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Anfang

Anfang

 

Jede Geschichte beginnt mitten im Leben,

meistens dann, wenn niemand sie erwartet.

Nimm dich in Acht, mein Kind,

denn es gibt solche,

welche die Wahrheit sagen.

 

 

 

In den vergangenen Tagen hatte sich der schneidende Nordwind zu starken Winden gesteigert. Gewaltige Wolkenmassen sammelten sich über die Ebene von Obion an, denn das Gebirge von Ovon wirkte wie eine undurchlässige Mauer und aus einem dauernden Herbstregen wurde ein enormer Wolkenbruch. Dieses Unwetter hatte König Toren dazu gezwungen, seine Männer zurückzurufen. An einem Zeitpunkt in dem seine Armee die Überhand gegen die Unih hätte erringen können, begann sich die große Ebene mit reißenden Wasserströmen zu füllen und die Krieger waren genötigt, ihren Kampf zu vertagen. Im abscheulichen Wettergeschehen sah sich der schwarze König Toren genötigt, eine weitere schwere Entscheidung zu treffen. Er rief nach zwölf seiner besten Ritter und vertraute ihnen eine wertvolle Fracht an, diese sollte auf den schnellsten Weg zurück in die schützenden Mauern von Haguz Bri-las geschafft werden.

Gehorsam jagte die Reiterei durch den dunklen Wald, angeführt von Orgond, ein Mann aus einfachem Hause, der sich im Verlauf des Krieges Dank seines Mutes und seiner Ausdauer einen hohen Rang in der Nähe seine Monarchen erkämpft hatte. Er spürte nun, wie die Erschöpfung in seinen Gliedern bebte und er wusste, dass ihm eine strapazierende Reise von zweieinhalb Tagen auf Pferderücken bevorstand. Die Erde des Waldes war aufgeweicht, durchtränkt, viele Bäume vermochten dem Sturm nicht mehr standzuhalten und gaben nach, brachen nieder, fielen machtlos auf andere, rissen ihre Brüder mit in den Sturz. Die Natur fügte sich dem Unwetter, denn so war der Lauf der Dinge. Die Launen des Himmels entschieden über das Leben eines jeden in Ravan. Hoch über den Wipfeln des riesigen Urwaldes donnerte und grollte ein Herbstgewitter. Unter den ungehaltenen Kräften eines Unwetters herrschte ein namenloses Chaos, zum Regen mischten sich harte Hagelniederschläge. Die Pferde wieherten gepeinigt von den peitschenden Eisklumpen und Orgond sah sich gezwungen, seinen Ritt zu verlangsamen und nach einem Unterschlupf zu suchen. Die Nacht war sehr früh eingebrochen, der finstere Himmel verschluckte jedes Licht, eisig rann Regenwasser unter seiner Rüstung, seine Kleider waren komplett durchnässt. Er rief nach Charel und Taren, seine nächsten Begleiter, Männer, auf die er zählen konnte.

„Wir haben bereits zwei Reiter verloren!“, verkündigte einer von ihnen. Der Mann brüllte aus Leibeskräften, damit er im Tosen des Wetters und Rauschen der Bäume überhaupt erhört werden konnte.

Es war unmöglich anzuhalten, sie mussten weiter, Schritt für Schritt, mit der Hoffnung, etwas Ruhe im Morgengrauen zu bekommen. Zu Orgonds Erschöpfung mischte sich die beklemmende Sorge, nicht den direkten Weg zurück nach Haguz Bri-las zu nehmen. Konnte er sich einfach auf den Überlebensinstinkt seines panischen Pferdes verlassen, welches aus seinem unruhigen Schritt in einen nervösen Trab fiel und dabei immer öfter ausrutschte. Es blieb ihm keine andere Wahl, als abzusitzen und zu Fuß weiterzugehen, seine Männer folgten ihm dicht. Er sah verbittert wie zwei sich mit ihrer Fracht abquälten, um diese quer über den Pferdesattel zu legen. Diese Nacht kam zweifelsohne der Vision eines Weltendes nahe, so fühlte er sich. Was sein Gebieter ihnen anvertraut hatte, war nichts weniger als der erschöpfte Körper der Königin Loris. Schwerverletzt war sie in der letzten Schlacht gefallen und wenn sie außerhalb der Mauern von Haguz Bri-las ihr Leben verlieren würde, haben ihre Kinder kein Erbrecht auf den Thron ihres Vaters. Loris war nämlich keine Gebürtige aus der königlichen Stadt, sondern die Tochter einer alten Familie, die ihr Leben im Wald Ravan fristete. Nie hätte sie dieses Risiko auf sich nehmen sollen, dachte Orgond bei sich und haderte mit jedem schweren Schritt über den matschigen Waldboden. Ganz gleich was für eine begnadete Kämpferin sie auch gewesen sein mochte, der Zeitpunkt war gekommen, an dem er nicht mehr an ihr Überleben glauben konnte. Jedes Lebewesen konnte im nächsten Augenblick von einem Baum erschlagen werden. Der mächtige Wald Ravan fügte sich den Launen der Welt, während Orgond und seine übrigen Männer fast besinnungslos vor Angst und Erschöpfung den sinnlosen Gesetzen ihres Königreichs befolgten. Orgond wusste, dass er noch keine vierzig Jahre alt war und das Leben es ihm bislang nicht ermöglicht hatte, eine Familie zu gründen. Vielleicht würde er eines Tages zu jenen gehören, die innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las in der Gnade des Königs leben durften, wo seine Vorahnen es nie geschaffte hatten, ein sicheres Haus in der Stadt zu erbauen.

 

Haguz Bri-las hatte Orgond aus den Augen eines Jungen in Form von mächtigen Mauern gekannte. Seine Familie lebte außerhalb der Stadt, sein Vater war ein Schmied, wie alle Männer aus seiner Familie. Sobald er alt genug war, um seinen Vater einmal im Monat auf den Markt zu begleiten, um ihm dort beim Verkauf seiner Waren zu helfen, ward auch er ins Innere eingelassen, dort wo die Bridônen lebten. So hatte er die Stadt kennengelernt. Sobald sie das erste Tor durchquert hatten, vermochte er die riesige Mauer von Innen zu sehen. Dort hafteten dicht an dicht enge Behausungen und die Leute lebten beengt, aber sie gehörten zu jenen, die es sich leisteten, in Haguz Bri-las zu leben.Orgond hatte als Junge miterlebt, wie sein Vater sich von einem Markt zum nächsten vorarbeitete. Wollte er seine Waren im nächsten Viertel anbieten, musste er eine weitere Steuer als Nichtanwohner am Tor der nächsten Mauer bezahlen. Insgesamt gab es sieben Stadtringe, die im Lauf der Generationen um den Kern von Haguz Bri-las erbaut worden waren. Je dichter man an den Sitz der königlichen Familie kam, desto gepflegter erschienen die Gassen und Straßen. Die Märkte waren besser überwacht und sein Vater konnte seine Waren teurer anbieten. Am Ende eines langen Markttages mussten alle die draußen lebten, die Stadt wieder verlassen, wenn sie ihren Gewinn nicht in teuren Tavernen ausgeben wollten.

