreib mir dein Schiff und überschreib mir deine Dienste.“

„Ich soll dir etwas überlassen, das mir nicht gehört? Du bist ein Narr!“ Ob Unglauben, Wut oder Frust Ians Schultern verkrampften, war nicht zu erkennen. Unverhofft brach Wayne in Lachen aus.

„Es ist dein Schiff, du bist der Kapitän. Was schert mich, wer es gebaut oder bezahlt hat?“ Wayne atmete amüsiert schnaubend aus. „Überschreib es mir und ich werde es mir einfach nehmen.“ Er lachte leise. „Rechtmäßig.“

„Nein!“ Ian hatte den Blick abgewandt.

„Willst du lieber hingerichtet werden?!“ Wayne trat ungläubig einen Schritt vor und schlug auf das Papier. „Welchen Grund hast du deinen Prinzipien treu zu bleiben. Es wird dir nicht gedankt! Niemand hier schert sich einen Dreck um dich!“

Jetzt war es an Ian zu lachen, doch es war ein Lachen ohne Humor. „Wessen Schuld ist das wohl?“, fragte er, doch Wayne ignorierte den Einwand und fuhr eindringlich fort.

„Komm zu mir, Ian.“ Es war keine Aufforderung mehr, es war eine eindringliche Bitte. „Ich will dich bei mir haben.“

„Nein“, war Ians unveränderliche Antwort.

„Ich werde auch nie wieder mit anderen“, begann Wayne.

Doch Ians Arm fuhr durch das Gitter und packte Waynes Genick, der andere Arm folgte sofort nach und packte unerbittlich zu, bevor sich Wayne Freiwinden konnte. Er hätte ihn ohne Zweifel schwer verletzen können, wenn das in seiner Absicht gewesen wäre. Auch so trieb es Wayne die Luft aus den Lungen, als er an die Gitterstäbe gepresst wurde. Ian presste seine Lippen auf Waynes, so innig, wie es das störende Metall in ließ. Selbst als Wayne sich entspannte und aus dem rücksichtslosen Überfall ein sanfteres Zungenspiel wurde, lockerte er nicht seinen Griff, im Gegenteil. Strich über Waynes Körper, der ohne Zweifel noch schamlos ‚funktionierte‘, wie er sollte.

Das Pergament war rettungslos zwischen ihnen und den Gittern eingeklemmt. Es fiel zu Boden als Ian Wayne vorwarnungslos wieder freigab und dieser schwer atmend und lachend einen Schritt rückwärts taumelte.

„Auf deine letzten Tage wirst du noch richtig dreist!“

„Und du auf deine alten Tage regelrecht leutselig.“ Ein schwaches Lächeln lag auf Ians Lippen.

Doch was jetzt kam, traf Wayne genauso unvorbereitet wie der Kuss zuvor.

„Wachen! Wachen!! Der Herr fühlt sich nicht so gut!“ Ians Stimme füllte den Flur. Er zog seine Finger zu Fäusten und ließ sie dann erschlafft herabhängen, ohne die Arme zurückzuziehen.

„Du…!“ Wayne starrte einen Augenblick überrumpelt und klaubte dann in größter Hast das Papier auf, bevor die Wachen es in die Finger bekommen würden.         

„Genug von deinen Spielen.“ Ian lehnte die Stirn an das kühle Metall und lächelte schwach. Der scheppernde Laufschritt der Wachen wurde überlaut.

„Zurück, du Hund!“ Ein Soldat schlug mit einem Stock dröhnend gegen die Stäbe, die anderen umringten sofort Wayne. Ian zog sich zurück zu seiner Pritsche, bevor der nächste Schlag seine Arme treffen konnte.

„Wir bringen sie raus an die frische Luft, Sir. Es ist vergebliche Liebesmüh sich wegen dieses Gesindels aufzuregen.“

Bevor Wayne aus Ians Blickfeld trat, warf er ihm noch einen langen Blick zu.

