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Anfang

 

 

Väter erzählen ihren Söhnen von Göttern,

denn wir sind aus dem Blut der Erde geschaffen.

 

 

 

 

„Durlundin ward aus dem Reich der ursprünglichen Wolken geboren, Naturgebilde von einst, die kaum etwas mit dem gemeinsam haben, welche die Menschen kennen. Daher ist es so schwierig, Legenden aus alten Zeiten zu erzählen. Selbst das Verständnis der Zeit konnte nichts gemeinsam haben mit dem, was die Menschen heute zu kontrollieren glauben. Allerdings war es eine Zeit, die viel länger angedauert hatte als die Herrschaft der Menschen. Jene die heute glauben, ihre Macht sei heute von Wichtigkeit, können davon ausgehen, dass die wahrhaftigen Herren der Erde noch immer existieren und eines Tages aus ihrem Schlaf erwachen werden. Daher ist es sicherlich eine gute Sache, wenn Väter und Mütter aus hohen Familien ihren Kindern von den alten Legenden erzählen und sie dazu ermahnen, die Namen und Geschichten der Götter auswendig zu lernen.

Wolkenmassen umgaben die junge Erde und bezogen ihre Kraft direkt aus dem Staub der Sterne und der Himmel war dunkel. Die junge Erde ruhte in der Finsternis, denn der Moment, an dem sie vom Sonnenstern berührt werden konnte, war noch nicht gekommen.

 

Durlundin nannte sich selbst der Schwarze, denn seine Haut war pechschwarz, ebenso sein langes seidiges Haar, welches seinen gesamten Körper wie einen Mantel umgab. Seine Augen beobachteten seine Welt. Eine Welt in ständiger Bewegung, die Elemente tanzten in ihrer ursprünglichsten Form, fanden zueinander, teilten sich, ergaben Neues.

Er war der jüngste aus seiner Bruderschaft, Gimmynsar war der Älteste, nach ihm ward Rilbanfil geboren und lange Zeit später kam Durlundin hinzu. Durlundin beobachtete seine Brüder gerne und versuchte zu begreifen. In seinem Herzen warteten unzählige Fragen auf Antworten und wenn er mit Grimmynsar zusammen sein konnte, nutzte er die Zeit, um Antworten zu hören, die sein Bruder geben konnte. Denn Grimmynsar war der erste gewesen, der sich fragte, woher sie kamen und aus welchem Grunde sie hier waren. Der Jüngste fragte sich, wozu die Kraft in seinen Händen und Muskeln dienen sollte und warum die drei Brüder zwar ähnliche geformt waren, aber so unterschiedlich aussahen und sehr verschiedene Charaktere hatten. Auf die meisten Fragen vermochte Grymmynsar nicht zu antworten, also zog er sich zurück um zu meditieren.

„Wir sind an diese Erde gebunden!“, sagte er „Ich habe das Reich der Wolken verlassen, um von der Erde zu lernen. In ihr brennt ein ewiges Feuer, ich versuche es zu verstehen. Im Licht der roten Glut erfreuen sich meine Augen und die Mäander der tanzenden Fluten aus Lava lernen mir, aus was die Zukunft geschaffen wird.“

Durlundin verstand kein Wort von dem was sein Bruder sagte und erklärte sich diese Tatsache, dass Grimmynsar viel älter und tugendhafter war. Grimmynsar veränderte sich jedes Mal, wenn er von den Augen seiner Brüder erblickt wurde. Er war grösser, seine Schultern breiter, seine Haut, sein gesamtes Wesen verbündete sich mit dem, was ihn umgab. Seine Augen waren weiß und dafür geschaffen, alles zu sehen. Durlundin und Grimmynsar verfügten über Augen, die bereits denen der Menschen glichen. Jene Wesen, von denen in so einer ursprünglichen Epoche nicht einmal geträumt werden konnte.

Seinen Bruder Grimmynsar ließ Durlundin lieber allein, er vermied es sogar, ihm zu begegnen. Grimmynsars Haut war hell und seine rote Haarmähne kraus und wild.

Das lange Warten während der Abwesenheit seines weisen Bruders nutzte Durlundin bald mit Reisen durch das Land seines Ursprungs. Ein Land aus purer Kraft, erfüllt vom Tosen der mächtigen Wolken, die aufeinanderprallten, die Luft mit Blitzen erfüllten und mit ihrer ungebremsten Energie die Elemente aufrührten. In dieser Zeit hatte Durlundin der Schwarze die ersten Drachen erschaffen und diese Wesen geflissentlich vor Grimmynsar geheim gehalten. Grimmynsar der Rote, wie er sich nun nannte, war stets mit sich selbst beschäftigt und achtete kaum auf das, was ihn umgab. Er benutzte die Blitze, um auf seine Haut schwarze Muster zu zeichnen. Stolz auf seine Kraft und seinen Körper war er wie besessen von dieser Tätigkeit und ließ keine Gliedmaßen aus, bis seine gesamte Haut von geheimnisvollen Zeichnungen übersät war.

Als Durlundin ihm abermals begegnete, lachte der jünger Bruder ihn bemitleiden aus.

„Schämst du dich deiner weißen Haut?“, fragte er woraufhin ihn Grimmynsar bösartig aus seinen grünen Augen anblickte.

„Die Kraft der Blitze vereint sich mit der Kraft meiner Muskeln. Was verstehst du schon davon?“

„Kraft hast du genug, sie wurde dir gegeben, wozu den Ursprung der Natur verändern?“

Grimmynsar verabscheute es, wenn sich seine Brüder über ihn lustig machten. Seine ausgewählten, langsam ausgesprochenen Worte machten ihn wütend.

„Du redest wie Rilbanfil! Alles verändert sich ständig, warum darf ich nicht meinen Teil dazu tun?“, entgegnete er trotzig.

„Du tust was du willst. Es scheint so, als wolltest du deine weiße Haut vor dem Rest der Welt hinter kunstvollen Zeichnungen verbergen.“

Damit brach Grimmynsars Zorn endgültig hervor. Mit einem erbosten Schrei versetzte er mit aller Kraft einen Hieb ins Gesicht seines jüngeren Bruders, welcher sich vor diesem unvermuteten Angriff nicht in Acht genommen hatte. Der entsetzliche Schlag ließ ihn für eine gewisse Zeit in Ohnmacht fallen. Hilflos lag Durlundin den Elementen und seinem Bruder ausgeliefert. Sein Bruder betrachtete seine dunkle Haut, die sich wie Samt schimmernd im zuckenden Licht der Blitze über die Rundungen seiner mächtigen Muskeln spannte. „Grimmynsar mag Recht haben, wir sind nicht komplett“, sprach der Rothaarige und beugte sich über den Körper seines Bruders. „Oh wie ich ihn hasse für seine Weisheit, seine Überlegenheit, wo ich nur von meiner Kraft schmecken will. Mein kluger Bruder meditiert über die unendliche Güte, welche aus der Tiefe der jungen Erde geboren werden soll. So ein Dummkopf! Er will uns nur beweisen, dass er der Ältere ist. Doch gibt ihm seine Existenz Recht darauf, mein Verlangen zu bremsen?“ Mit gierigen Händen berührte Rilbanfil die Haut seines Bruders, fühlte das Leben darunter pulsieren und ward verbunden mit derselben Kraft, die ihn erfüllte, wenn er sich mit den Blitzen seine geliebten Muster in die Haut brannte.

Eine Kraft, die in seinen Lenden pulsierte und danach begehrte, befriedigt zu werden. Ihm war es gleichgültig, ob sein erstgeborener Bruder Recht hatte, dass ihnen etwas fehlte und es Zeit war, das Universum, in dem sie geboren waren, zu verändern. Rilbanfil gehorchte seinen Instinkten und vergewaltige den ohnmächtigen Durlundin. In seinen Armen und im Getöse seiner Urschreie erwachte der Schwarzhaarige, zerrissen von der Gewalt seines Bruders, bäumte er sich auf, befahl seinen Kräften, sich aufzubegehren und wehrte sich mit aller Gewalt. „Du bist mein!“, brüllte Grimmynsar ihm ins Gesicht und trieb sein Verlangen zum Abschnitt des neuen Kapitels in dieser finsteren Geschichte. Die rote Wut des Blutes und die schwarze Finsternis der endlosen Winternächte sind wohl in diesem Moment geboren worden. Gefühle, die noch heute in den Adern der Krieger fließen, wenn sie von ihren Königen auf das Schlachtfeld geschickt werden. Durlundin stand seinem Bruder um nichts an Kraft nach und versetzte ihm entsetzliche Wunden, doch der süße Schmerz der unbekannten Raserei erfüllte ihn und er wusste, dass er ohne seine Brüder nur dumpfe Einsamkeit kennen würde.

 

Die jung erschaffenen Drachen von Durlundin schrien im Tosen der Gewalten auf und Ribanfil wurde aus seiner Meditation herausgerissen. Er spürte, dass sich die Kräfte seiner jüngeren Brüder verbünden würden, um ihn zu vernichten. Zum ersten Mal fühlte er, dass seine Zeit bemessen war, dass er zu lange gebraucht hatte, um Antworten auf all die Fragen in seinem Geist zu finden. Er tauchte aus den Tiefen der Glut der Erde auf und sah die tobenden Drachen, wie sie zwischen den Wolken, den Vulkanausbrüchen und zuckenden Blitzen tanzten und unermüdlich an Kraft zunahmen.

Steine aus dem fernen Universum rasten auf die junge Erde hinzu und schlugen durch das vorherrschende Chaos hindurch, um sich mit den Elementen zu vereinen. Rilbanfil tanzte zwischen den rasenden Feuerbällen hindurch und ließ sich von dem, was ihm umgab, leiten. Es würden Wesen kommen, die seinen Platz auf dieser Erde streitig machen wollten. Seine eigenen Brüder verstanden ihn nicht, wo sie dazu geschaffen waren, Seite an Seite zu kämpfen und einander zu unterstützen. Bald würde der Zeitpunkt kommen, an dem er sich mit dem ursprünglichen Geist der Erde verbinden würde. Eine wertvolle Vereinigung, aus der alles Leben gedeihen würde, eine Vielfalt, die sich keiner der drei ausmalen konnte. Er ahnte, was aus den Innereien der Erde geboren werden sollte. Rilbanfil stürzte sich auf seine Brüder, riss sie auseinander, doch Grimmynsar nahm diesen Angriff gerne an, um seinem Hass und seiner Wut freien Lauf zu lassen. Durlundin spürte die Tränen auf seinem Gesicht mit dem Schweiß auf seiner Haut vermischt und griff in den Kampf ein, er war enttäuscht, zornig, fühlte sich leer und unverstanden. So wird es wahrscheinlich den meisten Männer im Rest der Menschengeschichte ergehen, sie fühlen eine wage Erinnerung der Kraft der Götter von einst in ihren Muskeln, doch sie wissen nicht, was sie damit anfangen sollen und lassen sich der nächstbesten Möglichkeit ergehen, in der sie kämpfen, schlagen, verletzten, zerstören können. Die Erde gebraucht eine Sprache, der man zuhören muss. Wer das nicht tut, wird stets einsam und unverstanden bleiben.

 

 Ritter Adrig rieb sich die Hände, die inneren Seiten beider Handflächen fest aufeinandergedrückt, bis damit sich endlich ein Gefühl von Wärme in seinen Fingern ausbreitete. Oméril beobachtet ihn aufmerksam, ernst waren seine markant gezeichneten Augenbrauen zusammengezogen, er überlegte und wartete ab. Die beiden hatten in den vergangenen Nächten kaum Schlaf gefunden und sie hatten bitter feststellen müssen, dass ihre Ausrüstung nicht für diese Kälte vorgesehen war. Der Winter war früher über das Land gefallen als es in dieser Gegend üblich war. Doch der Natur waren die Hoffnungen und Beobachtungen der Menschen gleichgültig, ein Wetter kam und ging. Die Stimme des Ritters hatte beim Erzählen die Luft erfüllt und die Gedanken in ein vergangenes Zeitalter gelenkt.

„Ich fühle mich immer ganz klein und nichtig, wenn ich die Geschichten der Götter höre“, sagte Oméril und sucht nach etwas mehr Wärme unter seinem Mantel.

Adrig war beeindruckt von der Tapferkeit des jungen Prinzen. Er beklagte sich nie über den fehlenden Komfort. Beide wussten, dass die Vorräte sich dem Ende zuneigten. Der Junge brauchte ein wärmendes Feuer und heißes abgekochtes Wasser. Er stand unter seiner Verantwortung und wenn es ihm auch bislang gelungen war, ihn vor den Auftragsmördern zu retten, so konnte er einem nahen Ende zugehen, wenn er nicht bald eine Lösung fand, die beiden ermöglichte, ihre Körper richtig aufzuwärmen und eine Nacht durchzuschlafen. Adrig bedauerte, nicht über mehr Erfahrung im Fährtenlesen zu verfügen und sich wie ein Anfänger in der Wildnis zu fühlen. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Tagen auf das Überlebensinstinkt der Pferde verlassen, die sie treu durch den Wald trugen. Der junge Mann forschte mit zusammengepressten Augenlidern die schweigende Umgebung ab. Weißer Nebel wanderte zwischen den Baumstämmen und hüllte die Gegend in eine mystische Stille. Bislang waren sie ungesehen geblieben, sie hatten das Gebirge Ovon hinter sich gelassen und vermieden die Ebene Obion zu durchqueren. Dort hätte er sich zusätzlich der Gefahr ausgesetzt, von Menschen beobachtet zu werden, die bereit waren, ihre Gegenwart  an andere für wenig Bezahlung zu verkaufen. Ein verlassenes Schlachtfeld blieb lange Zeit ein beliebter Ort für Tagelöhner und Mörder, die sich gerne eine verloren Klinge zu Eigen machten. Doch Adrig konnte sich nicht belügen, es war einfach den Spuren von vier Pferden im Wald zu folgen.