Orgonds Erinnerungen spielten sich  für eine Weile in deutlichen Bildern vor seinem inneren Auge ab und gaben ihm eine gewisse Zuversicht. Für einen kurzen Moment dachte er nicht an die finstere, tosende Umgebung, in der er sich mit seinen Männern befand, sondern ging Schritt für Schritt dicht neben seinem treuen Pferd. Als Junge hätte er es sich nicht träumen lassen, dass ihm eines Tages die wertvollsten Schlachtrösser anvertraut würden, um mit anderen Männern in den Krieg zu reiten. Doch sein Vater hatte sich dazu entschieden, ihn in den Dienst an die Armee zu schicken. Damals als er eigentlich glaubte, seine Lehrjahre als Schmied weiterzuführen, waren Unruhen im Volk aufgekommen. Die Jahre der sieben Könige, wurde diese Epoche genannt, denn eine siebenköpfige Bruderschaft kämpfte um den Thron. In dieser Zeit war der Bedarf an kräftigen jungen Männern groß, denn jeder, der in der Lage war, mit Waffen ausgerüstet zu werden, konnte sich von den reichen Herrschaften ausbilden lassen. Es wurde gesagt, dass die Bridônen zu ihrem eigentlichen Handwerk zurückfinden sollten, denn es gäbe kaum bessere Krieger in anderen Ländern. Einsetzbare Männer konnten überall gebraucht werden. Orgond hatte das Leben als Söldner wie viele andere Männer erfahren. Bis eines Tages Toren, der jüngste von den sieben Prinzen gekrönt worden war. Diesen Tag würde er nie vergessen, er hatte neben seinen Waffenkameraden im herrschaftlichen Hof vor dem Eingang zum Schloss gestanden. Das Volk hatte sich zu einer dichten Menge versammelt, um seinen neuen König, dessen Gemahlin und ihre Kinder zu begrüßen. Toren hatte sich sein Leben lang von den tödlichen Intrigen am Hof ferngehalten und sich den Gefahren des Waldes gestellt. In Ravan hatte er seine Frau Loris kennengelernt und dort mit ihr gelebt, seine Kinder sind in Ravan geboren worden und die einzigen legetimen Nachkommen der königlichen Dynastie. Alles was von seinen Brüdern übriggeblieben schien waren die sechs Banner, die am Tag von Torens Krönung unter einem strahlenden Sommerhimmel im Wind wehten und ein unzufriedenes Volk, welches sich nach Frieden und Wohlstand sehnte. Zwei Jahre war es Toren gelungen, sein Versprechen seinen Untertanen gegenüber zu halten, bevor der Krieg gegen die Unih ausgebrochen war.

Ein furchtbares Krachen erschütterte Orgond, das Pferd an seiner Seite zerrte an seinen Zügeln und wollte sich aufbäumen. Orgonds Hände verkrampften sich um die nassen Zügel und er spürte wie kräftige Baumzweige ihm ins Gesicht peitschten. Benommen nahm er die Rufe und Schreie seiner Männer wahr, bevor er realisierte, dass unmittelbar vor ihm ein Baum niedergestürzt war. Er fühlte sich hart von seinen Kumpanen am Arm gegriffen und fortgezerrt. Er musste auf den Beinen bleiben und zusehen, dass er und seine Leute heil aus diesem Chaos entkommen mochten.

 

*

 

Der älteste Turm von Pfarox war der höchste und die Prinzessin Cethis mochte seinen merkwürdigen Namen, der rote Hahn, genau richtig für ein siebenjähriges Mädchen, das sich gerne allein in der Schlossburg herumtrieb . Der rote Hahn war aus rohem Stein gebaut, verfügte über keine Fenster, sondern ließ das Licht nur durch schmale Schlitze ins Innere der langen Wendeltreppe. Durch diese Schlitze zog stets der Wind und es war immer kalt im Turm, doch wenn sie es erst einmal bis hoch hinauf geschafft hatte, war sie völlig aus der Puste und ihr war warm. Die letzte Stufe war so hoch, dass sie sich mit beiden Armen hochstemmen musste und mühsam ihre Beine auf den unebenen Steinboden schob. Ihre Hände waren staubig und sie wischte sich kurz an ihrem Kleid ab, bevor sie sich an den Rand stellte. An einer Ecke waren Steine aus der Mauer heraus gebrochen, so dass sie als Kind weit über das Land schauen konnte. Von hier aus konnte man am weitesten den Wald Ravan überblicken und Cethis versuchte sich auszumalen, was die Leute von damals, die diesen Turm erbaut hatten, wohl zu erspähen hofften? Die Einwohner des Waldes verstanden es, sich ungesehen an die Burg heranzupirschen. Obdaro, der treue Begleiter ihres Vaters, hatte ihr erklärt, dass die ersten Unih als erstes die Burg Pfarox erbaut hatten, um sich selbst und ihre Familien von den Gefahren des Waldes zu schützen. Aus dieser Zeit stamme der rote Hahn. Heute war die ganze Stadt Haguz Bri-las mit Türmen versehen. Obdaro hatte ihr erklärt, dass jede wohlhabende Familie der Bridônen ihren Reichtum mit einem Turm verdeutlichen wollte. Allein in der Burg Pfarox gab es allerhand Türme und dem Mädchen war es noch nie gelungen, sie alle zu zählen, denn manche waren nie fertig gebaut worden. Sie wusste nicht, ob sie diese dazuzählen sollte, oder ab welcher Höhe ein enges Gebäude als Turm bezeichnet werden konnte. Sie hatte Obdaro gefragt, wann ihr Vater einen Turm erbauen lassen würde, denn er sei immerhin König der Bridônen. Daraufhin hatte Obdaro gequält gelächelt, sie beruhigend auf den Kopf getätschelt und gesagt: “Nach dem Krieg, mein Kind, nach dem Krieg.“