„Merk dir meine Worte, Ian. Das hättest du einfacher haben können… aber du warst schon immer jemand, der nicht wusste, wann er aufgeben soll!“ Die letzten Worte waren kaum noch zu hören. „Ich mag das. Ich werde dir in deiner ‚letzten Stunde‘ Gesellschaft leisten.“  

Kapitel 30

>>So bleibt mir nur, ihnen zu sagen: nicht selten im Leben, wird man makabrerweise genau zu dem, was man jagt. Wessen Spiel wurde hier begonnen und wessen Spiel nähert sich dem Ende? Wer raubt und wer schützt? Die Wahrheit kommt mit dem Ende oder das Ende kommt mit der Wahrheit. Wenn die Treue dem Mutterland gehört, dann ist die Ehrenhaftigkeit einem Selbst und das Herz verbleibt auf alle Ewigkeit dem einen, der es erobert hat.<<

 

„Es ist so weit. Raus mit dir!“

Seine Zelle wurde geöffnet. Mehr Worte wären überflüssig gewesen. Es gab keine letzte Völlerei oder das Angebot eine Dirne für die letzten Stunden in Anspruch zu nehmen. Es gab nur einen schwarzen Leinensack, der dicht genug war, um jegliche Durchsicht unmöglich zu machen. Er wurde Ian über den Kopf gezogen, ungeachtet der Tatsache, dass er so nicht ohne Geleit sicher laufen konnte. Ein raues Seil wurde um seine Handgelenke gezurrt. Es saß so fest, dass seine Fingerspitzen weiß wurden und er seine Hände unbehaglich zu bewegen versuchte. 

„Diese Regelung ist albern, sonst können die doch auch normal laufen. Was will er schon anstellen oder großartig anschauen, von dem er noch erzählen könnte?“, schnaufte einer der Wachen.

„Halt die Fresse, Logan!“, wurde prompt geschnauzt. „Es wird schon seine Gründe haben“

Der Zurechtgewiesene murrte etwas Unverständliches über alte Zeiten, als man hier noch respektvoll miteinander umging, schien es aber vorzuziehen, nichts mehr zu sagen. Als er Ian packte, verbreitete er einen Gestank nach ranzigem Schweiß und altem Leder, der selbst noch durch das schwere Tuch wahrnehmbar war.

„Vorwärts!“ Ian wurde gleichzeitig gestoßen und geschoben. Er hatte bereits seit den ersten Schritten die Orientierung verloren, doch selbst, als er stolperte und böse auf einem Knien landete, stand er wieder auf.

„Ich mag ihn, er ist ein Kämpfer“, kollerte einer.

„Er ist ein Verräter.“ Wieder die Stimme, die vorher so verbal ausfallend geworden war. Wahrscheinlich einer der Konstabler.

„Nun, zumindest hält er die Klappe und flennt nicht, wie manche der Ratten hier.“ Mehr gute Worte waren von seiner Seite wohl auch nicht zu erwarten. Es wurde wärmer, sie durchquerten mehrere Räume und schließlich etwas wie einen Garten.  

„Wir sind da. Er gehört jetzt euch.“

Das Gefühl von frischer Luft und Sonne streifte Ians Hände, deren Fingerspitzen bereits einen ungesunden Blauton angenommen hatten. Es war schwer zu sagen, ob ihm sein Knie oder seine Finger mehr plagten, oder ob die Angst, schlichtweg jegliches Empfindungsvermögen abgetötet hatte.   

Was Ian verwehrt wurde zu sehen, war eine ganze Delegation der Palastwache, die mit einem Gefährt auf ihn wartete. Er konnte nur das Geräusch der Pferde ausmachen, die unruhig auf ihren Trensen kauten und deren Hufen auf dem Pflasterstein ein unverwechselbares hohles Klappern erzeugten.

„Wir übernehmen von hier“, bestätigte einer der Reiter. Seine Worte kamen von oben. „Bringt ihn in die Kutsche.“

In der Kutsche wurde der Sitz des Sacks und seiner Fesseln gründlich kontrolliert.

„Lockert ihm den Knoten. Diese Halbaffen wollten wohl, dass ihm die Finger abfallen.“

Der Schmerz, der mit dem Blutstrom kam, der wieder ungehindert in Ians Finger schoss, war so groß, dass er beim besten Willen nicht hätte sagen können, wie die weitere Fahrt verlief - hätte man sich überhaupt die Muße gemacht, ihn zu fragen. Er erwartete seine Hinrichtung, er war es leid, Spielball anderer zu sein. 