Sie hatten es sich beide angewöhnt, so wenig wie möglich zu sprechen, die Geschichte von den ursprünglichen Göttern der Zeit war eine Ausnahme gewesen. Adrig hatte begonnen leise von Durlundin zu erzählen, denn als kleiner Junge hatte ihn das Bild von dem schwarzen Gott fasziniert. Damals war er etwa so alt wie Oméril gewesen und hatte alle nur erdenklichen Legenden über Durlundin gesammelt. Wenn er jemand zuhören konnte, der von den ersten Göttern sprach, die ihre ewige Ruhe in den Gletschern gefunden hatten, waren ihm die Bilder im Kopf so klar und deutlich erschienen, als könnte er diese vergangene Wirklichkeit neu erleben.

Adrig hatte aufmerksam zugehört und dabei langsam seine kleine Portion vom Reiseproviant gegessen, um bei Kräften zu bleiben. Er ließ kein Krümel von dem nahrhaften Gebäck übrig und spähte nachdenklich in die lederne Tasche, welche sich in den vergangenen Tagen beachtlich geleert hatte.

„Die drei Brüder sind viele Jahrhunderte später im ewigen Eis zur Ruhe gekommen“, unterbrach Oméril die abwartende Stille und erhob sich langsam von seinem Platz. „Die jüngeren Brüder haben den älteren bekämpft, doch er war stärker als beide gemeinsam. Bevor alle drei endlich zur Ruhe kamen, herrschte Chaos auf unserer Erde. Und es wird erzählt, dass es wieder dazu kommen wird, wenn die Gletscher einmal nicht mehr sein sollten. Wenn das ewige Eis zu reißenden Strömen über die Länder rast, können wir Menschen uns nur noch in Acht nehmen. Grimmynsar, Durlundin und Rilbanfil würden erneut ihre Waffen aufnehmen. Obion würde aus seinem Erdreich erwachen und sich ihnen stellen.“

Adrig hatte der eintönigen Stimme des Prinzen gelauscht. Wie erschöpft mochte dieser Knabe wohl sein, und wie lange würde er diesen Strapazen widerstehen?  Er nickte ihm aufmunternd zu und löste die Zügel der Pferde von den Baumstämmen. Es war Zeit, ihren Weg aufzunehmen. Am vergangenen Abend waren sie bis lang nach Sonnenuntergang weitergegangen und hatten den stillen Mond im klaren Himmel schweigend beobachtet. Diese ferne Naturerscheinung zu betrachten, erfüllte beide mit einer gewissen Zuversicht. Von nun an konnten sie nur noch aufeinander zählen und niemand konnte voraussagen, wohin sie dieses Abenteuer führen würde. Die eisige Kälte biss sich an ihren Köpfen fest, weiße Dampfwolken begleiteten ihr regelmäßiges Atmen, genauso wie die Tiere, denen diese Kälte viel weniger auszumachen schien. Genügsam schoben sich die Pferde beieinander und warteten ihre Nachtruhe ab. Ihr glänzendes Fell war in den vergangenen Tagen dicht gewachsen und erschien stumpf und wuschelig unter Sattel und Zaumzeug. Aus ihren großen, dunklen Augen beobachteten sie die Männer, jetzt wo sie wussten, dass ihre Reise weitergehen sollte.

Die Blätter der Bäume waren braun geworden und zu Boden gefallen. Winzige weiße Spitzen von eisigem Reif umringten sie und bildeten ein wunderschönes Muster auf dem Waldboden. Nun war es soweit, wenn der Schnee auch in diesen Gegenden niederfallen sollte, konnte er liegen bleiben und der abwartenden Natur den nötigen Frieden schenken. Jeden Tag ging die Sonne etwas später auf und würde etwas früher der Nacht Platz machen. Adrig konnte beim besten Willen nicht sagen, ob seine Idee gut war, sich nach Norden zu wenden. Die Nächte dort würden noch länger sein, die Kälte ungehindert ihre Macht ausüben. Dabei konnte er sicher sein, dass er eine richtige Entscheidung getroffen hatte. Der einzige Pass in Ovon, der passiert werden musste, um in den Süden zu gelangen, lag hinter Valrux. Unbemerkt hätte er mit dem Prinzen nicht an der Stadt vorbeigekonnt. Und die angrenzenden Berge seines Landes kannte er nicht. Sein vom König Mana Kael vorgeschriebener Reiseweg führte eigentlich nach Südosten, durch das Gebirge hindurch, von einer Siedlung zur nächsten, bis hin zum Fluss Belil, auf dem sie hätten reisen können, hin zum Meer. Doch diese Möglichkeit war ausgeschlossen. Nichts war einfacher für einen Auftragsmörder als diesen Anweisungen zu folgen. Eines Tages würde der junge Ritter herausfinden, aus welchen Beweggründen ein Mann wie Ripek sich als Vertrauter des Königs ausgab und Pläne schmiedete, um den Thronfolger zu vernichten. Vorläufig konnte er nur mit Gewissheit sagen, dass sein eigenes Überleben vom Wohlergehen des Prinzen abhing. Und ihm war bald klar geworden, dass sie nicht für eine Reise ausgerüstet waren, die verlangte, tagelang der Natur ausgesetzt zu sein, ohne unter einem schützenden Dach ihre Kleidung trocknen zu können. Mit vier Pferden zu reisen erwies sich ebenfalls nicht als Vorteil, denn die Truppe der Mörder, die auf ihren Spuren waren, vermochte ihnen einfach zu folgen. In dieser unbewohnten Wildnis waren solche Spuren leicht zu lesen. Außerdem fragte er sich, wie sich die Natur darstellen mochte, je weiter er gen Norden vordringen würde. Vorläufig fanden die Pferde noch Nahrung, doch wie lange die Tiere auf dieser Reise bei Kräften bleiben würden, vermochte Adrig nicht zu sagen.

 

 Das Wetter hielt sich still, ein kräftiger Regen hätte sie wohl verlangsamt, aber ihnen vielleicht die Möglichkeit geschenkt, ungesehen die Richtung zu ändern. Adrig wusste nicht, wie viele Männer hinter ihnen waren, was sich vor ihnen befand, wie lange sie jeden Komfort entbehren würden und welchen möglichen Gefahren sie entgegen ritten. Er entschied sich, zunächst neben den Pferden herzugehen, damit sich seine Beine aufwärmen konnten. Klamm und feucht umgaben ihn seine Beinkleider, die ersten Schritte fielen ihm schwer und sein Körper gehorchte ihm nur widerwillig. Hinter ihm folgte Oméril, schweigend, die Blätter raschelten unter ihren Stiefeln und die Pferde schnaubten geduldig, denn alles schien ruhig und friedlich. Jeder Baum, jeder Busch und jedes Moos hatte seinen Platz an diesem Ort und existierte in der feuchten kalten Jahreszeit. Die goldenen flachen Sonnenstrahlen strichen über die Landschaft und erinnerten an die wärmende Güte des vergangenen Sommers. Adrig dachte sich, dass die Menschen sich für ein falsches Leben entschieden hatten, denn je mehr sie einander gehorchten, desto fremder und feindlicher erschien ihnen die Natur. Sie irrten nun allein durch die Welt, auf die sie geboren waren und sehnten sich nach Plätzen, die es nicht gab, Orten, an denen sie sich umgeben von Wärme und Güte ausruhen konnten. Selbst wenn sie sich an die Legenden ihrer Götter erinnerten, hatten sie wohl jede ursprüngliche Weisheit vergessen. Jedes Tier und jede Pflanze waren in der Lage, zuversichtlich in seiner Umgebung zu leben, während ein Mensch in einer prekären Situation um sein Überleben bangte und nach Erbarmen jammerte.

Die regelmäßigen Schritte versetzten den jungen Mann in eine Form von Trance, er ließ sich von den Pferden an seiner Seite lenken und lauschte seinem Atem und den Atemzügen der Tiere. Wie oft in den vergangenen Monaten hatte er sich von seinem Ross besser verstanden gefühlt als je von jedem anderen Menschen. Nemda vielleicht, seine Geliebte, aber was wusste er schon von ihr? Hatte er sie wirklich gekannt? Jung und gutgläubig vertraute sie in das Leben, welches sich ihr offenbarte, sie hatte ihm vertraut und damit ihre erste schwere Enttäuschung erfahren müssen. Hätten sie beiden überhaupt eine Chance gehabt, gemeinsam zu leben? 

Das Pferd war einfach da und befolgte seiner Aufgabe, tat das was der Mensch von ihm verlangte, doch wusste was es zu tun hatte, um in der Freiheit zu überleben, wenn ihm die Möglichkeit gegeben würde. Neben den Tieren fand Adrig eine Form von stummer Zuversicht, ein Verstehen, das keine Worte brauchte. Jedes Wort erschien ihm in diesem Moment leer und sinnlos, von Lügen gespickt und nur im eigenen Interesse von dem der es ausgesprochen hatte. Wann hatte je ein Mensch etwas wirklich Sinnvolles zu ihm gesagt? Sein Vater? Seine Mutter? Seine Lehrer oder Mana Kael, der König selbst? Von Kindesbeinen auf waren von ihm Aufmerksamkeit und Gehorsam verlangt worden und er hatte getan, was von ihm erwartet wurde, doch nun war sich absolut nicht sicher, ob er in der Lage war, in seiner frisch erworbenen Freiheit zu überleben. Im Grunde war es im Moment überhaupt nicht wichtig, was für eine Aufgabe ihm angetragen worden war. Er sollte dem Prinzen ins Exil begleiten und ihm bis zu seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr beistehen, bis Oméril endlich den Thron besteigen konnte, der ihm von der Geburt aus zustand. Mana Kael, sein Vater, träumte von diesem guten starken König, der weise über das Volk der Unih regieren würde, um ihnen in Zukunft friedliche Jahre ermöglichen zu können. Hätte Adrig den Anweisungen seines Königs befolgt, wären sie beide schon lange tot. Dank seines Ungehorsams waren er und Oméril noch am Leben. Adrig dachte über seinen Eigensinn nach und stellte fest, wie unerfahren er damit war. Als Erstgeborener einer wohlhabenden Familie hatte er seit er sich erinnern konnte stets nach Anerkennung seines Vaters gesehnt und es allen höherstehenden Menschen recht machen wollen, damit sie stolz auf ihn waren und ihn respektierten.  Aber das Leben hatte nun einmal entschieden, dass er als hochangesehener Ritter in der Armee des Königs ausgenutzt wurde. Wie konnte es auch anders von einem guten Ritter erwartet werden, er war dazu erzogen worden, dem König beizustehen und sein Land zu beschützen. Den einzigen Moment der Ungehorsamkeit, den er sich in seinem jungen Leben erlaubt hatte, war seine Liebe zu seiner Verlobten gewesen. Und sie war dafür bestraft worden, in dem sie von ihrem Posten als Hofdame verwiesen worden war, denn sie erwartete sein Kind. Und er war auf der Flucht mit dem jungen Prinzen im Schlepptau, Auftragsmörder auf seiner Spur und einsam namenlosen Landschaften ausgeliefert, von denen er nichts kannte. Jeder Augenblick konnte sein letzter sein, denn woher hätte er wissen können, was sich in den Tiefen dieses Waldes verbarg und wer ihn nur aus Mordlust überfallen konnte? Auch wenn es dazu nicht kommen sollte, standen ihm unzählige Möglichkeiten zu sterben bevor, Erkältungen, Lungenentzündung, Fieber, eine schlechtverheilte Wunde oder einfach nur Erschöpfung durch Schlaf- und Nahrungsmangel.

Aber er ging weiter auf dem Weg seines Treubruchs, Adrig, der gute Ritter von einst, hochangesehen am Hof der Unih, wertvoller Krieger in der verlorenen Schlacht gegen die Bridônen, heute unerkannt und einsam. Seinem Vater hatte er sicherlich eine gehörige Menge Gold eingebracht, die Entschädigung des Königs für den verlorenen Sohn mochte nicht zu knapp ausgefallen sein. Nun hoffte er beinahe, dass wenn er auf dieser Reise verenden sollte, seine Leiche den Auftragsmördern auf seinen Spuren verschollen bleibe.

„Schau mal da hinten!“, wisperte die leise Stimme des Prinzen und er lauschte erschöpft in das natürliche Schweigen.

Mit erschöpften Augen folgte er der Richtung, in die Oméril deutete. Die beiden erkannten ein niedriges Dach tief im Dickicht verborgen, geduckt und finstern erschien es wie ein ruhendes Tier aus einer uralten Zeit. Eine einfache Hütte, die aus einem einzigen Strohgeflecht bestehen zu schien, welches im Laufe der Zeit schwarz geworden war.

„Was meinst du, wir könnten nachschauen, ob wir dort nicht für einen Moment Unterschlupf finden können“, schlug Oméril vor und Adrig blickte ihn fragend ins Gesicht. Er war zu sehr in seine Gedanken verloren gewesen, dass er diese vereinzelte Hütte nicht bemerkt hatte. Er stimmte mit dem Jungen ein, denn sie waren zu nahe, um ungesehen daran vorbeiziehen zu können, im Falle Menschen dort lebten und sich in unmittelbarer Umgebung befanden. Die Pferde warteten ruhig die Entscheidung ihrer Herren ab, was ein gutes Zeichen sein mochte. Tiere spürten lauernde Bedrohungen im Dickicht eher als Menschen. Adrig nickte schließlich einverstanden und schlug gemächlich die Richtung zur fremden Hütte ein.