Cethis konnte sich nicht erklären, warum die Leute sich lieber hinter hohen Mauern versteckten, anstatt zu lernen, wie man im Wald leben kann. Um das zu verstehen, sei sie noch zu klein, hatte man ihr gesagt. Sie war es leid, dass sich niemand Zeit nahm, ihre wichtigen Fragen vernünftig zu beantworten. Also kletterte sie gerne allein dem roten Hahn hinauf und blickte zum Wald, der ihr jetzt so weit entfernt erschien. Sie sollte sich daran gewöhnen, im Schloss zu leben, wurde ihr angeordnet, doch sie mochte das Leben in den dunklen Gängen und Räumen nicht. Vom Turm aus hatte sie das aufkommende Wetter fasziniert beobachtet und als die ersten Donnerschläge hoch in den Wolken ertönten, hatte das Mädchen den Eindruck gehabt, der Turm sei tief in der Erde erschüttert. Ihr langes, hellbraunes Haar wehte in wilden Strähnen um den Kopf und sie blieb tapfer bei ihrem Ausguck stehen. Sie spürte, dass es gefährlich war, bei dem Wetter hier oben zu sein, doch sie wollte sich nicht fürchten. Sie wollte bis zum Rückkehr ihrer Mutter hier warten, und sollte der Turm einstürzen, wäre ihr das gleichgültig. Das würde den Erwachsen recht geschehen, wenn sie heimkehren würden, könnten sie unter den Trümmern des alten Turmes nach ihr suchen. Sie mochte die dicken Stadtringe von Haguz Bri-las nicht. Es war unmöglich, ungesehen dem Schloss Pfarox zu entkommen, doch glücklicherweise hatte ihr Obdaro vor einiger Zeit einen unterirdischen Weg gezeigt. Einen langen Tunnel, der nichts für Ängstliche war. Sie kannte den Weg an den Kammern vorbei, dort wo einst Gefangene gehalten wurden und es übel stank, allerhand rutschige Treppen tiefer unter die Erde bis es nach Waldboden und kaltem Steinen roch. Sie hatte gelernt, wie man das Feuer einer Fackel entfacht und fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Obdaro hatte ihr und ihrem Bruder diesen Weg gezeigt, denn er diente dazu, dass die Einwohner des Schlosses direkt in den Wald entfliehen konnten. Diesen Weg zu hinterlegen, war ein langes Unterfangen, doch er war die Mühe wert. Wenn sich endlich der Ausgang zeigte, befand sie sich im Wald. Seit ihre Eltern sich nicht mehr am Hof aufhielten, war Cethis oft der Aufsicht ihrer Bediensteten entwischt. Doch offensichtlich waren die Leute es leid, nach ihr suchen zu müssen und hatten den Zugang zu den unterirdischen Räumlichkeiten mit einem dicken Schloss zugesperrt und Cethis hatte nicht die geringste Ahnung, wer wo den Schlüssel aufbewahrte.

Der Sturm heulte um den Turm herum und heftiger Regen prasselte auf das alte Dach, sie betrachtete die finsteren Balken über ihrem Kopf, welche unter den Windböen ächzten. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass sie kaum noch Einzelheiten erkennen konnte. Sie spürte, wie der Stoff ihres Kleides vor Nässe schwer wurde und ihre Haare wehten auch nicht mehr im Wind, weil sie nass am Kopf klebte. Ihr war kalt, doch sie blieb verbissen in der Finsternis stehen und beobachtete den dunklen Sturm.

Im Schloss wurde nach ihr gerufen, doch die Stimmen waren vom Lärm der Natur verschluckt und Cethis bemerkte erst das flackernde Licht von Laternen an den Wänden der Treppen, als sich ein paar der Bediensteten gewagt hatten, den Turm zu erklimmen. Kaum hatten sie die Prinzessin dort entdeckt, schimpften und fluchten sie, packten sie roh an den Schultern und schleppten sie wieder mit sich runter. Andere warteten dort und einer von ihnen hielt ein weiteres Schloss in den Händen, um die Tür zum Roten Hahn ebenfalls zu verschließen. Cethis prägte sich  das hagere Gesicht des dürren Mannes ein und nahm sich vor, ihn in den kommenden Tagen zu verfolgen, denn sie war sich sicher, dass er auch den Schlüssel zu den unterirdischen Gängen hatte. Die Leute um sie herum zankten sich und schimpften sie aus, aber sie hörte nicht hin, ließ sich bis zu ihrem Gemach bringen, wo sie sich trotzig aus den Händen der Bediensteten befreite, die letzten Meter davon lief und mit aller Kraft die schwere Tür ihres Zimmers hinter sich zuknallte. Sie wollte keinen von diesen Menschen kennen, denn sie waren alle unangenehm, liederlich und gemein. Die Prinzessin hatte begriffen, dass diese Menschen den König und sein Gefolge fürchteten und nur deshalb ihre Aufgaben ordentlich ausführten. Aber ihre Eltern waren schon so lange fort, dass sich niemand mehr um Recht und Ordnung zu kümmern schien. Wütend und enttäuscht setzte Cethis sich auf ihr ungemachtes Bett und beobachtete das zuckende Leuchten der Blitze am Himmel durch die bunten Glasscheiben ihres hohen Fensters. Der Regen prasselte an die Scheiben und machte ungeheuerlichen Lärm. So brauchte sie die Stimmen der unangenehmen Leute hinter der Tür nicht zu hören. Die würden ohnehin verstummen und sie hätte ihren Frieden.

Nach einiger Zeit wurde die Tür langsam aufgeschoben und Cethis blinzelte in die Richtung. Sie hatte es versäumt zu zwinkern und bemerkte, wie ihre Augen brannten und auf einmal Tränen aufstiegen. Ihr Bruder Brimon hatte die Tür geöffnet, war in ihr Gemach geschlüpft und schloss sorgfältig hinter sich zu.

„Was war denn los?“, fragte er und setzte sich zu seiner Schwester auf das Bett. Cethis zuckte mit den Achseln.

„Was soll schon los sein? Nichts weiter, ich war ob auf dem Roten Hahn und die blöden Leute haben mich wieder runter geholt.“

„Warum warst du bei diesem Sauwetter dort oben?“

„Wir können nicht mehr in den Wald gehen, weißt du das?“

„Ja, sie haben den Gang zu den Kerkern abgesperrt.“

„Und wie sollen wir jetzt in den Wald kommen? Es ist unmöglich, an den Wachen vorbei zu schleichen, durch die ganze Stadt zu laufen. Wir sind jetzt eingesperrt!“

„Warst du etwa wieder im Wald?“

„Ja.“

„Warum hast du mich nicht mitgenommen?“

„Weil du nie mit mir zusammen die Hexe Brinhinda besucht hättest!“

Brimon runzelte die Stirn und überlegte einen Moment.