Als er wieder bewusst etwas wahrnahm, kniete er auf einem Boden, den Kopf tief gesenkt, die Fesseln gänzlich gelöst, so dass sie nur noch als lockere Schleife um seine Gelenke hingen. Der Kontrast zu dem, was eigentlich mit ihm hätte passieren müssen, war so groß, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Fassung zu finden. Sein Mund war trocken.

„Man nehme ihm dieses lächerliche Tuch ab, ich kann ja gar nichts sehen!“ Eine schneidende Frauenstimme forderte gehorsam. Das Tuch wurde sofort von Ians Kopf gestreift und auch das Seil vollends weggezogen.

Der glatte Marmor zu seinen Füßen, das helle Licht pompösen Fenstern, Kronleuchtern, Spiegeln, alles mit Prunk verziert, musste Ian nach dieser vollkommenen Dunkelheit blenden, wie ein direkter Blick in die Sonne. Er zuckte sichtlich zusammen. Es wusste nicht, was vor sich ging, und das sah man ihm an.

„Ihr könnt euch zurückziehen“, gebar die Frauenstimme in Richtung der, für Ian unsichtbaren, Wachen. „Mit ihm werde ich schon alleine fertig.“

Ian, in seiner Haltung eingefroren, bewegte keinen Finger, aber an seinem Kiefer zuckte stetig ein Muskel.

„Er mag sein Gesicht heben, wenn er es wünscht“, wurde ihm huldvoll angeboten.

Vielleicht wagte er nicht der Aufforderung sofort nachzukommen, vielleicht ahnte oder befürchtete Ian, welcher Anblick sich ihm bieten würde. Es kostete ihn jegliche ihm verbliebene Willenskraft, um den Kopf zu heben.

„Weißt du, wer ich bin?“

„Meine…“ Ians Stimme zitterte, die Faust, die gegen seine Brust schlug, tat es auch. „Meine Königin.“

Vor ihm saß die Virgin Queen, Elisabeth die Erste, Königin von England, aufrecht und das Gesicht mit dicker, weißer Schminke überzogen, das es Ähnlichkeit mit einer Maske angenommen hatte. Nur ihre Lippen leuchteten in einem künstlichen Rot. Ihr festgeschnürtes Kleid und der Kragen hatten ihr eine steife, unnatürliche Haltung aufgezwungen, doch ihr Ton war amüsiert.

„Ihr seid mir leidlich bekannt, wie es euch überraschen mag zu vernehmen.“ Sie machte eine kleine Handbewegung. „Ian McLane, Kapitän des Schiffes ‚Seagull‘, der trotz widriger Umstände, die Treue zum Thron hält, wie mir wiederholt zu Ohren getragen wurde. Ich bräuchte mehr Vasallen wie ihr es seid, mein Leben wäre einfacher“, beschied sie beiläufig.

„Sei es, wie es sei. Ich entschuldige mich aufrichtig für die unangenehme Natur eurer Anreise.“ Ihre Haltung ließ jedoch keinerlei Reue erkennen.

„Ihr ehrt mich“, erwiderte Ian, sich aufrichtend. Es fiel ihm schwer durchzuatmen. Welches Spiel hier gespielt wurde, er wusste es nicht. Der Mundwinkel der Königin zuckte kurz zu etwas, das ein Lächeln hätte werden können. Doch der kurze Eindruck verflog rasch wieder.

„Ihr seid ein stattliches Mannsbild, selbst nach Tagen im Tower. Ich beginne zu verstehen, warum mein teurer Freund euch als Preis haben wollte.“ Sie ließ Ian nicht aus den Augen.

„Er leistet mir gute Dienste in einer heiklen Angelegenheit. Es war ein geringer Preis“, fuhr sie fort.

Verwirrung machte sich in Ians Augen breit und wurde zu Unglauben, als Wayne hinter dem wuchtigen Thron hervortrat, sich vor der Königin verneigte und ihr einen Kuss auf den huldvoll dargereichten Handrücken hauchte. 

„Wayne…“ Es hätte kein Wort gegeben, das hätte erfassen können, was in Ians Mimik vor sich ging. All die kleinen Seltsamkeiten und Ungereimtheiten begannen plötzlich, sich vor seinem inneren Auge zusammenzufügen. Welchen Preis würde er für dieses Wissen bezahlen?