Je näher sie kamen, desto mehr erkannten sie, in welchem erbärmlichen Zustand diese Unterkunft war. Auf dem Dach hatten sich Pflanzen angesiedelt, die in der Herbstkälte braun geworden waren. Allein das Moos behielt stur zwischen dem ergrauten Stroh sein allgegenwärtiges Grün. Die beiden warteten schweigend einen Moment vor der abwartenden Hütte, bis Oméril seine Pferde bei Adrig ließ und sich dem Eingang näherte. Ein schwerer, von Feuchtigkeit triefender Stoff diente als Tür vorm Eingang. Der Junge schob diesen beiseite und spähte in die Finsternis. Im Inneren roch es nach Moder und Wald, doch der bekannte Geruch von kalter Asche mischte sich dazu, was auf eine verlassene Feuerstelle schließen ließ. Oméril drückte den schweren Vorhang weiter auf, um etwas Licht einzulassen und erkannte die wagen Umrisse von einer verwaisten Behausung. „Vielleicht können wir ein Feuer machen“, sprach er mehr zu sich selbst und lauschte seinen eigenen Worten in diesem merkwürdigen Raum. Wie lange mochte niemand hier gesprochen haben? Seine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, neben dem Eingang befand sich ein Guckloch und im gerundeten Dach war eine Öffnung, durch dass der Rauch eines möglichen Feuers abziehen konnte. Unweit plätscherte leise ein kleiner Bach, Oméril konnte ihn nun hören. Die Leute, die sich hier angesiedelt hatten, waren sicher gegangen, dass ihnen frisches Wasser zur Verfügung stand. Er fragte sich, wie lange diese Hütte wohl unbewohnt sein mochte und entdeckte irdene Gefäße, einfache Schemel, Steine, die nebeneinandergelegt worden waren, um die Feuerstelle abzugrenzen.

Draußen klapperten Holzscheite aufeinander und Oméril wartete, bis Adrig ihm ins Innere folgen würde. In der Zwischenzeit inspizierte er das, was sich in den Gefäßen befand. Ein Geruch von getrockneten Kräutern und Feuchtigkeit schlug ihm entgegen, diese Vorräte waren mit Sicherheit ungenießbar geworden. Doch er entdeckte einen kleinen Kessel, wischte den Dreck mit der Hand raus und schaute, ob sich kein Loch darin befand.  In diesem Moment duckte sich Adrig durch den niedrigenEingang und ließ den miefigen Vorhang hinter sich zufallen. „Schau, sie haben geschickt Holz gelagert. Wir können uns ein Feuer leisten. Es wird zwar fürchterlich qualmen, doch etwas Wärme kann niemand schaden.“

Oméril stand vom Boden auf und zeigte ihm den Kessel. „Ich werde frisches Wasser holen!“, verkündete er. In der Zeit, in der Adrig sich bemühte, in der anherrschenden Feuchte ein Feuer zu entfachen, ging Oméril zum Bach, kam mit einem gefüllten Kessel zurück, spülte die Flaschen im klaren Wasser aus und ließ sie volllaufen. Er beobachtete die Natur, hinter jedem Baumstamm schien etwas zu warten, zu lauern, nach ihm zu spähen. Oméril blickte eingehend in die eine Richtung, in die andere, doch nichts rührte sich, es wehte lediglich ein leichter Wind hoch in den Wipfeln der kahlen Bäume. Weit stieß ein Vogel einen ihm unbekannten Schrei aus, sonst blieb alles ruhig. Schließlich drehte er dem plätschernden Bach den Rücken zu und ging zur Hütte zurück.

In der Tat war es Adrig gelungen, ein Feuer zu entfachen, der Qualm biss ihm in die Augen, doch er war sich sicher, dass sich dies geben würde, sobald die gröbste Feuchtigkeit vertrieben war. Der Junge stellte den Kessel auf die Steine um das Feuer herum und wollte darauf warten, bis das Wasser Blasen schlug und zu kochen beginnen würde. In der Zwischenzeit ging er zu seinem Pferd zurück, löste die Taschen von seinem Sattel und schleppte sie ins Innere der Hütte. Tief zwischen all den sorgfältig eingepackten Päckchen befand sich ein Sack mit trockener Nahrung, die man mit heißem Wasser aufkochen konnte. Adrig beobachtete den Jungen, der behutsam jeden Krümel aus seiner Handfläche wischte und in den Topf fallen ließ. Oméril hatte sich sogar einen kleinen Ast aus dem Wald besorgt, mit dem er sein merkwürdiges Gebräu aufrühren konnte. Es schien so, als wäre der junge Prinz bestens für ein aufregendes Abenteuer ausgerüstet und habe sich lange vor seiner Abreise mit allen nur erdenklicken Proviant und Utensilien vertraut gemacht.

In der Tat gewannen die Flammen des neuen Feuers die Überhand im erkalteten Herd und begannen beruhigend zu flackern. Der Qualm hatte sich gegeben und der Inhalt des kleinen Kessels begann angenehm zu duften. Oméril zerrte seine Ärmel über seine Hände, damit er den Kessel anfassen konnte und schüttete behutsam von der Brühe in zwei hölzerne Becher. Einen davon reichte er Adrig. „Das wird dich aufwärmen und dir neue Kräfte bringen“, fügte er hinzu.

„Ich hätte nie gedacht, dass ein Prinz weiß, wie man auf Reisen eine Suppe zubereitet“, murmelte der Ritter und nahm den dampfenden Becher dankbar entgegen. Oméril zuckte mit den Schultern. „Auf meinen Reisen zu den Gletschern habe ich gelernt, wie man sich selbst versorgen kann, um über Tage bei Kräften zu bleiben. Hat mich jemand gefragt, ob ich ein Prinz sein möchte? Ich bin auf die Welt gekommen wie jeder andere auch und wenn niemand da ist, der sich um mich kümmern kann, dann ist es besser zu wissen, wie man auf sich selbst Acht gibt.“ Er pustete behutsam über seinen Becher und beobachtete den großen Ritter, der sich in eine bequemere Stellung setzte. In Gedanken fügte der Junge hinzu, dass sein Begleiter viel zu erschöpft aussah, um noch einen Tagesritt weiter aufnehmen zu können. Und er fühlte sich gut dabei, etwas Nützliches zu tun. Im Grunde nagte eine trüber Verzweiflung tief im Inneren seiner Gedanken und er bemühte sich, dieses Gefühl zu unterdrücken.

 Oméril versuchte sich auszumalen, was ein Ritter auf einem Schlachtfeld erlebt haben mochte und wusste, dass er nicht die geringste Ahnung davon hatte. Nach den bestandenen Kämpfen der erschöpfende Ritt durch das Gebirge zu Valroux zurück, um dort augenblicklich von seinem Vater empfangen zu werden. Und dort den Befehl zum empfangen, erneut in die Kälte geschickt zu werden, von seiner Familie und seiner Verlobten Abschied zu nehmen und sich mit einem fremden Jungen auf der Flucht vor Auftragsmördern zu befinden. Offensichtlich verstand Adrig es gut, ein wirksames Feuer zu entfachen, an dem sie sich wärmen konnten. Schweigend tranken die beiden die heiße Brühe und blickten gedankenverloren in die tanzenden Flammen. Die flackernde Wärme streichelte über ihre Gesichter und die Hitze des stärkenden Getränks belebte kribbelnd ihre kalten Hände.

„Du kannst dich ruhig ausruhen“, sprach Adrig leise. „Ich werde wachen.“ Allerdings glaubte Oméril ihm nicht und wartete geduldig ab. Er würde über ihn wachen, doch er wollte nicht wiedersprechen und brauchte nur den Moment kommen zu lassen, an dem die unerwartete Wärme sich beruhigend im Körper des Ritters ausbreitete und er sich eine bequeme Lage aussuchte. Der Junge hörte, wie Adrigs Atemzüge tiefer und langsamer wurden und wagte sich, ihn anzublicken. Frieden hatte sich auf dem jungen Gesicht seines Begleiters ausgebreitet, die Strapazen der vergangenen Zeit hatten ihn befohlen, seine Erschöpfung gegen erholsame Ruhe auszutauschen. Jeder Atemzug vermochte ihn etwas zu heilen, aber die Wunden in seiner Seele würden vielleicht nie vernarben. Der Prinz erhob sich langsam von seinem Platz, stellte seinen Becher behutsam ab und trat vorsichtig näher, um seinen neuen Begleiter genauer zu betrachten, wobei er es vermied, auch nur das geringste Geräusch zu verursachen.  Adrig hatte gesagt, dass er vierundzwanzig Jahre alt sei und dem Jungen erschien dieses Alter im Vergleich zu seinen dreizehn Lebensjahren nah und fern zugleich. Er rechnete im Kopf, dass Adrig schon älter gewesen war als er an diesem Tag, als der gerade als Prinz geboren ward. Oméril betrachtete das ruhende Gesicht des Ritters, seine geschlossenen Augenlieder, sein langes Haar umrahmte mit stumpfen Strähnen sein Gesicht und war im Nacken zusammengebunden. Der Junge betrachtete den heranwachsenden Bart um seinen verschlossenen Mund und spürte, wie seine schmale Brust von einer warmen Welle ergriffen wurde. Adrig war ein Held in seinen Augen, ein tapferer Mann, der sich seinen Aufgaben stellte und auf den er zählen konnte. Der Junge sah die Schönheit in diesem ebenmäßigen Gesicht und dachte sich, dass er sich so das Antlitz von Grimmynsar vorgestellt hatte, jener gütige Gott, der seine ewige Ruhe im Eis gefunden hatte. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie selten so eine Schönheit war und dass Adrig gewiss dafür beneidet wurde. Oméril stellte sich die beißende Genugtuung der Menschen vor, die Mitschuld daran trugen, dass dieser Mann heute in der finsteren Wildnis herumirrte und um sein Leben kämpfen musste. Er selbst erschien wie ein vorgeschobener Grund, der sich zunächst erst beweisen musste. Vorsichtig erhob er sich aus seiner hockenden Stellung ohne den Ritter aus den Augen zu lassen. Er würde über ihn wachen und für ihn da sein, entschied er still und trat zurück. Adrig hatte seine Waffen abgelegt, Oméril betrachtete das ruhende Schwert in seiner einfachen Scheide, daneben ein langer Dolch mit einem schlichten, fein ausgearbeiteten Holzgriff. Das Holz war dunkel und glatt geworden, die Klinge erschien blank und hell in der grauen Finsternis der Hütte, der Schein der tanzenden Flammen schimmerte darauf. Oméril nahm diese Waffe auf und fühlte wie diese Berührung eine gewisse Zuversicht in seinem rechten Arm ausstrahlte. Ohne den Dolch loszulassen, entschied er, einen Holzscheid in das brennende Feuer dazuzulegen, bevor auch er sich am anderen Ende der Hütte zur Ruhe setzte. Von seinem Platz aus konnte er den Ritter im Auge behalten und aus der schmalen Luke zwischen den dicken Steinen der Wand hinausblicken. Die Menschen, die diesen Unterschlupf gebaut hatten, waren klug vorgegangen, in dem sie die großen natürlich vorhandenen Steine als Grundsteine benutzt hatten und den Teil des dichten Geflechts aus Ästen, Zweigen und Lehm darauf abstützten. Was als Abdeckung des Daches diente, hatte ihnen der Wald zur Verfügung gestellt und war im Laufe der Zeit wie zusammengewachsen.

Adrig ruhte sich aus und war in einen tiefen Schlaf gefallen, der Junge empfand einen gewissen Stolz darüber, über diesen Ritter zu wachen und er war sich sicher, dass er selbst dem Schlaf wiederstehen würde. Sie waren beide aufeinander angewiesen und er war fest entschlossen, dass seine Reise noch lange nicht am Ende angelangt war.

Die Zeit verstrich langsam und Oméril hing seinen Gedanken nach, bis ihm gewahr wurde, dass das Feuer niederbrannte. Er erhob sich und legte abermals Holz nach. Während er die kleinen neuen Flammen beobachtete, die allmählich von dem Scheid Besitz ergriffen, spitzten sich die Ohren des Jungen. In diesem Gebiet war die Natur sehr ruhig, doch irgendetwas schien sich verändert zu haben, oder bildete der Junge sich das nur ein? War er selbst nicht übermüdet und erschöpft und fürchtete sich vor der dunklen Jahreszeit und der ständigen Dämmerung, die sich unter der dicken Wolkendecke nicht komplett auflösen wollte? Er entschloss sich, nachzuschauen, er wollte sich beruhigen, um wieder dicht zum wärmenden Feuer neben seinem Ritter abwarten zu können. Wenn dieser erwachen würde, wollte er ein paar Witze machen und ihn aufheitern. Doch vorläufig musste er nach draußen spähen, um sicher zu gehen, dass die Pferde dort waren und ruhten. Nach Adrigs Ruhe war es ohnehin an der Zeit diesen Ort zu verlassen und die Reise aufzunehmen.