„Warum nicht? Du hast mich nicht einmal gefragt.“

„Und? Was hätte das geändert? Wärst du mitgekommen? Sowieso wollte ich allein mit ihr sprechen, genauso wie Vater es auch immer getan hat.“

„Wie bitte?“

Cethis winkelte ihre Beine an, schlang ihre Arme darum und ließ ihr Kinn auf ihren Knien ruhen.

„Woher kannst du wissen, das Vater allein bei der Hexe war?“, verlangte Brimon zu wissen.

„Weil ich ihm gefolgt bin. Aber das ist schon lange her.“

„Wie lange?“

Cethis blickte ihrem Bruder streng an und seufzte.

„Seit wir hier leben!“

Brimons Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, er ahnte, dass seine Schwester Dinge gesehen und gehört hatte, die ihm zwar verborgen geblieben waren, die er aber tief in seinem Herzen ahnte.

„Und was hat sie dir gesagt, die Hexe?“

„Dass der Sturm kommen würde und nach dem Krieg eine neue Königin in Haguz Bri-las herrschen würde.“

„Und du glaubst diesem blöden Gerede?“

„Mit dem Sturm hatte sie jedenfalls Recht ...“

„Wir haben immer im Herbst Stürme, das kann jeder voraussagen!“, schimpfte Brimon, doch seine Worte wurden von einem lauten Klirren unterbrochen. Unzählige Stücke von Glasscherben splitterten auf den Steinboden. Die Kinder schraken auf. Der Wind hatte das große Fenster aufgedrückt und sie Läden klapperten haltlos im Sturm wobei die bunten Scheiben zerbrachen und zwischen den wallenden Vorhängen die Stücke wirbelten. Cethis packte ihren Bruder fest bei der Hand und zerrte ihn mit sich vom Bett. Rasch eilten die beiden zur Tür, schoben den schweren Riegel beiseite und rannten über den breiten Flur zum Treppenturm. Sie hörten aufgeregte Stimmen von den unteren Geschossen und eilten die Treppen hinunter. Die Zwillinge erreichten eine lange Balustrade, von der aus sie den Saal sehen konnten, in dem einst die königliche Familie große Banketts gegeben hatte. Menschen riefen einander zu, sie sollten sich beeilen und hasteten durch den Saal dem Ausgang entgegen. Die Zwillinge warfen einander einen verstehenden Blick zu und rannten den Leuten hinterher. Cethis bemerkte gerade, wie lang und ungepflegt dass Haar ihres Bruders war, auch der einst helle Stoff seines Hemdes strotzte vor Dreck. Sie wusste, dass sie nicht besser aussah, aber jetzt war ihr das gleichgültig. Neben ihrem Bruder zu rennen gab ihr Vertrauen. Die Kinder waren gleich groß, ihre weiten graublauen Augen und dieselbe Haarfarbe ließen keinen Zweifel daran, dass sie Zwillinge waren. Während die beiden mit klopfenden Herzen die große Halle hinter dem Saal durchquerten, spürten sie, dass etwas nicht stimmte. Cethis warf einen raschen Blick zurück in die Halle, in der sie mal Ritter auf prächtigen Pferden paradieren gesehen hatte. Heute hingen an den hohen Wänden die Wappen und Fahnen ihrer Vorfahren stumm im nervösen Flackern von vereinzelten Fackeln, während Dienstleute des Hofes ängstlich den Rufen der anderen folgten, um zu sehen, was sich draußen abspielte.

Auf dem Hof der sieben Prinzen hatten sie eine beachtliche Menschenmenge angesammelt, Pferde wieherten und Hufe klapperten laut über das Pflaster. Die gehissten Banner der königlichen Familie waren im Sturm zerrissen und peitschten wie schwarze Gespenster in der Dunkelheit. Alle Aufmerksamkeit galt den gerade eben eingetroffenen Reitern. Die Ankunft der geheimnisvollen Reisenden hatte mitten in der Nacht die Anwohner von Haguz Bri-las trotz des Unwetters aus ihren Häusern gelockt.

„In die Kapelle! Bringt sie in die Kapelle!“, befahl eine laute Männerstimme. Brimon und Cethis drängelten sich durch die Menschenmenge, um bis zum besagten Ort vorzudringen. Zwischen den Leuten erkannte sie, wie die Reiter absaßen und sich beeilten, etwas Schweres ins Innere der Kapelle zu schleppen. Sie sah, wie ihr Bruder sich duckte, um zwischen den Beinen der Umstehenden der Menge zu entkommen. Sie raffte den Saum ihres Kleides zusammen und tat es ihm gleich.

Männer in langen Kutten, welche den Priestern dienten, beeilten sich, Fackeln in der Kapelle zu entzünden, die Ritter mit ihren schwarzen Rüstungen beugten sich vor dem Altar nieder und legten ihre Last dort ab. Cethis und Brimon beobachteten deren von Entsetzen und Besorgnis gezeichneten Gesichter. Einer der Priester war anwesend, neben ihm stand ein Heiler, stützte sich auf seinem riesigen Stab ab und beugte sich langsam zum Körper hinunter, welcher in dunklen schweren Stoff eingewickelt dort lag. Behutsam schob der Heiler mit seiner knochigen Hand das Tuch beiseite und offenbarte das bleiche Gesicht der Königin Loris. Es schien als habe sie ihre Augen zum Schlaf geschlossen, doch jedes Leben war aus ihren Wangen gewichen, ihre Lippen waren völlig bleich. Ihre Augenlieder waren von dunklen Schatten unterlaufen, sie gehörte nicht mehr zu den Lebenden. Bei diesem Anblick fühlte Cethis mit einem Mal wie die eisige Kälte ihres nassen Kleides von ihrem Körper Besitz ergriff, während tief in ihrem Bauch eine scharfe Kante zu brennen schien und ein unkontrollierbares Zittern ihre Gliedmaßen ergriff.