„Es ist normalerweise nicht meine Art derlei infames Intrigenspiel zu unterstützen, doch schwere Zeiten verlangen schwere Entscheidungen.“ Sie hatte die Hände in den Schoß gefaltet. „Ihr kennt den Umstand der Piraten-Freibriefe?“, fragte sie. Das abgehackte Nicken Ians war ihr Antwort genug. „Gut. Im Grunde erlauben wir unseren Piraten unsere… sagen wir  mal ‚weniger lieben Nachbarn‘, um Güter zu erleichtern. Doch Spanien nahm sich diese wiederholten Vorfälle, zusammen mit einem anderen bedauerlichen Zwischenfall, zur Begründung, einen Krieg anzudrohen. Ihre Gier auf unser Land ist ungebrochen, jegliche Rechtfertigung es zu bekommen, wäre ihnen recht, doch ein Krieg würde unsere beiden Seiten einen hohen Preis kosten.“ Etwas an ihrer Stimme war zwingend, selbst wenn Ian Wayne hätte anstarren wollen, er hätte es nicht gekonnt.

„Angesichts ihrer hohen Verluste, für die sie uns die Schuld zuwiesen, haben wir ihnen eine Wiedergutmachung angeboten, um des lieben Friedens willen.“ Abscheu lag in ihren Augen. „Doch die verlangten Summen übersteigen unseren Gutwillen. Jedoch gab es keinen Recht schaffenden Weg, es zurückzufordern, ohne das Angebot zurückzuziehen. Aber wenn das Gold gestohlen würde, wären wir genauso Opfer. Wenn dieses Gold danach wieder zufällig einen Weg zurück in unsere Schatzkammer finden würde, wer würde es erfahren?“ Während die Königin mit ruhiger Stimme weitersprach, betrachtete Wayne Ian mit einem amüsierten Funkeln.

Ians Lippen waren schmal geworden. „Ihr habt uns verkauft.“  Elisabeth bedachte ihn mit einem strafenden Blick, den alsbald hintergründiges Interesse an seiner ausbleibenden Reaktion erfüllte.

„Was ist das Leben ein paar Männer, was sind ein paar Schiffe, wenn wir einen Krieg verhindern könnten, der zahllose Opfer verlangen würde? Es ist die Aufgabe eines Soldaten, sich zu opfern, wenn es seinem Land zum Vorteil gereicht.“ Von den gigantischen Goldsummen ganz zu schweigen, die auf diese Weise gesichert wurden. Doch das musste sie nicht aussprechen, die Worte hangen unausgesprochen in der Luft.

„Das alles war ein Spiel?“, verlangte Ian zu wissen. Er war zu ruhig, seine Haltung unberechenbar.

Er dachte an die 10te Flotte, die in dem Gewissen aufgebrochen war, einen vernichtenden Schlag gegen ein Nest an Freibeutern zu führen, nur um in einen Hinterhalt - ihr Verderben - zu segeln. Keiner von ihnen hätte überleben sollen, der Admiral hätte mit seinem Sohn sterben sollen. Das wusste er jetzt. Hätte es keinen anderen Weg gegeben?   

„Mehr als ein Spiel, Ian. Es war notwendig, dass es echt aussah… echt war.“ Wayne trat mit Eindringlichkeit in Ians Blickfeld, als wollte er all dessen Wut auf sich lenken, bevor die Situation eskalieren konnte. Doch Ian fühlte nur eine unpersönliche Leere, keine Wut. Er hätte schreien und toben können, es hätte nichts an dem Geschehenen geändert. Vielleicht gab es in ganz England nur eine Person, die sich mit dem Gedanken abfinden konnte, für ein höheres Ziel geopfert zu werden.

Und diese Person stand vor dem Thron: er.