In diesem Augenblick vernahm Oméril ein leises Schnauben der Pferde vor der Hütte. Vorsichtig blickte der Junge durch die schmale Öffnung und erkannte gerade mal die Kruppen der Pferde. Sie ruhten nicht, eines von ihnen trat ein paar Schritte auf der Stelle und ließ ein warnendes Grollen aus seiner Kehle klingen. Omérils Herzschlag beschleunigte sich mit einem Mal, denn er war sich überhaupt nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sich in dieser Hütte niederzulassen. Rasch warf er einen Blick auf Adrig, der noch immer tief und ruhig schlief. Wenn er ihn jetzt aufwecken würde, konnte er nicht gewiss sein, dass er keine Geräusche verursachen würde und der Junge zog es instinktiv vor, sich so unauffällig und leise wie möglich zu verhalten, bis er herausfinden konnte, was die Pferde unruhig machte. Mit zusammengepressten Lippen schob er sich von seinem Beobachtungsposten fort und fragte sich, wie er vorgehen konnte. Aus dem Haupteingang hinauszugehen, kam nicht in Frage, weil die kleinste Bewegung der Tür seine Gegenwart verraten würde. Wahrscheinlich hatte irgendetwas den Duft des frischen Feuers wahrgenommen und umkreiste nun die nächste Umgebung. Oméril blinzelte durch die Dunkelheit der Hütte und überlegte fieberhaft nach. Er wollte auf keinen Fall wie ein verängstigter Hase in seinem Unterschlupf hocken bleiben und darauf warten, dass sich etwas oder jemand in Innere wagte. Da fiel sein Blick plötzlich auf einen spärlichen Lichtschein dicht am Boden hinter Adrig. Flink huschte er zu diesem Platz und beugte sich hinunter. Zugluft blies ihm ins Gesicht und brachte den Duft des Waldes mit sich. Vor der Hütte schnaubten die Pferde und er hörte wie eines unruhig an seinem Zaumzeug kaute. Oméril presste seinen Kopf auf den Boden und versuchte etwas von der Umgebung zu erkennen. Die Öffnung war zu schmal, um ihn ohne Geräusche zu verursachen rauszulassen. Er überlegte fieberhaft, wie er vorgehen sollte und fragte sich, ob seine Sinne ihm nicht einen Streich spielten und er sich eine mögliche Gefahr nur einbildete, doch plötzlich hörte er Schritte und im nächsten Augenblick erkannte er zwei Stiefel grausig dicht an der Wand seines Verstecks. Bei dieser Erkenntnis wurde ihm vor Schreck speiübel. Da war jemand! Er erkannte den krustigen Dreck einer langen Reise an den Stiefeln, jemand schritt um die Hütte herum und schien sich zu fragen, ob er hineingehen sollte. Oméril erhob sich eilig und bewegte sich flink und geräuschlos zum Ausgang der Hütte. Rasch griff er nach Adrigs Dolch und wartete ein paar Atemzüge hinter dem schweren, miefigen Vorhang ab. Was sollte sein, wenn dieser jemand, der die Hütte umschritt, nicht allein war? Sollte er es wagen, hinaus zu gehen und die Gefahr laufen, von einem Gefährte erblickt zu werden? Aber es blieb ihm keine andere Wahl, draußen war es unglaublich ruhig. Er konnte unmöglich wie ein vor Angst erstarrter Hase in dieser Hütte hocken bleiben. Oder sollte er abwarten, bis der Fremde eintrat und ihn überfallen? Die Überraschung mochte zu seinem Vorteil sein. Und was, wenn dieser Mensch ihm nicht wirklich feindlich gesinnt sei? Er würde ihn grundlos angreifen, was das richtig? Wie konnte er herausfinden, was dieser Mensch im Schilde führte? Gehetzt blickte Oméril zu Adrig und sah, dass der Ritter noch immer fest schlief. Es war zu riskant, ihn jetzt aufzuwecken, die Gefahr, dass er ein verräterisches Geräusch verursachen würde, war zu groß. Vorläufig schlief er fest und gab keinen Laut von sich. Oméril spürte wie sich seine Muskeln am gesamten Körper anspannten und Schweiß auf seiner Haut ausbrach, er atmete flach und sah sich selbst völlig konzentriert auf den nächsten Moment. Er schob sich schließlich ohne zu zögern hinter dem schweren grauen Stoff hervor raus in die frische Luft und duckte sich. Die Pferde sahen ihn sofort, blieben aber ruhig stehen. Da wurde Oméril plötzlich klar, dass der Fremde hinter der Hütter hervorgetreten war und direkt hinter den Reittieren stand. Warum hatte er ihn nicht kommen gehört? Hatte er zu lange gezögert und die Schritte auf dem Waldboden nicht wahrgenommen? Doch er erkannte die Stiefel. Erschreckt duckte er sich tiefer und hörte in diesem Moment das schleifende Geräusch einer Klinge, die aus ihrer Scheide gezogen wurde. Die Hand des Fremden griff in die Zügel eines Pferdes, welches widerwillig den Kopf hochwarf und empört aufschnaufte. Plötzlich war Oméril klar, was der Kerl im Schilde führte. Er wollte die Tiere umbringen, damit eine rasche Flucht unmöglich machen. Unwillkürlich umfasste der Junge mit aller Kraft der Griff seines Dolches und sprang aus seiner Deckung hervor, um den Fremden anzugreifen. Im nächsten Atemzug erkannte er das erschrockene Gesicht des jungen Mannes, der kaum älter war als der Prinz selbst, die Klinge seines Schwertes rutschte vom Pferdehals ab, das Tier wieherte zornig auf und riss los, denn es hatte die menschliche List durchschaut. Oméril nutzte diesen Augenblick der Überraschung aus und sprang seinen Gegner mit einem wütenden Schrei an. So hatte er seine eigene Stimme noch nie zuvor gehört und er ward von seinem eigenen Schwung gegen den jungen Mann mitgerissen und sie stürzten beide zu Boden. Er spürte den festen Körper des Feindes, den schweren Aufprall durch dessen Rücken, wie sein Atem aus den Lungen gepresst wurde und Omérils Faust hart in sein Gesicht schlug. Doch die Hände seines Feindes waren flink und kräftig, packten ihn und wirbelten ihn zu Seite. Oméril hatte sein Messer verloren, erwehrte sich mit verbissener Kraft indem er den Hals des Kerls fest mit beiden Händen umklammerte. Er war grösser und erfahrener als Oméril, doch der Junge ergriffen von einer blutschweren Raserei. Er hatte sich nicht getäuscht und dieser Eindringling war entschlossen zu töten, die Pferde, ihn, Adrig. Sein Gegner umfasste Omérils Handgelenke, vermochte sich auf diese Art nicht zu befreien und warf sich mit einem gewaltigen Hieb herum, wobei er den Jungen unter dem Gewicht seines Körpers begrub. Oméril schrie erbost auf während er mit Entsetzten feststellen musste, dass seine Hände den Griff verloren. Sein Gegner hustete und riss beide Hände von seinem Hals. Erzürnt biss sich Oméril in die dichte Wange des jungen Mannes und hörte ihn vor Schmerzen dicht an seinem Kopf aufschreien. Der Junge nutzte die Überraschung und strampelte sich unter dem Gegner hervor, er verabscheute den fremden Geschmack in seinem Rachen, bebend vor Angst und unermesslicher Mut schlug er sein Knie gegen den Körper seines Feindes, doch fügte ihm damit kaum Schmerzen zu, sondern stieß ihn lediglich etwas von sich. Sein Körper war von einer festen Lederweste geschützt hatte Oméril begriffen, er erwehrte sich der tastenden Hände des Feindes und ehe er sich versah, wurde er mit ihm in die Höhe gerissen. Adrig war aus der Hütte herausgekommen und schnappte sich den kämpfenden Unhold. Der Kampflärm hatte den Ritter aufgeweckt. Die Pferde wieherten verängstigt auf und tänzelten aufgereckt auf der Stelle, da ihre festgebundenen Zügel sie nicht fortließen.

„Wer bist du?“, hörte er Adrig erbost brüllen, doch noch ehe Oméril einen klaren Blick fassen konnte, zischte etwas Schweres durch die Luft und zerbarst gegen den Kopf seines Ritters. Adrig entfuhr ein überraschter Aufschrei und er krümmte sich gepeinigt nach vorn, dabei erkannte Oméril mit riesigen Schrecken einen zweiten jungen Krieger, der einen dicken Ast mit beiden Händen umklammert hielt und mit geweiteten Augen in seine Richtung starrte. Oméril brüllte aus Leibeskräften, sprang auf und rannte kopfüber gegen den neuen Feind. Er rammte sein gesamtes Gewicht mit allem Schwung gegen ihn, umschlang fest dessen Hüften und riss ihn mit sich zu Boden. Der Kerl rollte sich ab, doch Oméril vergriff sich verzweifelt in seinen dichten Haarschopf und würde nicht loslassen, er hörte seinen Feind gepeinigt aufschreien.

„Ich bring dich um!“, hörte der Prinz seine eigene Stimme zwischen seinen zusammengepressten Zähnen.

„Oméril!“, rief Adrig, rappelte sich auf und wollte die Kampfhähne voneinander befreien, doch er ward vom ersten Widersacher angegriffen, wich knapp einer flinken Klinge aus. Der Prinz erkannte, dass sein Freund sich in Acht nehmen musste und es um Leben und Tod ging. Seine kurze Unachtsamkeit wurde von seinem Feind ausgenutzt und er bezahlte mit einem wohlangezielten Schlag des befreiten Ellbogens gegen sein Kinn. Der Junge hatte einen Moment lang den Eindruck, sein Kopf würde zerbersten und nach hinten abbrechen, ihm blieb der Atem stocken. Er wälzte sich benommen auf den Bauch, sein Feind hatte von ihm abgelassen und hetzte zu seinen Kumpanen, um ihm beim Kampf gegen den großen Ritter behilflich zu sein. Oméril erkannte nur schemenhaft die Umrisse der Kämpfenden, er keuchte und zwang sich auf die Knie. Jeder Hieb wurde von einem erbosten Schrei begleitet und hallte in seinem Kopf wieder, er verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorn, wobei er sich mit beiden Händen auf dem Waldboden abstützte. Adrig brauchte seine Hilfe, sonst wäre es auch um sein Leben nicht lange beschert. Die beiden waren hier, um sie zu töten, daran bestand kein Zweifel und sie wussten, wie sie vorzugehen hatten. Im gleichen Moment erfühlte Omérils rechte Hand den festen Griff eines Dolches. Hatte er diese Waffe verloren? Er konnte nichts Genaues erkennen, seine Augen weigerten sich, ihm zu gehorchen, Blut lief in Strömen aus seiner Nase über seinen Mund und ihm war übel vor dem metallenen Geschmack von Dreck, Angst und Hass. Aber die neuerrungene Waffe machte ihm Mut, kaum in der Lage auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, umfasste er den Griff mit beiden Händen und stolperte ins Kampfgeschehen. Die drei erschienen ihm wie unwirkliche Schemen, die Jungen waren kleiner als Adrig, doch erbarmungslose Kämpfer. Oméril folgte seinem Instinkt, duckte sich, spürte wie seine Finger sich fester um den Griff des Dolches schlossen und sprang unerwartet in die Seite seines Feindes, nicht zu weit oben, gerade über seinen Hüften, dort wo sich ein Gürtel befand und sein lederner Schutz nichts verdeckte. Im selben Moment wo Oméril spürte wie seine Klinge in den Leib des Feindes glitt, erschallte dessen entsetzlicher Schrei wie der eines gepeinigten Tieres. Der Junge hatte abermals die Wucht seines kompletten Körpers benutzt, um seiner verhängnisvollen Waffe die nötige Kraft zu verleihen und er hatte das Gefühl, die Klinge würde von den Innereien seines Gegners aufgesaugt. Er war entsetzlich dicht bei ihm, erfüllt von seinem Geschrei, dem plötzlichen Blut und Gestank des Todes, gemeinsam stürzten die beiden zu Boden, Oméril spürte, wie sich die verzweifelte Hand seines Feindes in seinem Gesicht vergriff, er schnappte nach Luft, war aber außer Stande, von seiner Waffe abzulassen. Sein Feind war schwer, entsetzlich bleiern, zuckend, Oméril war sich sicher, in diesem Moment mit ihm gemeinsam sterben zu müssen.

Adrig hatte sich in Todesangst und Hast dieser jungen Mörder erwehrt. Sie waren entsetzlich flink und ihre Art zu kämpfen folgte keiner ritterlichen Ausbildung, sondern nur den Gesetzten von Killern. Er sah den einen gemeinsam mit Oméril zu Boden stürzen, schlug nach den anderen, der ihm allerdings mit einem Mal auswich. Mit weitaufgerissenen Augen schien der junge Kerl dem Wahnsinn nahe zu sein, er hatte es mit der Angst zu tun bekommen und seinen Kameraden zuckend auf dem Waldboden gesehen. Oméril stieß einen barbarischen Schrei aus und schob den geschundenen Leib seines Feindes von sich, griff in dessen Haarschopf, zerrte an seiner Waffe, bis die bluttriefende Kling frei war und stieß in den Hals des Meuchlers. Ehe Adrig sich versah, war sein Kumpane auf dem Sprung, sich vom Kampf zu entfernen. Fluchend versuchte er nach ihm zu greifen, doch der Kerl war verdammt schnell. Ehe er es sich versah, war der Junge bei den panischen Pferden, begriff sofort, dass er die Zügel nicht zerschneiden konnte, blickte sich hastig um, rammte gemein seinen Dolch in die Kehle unter dem Kopf eines Pferdes, das Tier schrie entsetzt auf, er duckte sich zwischen den Tieren durch und entschlüpfte seinen Feinden. Adrig hatte sich selbst rufen hören, was völlig zwecklos war, denn das verletzte Pferd brach in sich zusammen. Da sah er Oméril hinter dem Kerl her rennen. Er rief den Namen des Prinzen und stolperte hinter ihm her.

„Oméril, nicht!“, brüllte er aus Leibeskräften und riss sich zusammen, um so schnell wie möglich den Jungen aufzuholen. Der fliehende junge Mörder war zäh und offensichtlich zum dauerhaften Rennen durchtrainiert. Scheinbar mühelos rannte er ohne seinen Lauf zu verringern die Anhöhe hinauf, hinter der sich die beiden wohl herangepirscht hatten. Adrig hörte Omérils keuchenden Atem, vom Schluchzen erschüttert und hatte ihn bald aufgeholt. Er hielt den Jungen an beiden Schultern fest und zog ihn an sich.

„Lass ihn gehen!“, befahl er, während er den Widerstand seines Schützlings in den Armen spürte. Die beiden hörten, wie ein Pferd hinter dem Berg überrascht auf wieherte und daraufhin Galoppsprünge über den Waldboden jagten, sich entfernten, bis es schließlich still und leise wurde.

„Ich will ihn umbringen …“, keuchte Oméril, seine Stimme versagte und war nur noch ein heiseres Räuspern. Adrig packte den Jungen an beiden Schultern und drehte ihn zu sich herum, damit er in sein blutüberströmtes Gesicht blicken konnte.

„Komm! Wir müssen hier weg!“, sprach Adrig zu ihm.

„Aber er wird den anderen sagen, wo wir sind!“

„Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden! Es ist ein Späher, ein junger Meuchelmörder, der es versteht, geschwind von einem Ort zum anderen zu gelangen, Seine Kameraden sind langsamer als er. Wenn er sie getroffen hat, werden sie eine Weile brauchen, um hier zu sein. Das lässt uns einen Vorsprung, wenn wir nicht zögern und schon gar nicht hinter ihm her rennen.“

Oméril presste die Lippen verärgert aufeinander und schien fieberhaft nachzudenken. Sein gesamter Körper zitterte und bebte, er war ergriffen von der Erregung des Kampfes und spürte, dass er sich übergeben wollte. Doch er kämpfte dagegen an und atmete schnell, wenn er diesem Reiz gehorchen würde, glaubte er, nie wieder aufhören zu können. Er musste stärker sein, und seinem Körper befehlen können. Adrig nickte, als habe er seine Gedanken gelesen.