„Loris hat ihr Leben innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las verloren!“, verkündigte der Priester mit kalter Stimme. „In der Geborgenheit ihres Hauses Pfarox gehört sie auch als Kind des Waldes Ravans zu den Bridônen!“ Die Prinzessin blickte ihn strafend ins Gesicht, während ihr Bruder sich dem Leichnam näherte und sich über Loris Gesicht beugte. Die Hautfarbe ihre Bruders erschien in diesem Moment ebenso bleich wie jene der Verstorbenen. Brimons Augen schimmerten nass, doch er brach nicht in Tränen aus. Der Priester sprach zu den Umstehenden und gebot, zurückzutreten, doch Cethis nahm keine Worte wahr. Seine Stimme vermischte sich dem anhaltenden Lärm des Sturms draußen. Sie wollte nur noch hier bleiben, in der Nähe von Loris und sich nicht mehr von der Stelle rühren, sie kauerte sich neben sie auf die kalten Steinstufen vor dem Altar. Es war unbequem, aber das Mädchen achtete nicht darauf, ihr Fuß rutschte auf dem Stein ab, also zog sie ihre Beine noch dichter an ihren Körper, um auf dieser engen Stelle sitzen zu bleiben. Jemand beugte sich zu ihr hinab, es war einer der Reiter, doch sie kannte seine Augen nicht. „Bleibt bei eurer Mutter. Sie ist im Kampf gegen die Unih verletzt worden, sie war eine außerordentliche Schwertkämpferin“, sprach der bärtige Mann und nahm seinen Helm ab, damit die Prinzessin sein Gesicht sehen konnte. Cethis beobachtete eindringlich seine stockenden Bewegungen, seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen, deren Leder durch Schutz hart geworden war.

„Ich weiß!“, erwiderte sich mit überraschend fester Stimme. Die Umstehenden, die sie vernommen hatten, verstummten und blickten verwundert in ihre Richtung. Das Mädchen ließ sich von dieser Aufmerksamkeit nicht einschüchtern, im Gegenteil, sie musterte jedes Gesicht in ihrer Nähe. Sie erkannte niemand, doch sie spürte, dass diese Menschen nicht ihre Freunde waren und wehe dem, der sie von hier wegschicken wollte. Plötzlich wandte sie sich wieder ihrer zu Mutter und begann mit ihren kleinen Händen die dicken Stoffhüllen vom Körper der Toten zu lösen, damit jeder Loris in ihrer Rüstung sehen konnte. Cethis tastete an den Beinen entlang hin zu den Stiefeln, denn sie wusste, dass sich dort eine Klinge verbarg. Sie hatte ihrer Mutter dabei zugeschaut, wie sie sich ausrüsten ließ und ihre Waffen verstaute, damals an einem sonnigen Spätsommertag bevor sie die Stadt mit dem Heer der Bridônen verlassen hatte. Als sie den Griff des Dolches erfühlte, löste sie die Waffe langsam aus seinem Schaft und beobachtete dabei, wie ihre Hände vom vergossenen Blut der Königin dunkel geworden waren. Endlich hielt sie den schweren Dolch aus dunklem Stahl in ihren Händen und betrachtete ihn. Er gehörte jetzt ihr und sie entschloss, sich nie wieder von dieser Waffe trennen.

„Ihr seid jetzt vom im Krieg vergossenen Blut getauft und werdet nicht ruhen, bevor Eure Rache gestillt ist“, sprach der Reiter an Cethis Seite, der Klang seiner tiefen Stimme beruhigte sie merkwürdiger Weise und die Prinzessin blickte ihn erneut in die Augen.

„Wie ist dein Name, Soldat?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich nenne mich Orgond, Majestät und es war Euer Vater, der mir die letzte Reise Eurer Mutter anvertraut hat.“ Cethis nickte und schloss erschöpft die Augen, sie versuchte sich zu sammeln und atmete einmal tief durch.

„Sagt den Leuten, sie sollen die Kapelle verlassen! Ich will mit meinem Bruder allein sein!“ Cethis fühlte sich ausgelaugt, in ihrem Kopf herrschte eine unsägliche Leere, als habe der Sturm alle Gefühle und Gedanken fort gefegte. Die Fremden sollten ihre Mutter nicht mehr ansehen, sie wollte in Ruhe gelassen werden und war diesem Orgond dankbar dafür, wie er ihren Befehl ausführte und die Menschen allmählich die Kapelle verließen.

Der Priester blickte ratlos von den Kindern, der toten Königin zu den schwerbewaffneten Reitern. Orgond wartete, bis seine Kumpanen Charel und Tarren die Türen der Kapelle geschlossen hatten. Er war erleichtert, dass die beiden noch am Leben waren. Von den Zwölfen waren nur fünf Reiter übrig geblieben, was aus den anderen geworden war, wusste er nicht. Sie waren im Chaos des stürmischen Waldes verloren gegangen.

„Heiler, sieh zu, dass meine Männer was zu essen bekommen!“, befahl er. Der Priester nickte eifrig bekräftigend und ordnete seinen Dienern mit flüsternden Worten und hastigen Handbewegungen an, dem Heiler bei dieser Aufgabe behilflich zu sein. Orgond blickte ihnen nach und setzte sich endlich neben die Kinder und den Leichnam auf die Altarsstufen. Charel kam mit schleppenden Schritten entgegen und reichte ihm eine verdreckte Feldflasche, in der sich noch etwas von dem scharfen Wein befand. Dankbar nahm Orgond einen Schluck davon. Die großen Augen der Kinder beobachteten jede seiner Gesten und er reichte ihnen die Flasche. Cethis griff tapfer zu nahm einen großen Schluck von dem scharfen Getränk. Die Flüssigkeit brannte direkt durch ihren Rachen in den Magen und sie schüttelte sich vor Ekel, bevor sie die Flasche an Brimon weitergab. Auch er nahm einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie sah ihrem Bruder an, wie angewidert auch er von dem Geschmack des Weines war, aber jetzt wussten sie, was Kämpfer tranken, wenn sie aus dem Krieg zurück kamen.

„Ich werde hier mit meinen Männern Wache schieben, bis König Toren wieder in Pfarox eingekehrt ist“, gab Ogond dem Priester zu verstehen. Der alte Mann nickte, weil ihm offensichtlich keine andere Wahl blieb.

„Wie war doch Euer Name?“, erkundigte er sich mit schwacher Stimme.

„Orgond, Sohn von Laurmech“

„Ah, der Sohn eines Schmiedes. Die Laurmech sind seit Generationen für ihre Schmiedekünste in Haguz Bri-las bekannt, man könnte regelrecht von einer Dynastie sprechen.“ Orgons ließ ihn reden und beobachtete, wie der Priester seine Hände in den ausladenden Ärmeln seiner grauen Kutte schob. Unter dem stechenden Blick des bewaffneten Mannes fühlte er sich sehr unbehaglich und zog seine Hände wieder raus, damit sie gut sichtbar blieben. „Wir werden wohl gemeinsam über die Kinder wachen müssen.“, entschied er nervös.