Er wäre bereits für weniger gestorben. Niemand, der dem Militär beitrat, konnte sich sein Ende aussuchen, oder für welche niederen oder höheren Zwecke er schließlich den Kopf hinhalten sollte. Selbst wenn es nur hieß, Spanien weiß zu machen, dass die Piraterie nicht unter englischer Kontrolle stand. Dass die Freibeuter sich im Gegenteil, genauso gnadenlos gegen England richteten wie gegen Spanien. Der grausame Verlust an Männern wäre Beweis genug gewesen. Sei es die Vernichtung der 10ten Flotte oder die menschlichen Verluste bei jedem anderen Überfall. Auf gewisse Weise war er einer der Nägel gewesen, der diesen Leinen aus fest gesponnenen Intrigen widerstanden hatte. Er hatte weder sein Mutterland noch seine Ehre verraten – er war sich treu geblieben und daraus zog er die Kraft, der Situation zu trotzen, die sich vor ihm auftat.    

„Wir wussten, dass ihr angreifen würdet. Auch später… welche Route ihr einschlagen würdet, wir wussten, wie viele Schiffe da sein würden.“ Als Ian keine Anstalten machte zu reagieren, wie Wayne es von jedem anderen in dieser Situation erwartet hätte, schien er gegen den Drang ankämpfen zu müssen, zu Ian zu treten und ihn wach zu rütteln. Diesen Mann, den nichts erschütterte, was Entschlossenheit anging, und der den Tod so wenig scheute, dass dieser es anscheinend vorzog, einen großen Bogen um ihn zu machen. “Das Gold war nie dazu bestimmt, bei uns zu bleiben… aber du warst es.“

„Wie viele wussten davon?“, drängte Ian zu wissen, während er einen Schritt auf Wayne zutrat.

„Genug, um es funktionieren zu lassen, nicht mehr. Nicht alle meine Freibeuter, wenn du das meinst. Es wurde genug ausgezahlt alle Nichtwisser nicht misstrauisch werden zu lassen, das muss reichen. Es war von Anfang an eine undankbare Aufgabe.“ Waynes Antwort war schlicht, aber ein zweideutiges Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. „Zum Wohle Englands.“

„Die Tauben, die Briefe mit Siegeln…“, formte Ian tonlos. Der Brief mit dem königlichen Siegel.

„Meine Zuteilung in deine Mannschaft“, fügte Wayne unbeschwert an, sein Blick forderte Ian auf, weiterzumachen.

„Eine Insel direkt an der Küste, die niemand beachtet… nein, beachten darf.“ Ians Worte wurden immer gepresster, Waynes dafür umso lebendiger.

„Der Befehl die Suche nach dir einzustellen.“

„Meine Verurteilung.“

„Deine Verurteilung“, bestätigte Wayne.

Ians Hand sank kraftlos an seine Seite. „Hat es wenigstens funktioniert?“ Er konnte den harten Unterton nicht verbergen, der mitschwang.

„Nein.“ Die Königin hatte sich erhoben, ihre Gestalt aufrecht und steif. „Die Verhandlungen mit Spanien sind gescheitert, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum Krieg kommt. Frieden war nie eine Option, egal ob nun erschwindelt oder ehrlich erworben. Das ist mir jetzt klar.“

„Warum bin ich hier?“ Ians Augen waren klar geworden, frei von jeglichen Schatten. Zwischen diesen Rädern war er ein Niemand und doch schien er eine Rolle zu spielen. Es wurde Zeit zu erfahren, ob diese nun enden würde.

„Um zu sterben.“ Elisabeth bedachte ihn ungerührt. „Der Mann der Ian McLane war, wird heute sterben.“ Ihr Blick wanderte für einen Augenaufschlag zu Wayne, der leise lachte und sich leicht verneigte. „Genau, wie Wayne damals gestorben ist.“

Wie eine Statue stand sie vor dem Thron, schien das Gewicht ganz Englands auf den Schultern zu tragen. „Wir werden jeden fähigen Mann brauchen, wenn unsere Flotten in See stechen. Doch scheint ihr euch selbst im tiefsten Elend geweigert zu haben, dem Drängen Waynes nachzugeben und euch ihm anzuschließen. Darum hört meine Worte Ian McLane.“ Sie ließ keinen Raum für Widerspruch, das war ihre Stimme als Herrscherin, die nichts als absoluten Gehorsam anerkannte. „Ihr werdet ab heute euren Namen und eure Vergangenheit unwiederbringlich ablegen. Ihr werdet euer Schiff und eure Mannschaft bekommen und ihr werdet ausfahren, um unser Land zu verteidigen. An diesem Tag wird es keinen Unterschied zwischen Militär und Piraten geben! Wir werden gemeinsam für unser England kämpfen, bis das letzte spanische Schiff sinkt!“   

So laut war sie geworden, dass ihre Stimme von den Wänden widerhallte. 