„Gehen wir rasch, es ist Zeit, dass du kämpfen lernst. Du besitzt den Mut eines Raubtieres, aber deine Methoden sind erbärmlich.“

Omérils Blick verlor sich in den dunkelbraunen Augen seines Ritters. Er hatte ihn retten wollen, er hatte einen Mann getötet und geglaubt, selbst dabei sterben zu müssen, doch er war noch am Leben und musste ihm gehorchen. Warum zum Teufel hatten sie es nicht geschafft, beide dieser verhassten Kerle zu ermorden? Dazu waren sie doch gekommen, es wäre nur recht gewesen. Ein armes Pferd wurde dabei getötet und jetzt waren sie wieder auf der Flucht. Doch es blieb ihm keine andere Wahl als Adrig zu folgen. Stumm beeilten sich die beiden, ihre Habseligkeiten in Hütte aufzusammeln und sich auf den Weg zu machen. Beim Anblick des Toten füllten sich Omérils Augen mit Tränen. Die schreckensgeweiteten Augen, die leer in den Himmel starrten und die blutige Wunde dicht am bleichen Gesicht erfüllten den Prinz mit absolutem Grauen. Adrig beobachtete ihn und beeilte sich, die Sattelgurte der Pferde festzuziehen. Er führte den Jungen zu seinem Reittier und nickte ihm zu, damit er endlich aufsaß. Neben ihnen lag das gefallene Pferd und die Tränen kullerten endlich hoffnungslos über das verschmutzte Gesicht Omérils und er bemühte sich, sein Gesicht zu verstecken. Adrig betrachtete seine kindliche Nase und dachte sich, dass in seinem jungen Alter so ein Hieb sich wieder leicht verwachsen würde. Er ließ ihnen keine Zeit, sich zu reinigen oder zu pflegen. Sie mussten von diesem Ort verschwinden und alles andere würde sich später zeigen. Doch zuvor nutzte er den Moment an dem sein Schützling den Kopf abgewandt hatte, um den getöteten Kerl nach einer Geldbörse zu durchsuchen und er wurde fündig. Männer von solchen Können wurden bezahlt und er würde Geld brauchen.

 

 Adrig entschied sich, tiefer in den fremden Wald einzudringen. In der stummen Hoffnung, dass sein Gefühl ihn nicht trügen würde, ließ er die Pferde lieber bergab laufen, weg vom Gebirge, dem schmalen Bach folgend, so weit es ging. Irgendwo würden sie den Wasserlauf durchqueren, damit vielleicht ihre Spuren für eine Weile verwischen. Er konzentrierte sich auf seinen Weg und jeden Schritt seines Pferdes, achtete darauf, dass sein zweites Pferd nicht zögerte und Adrig folgsam bei ihm blieb. Der Junge hatte aufgehört zu weinen, er war jung und war nie mit der Härte des Lebens wirklich konfrontiert worden. Er hatte sich in blinder Wut geschlagen und mit seiner Wachsamkeit ihnen beiden wohl das Leben gerettet. Wäre er ebenfalls eingeschlafen, so gab Adrig nicht viel auf ihre Weiterreise. Die Spione hätten ihnen die Pferde entwendet und sie mühelos überfallen. Adrig presste verkrampft seine Zähne zusammen während er sich in Gedanken den Ablauf des Kampfes darstellte. Diese beiden jungen Kerle waren bemerkenswert flink gewesen. Zäh und ausdauernd gehörten sie wohl zu den schnellsten in ihrer Zunft. Späher, die sich in keinem fremden Land fürchteten, weil sie selbst zu den Bedrohungen des Unerwarteten gehörten. Der Ritter fragte sich, wie der Rest ihrer Gruppe aussehen mochte. Auftragsmörder waren in den Augen der Öffentlichkeit unbekannt und folgten ihren eigenen Gesetzen. Wahrscheinlich waren es die Männer gewesen, welche die jungen Spione bezahlten. Adrig wusste, dass er einen Plan erarbeiten musste. Er konnte unmöglich mit Oméril ständig auf der Flucht bleiben. Er musste Möglichkeiten finden, seine Verfolger zu überraschen und sie einem nach dem anderen außer Gefecht zu setzen.

 

Als es an der Zeit war, die Pferde verschnaufen zu lassen, lag über den Wald eine tiefe Stille. Bald würde es dunkel werden. Die Äste der Bäume verharrten ruhig in der kalten Luft und warteten auf den Winter. Adrig blickte in die trübe Umgebung, sie hatten den Bach hinter sich gelassen, waren so weit wie möglich wo das Wasser flach genug war, gegen die Strömung geritten und an einem steinigen Ufer zwischen dichte Büsche geschlüpft. Jetzt mussten die Pferde zur Ruhe kommen. Er konnte es sich nicht leisten, diese Tiere unnötig zu belasten. Vielleicht würde er sie sogar verkaufen, das gewonnene Geld sparen und zu Fuß weiterreisen. Er brauchte Zeit, für einen Plan. Er müsste eine Gelegenheit finden, seine Kleidung zu wechseln, ebenso die des Jungen. Es war an der Zeit, sich in der Weltgeschichte unsichtbar zu machen.

Oméril war ebenfalls abgesessen, starrte reglos in den Wald und atmete schwer. Adrig lockerte die Sattelgurte der drei Pferde, einzig ihr erleichtertes Schnaube, das Scharren ihrer Hufe und Malmen ihrer Mäuler waren in der drückenden Stille zu vernehmen. Die Tiere begnügten sich mit dem vom ersten Frost umgeknickten braunen Gräsern zwischen den Baumstämmen. Noch waren ihre Hufe und Beine unbeschadet und würden auf einem Pferdemarkt einen korrekten Preis erzielen, dachte Adrig bei sich. Vorläufig musste er sich Oméril annehmen, der Junge bereitete ihm Sorgen. Wahrscheinlich waren sie ohnehin zu weit von einer Stadt oder größeren Siedlung entfernt, in der Adrig auf einen Käufer hoffen konnte. Es war also nicht nötig dem Kind seine Gedanken zu unterbreiten, dass sie sich von den Tieren trennen würden. Insgeheim ahnte der Ritter, dass der Junge, dies nicht ohne Weiteres akzeptieren würde. Die Gegenwart der Pferde hatte etwas Beruhigendes.

„Oméril, wie geht es dir?“, fragte Adrig leise mit betont sanfter Stimme und der Junge hob seine Schultern an, schüttelte langsam den Kopf wobei Adrig sah, dass er noch immer zitterte. Offensichtlich war das Kind schockiert.

„Wie alt bist du?“, fragte Oméril mit bemerkenswert fester Stimme, als würde er sich bemühen, eine Rolle zu spielen.

„Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt.“

Oméril nickte verstehend und verharrte einen Augenblick völlig ruhig, bis er schließlich erwiderte: „In drei Jahren hast du dein komplettes Mannesalter erreicht.“

„So ist es bei uns, die Gesetzte der Unih haben es so entschieden. In anderen Völkern wird das Alter der Männer anders gerechnet und im Grunde spielt es keine Rolle“, erklärte Adrig ruhig und wagte sich, etwas näher zu treten. Oméril blickte ihn plötzlich direkt ins Gesicht, die Pupillen seiner dunklen Augen zuckten unruhig hin und her, doch er fixierte den Ritter. Offensichtlich hatte ihn seine Bemerkung berührt.

„Du bist heute jünger als ich es sein werde, wenn ich meinen Thron besteigen darf. Warum hat mein Vater nicht daran gedacht, dieses Gesetz zu ändern? Wäre es nicht einfacher gewesen, mich einfach als Nachfolger zu ernennen, wenn er stirbt?“

„Genauso sieht es aus und ist im Interesse des Hofrates, einen jungen beeinflussbaren König zu haben. Und deines Lebens wärst du in Valroux nicht sicher.“ Adrig hörte sich selbst diese absurden Worte sprechen und fühlte sich dabei, als habe er einen Text auswendig gelernt, welchen er weder für richtig noch weise halten konnte.

„Jeden Tag werden wir um unser Leben bangen. Sieh doch selbst was für einen Schaden zwei dünne Jünglinge anrichten, nur weil ihnen für Geld angeordnet wurde, uns aufzuspüren. Wer gibt ihnen das Recht, uns zu töten? Ripek? Männer aus dem  Hofrat? Leute, in der Nähe meines Vaters?“ Omérils Gesicht war kreidebleich geworden und seine Nase leuchtete rot und angeschwollen mitten im Gesicht. Im Laufe der folgenden Tage würde sich ein gewaltiger Blutaufguss bilden und blau anlaufen.

„Wenn wir es wüssten und Beweise hätten, wären wir nicht in dieser Situation …“, sprach Adrig leise, denn im Grunde wusste er absolut nicht mehr, wie er den Jungen beruhigen konnte. Ihm blieben die Worte aus, denn diese Geschichte war völlig absurd.

„Ich werde meinen Vater nie wieder sehen, das ist mir jetzt klar. Ich bin heute dreizehn Jahre alt, bis ich so alt sein werde wie du heute, sollen mindestens sieben Jahre vergehen.“ Er rang nach Luft und bemühte sich, ruhig zu bleiben, dabei haderte er mit seiner Verzweiflung.  „Und dann noch drei weitere Jahre … aber das ist doch unmöglich …“

„Nichts ist unmöglich …“ Omréil flüsterte und Adrig wagte sich selbst kaum lauter zu sprechen. Vor ihm stand ein kleiner Junge, dem klar war, welchen Gefahren er ausgesetzt war und das sein Leben sich in jeder Stunde in einem brutalen Tod auflösen konnte. Ein Junge, der sich nach Sicherheit und Schutz sehnte und er hatte nur ihn bei sich, einen jungen Ritter, der selbst der Erschöpfung nahe war. Am liebsten hätte er ihn in die Arme geschlossen und ihn mit wiegenden Bewegungen beruhigt, gesagt und versichert, dass alles wieder gut sein würde und er sich nicht zu sorgen brauchte. Doch er wusste genau, dass dies eine Lüge war! Die Wahrheit war schrecklich, ihre Pferde mussten sie loswerden, sie mussten sich verstecken, bei anderen Menschen Unterschlupf finden, sich für Leute ausgeben, die sie nicht waren, deren Gesten und Gepflogenheiten studieren, um selbst unerkannt zu bleiben. Zu zweit hatte sie kaum eine Überlebenschance, die Auftragsmörder waren sicher bald auf ihren Spuren, es war nur eine Frage der Zeit.

„Ich will das nicht! Du hast nicht verdient, von deiner Frau getrennt zu sein. Wenn sie ihr Kind zur Welt bringt, wird es älter sein als ich heute, wenn du mit mir wieder in Valroux einreitest. Mein Vater hat mir gesagt, dass wir in Städten und Schulen erwartet werden und Unterschlupf finden. Sollten wir nicht lieber einen anderen Weg einschlagen und es dort versuchen? Vielleicht können wir früher als geplant wieder nach Hause kehren?“ In diesem Moment konnten Omérils Worte kindlicher nicht erscheinen und er ward sich dessen wohl selbst bewusst, als Adrig standhaft schwieg und in seine flehenden Augen blickte.

„Ich will nicht sterben!“

„Das wirst du auch nicht, bleib nur ganz ruhig. Wir werden uns etwas ruhen und du wirst sehen, es wird auch weitergehen.“

„Ich werde meinen Vater nie mehr wiedersehen!“

„Oméril! Klagen bringt niemand weiter!“

„Ich hasse diese Welt, hörst du?“, schrie er auf einmal erbost auf. „Wer hat es schon verdient, zu leben? Niemand will geboren werden!“

Adrig legte seine Hand beruhigend auf die Schulter des Jungen, doch er riss sich ungestüm los.

„Du willst mich also nicht in die Städte bringen, wie es mein Vater angeordnet hat, weil du dich davor fürchtest, dort umgebracht zu werden?“

„Wären wie den angegebenen Wegen gefolgt, wären wir wahrscheinlich schon längst tot!“

„Vielleicht auch nicht! Stattdessen irren wir wie Blöde in einer absoluten Wildnis, die niemand kennt und wissen überhaupt nicht wohin wir gehen können.“

„Unsere Verfolger wissen es auch nicht, und das gibt uns eine Überlebenschance.“

„Du weißt überhaupt nichts!“ Erbost trat der Junge ein paar Schritte zurück ohne Adrig aus den Augen zu lassen. Der Ritter spürte, dass ihm die Kontrolle über die Situation völlig entglitt und er weitete entwaffnend seine Arme.

„Oméril, beruhige dich! Ich werde mein Bestes geben, um dir beizustehen, ich gebe dir mein Wort.“

„Lass mich in Ruhe! Du hast meinem Vater nicht gehorcht und dafür müssen wir jetzt mit einem abscheulichen Tod im Matsch bezahlen. Du bist allein daran Schuld…“ Omérils Stimme überschnappte sich und hallte erschreckend schrill durch die abwartende Wildnis.

„Ich bitte dich, mach nicht solch einen Lärm!“ Doch der Junge schrie ihn abermals trotzig an und begann davonzulaufen.

„Oméril!“, brüllte Adrig ihm nach und fluchte, weil der kleine Kerl beachtlich schnell rennen konnte. Die Pferde spitzten aufgeschreckt die Ohren und blickten den beiden Männern nach. Fast wäre es Adrig gelungen, den Jungen einzufangen, er packte nach seinem Arm, verlor dabei allerdings das Gleichgewicht und stolperte auf den Waldboden. Oméril stürzte ebenfalls, riss sich los und versetzte Adrig einen kräftigen Tritt ins Gesicht. Der Mann keuchte vom Schmerz gepeinigt auf und brauchte einen kurzen Moment, um sich zu sammeln. Mehr benötigte der Junge nicht, um ihm zu entwischen.