„Erspare mir deine schmeichelnden Worte, alter Mann! Schmiede werden in Kriegszeiten immer hoch angesehen. Doch hält das die Anwohner von Haguz Bri-las nicht davon ab, uns wie Aussätzige zu behandeln, weil wir außerhalb der Mauern wohnen.“

„Wenn Ihr es wünscht, werter Orgond, kann ich dem König anraten, Euch im Winter in Haguz Bri-las unterzubringen …“

„Ich denke, deine Worte wiegen nichts, wenn man sieht in welchem verwahrlosten Zustand die Königskinder sind. Ihre Sicherheit wird ab jetzt von meinem Schwert bestimmt. Sieh zu, dass deine Diener den Leichnam reinigen und sich um Loris gesorgt wird wie es sich für eine Königin gehört!“

Cethis mochte die harten Worte des großen Mannes und warf ihrem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Sie waren beisammen und ihr Vater würde bald wieder heimkehren. Doch bei dieser Überlegung war Cethis nicht erleichtert, denn es war ihr Vater gewesen, der sie dazu gezwungen hatte, in Pfarox zu leben. Hätten sie nicht alle vier in Ravan bleiben können? Wozu König sein, wo es so gefährlich war? Sie schaute sich das Schwert an der Seite von Orgond an und fragte sich, ob er sich diese Waffe selbst geschmiedet hatte. Eines Tages wollte sie auch wissen, wie Schwerter und Dolche hergestellt wurden.

1. Kapitel - Toren

Toren

 

Oh Hoher König, dein Sieg kostet dich

Den Schatz deines Lebens,

selbst wenn dein Leben wie Asche im Wind verweht ist,

wird die Erde nie das vergossene Blut deiner Brüder vergessen.

 

 

Finster schwarze Rauchschwaden trieben im Nebel über der Ebene von Obion und verdeckten die gefallenen Krieger der vollbrachten Schlacht. Der Sturm hatte sich gelegt und hinter dem Rauch strahlte hellblauer Himmel. Vereinzelte Schemen zeichneten sich im Rauch ab, fern schallten Hörner und befahlen den Rückzug der Unih. Die Luft war vom Gestank der Toten und den verbrannten Körpern erfüllt. Im Osten wurde gerufen, raue Männerstimmen stießen die Siegesschreie der Bridônen aus, ebenso im Westen und im Norden, unweit vom Wald. Sie vereinten sich zu einem markerschütternden Chor und begleiteten die übriggebliebenen Unih zurück in ihre Berge.

Toren stand starr mitten im Chaos gestürzter Männer, zu seiner Rechten und zu seiner Linken erstachen seine  Leibwächter Überlebende, die auf dem Boden siechten. Die gurgelnden Schreie der Hingerichteten vermischten sich mit den Siegesschreien seiner Leute und erfüllten den schwarzen König mit bittersüßer Euphorie. Er riss beide Arme hoch in die Luft, sein blutgetränktes Schwert triefte und schwere Tropfen klatschten auf seinen Helm. Hier war er, Toren, König der Bridônen, der letzte Prinz, jener der seinem Volk den Frieden versprochen hatte. Und den hatte er mit dem Sieg gegen die Unih errungen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, groß wie ein Hüne und hatte erfahren, wie seine ungehaltene Kraft brachial seine Feinde zerschmettert hat. Er holte tief Luft und stieß einen entsetzlichen, langen Schrei aus, der über die gesamte Ebene schallte. Seine Männer stimmten mit ein und das Gebrüll nahm zu.

Obdaro, Torens treuer Begleiter stand dabei und beobachtete ergriffen seinen Freund. Gleich einem Kriegsgott brüllte er gen Himmel, sein Gesicht war vom Blut seiner Feinde dunkel, ebenso finster wie die schwarze, matschige Erde, aufgeweicht vom vergangenen Regen und vergossenen Blut. Obdaro hielt verkrampft in beiden Händen seine schlanken Säbel, die er einst aus seiner fernen Heimat mitgebracht hatte. Er hatte an der Seite seines riesigen Freundes gekämpft und unzählige Leben im Kampfgeschehen genommen. Was war von dem Jungen von einst übriggeblieben, der sich geschworen hatte, nie wieder an einem Krieg teilnehmen zu wollen? Damals wurde er als kleiner Junge an einen Kriegsherrn verkauft und war geflüchtet, nachdem er den ersten Toten in einem Kampf erlebt hatte. Er hatte Unterschlupf bei Mönchen gefunden. Seine ruhigen Lehrjahre in dieser Gemeinschaft hatten einen Preis verlangt. Sobald er kräftig genug war, wurde er zu einem Krieger ausgebildet, damit er als erwachsener Mann eine Reise antreten konnte, um Geschichten aus der Welt zu sammeln und diese eines Tages ins Kloster zurückbringen sollte. Im Wald Ravan hatte er geglaubt, viele unbekannte Geschichten aufspüren zu können. Dort hatte er den letzten Prinzen und seine Gemahlin Loris kennengelernt und in der Tat unzählige von Geschichten erfahren und erlebt.