„Wie lautet eure Antwort?“, fragte sie, übergangslos zur normalen Sprechlautstärke zurückfindend. 

Ian atmete tief ein und langsam wieder aus, für einen langen Augenblick trafen sich Waynes und seine Augen, Waynes grün, seine blau. Zurück auf das Meer, zurück zu seinen Pflichten, zurück an die Seite des Mannes, dessen Leichtsinn keine Grenzen kannte… Es gab nur eine Antwort. Ian schlug die Faust in der Geste eines Saluts auf die Brust und verneigte sich tief.

 

>>Seite an Seite. Schiff an Schiff. Das Deck zu unseren Füßen. Das schäumende Meer als unser Zeuge. Einem ungewissen Krieg, einem ungewissen Morgen entgegen. Soll der Sturm kommen, wir werden nicht fallen: für Herz und Ehre!<<

Ende

 

 

Nachwort

Zum Abschluss ein paar Worte für alle Interessierten. Die Virgin Queen, Elisabeth die Erste, gab es natürlich. Ich will mich hier nicht zu Jahreszahlen und ihrem auslassen, dazu finden sich viel bessere Ausführungen (als ich je hinbekommen würde) in jedem Geschichtsbuch.

Freibriefe, die es erlaubten, fremde Handelsschiffe zu kapern (‚ausliegen‘), waren im Mittelalter weit verbreitet. ‚Auslieger‘ bildeten nicht selten einen Großteil der militärischen Kriegsflotten. Zu Elisabeths Zeiten wurde englische Piraterie an spanischen Flotten ein entscheidender Grund (neben der Hinrichtung Maria Stuarts) für Spanien, den Krieg mit England und dessen geplante Invasion voranzutreiben. Ausgleichszahlungen gab es natürlich zu keinem Zeitpunkt. Diese sind von mir genauso erfunden, wie die Inselgruppe Lor, auf der Dracosta und seine Freibeuter ihr Lager errichtet haben.

Aufzeichnungen über Brander, auf gewisse Weise Schiffe auf Kamikaze-Mission, sind bereits aus der Antike bekannt, und Nachweise über deren Einsatz ziehen sich bis in die frühe Neuzeit. Wer sich ein wenig mehr mit dieser Materie beschäftigen möchte, dem kann ich nur empfehlen, auf einschlägigen Webseiten die faszinierenden Details nachzulesen. Was das Laster des Rauchens angeht: der Tabak kam zwar mit der Entdeckung Amerikas nach Europa, die Zigarette – wie sie heute bekannt ist - gab es allerdings erst sehr viel später, so dass Tabak in dieser Epoche wohl vor allem in Pfeifen und auf Glutbecken gelandet sein dürfte (und weniger in gerollten Zigaretten, wie in dieser Geschichte).   

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die es mir möglich gemacht haben, diese Geschichte zu schreiben. Allen voran meine Freundin Ilka, die mich nicht nur zum Schreiben ermutigt, sondern mich als Erste auf den Geschmack gebracht hat. Bis heute muss sie sich als Erstes durch meine Texte quälen, auch wenn ihr hier und da mal einer Kopfschmerzen bereitet. Ich danke auch den Lesern auf der – mittlerweile geschlossenen - Jadedynastie Seite, die sich mit den ersten Kapiteln meiner fehlergespickten Rohfassung rumschlagen mussten (damals noch unter dem Namen ‚Heart and Honour‘). Ich danke insbesondere Absolutely Black Rain, die es geschafft hat, mich in den Weiten des Netzes aufzuspüren, und die bereit war, die (immer noch fehlergespickte und nicht fertige) Geschichte in ihre Sammlung aufzunehmen, und mich zum Weiterschreiben zu animieren. Danke an alle, die mir mit ihren vielen Kommentaren Mut zugesprochen haben! 

Und ‚last but not least‘ danke ich ihnen, dass sie Ians und Waynes Reise bis zum Schluss begleitet haben!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

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