Adrig war benommen von dem unerwarteten Hieb und hielt sich seine schmerzende Wange. Schnaufend rappelte er sich auf die Beine und blickte dem Jungen hinterher. Er sah wie sich seine Gestalt wie ein verschwommenes Spektrum in der Umgebung verlor. Er rief noch einmal seinen Namen, lief noch ein paar stolpernde Schritte, bis er endlich stehenblieb. Beide Beine fest in den Waldboden gerammt als würde sich sein Körper weigern, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Er fluchte für sich allein und blickte um sich. Nach und nach vermochte er die Umgebung wieder klarer zu erkennen. Die Dunkelheit nahm zu. Hatte er versagt? Das fragte er sich in diesem Augenblick und er rang nach Luft. So sollte es also ausgehen mit seiner heroischen Reise ins Unbekannte, ins Exil zum Schutz des Kronprinzen der Unih. Das durfte doch nicht wahr sein, sprach er zu sich selbst und ging ohne weiter zu grübeln zurück zu den Pferden.

Er würde den Bengel schon wiederfinden, allerdings konnte er es sich nicht erlauben, die wertvollen Reittiere im Stich zu lassen. Und er durfte nicht die Gefahr gehen, sich selbst in diesem verdammten Wald zu verlaufen. Der finstere Himmel half ihm nicht gerade dabei, eine Richtung einzuschlagen und es wäre leichter gewesen als er ahnte, sich einfach zu verlaufen. Vorläufig wollte er zu den Pferden zurück, um anschließend die Spuren von Oméril aufzusuchen.  

 

Oméril hingegen rannte wie blind durch den Wald, an den unzähligen Baumstämmen vorbei, unter Ästen hindurch geduckt, getrieben von unglaublicher Angst, und brennender Wut und Hass auf all diese großen Menschen, die ihn seit er sich erinnern konnte, umgaben und sagten, was er zu tun hatte. Er war frei, jedenfalls hatte er das Recht dazu, ebenso wie die Burschen, die ihm vor wenigen Stunden zugesetzt hatten. In diesem Augenblick war er sich sicher, das Gesicht des jungen Mannes, den er mit eigenen Händen umgebracht hatte, nie vergessen zu können. Er war von nun an auch ein Mörder, ein Kerl, der einen Mann umbringen konnte und er wusste, dass er noch viele andere töten würde und diese Gedanken machten ihn wahnsinnig. Von klein auf hatte er von Kämpfen gehört, sein Vater hatte seine Armee in den Krieg reiten lassen und es wurde ihnen jeden Abend von großen Schlachten erzählt. Oméril hatte gelernt, wie er eine Waffe halten musste und welche Körperhaltung zu welchem Schlag gehörten, doch all dieser wertvolle Unterricht, diese erhabenen Lektionen im sauberen Waffenhof seines Schlosses kamen ihm jetzt nicht nur wie eine große Lüge, sondern einfach nur lächerlich vor. Adrig hatte ihm gesagt, wie grotesk seine Kampfmethoden waren, er verfügte über keine einzige, er wusste nur, dass er am Leben bleiben wollte. Jeder, der sich in seinen Weg stellen würde, sollte mit dem Leben bezahlen. Und wer war dieser Adrig überhaupt? Ein Ritter, wie so viele andere am Hof seines Vaters, die sich etwas auf ihre Tugenden einbildeten und auf jede Frage eine Antwort parat hatten. Antworten, die von ihnen erwartet wurden und einfach waren, auswendig zu lernen. Selbst nachzudenken wurde von ihnen nicht erwartet. Für Männer wie Adrig schien das Leben einfach zu sein, sie hatten ja nur ihren blöden Befehlen zu gehorchen und diese mit Bravour auszufüllen. Wie konnte so ein Mann überhaupt verstehen, was in seinem brennenden Herzen vorging. Das betroffene schöne Gesicht Adrigs hatte ihn verzweifeln lassen. Er liebte ihn, er hasste ihn, all die Gedanken jagten durch seinen Kopf und er rannte schneller und schneller, seine Lunge schmerzte ihm, doch er wollte darauf nicht hören und weiter rennen, bis er vor Erschöpfung umfallen würde. Er feuerte sich weiter an und hörte seine eigenen Schritte über den Waldboden rennen, leicht, trittsicher und ausdauernd, er war Oméril, und würde stets allein kämpfen und zu einem erbarmungslosen Krieger heranwachsen. Brauchte er einen Ritter wie Adrig dazu? Es durstete ihm nach Blut, Blut haftete noch immer an seinen Händen, in seinem Gesicht, sein Atem fauchte wie der eines wilden Tieres und seine Augen tränten, doch er erkannte jedes Detail seiner Umgebung. Der Mond war aufgegangen und strahlte voll durch die kahlen Baumwipfel. Die Umgebung war in silbernes Licht getaucht.

 

Endlich verlangsamte er seine Schritte, bis er wieder ruhig atmen konnte und sogar zum Stehen kam. Er lauschte konzentriert in die Stille des Waldes und fühlte sich in diesem Augenblick wie ein unbesiegbarer Herrscher eines fremden Landes. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und es war ihm auch völlig gleichgültig, welche Uhrzeit momentan vorherrschen würde, denn er gehörte nicht mehr zu seinem verdammten Hof, an dem zu präzisen Augenblicken Mahlzeiten serviert wurden, Bäder eingelassen oder Unterricht erteilt wurde. All das gehört nun endgültig zur Vergangenheit und er brauchte dessen nun nicht mehr. Es ging darum, die Spur seines nächsten Opfers aufzunehmen und er sehnte sich danach, eins auszumachen. Ein Tier, ein Mensch, das konnte ihm gleich sein, er war ein Jäger geworden und würde sich nie wieder jagen lassen. Er würde töten, mit List und Tücke, kein Mensch sollte ihm etwas von Ehre einreden. Sein Herz trommelte wie wild in seine Brust und er war sich sicher, auf der Spur von etwas zu sein. Ein Trieb befahl ihm, sich zu ducken und leise, aber geschwind voran zu gehen. Er würde erneut töten und plötzlich hatte er das Gefühl, sein nächstes Opfer riechen zu können. Oméril pirschte sich unter vertrockneten Farnen durch bis er zu einem kleinen Pfad gelangte und in der Tat eine Gestalt zu erkennen glaubte. Bei dieser Erkenntnis beschleunigte sich sein Herzschlag und in seiner Brust brannte mit einem Mahl eine steinharte Wut. Er pirschte so rasch wie möglich hinter diesem Wesen her und war selbst überrascht, wie schnell und lautlos er voran kam. Bald konnte er erkennen, wen er da verfolgte, ein Mädchen mit langen, hellen und zerzausten Haar. Ihr grauer Rocksaum war vom feuchten Erdboden dunkel. Oméril blieb in Deckung und verfolgte ihre Bewegungen wir ein lauerndes Raubtier. Ihre Schritte wirkten zögernd und tastend, sie trug einen schweren Tonkrug und schien es nicht eilig zu haben. Sie war dünn, vielleicht sogar abgemagert und beachtete kaum ihre Umgebung. In Gedanken verloren bot sie ein einfaches Opfer, Oméril betrachtete seine Hände, mit denen er sich auf dem Boden abstützte. Jetzt kamen sie ihm kräftig vor und all die Worte der Leute am Hof, die ihn immer als groß gewachsen für sein Alter bezeichnet hatte, bestätigten sich. Er wusste, dass er töten konnte und er spürte den Reiz der Jagd nach einem schwachen Opfer. Männer setzten ihm nach, befolgten blind einer Anordnung, das alles machte keinen Sinn, und dieses verarmte Mädchen dort, welches nicht einmal bemerkte, dass es beobachtet wurde, stellte sich wie eine unverhoffte Beute dar.

1. Kapitel - Sli

 

Erbärmlich und nichtig in einer schweigenden Masse geboren,

verloren die Menschen, was einst heilig war,

das Leben eines Mädchen, einer Familie, einer Siedlung,

weniger wert als eine blutige Erinnerung in der alten Geschichte.

 

Zögernd und unsicher waren Slis Schritte und ihre Zaghaftigkeit war nicht unbedingt damit zu erklären, dass sie mitten in der dunklen Nacht für ihre kranke Mutter Wasser holen sollte. Das Mädchen ging immer so, sie fürchtete sich vor allem und hatte sich daran gewöhnt, denn sie kannte keine andere Existenz. Es gab nichts, was sie mit Sicherheit verbinden konnte, einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen durfte, jeder Tag war von Kälte, Angst und Schrecken geprägt. Oder die Zeit zog sich öde und lähmend dahin. So erschien ihr nichts außergewöhnlich. Ihre Mutter lag seit Tagen im Fieber, in der kleinen Hütte, die ihr als Unterschlupf diente, roch es nicht gut. Sie hatte totgeborene Kinder gesehen. Manchmal kamen angebliche Brüder, oder andere Männer in die Hütte. Ein Kerl, der hin und wieder zurück kam und etwas Nahrung brachte. Wenn er da war, verschwand Sli lieber im Wald. Ihre Mutter sagte, sie brauche einen Vater, jemand, der auf sie Acht gebe. Aber es war lange her, dass die hagere Frau keine zusammenhängenden Satz mehr gesprochen hatte. Sli wusste nicht genau, wann die Krankheit begonnen hatte. Das Wasser war in den vergangenen Tagen schal geworden und Sli hatte sich entschieden, frisches zu holen. Sie hatte Hunger und konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Der Winter würde kommen und sie verfügten über keine Vorräte. Ihre Hütte lag abseits von einer Siedlung mitten im Wald und Sli kannte keinen anderen Ort als jenen hier. Sie wusste nicht wirklich, ob sie hier geboren war, die anderen Menschen aus der Siedlung hatte es ebenfalls schwer. Jagen war ein gefährliches Unterfangen, hin und wieder ging ein mageres Kaninchen in eine Falle. In den letzten wärmenden Herbsttagen hatten sie sich von Pilzen und Kastanien ernährt. Nahrhafte Pflanzen würden erst wieder im Frühjahr wachsen. Sli mochte den Sommer am liebsten, wenn es nicht regnete, konnten die wärmenden Strahlen sie erfreuen, sie konnte sich am Bach waschen und mit anderen jungen Leuten aus der Siedlung lachen, aber solche Tage gab es nur selten und jeder von ihnen wusste, dass der bevorstehende Winter der letzte in ihrem kurzen Leben sein konnte. Die feuchte Kälte des Waldbodens drang durch die dünnen Sohlen ihrer abgetragenen Schuhe durch. Sie hatte sie von einer jungen Frau bekommen, für die diese Schuhe zu klein geworden waren. Ob sie den Winter überstehen würden, war nicht vorauszusehen.

 Müde stellte Sli den schweren Krug neben sich ab und setzte sich ans Ufer des leise plätschernden Baches. Hier fühlte sie sich einen Moment lang wohl, und sie fragte sich, wie lange dieses Gefühl wohl andauern würde? Lange konnte so ein Zustand in ihrem Leben nie sein. Irgendein Unheil lauerte immer auf sie, und wenn es kein Unheil war, so kam eine böse Überraschung, es ging etwas kaputt oder wurde von jemand zerstört. Die Boshaftigkeit der Männer war ihr wohl bekannt. Sie lebten in der Siedlung, herrenlos und ungehalten. Die Frauen waren auf die Kerle angewiesen, um ein paar Bissen von ihren seltenen Jagdbeuten zu erbetteln. Jede von ihnen sah zu, wie sie sich selbst und ihre Kinder durch die Tage füttern konnten, also kam es kaum zu einer gegenseitigen Hilfe.

Jetzt war das Mädchen hier und beobachtete das silberne Mondlicht in den kleinen Wellen des gurgelnden Baches. Sie ließ sich von diesem gleichmäßigen Geräusch in den Bann nehmen und verharrte reglos, wie hypnotisiert an ihrem Platz, als sich jemand auf einmal heranpirschte. Sie vernahm die raschelnden Schritte über Herbstlaub, er machte sich offensichtlich keine Mühe, unbemerkt zu bleiben und kam näher. Das Mädchen war kaum erschrocken, ihr Herzschlag beschleunigte sich wohl, doch sie fragte sich, ob sie zu müde war, um tatsächlich Angst zu bekommen. Als er nahe genug bei ihr war und zum Stehen kam, konnte sie seine Atmung hören und wagte es, ihn anzublicken. Im fahlen Mondlicht erkannte sie das dreckverschmierte Gesicht eines Jungen und sie fragte sich sofort, wie alt er wohl sein mochte. Er starrte sie an und blieb reglos neben ihr.

 „Du wartetest auf was?“, fragte Sli, doch der Junge antwortete nichts. Sie betrachtete seine Kleidung, seinen schweren Mantel und seine festen Stiefel.

 „Du bist weggelaufen?“, fügte sie hinzu, erwartete aber keine Antwort, denn sie war es gewöhnt, dass ihre Fragen übergangen wurden. Eine steile Falte zeichnete sich zwischen den Augenbrauen auf der Stirn des Jungen.

 „Hast du keine Angst?“, fragte dieser schließlich mit rauer Stimme, die wohl von Schreien heiser geworden war. Sli schüttelte langsam den Kopf und erklärte: „Nicht mehr als an anderen Nächten.“

 „Du bist allein. Was tust du hier?“

 „Vielleicht dasselbe wie du, ich bin zum Wasser gegangen. Willst du dir dein Gesicht waschen? Das Wasser ist gut hier.“ Der Junge nickte einmal und hockte sich neben sie an das Bachufer, tauchte beide Hände flach in den zarten Strom und fühlte die beißende Kälte des Wassers.

 „Wie heißt du?“, verlangte er zu wissen.

  „Sli, und du?“

 „Oméril.“

 „Bist du ein Prinz?“ Bei dieser Frage zuckte er überrascht zusammen und blickte ihr fragend in das Gesicht.

 „Warum fragst du das?“, verlangte er zu wissen, wobei er sich merkwürdigerweise ertappt fühlte.

 „Weil du so aussiehst.“

 „Unsinn! Hörst du! Ich bin kein Prinz!“ Omérils Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, er wollte nicht mehr sein, was jeder ihm von Geburt an sagte. Andererseits saß er in diesem vergessenen Wald neben einem zerbrechlichen Mädchen, welches er selbsr wie ein Raubtier verfolgt hatte und fühlte sich verlorener denn je. Er legte beide Hände flach auf sein Gesicht und ließ die feuchte Kühle wirken. Sein Nasenbein schmerzte, das angetrocknete Blut auf seiner Haut vermischte sich mit dem Wasser an seinen Händen

 „Du trägst aber feste Stiefel.“, fuhr Sli hartnäckig fort.