Wenn er jetzt Toren anblickte, wusste er, dass er sich nicht mehr hätte täuschen können. Seit er ihn kannte hatte Obdaro diesen Mann kämpfen gesehen und von seinem eigenen Wissen teilhaben lassen. Der Krieg gegen die Unih hatte ihn selbst und seinen Freund verändert, wie jeden Überlebenden. Den Sieg hatte Toren nicht nur mit seiner brachialen Kraft gewonnen, sondern weil er eine Entscheidung getroffen hatte, die das Leben der Feinde, aber auch einige seiner eigenen Männer gekostet hatte. Die Unih waren geschlagen, aber die Armee der Bridônen geschwächt genug, um keinen Widerstand leisten zu können. Die Explosionen von den Bomben, die Obdaro aus seinen Kenntnissen hatte erstellen lassen, schlugen alles nieder und machten keinen Unterschied zwischen Feind oder Gleichgesinnten. Aber das war der Preis des Sieges gewesen. Der Verlust der Königin Loris hatte Toren zu dieser Entscheidung genötigt. Obdaro blickte in die Richtung der Berge und sah die vereinzelten weißen Banner der Unih abziehen. Er empfand keine Erleichterung, sondern nur Entsetzen und Scham für dieses Blutbad und verstaute behutsam seine Säbel in die Scheiden an seinem Waffengurt an den Hüften. Eine Schande, solche barbarische Unmenschlichkeit aufleben zu lassen, nichts schien solche Krieger aufzuhalten und er hatte ihnen beigestanden. Sein schwarzes, langes Haar hatte sich aus seinem sonst sorgfältigen strengen Zopf im Hinterkopf gelöst und wehte in glatten Strähnen im leichten Wind. Sein Kopf dröhnte von den erlebten Schlägen und Hieben und von dem barbarischen Schreien der Bridônenkrieger. Ah, sie konnten ihrem König zujubeln, mit ihm brüllen, um sich glauben zu lassen, dass sie Helden waren. Obdaros schwarze, mandelförmigen Augen füllten sich mit Tränen und er rang nach Atem, sein Freund drehte sich mit erhobenem Schwert und aufmunternden Armbewegungen zu seinen Männern und feuerte sie an, ihre Siegesschreie zu steigern. Mit gemächlichen, festen Schritten näherte er sich dem Wald, dort wo noch die Kanonen rauchten. Obdaro betrachtete diese Maschinen und wusste, dass es sein Werk war. Normalerweise würden solche Waffen benutzt, um eine Burg zu verteidigen oder eine Mauer zu zerstören, hatte er gesagt, doch Toren hatte entschieden, sie anders einzusetzen. Obdaro ging neben dem König her und empfing die begeisterten Rufe der Männer ebenso wie sein Freund, der drei Köpfe grösser als er war. Obdaro war bekannt unter den Bridônen und nun verehrten sie ihn, weil seine fremden Wissenschaften den Sieg gebracht hatten. Die Männer versammelten sich in ihrem Lager und grölten über ihren Sieg, nach und nach verließen alle Übriggebliebenen das Schlachtfeld, um mit ihren Waffenbrüdern zu feiern. Es wurde Bier und Wein ausgeschenkt, jene, die über Trommeln verfügten, ließen ihren Künsten freien Lauf und hämmerten wilde Rhythmen, die in tiefen Tönen weit hinein in den Wald schallten und bis auf das andere Ende der Ebene zu hören waren. Obdaro beobachtete die Krieger, sie mussten feiern, sich betrinken, um am Wahnsinn der vergangenen Tage nicht verrückt zu werden. Dem König wurde ein mächtiger Humpen gereicht, den er mit gierigen, langen Schlucken leerte. Sein Freund sah, wie die Flüssigkeit über seinen dichten Bart rann. Kaum hatte Toren ausgetrunken, warf er den Humpen achtlos beiseite und starrte mit seinen eisblauen Augen in die sich versammelnde Menschenmenge. Er sprach kein Wort, verharrte einen Moment, und Obdaro fragte sich, mit welchen Gebräuchen diese Barbaren ihren Sieg feiern würden.

„Mein Pferd!“, brüllte Toren plötzlich. Der Knappe an seiner Seite schaute ihn verdutzt an und sein Gebieter schlug ihn erbarmungslos ins Gesicht. Der arme Kerl strauchelte, ließ den zweiten Bierhumpen fallen, den er eigentlich seinem Gebieter reichen wollte und stolperte davon.

„Bringt mir mein Pferd!“, verlangte Toren barsch. Obdaro schnappte überrascht nach Luft und blickte sich um, wer von diesen Männern den Befehl des Königs wohl ausführen konnte. Die meisten Rösser waren in einem erbärmlichen Zustand, war es nicht an der Zeit, die Wunden aller Überlebenden zu versorgen? Doch Toren ging mit großen Schritten los, brüllte seine Leute an, man solle ihm ein Ross besorgen. Obdaro eilte mit schwerfälligen Schritten hinter seinem Freund her. Offenbar waren es die übriggebliebenen Männer seiner Leibgarde, die dem Verlangen des Königs zu folgen wussten. Sie waren die ersten, die mit Pferden bereit waren, einer saß ab, um sein Ross Toren zu überlassen. Ohne ein Wort der Erklärung saß er auf und trieb das Tier in einen gestreckten Galopp in den Wald hinein. Die Leute der Leibgarde riefen einander zu, dem König zu folgen und Obdaro beeilte sich, ebenfalls zu einem Reittier zu finden. Der junge Knappe kam gerade recht mit einem dunkelbraunen gesattelten Pferd heran, Obdaro bedankte sich bei ihm und strich mit einer aufmunternden Geste über den krausen Haarschopf des Jungen. Er trieb ebenfalls sein Ross an und folgte der kleinen Abteilung, die dem König hinterherjagten. Wie betäubt stellte sich Obdaro in die Steigbügel, beugte sich über die Schultern seines Rosses und gab die Zügel dem Tier frei. Seine Atmung passte sich den hastigen Galoppsprüngen an und die frische Luft des Waldes empfing ihn. Er holte die Männer ein, weil sie allesamt nach einiger Zeit gezwungen waren, ihre Jagd zu verlangsamen, um die Pferde zu schonen. In diesem Moment begriff Obdaro, dass Toren nicht vorhatte, in das Lager zurückzukehren und er befürchtete, dass der König nach Haguz Bri-las wollte. Eine strapazierende Reise bestand ihnen bevor und nur ein Kraftmensch wie der König konnte solche Entscheidungen treffen. Seine Leute hatten ihm zu folgen.