 „Wie andere Männer auch. Die Welt wäre voll von Prinzen, wenn jeder Mann mit vernünftigem Schuhwerk einer sein sollte. Warum bist du allein hier?“ Er betrachtete seine Hände im Mondlicht.

 „Wasser für meine Mutter holen.“

 „Mitten in der Nacht? Wo wohnst du? Ich folge dir schon eine lange Weile und du hast mich erst bemerkt als ich ganz nahe war. Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das ist? Du könntest jetzt tot sein.“

 Sli starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an und wartete ab, was er noch alles sagen wollte. Sie mochte den Klang seiner Stimme. Und sie war es nicht gewöhnt, dass sich jemand mit ihr unterhielt, ihr Fragen stellte und Antworten erwartete.

 „Es ist gefährlich, hörst du! Du lebst hier und solltest das wissen!“, fügte er hinzu.

 „Wo lebst du?“

 Oméril schüttelte verständnislos den Kopf, wollte dieses Mädchen denn nicht verstehen? Oder war sie etwa einfältig?

 „In einem anderen Land, weit weg von hier. Warum antwortest du mir nicht? Deiner Spur zu folgen war ganz einfach, du hast dich nicht verborgen und niemand ist zu deinem Schutz da.“

 „So ist es. Meine Mutter braucht frisches Wasser und ich auch. Also bin ich gegangen.“ Oméril betrachtete verständnislos ihr ausgehungertes Gesicht. Ihre Wangenknochen zeichneten sich kantig unter ihrer jungen Haut ab. Sie gehörte zweifelsohne zu den Leuten, die nicht jeden Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen konnten. Oméril wusste von ihnen, doch war noch nie so einem Mensch begegnet. Es ging ein eigenartiger Duft von ihr aus, etwas süßlich, als wäre der Tod schon nahe bei ihr und würde geduldig auf den richtigen Moment warten.

 „Du musst auf dich Acht geben, hörst du! Du musst dich stärken und bei Kräften bleiben, hart und ausdauernd werden, sonst wirst du nicht lange leben. Wenn niemand auf dich aufpasst, musst du es selber tun. Siehst du, ich bin noch jung, aber ich könnte dich ohne Schwierigkeiten umbringen. Es gibt viele auf dieser Welt, die viel grösser sind und die nur noch von Mordlust erfüllt sind. Solche, die nur zum eigenen Vergnügen töten.“

 Sli beobachtete den merkwürdigen Jungen aus weiten Augen und hörte aufmerksam seiner sanften Stimme zu. Noch nie war ihr so ein Mensch unter die Augen getreten, geschweige denn jemand, der sich in unmittelbare Nähe zu ihr setzte und mit ihr sprach. Sie verstand, wovon er sprach, denn er war ein Krieger aus einem anderen Land dachte sie sich. Er war ausgerissen, so wie sie auch und jetzt bei ihr.

 „Du bist doch ein Prinz, sage ich. Du redest so anders.“

 Oméril wurde beinahe zornig, bemühte sich allerdings, Ruhe zu bewahren.

 „Verdammt noch mal, hör auf, mich so zu nennen! Du redest auch anders, und zwar wie jemand, der nicht versteht, was gesagt wird.“

 „Doch, ich verstehe jedes Wort und ich weiß, dass du mich nicht umgebracht hast.“

 Der Junge seufzte, schlang die Arme um seine angewinkelten Beine und starrte in den Wald. Er war wütend, doch es brannte nicht mehr dieser absurde Zorn in ihm, den er nach dem Kampf verspürt hatte. Todesangst gepaart mit Wut und Tod brachte also eine Art von Lust mit sich, ein Blutrausch vielleicht, welcher Männern zum Überleben half. Die Natur war merkwürdig und Oméril stellte sich die Frage, ob es einem Raubtier ähnlich ergehen würde? Wenn er je eine Antwort darauf bekommen durfte, mochte er sich selbst vielleicht entschuldigen. Doch vorläufig verabscheute er sich. Den Augenblick, an dem er dem anderen Mann das Leben genommen hatte, tat ihm beinahe leid, und er bereute, dass er seinen Ritter ins Gesicht getreten hatte. Die Gefühle waren mit ihm durchgebrannt, quälten ihn und nun saß er mitten in einem Wald neben einem fremdem Mädchen, das ihm nicht von der Seite wich. Obwohl er im Schild geführt hatte, sie zu töten, war sie noch immer bei ihm. Vielleicht glaubte sie ihm nicht und starrte ihn aus verwunderten Augen wie eine Naturerscheinung an.

 „Erzähl mir von dir! Du bist nicht allein unterwegs! Reiche Leute sind nie alleine und du bist auch noch jung und bestimmt wacht jemand über dich. Wo ist er?“, unterbrach sie die Stille. Oméril hob den Kopf an und blickte in ihr nahes Gesicht.

 „Ich kann sehr gut allein auf mich Acht geben. Ich brauche niemand.“

 „Magst du auf mich aufpassen?“ Oméril runzelte die Stirn als habe er ihre Frage nicht verstanden, und sie fügte hinzu: “Es stimmt, dass immer irgendetwas Gefährliches passieren kann, doch wenn du mein Beschützer bist, brauche ich mich nicht mehr zu fürchten. Das wäre unglaublich schön. Jedes Mädchen träumt von einem Beschützer.“

Oméril wartete ab und beobachtete dieses merkwürdige Wesen. Sie suchte einen Beschützer in ihm, der sie vorhin noch hatte killen wollen. Das war absurd, doch für sie schien es völlig normal zu sein, sich so dicht wie möglich bei ihm aufzuhalten und aus nächster Nähe sein Gesicht zu betrachten. Weil er schweigend ausharrte, fuhr sie fort zu reden:“ Dort wo ich wohne gibt es nicht viele Männer, die ihre Frauen beschützen können. Sie kommen und gehen, es gibt kein wirkliches zu Hause. Die Hütte meiner Mutter war schon immer da und irgendwann wird dort jemand anderes wohnen. Was dann aus mir wird, kann niemand wissen.“

 „Kann jemand deine Mutter heilen?“, fragte Oméril vorsichtig, doch sie schüttelte den Kopf. „Hier gibt es keine Heilerin. Jemand müsst zur nächsten Siedlung gehen. Eine Reise, die mehrere Tage dauert und ich kenne den Weg nicht. Meine Schuhe sind nicht kräftig genug für einen langen Marsch, also müssen wir abwarten, bis es besser wird.“   Omréil überlegte, denn er wusste, dass er in seiner Satteltasche über Medikamente verfügte, welche die arme Frau vielleicht retten konnten. Er entschied sich, dem armen Mädchen zu helfen.

 „Wenn es wieder hell wird, werde ich dir etwas holen, was deine Mutter heilen kann, einverstanden?“

 „Du bist ein Heiler?“

 „Nein, aber ich kenne ein paar Mittel und habe sie auf meine Reise mitgenommen.“

 „Ich wusste doch, dass du ein Prinz bist und nicht allein reist!“, rief sie begeistert aus.

 „Sei doch ruhig damit! Ich bin kein Prinz und daran wird sich auch nichts ändern.“  Doch Sli schien damit überhaupt nicht einverstanden und grinste ihn breit an, sie hatte schöne kleine Zähne, die sich wie eine zarte Perlenkette aneinander reihten und im Mondlicht schimmerte.

 „Für mich bist du ein Prinz und ein kräftiger Beschützer, du hast es selbst gesagt. Magst du mich aufwärmen? Mir ist kalt.“

 Oméril nickte bereitwillig und hob seinen Mantel an, damit sie darunter schlüpfen konnte. Überraschend flink folgte sie seiner Einladung und schmiegte sich dicht an ihn, schlang ihre dünnen Arme um seinen Körper und seufzte selig.

 „Hast du deine Eltern verloren?“, fragte sie unter dem dichten Stoff des Mantels.

 „Ja“, erwiderte Oméril knapp und ahnte, dass sie sich damit nicht zufrieden geben würde und weitere Fragen stellen wollte.

 „Kannst du dich an deine Mutter erinnern?“

 „Nur undeutlich.“

 „Und dein Vater? Wie war der?“

 „Alt und krank.“

 „Ich weiß nicht, wer mein Vater ist.“

 Oméril sah ihre dünnen Beine angewinkelt unter seinem kurzen Mantel. Er konnte förmlich die Kälte ihres Körpers durch den Stoff seiner Kleider spüren und es war ihm unmöglich, sich vorzustellen, wie lange sie der nagenden Kälte der Jahreszeit ausgesetzt war. Er kannte dieses Gefühl erst seit kurzer Zeit und war mit Sachen ausgerüstet, von denen sie nicht einmal zu träumen wagte. So lebten also die meisten Menschen? Die Angst vor dem Tod gehörte zu ihrer Existenz, dass sie sich damit abgefunden hatten und einfach so lebten, wie es gerade möglich  war, wie geschaffene Opfer für andere. Er ließ sie dicht an seiner Seite von der Wärme kosten, die er aus einer anderen Existenz mitbrachte.

 Der Mond verfolgte seinen Lauf am Himmel und die Kinder verharrten still. Oméril fragte sich, ob sie eingeschlafen war. Irgendwann war ihm diese Haltung unbequem geworden und er bewegte sich vorsichtig, damit das Blut in seinen Beinen zirkulieren konnte. Sli blickte ihn an und lächelte, ihr langes Haar fühlte sich stumpf an, vermochte sie allerdings besser vor Kälte zu schützen als die armseligen Stoffe, die sie trug. Das Mädchen schmiegte sich erneut an ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, er konnte ihren Atem auf seiner Haut spüren. Suchte sie verzweifelt Schutz in seiner unmittelbaren Nähe, er, der sich von nun an zu jenen zählte, die andere umbringen konnten? Sie selbst würde dazu wahrscheinlich nie die Möglichkeit bekommen. Der Tod in ihrem Leben kam entweder schleichend mit Hunger und Krankheit, oder brutal und plötzlich von anderen Menschen oder Raubtieren. Er gehörte zu dieser Sorte von Wesen und vermochte nicht zu sagen, ob ihn diese Tatsache traurig stimmte, oder ob er stolz darauf war. Er wusste nur, dass er sein Bestes geben würde, um am Leben zu bleiben und er von Geburt an dazu mehr Mittel hatte wie dieses arme Mädchen in seinen Armen. Sie bewegte behutsam ihren Kopf und er bemerkte ihre Lippen an seiner Haut. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, welche Worte er benutzen sollte. Ihre dünne Hand suchte nach seiner Wärme unter seinem Wams, verharrte einen Augenblick auf seinem Bauch, bevor sie anfing, ihn langsam zu streicheln. Oméril hatte den Eindruck, ihre Fingerspitzen würden jetzt glühen und berührten sein Wesen tief unter der Haut. Während sie damit fortfuhr begann sie tiefer zu atmen, seufzte leise und kuschelte sich noch dichter an ihn. Er griff nach ihrer Hand und holte sie unter seiner Kleidung hervor, zerbrechlich und zart, etwas rau an der Seite. Seine eigene Hand erschien ihm Vergleich riesig und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er kannte dieses Gefühl, welches plötzlich tief in ihm wie Glut brannte, doch hatte er so etwas noch nie in unmittelbarer Nähe eines anderen Menschen erlebt, eher geheim gehalten, in tiefer Nacht, wenn er allein war, oder in einem Versteck, weit genug weg von anderen Leuten. Sie drückte seine Hand auf ihr Gesicht und küsste sie verzweifelt, wobei sie ein paar leise Wimmertöne von sich gab, er fühlte ihre glühenden Wangen, ihre kostenden Lippen und dachte sich, dass dieses zarte Geschöpf vor nichts zurück zu schrecken schien. Ihr Atem vertiefte sich und sie umfasste seine Hand mit ihren beiden und legte sie an ihren mageren Hals. Oméril sah wie sie die Augen schloss und genau seine Hand auf ihrer Haut fühlen wollte. Sie wandte sich vor ihn, spreizte die Beine und setzte sich wie auf den Rücken eines Pferdes auf seine Oberschenkel, dicht an seine Hüften. Sie schlang ihre dünnen Arme um seinen Hals und begann ihr auf den Mund zu küssen. Oméril ließ es sich gefallen, ihre zunächst zarten Küsse wurden bald eindringlicher und fordernd, auch wenn sie noch ein Mädchen war, schien sie genau zu wissen, was sie vorhatte. Ihm gefiel das feuchte Spiel mit ihrem Mund und er lauschte gebannt ihrem erregten Atem und ihrer hohen Stimme, die leise Seufzer von sich gab. Er spürte die Bewegung ihrer engen Hüften auf seinen Schenkeln, sie schob ihren Leib vor und zurück und rieb sich an ihm, ließ mit ihrer linken Hand von seinem Kopf ab und erfasste seine Hand an ihrer Seite, schob sie zielstrebig an ihren festen Schenkeln hinauf unter ihren Rock hin zur Mitte ihres Körpers. Sie schwitzte am gesamten Leib und je mehr er sich der Mitte näherte, fühlte er ihre Nässe. Sli seufzte noch intensiver als sie von ihm berührt wurde und seine neugierigen Finger ihren Körper erkundeten. Oméril war ergriffen von diesem Spiel, hörte sich selbst seufzen, war von seiner eigenen Erregung erfüllt und fühlte die zarte Haut, dort wo sie angefasst werden wollte, was ihr offensichtlich sehr gefiel, denn sie rieb sich gegen seine Hand, hauchte und stöhnte, hielt sein Handgelenk fest umklammert und beschleunigte ihr Reiben und Zucken. Ihr Tun trieb den Jungen in seine eigene Lust, er entriss seine Hand und umklammerte ihren bebenden Körper mit aller Kraft. Seine Lenden zuckten wie selbst bestimmt und stießen in ihre Richtung, bis eine erlösende Gefühlsexplosion sich feucht in seine Hosen ergoss. Sie keuchte und jauchzte noch in seinen Armen, bis sie ein paar leise Schreie von sich gab und endlich zur Ruhe kam. Sie lehnte sich erleichtert an ihn, bewegte sich noch ein paar Mal, viel sanfter als zuvor und seufzte ergeben. Oméril streichelt über ihren wirren Haarschopf und spürte wie sein eigener Herzschlag sich allmählich beruhigte. Zum ersten Mal war ihm dieses Gefühl gekommen, welches er sonst heimlich sich selbst bereiten konnte, wenn er Lust verspürte, doch ein anderer Mensch hatte es hervorgerufen. Diese wilde Unbekannte war die Ursache gewesen und wahrscheinlich war es zwecklos, zu fragen, was richtig oder falsch sei.