Ravan zu durchqueren war stets eine wichtige Entscheidung. Aber Toren hatte im Wald gelebt und ihm war es einerlei, das Bridônen den Wald fürchteten. Die Herbstzeit hatte die Bäume in rotgoldene Kleider getaucht. Der Sturm war nur noch eine Erinnerung und die Natur führte ihr Leben fort, ernährte seine Anwohner mit dem, was diese Jahreszeit zu bieten hatte. Der Krieg spielte für den erhabenen Wald keine Rolle. Obdaro erinnerte sich an die Zeit, in der sie im Clan der Rodorrë gelebt hatten. In dem Gebiet, welches die Rodorrë als ihre Heimat bezeichneten, breiteten sich weite Sandfelder zwischen den Fichten und Eichen aus. Riesige Steine bildeten sonderliche Figuren, wie Wesen aus einer anderen Zeit. Es wurde erzählt, dass sich einst ein Ozean dort befunden hatte, wo jetzt Ravan wuchs. Daher konnte man Sandbänke und vom Wasser abgerundete Felsen finden. Mit etwas Glück konnte ein aufmerksamer Wanderer ein Fossile von einer uralten Wasserschnecke auftreiben. Die Rodorrë verehrten ihre Erde, sie nannten sich, die Hüter des ewigen Feuers. Das ewige Feuer der Göttin Indra, aus deren Bauch alles Leben dieser Welt geboren wurde. An geheimen Stellen im Gebiet der Rodorrë bot die Erde einen Einblick in unterirdische Lavaströme. Die Menschen hatten gelernt, die Glut zu respektieren und gelernt, wie Erze geschmolzen und geschmiedet werden konnten. Unglaublich viele Geschichten waren Obdaro zu Ohren gekommen und er hatte begonnen, diese sorgfältig aufzuschreiben, bevor der Krieg begann. Die Bridônen waren Ende des Sommers aus Haguz Bri-las gezogen, um sich der Armee der Unih zu stellen, doch Obdaro hatte das Gefühl, es wäre eine Ewigkeit vergangen. Loris war eine Angehörige des Clans der Rodorrë gewesen, ihr Totem war eine schwarze Wölfin, welche auf ihrem Banner abgebildet war, als sie neben ihrem Gemahl Toren in Haguz Bri-las eingezogen war. Der letzte Prinz, der jüngsten von einer siebenköpfigen Bruderschaft. Seine älteren Brüder hatten mit ihrer Habsucht, ihrem Drang zum Wettspiel und allerhand Schandtaten den Krieg gegen die Unih hervorgerufen. Die reichen Familien des Hofrates und einflussreichen Mitglieder des Königreichs der Unih verlangten nach Vergeltung, daher hatte Toren die Frieden nicht lange halten können. Doch ihm war es gelungen, eine Armee aufzubauen, welche auf blutige Weise die Unih zurück in ihre Berge zurückgewiesen hatte. So standen die Dinge, jedenfalls hoffte dies Obdaro. Was konnte er sich schon mit Sicherheit sagen, wo er die aufreibende Reise mit seinem Freund und Gebieter durch Ravan fortsetzte.

 

Erschöpft ritten die Männer in Haguz Bri-las ein. Ihre verdreckten schwarzen Mäntel lagen schwer auf ihren Schultern, das Banner des Königs flatterte zerfetzt im leichten Wind und die Menschen in den Gassen gingen den finsteren Reitern eher aus Furcht aus dem Weg, bevor sie ihren Herrscher erkennen konnten. Lautes Hufklappern zerriss die morgendlich Stille im Hof der sieben Könige und Toren ließ sich schwer aus dem Sattel fallen als sein Blick auf die Tür der Kapelle fiel, denn jemand öffnete sie von innen. Der alte Priester hielt seinen Mantel fest um die Schultern gewickelt und erstarrt in seiner Bewegung. Wortlos stapfte Toren auf ihn zu, stieß ihn grob beiseite und schmetterte die Türflügel auf. Zielstrebig trat er mit lauten Schritten um Altar und erblickte seine tote Frau, die dort lag. Umgeben von Kerzen schimmerte ihre Rüstung, jemand hatte ihr Haar gekämmt. Torens Atem stockte, doch eine unsägliche Wut braute sich tief in seinem Inneren zusammen, sein Blick fiel auf einen der Diener des Priesters. Mit einem lauten Schrei stürzte sich Toren auf ihn und streckte den armen Kerl mit einem einzigen Hieb nieder, wobei ihm ein entsetzlicher Schrei entfuhr. Wie ein verletztes Untier packte er den nächsten Kerzenständer mit beiden Händen und schlug das schwere Ding mit einem mächtigen Hieb auf den Boden. Heißes Wachs spritzte in die Gesichter der Umstehenden, doch die Männer seine Leibgarde wagten sich nicht, dem Unhold Einhalt zu gebieten. Als Toren mit einem inbrünstigen Schrie zu einem weiteren Schlage ausholte, war es Orgond, der sich ihm stellte und den Hieb mit seinem Schwert parierte. Toren hielt inne, atmete schwer und starrte wie ein Wahnsinniger in die Augen seines Gegenübers.

„Majestät, ich habe Eure Kinder nicht beschützt, damit Ihr sie zu Tode schlägt“, brüllte der Mann ihn an. Offensichtlich waren seine Worte trotz der rasenden Wut von Toren erhört worden, denn er wand seinen Blick langsam vom Gesicht des Kriegers zu jenen, die sich hinter ihm verbragen. Die verängstigten Kinder hockten auf dem Boden zusammen gekauert und starrten ihren Vater fassungslos an. Die Gesichter der Zwillinge waren kreidebleich, während ihre dünnen Arme von Blut dunkel waren. Obdaro musste entsetzt sehen, wie der König einige schwere Atemzüge lang dort verharrte, bevor er den schweren Kerzenständer fallen ließ, den Anwesenden den Rücken kehrte und mit wenigen Schritten die Kapelle verließ.  Zwei Diener eilten ihrem geschlagenen Mitarbeiter zur Hilfe, zwei Leibwächter Torens bauten sich vor der Kapelle auf, damit niemand eingelassen wurde. Obdaro versuchte sich zu fassen und trat zu dem mutigen Krieger, der dem Herrscher die Stirn geboten hatte.

„Orgond, wenn ich mich recht erinnre“, begann er, der Angesprochene nickte.

„Ihr habt Eurem Königreich einen unermesslichen Gefallen getan, in dem Ihr über die Kinder gewacht habt. Seid unbesorgt, seine Majestät wird sich erkenntlich zeigen.“ Orgond blickte misstrauisch in die fremdartigen Augen seines Gegenübers. Trotz seiner verhältnismäßig geringen Größe flößte Obdaro ihm Respekt ein. Der Berater des Königs betrachtete die verschreckten Kinder, die sich nicht von der Stelle rührten.

„Jemand muss sich der Kinder annehmen. Es geht nicht zu, dass die Prinzessin und der Prinz in so einem Zustand zu finden sind“, sprach Obdaro und Orgond nickt abermals. Er holte einmal tief Luft, bevor er sich wagte, etwas zu sagen: „Meine Nicht ist eine zuverlässige junge Frau. Mit Eurer Erlaubnis werde ich noch heute meinen Bruder einen Besuch erstatten und mit ihm reden.“

Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte Obdaro spüren, wie der Anflug eines Lächelns seine Lippen entspannte. „Das scheint mit in der Tat eine ausgezeichnete Idee zu sein. Geht in Frieden und sagt Eurer Nichte, sie soll bei ihrer Ankunft in Haguz Bri-las nach mir fragen.“ Orgond atmete auf und verbeugte sich kurz. „Ich danke Euch, ich werde sie persönlich begleiten.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.03.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Hiermit lade ich liebe Leser in mein Leseabenteuer ein. Ich überarbeite gerade die Chroniken aus Ravan und stelle für begrenzte Zeit die ersten Seiten zum Lesen zur Verfügung.

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