 „Ich wollte in meinem Leben von einem jungen Mann berührt werden, bevor ein alter mich schnappt“, wisperte sie in sein Ohr. Er neigte sein Gesicht zu dem ihren und blickte sie fragend an.

 „Das war mir wichtig, mein schöner Prinz. Ich habe immer davon geträumt, von einem Jungen genommen zu werden, einmal, bevor es zu spät ist.“ Sie lächelte schief, wie es offensichtlich ihre Eigenschaft war und fügte hinzu: „ Meine Mutter sagt immer, ich sei zu dünn und hässlich, dass mich nie ein Mann nehmen würde, aber du bist zu mit gekommen.“

 Oméril atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

 „Du kennst mich überhaupt nicht …“, flüsterte er.

 „Wozu soll ich dich kennen, wo du mir gefällst? Diese Erinnerung kann mir niemand nehmen. Egal was kommen mag in meinem Leben, du warst der Erste der mich berührt hat. Schade, dass es so kalt ist. Im Sommer könnten wir nackt sein und du in mich eindringen …“

 Der Junge musste nach Luft schnappen, er brauchte Platz und schob sie sanft von sich, um behutsam aufzustehen. Jede Kraft schien aus seinen Beinen gewichen zu sein und er bemühte sich, gerade zu stehen, wobei seine Knie sich völlig aufgeweicht anfühlten. Benommen und verwirrt suchte er nach einer Erklärung in der Wildnis, von der sie umgeben waren. Die verwachsenen Bäume, Büsche, das fließende Wasser, die Steine, alles schien völlig unberührt von seiner Gegenwart. Er war nichts weiter als ein vorübergehender Eindringling, der möglichst bald wieder verschwinden würde. Omérils Blick fiel auf das fremde Mädchen zurück, das mit angewinkelten Beinen vor ihm saß, die Arme um ihre Knie geschlungen hatte und ebenfalls zu warten schien.

 „Wir müssen gehen! Deine Mutter hat dir angeordnet, frisches Wasser zu holen, lassen wir sie nicht warten! Wenn du mir den Weg zu eurem Haus zeigst, kann ich die Heilmittel zu ihr bringen …“

 Das Mädchen stand augenblicklich auf und nickte einverstanden. Es war als würden seine Worte zu einer Idee von Ordnung und Sinn zurückführen. Wenn solche Worte nicht ausgesprochen wurden, nahm eine dunkle Wildnis von ihnen  Besitzt, bis keiner mehr im Stande war, einen vollständigen Gedanken zu fassen. Oméril musste zugeben, dass er sich davor fürchtete und es ihm mit einem Mal entsetzlich leid tat, seinen Ritter verlassen zu haben. Adrig mochte doch eine Form von Verständnis von dieser Welt zu haben. An seiner Seite mochte ein Tag einen Sinn bekommen. Allein in der Wildnis würde er sich verlieren, vergessen werden und dabei völlig den Verstand verlieren. Er nickte ihr zu, bevor sie endlich den Wasserkrug im Bach voll laufen ließ. Ihre Hände erschienen winzig auf dem rauen Rand des Krugs und Oméril entschied sich, ihr beim Tragen zu helfen. Als er das Gewicht des vollen Gefäßes in seinen Armen spürte, war er sich sicher, dass Sli das Ding nie hätte schleppen können. Sie ging überraschend langsam und folgte einen schmalen Pfad, den er selbst wahrscheinlich nicht bemerkt hätte. Ein wirrer Weg zwischen ausgetrockneten Farnen und niedrigen Büschen. Die Kinder sprachen kein Wort miteinander und gingen durch die Nacht ohne von anderen Anwohnern des Waldes belästigt zu werden.

Als sie eine Anhöhe erklommen hatten, stellte Oméril den Krug ab und klemmte das Gefäß mit seinen Beinen fest, damit das kostbare Wasser nicht vergossen werde. Sli deutete mit dem Zeigefinger in eine bestimmte Richtung, doch Oméril konnte in der Dunkelheit nichts weiter erkennen, als dichte Schatten zwischen Bäumen.

„Unsere Hütte ist dort, hier wohne ich. Du brauchst nicht mit mir runter kommen. Jetzt weißt du, wo es ist und ich werde auf dich warten, wenn du mit dem Heilmittel wiederkommst.“ Oméril wunderte sich darüber, wie entschlossen sie nach dem Krug griff und fragte sich, woher sie die Kraft nahm, das schwere Ding anzuheben. Sie schien voller Vertrauen, lächelte ihm kurz zu, bevor sie langsam die Anhöhe hinunter stieg. Ihre zarte Gestalt schien sich in der Finsternis aufzulösen und die leisen Geräusche ihrer Schritte verloren sich im leichten Nachtwind. Oméril blickte sich um und suchte nach dem Mond, der bald untergehen würde. Er hoffte nur, dass er den Weg zurück finden würde. Er war weit gelaufen, sie hatte ihn vom Bach hier her geführt, doch er war aus einer völlig anderen Richtung gekommen. Er wusste, dass Adrig sich entschlossen hatte, dem Wasser zu folgen, also dachte sich der Junge, dass er auf diese Weise zu ihm zurückfinden würde. Von der schweren Last des Wassertrogs befreit fühlte er sich leicht und beinahe unbesiegbar. Es tat ihm gut, weit ausgreifende Schritte zu tun und er verfiel bald in einen leichten Dauerlauf. Sein Kopf schien wie benebelt von all dem was er in den vergangenen Tagen erlebt hatte und die Einsamkeit saß wie ein fremdes Tier in seinem Nacken. Er musste Adrig wiederfinden, koste es was es wolle. Mit ihm zusammen würde er zurück zu dieser armseligen Siedlung gehen, Slis kranker Mutter helfen, bevor sie beide gemeinsam ihre lange Reise fortfahren wollten. Von nun an gab es keine Frage mehr für ihn, er wollte dem Ritter Adrig nicht von der Seite weichen, er brauchte ihn, er wollte von ihm lernen, bis er selbst groß und stark genug sei, um an seiner Seite zu kämpfen. Während er durch den Wald rannte, wurde ihm warm, er merkte, wie er regelmäßig atmen musste, um ausdauernd laufen zu können, die Luft war die einzige Nahrung für seine Muskeln, er war jung und stark und würde lange durchhalten. Er setzte sich  selbst zum Ziel, immer weiter und länger rennen zu können, damit sein Herz und seine Lungen stärker wurden. Adrig sollte sich seinetwegen keine Sorgen mehr machen, in dieser Nacht war ihm klar geworden, wer er war und wie er sein Leben verbringen wollte. Eines Tages würden sie heimkehren und wehe jenen, die es wagten, sich ihnen in den Weg zu stellen.

Im flachen Mondlicht erkannte er das unruhige, gleichmäßige Schimmern des Baches und er entschied sich in die gegensätzliche Richtung des Stroms zu laufen. Seine eigene Kraft sollte ihm die Grenze zeigen, an die er zurückkehren musste, um Adrig zu begegnen. Er verbat sich, daran zu zweifeln, den Ritter nie wieder zu finden. Andere Menschen hatten sich im Wald verlaufen und sind nie wieder gesehen worden, doch er wollte nicht zu denen gehören, er war Oméril und stark genug, um solchen Abenteuern zu trotzen. Er rannte weiter durch die Finsternis, die Bäume wuchsen nicht sehr dicht, dass er ihn einem gleichmäßigen Schritt auf einem relativ ebenen Waldboden laufen konnte. Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen, rasch, rasch, damit er zurückfinden konnte, tief durchatmen, damit er bei Kräften blieb. Nach einiger Zeit konnte er es sich nicht verbieten, einen Blick zurück über seine Schulter zu werfen, denn er wollte sichergehen, dass er nicht verfolgt wurde. Er hörte nur seinen Atem und seine Herzschläge, doch wie konnte er wissen, ob er wirklich allein war? Niemand war völlig allein im Wald, das war allgemein bekannt. Irgendetwas Lebendiges war immer ganz nahe, kleine Tiere, Vögel, Insekten, oder auch größere Tiere, oder völlig Unbekanntes. Wussten die Menschen überhaupt alles über das Leben im Wald? Sie lebten in Städten mit ihren Reichtümern und Waffen, die anderen vergasen sie lieber in der Wildnis und keiner kümmerte sich um ihre Nöte und Krankheiten. Irgendetwas funkelte immer rasch in der Finsternis, oder waren es seine von der Nachtluft tränenden Augen, die ihn täuschten?  Er war gestolpert, weil er mit seinem unnötigen Blick über die Schulter seinen Lauf gestört hatte. Wie konnte er sich dieser Richtung sicher sein? War er nicht viel eher auf der Flucht? War ihm nicht während des Stolperns ein erschrockener Schluchzer entfahren? Oméril wischte sich rasch mit dem Handrücken über die Nase und lief weiter. Müdigkeit machte sich in seinen Beinen bemerkbar, sie wurden schwerer und verlangsamten wie von selbst, bis er schließlich gezwungen war, anzuhalten und zu verschnaufen. Jeder seiner Atemzüge war von dichten Dampfwolken begleitet und er fühlte sich selbst wie ein Tier, bis er den Eindruck hatte, dass etwas gar nicht so weit von ihm entfernt ebenso heftig atmete wie er. Augenblicklich hielt er die Luft an und starrte in die schwarze Ecke des Waldes, aus der er das Geräusch glaubte gehört zu haben. Doch er konnte nichts mehr hören, nur seinen hämmernden Puls in seinen Ohren und er musste nach Luft schnappen, sonst hatte er den Eindruck, zu ersticken. Da erblickte er zwei leuchtende Punkte, zweifelsohne ein Augenpaar wie zwei große, funkelnde Sterne vom Himmel gefallen, die ihn beobachteten. Allerdings jagte ihm dieser Anblick einen entsetzlichen Schrecken ein. Es war ihm etwas gefolgt und betrachtete ihn wie ein Opfer, wollte vielleicht sogar, dass er wusste, dass es da war und ihn sah. Er richtete sich langsam auf und atmete schwer, gezwungen ruhig. Er war allein, lediglich mit einem Jagddolch bewaffnet, verfolgt von einem Albtraum. Oméril riss sich zusammen und rannte weiter, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, nur weg von diesem Ort, Haken schlagen, irgendwo hin entkommen. So lange er konnte, bis er erneut außer Atem war und sich beruhigen musste. Er klammerte sich am nächstbesten Baumstamm fest, spürte kaum die raue Rinde unter seinen Händen und blickte zurück in die Finsternis, aus der er gekommen zu sein glaubte, in der Hoffnung, nichts anderes als Dunkel zu sehen. Doch er ward enttäuscht, denn zwei weitere leuchtende Augenpaare hatten sich dazu gesellt und spähten in seine Richtung. Der Junge schlug sich die Hand auf den Mund, um seinen überraschten Aufschrei zu unterdrücken und kauerte sich zusammen, den Rücken gegen den Baumstamm gelehnt. Kalter Angstschweiß war ihm ausgebrochen und rann in Strömen über seine Haut unter seinen mit einem Mal sehr schwer gewordenen Klamotten. Was mochte dort auf ihn lauern? Waren es Wölfe, die ihn aufgespürt hatten und nun erbarmungslos verfolgten? Gehörte er jetzt auch zu den Opfern dieser Welt, weil er allein war? Verzweifelt blickte er zu den abwartenden Baumwipfeln hinauf, wo sein Blick verweilte, weil er glaubte, eine Gestalt zeichnete sich zwischen den Zweigen und gegen den Nachthimmel ab. Sein Schrecken wurde entsetzlich als in dieser finsteren Form ebenfalls ein helles Augenpaar aufglimmte und ihn anstarrte. Gehetzt sprang er auf und rannte kopflos davon. Einfach weg, weiter, fort von hier, sein Gesicht und seine Hände wurden von Ästen zerkratzt, denen er nicht ausweichen konnte. Er versuchte, sich umzublicken, wobei er tief in sich selbst wusste, dass es zwecklos war, denn sie waren noch mehr geworden, jene die ihn verfolgten. Stimmlos, oder war er außer Stande sie zu hören? Stumme Tränen rannten über sein angstverzerrtes Gesicht, er würde weiter rennen, sich aus dem Gestrüpp frei reißen, stolperte der Länge nach hin, rappelte sich wieder auf und rannte weiter, bis sein Fuß mit einem Mal keinen Widerstand fand und er ausglitt. In der Dunkelheit hatte er den abrupten Abhang nicht sehen können und er stürzte, fiel hart auf seinen Rücken und kullerte haltlos den Abhang hinunter. Er hörte sich selbst aufschreien, Laub und Erde in seinem Mund zwangen ihn zum Husten, er rollte sich zusammen, um sich instinktiv vor Aufprallen und Hieben zu schützen, bis er endlich gegen einen gestürzten Baumstamm prallte und liegenblieb. Der Sturz hatte seine Atmung blockiert und er glaubte einen Augenblick lang sterben zu müssen, weil er nicht nach Luft schnappen konnte. Verzweifelt zerrte er sich an dem Baumstamm hoch und legte seinen Oberkörper darüber, bis seine Atemnot sich endlich in einen Hustenkrampf auflöste. Er spukte Erdklumpen und Laub und rang nach Luft. Wie lange würde diese Nacht nur andauern, fragte er sich und blickte hoch zu den Bäumen. Dazwischen schwebte eine langgezogene Gestalte, wie ein zerfetztes schwarze Tuch am Ende und zwei dünne Arme an jeder Seite, ein struppiger Kopf  und wieder zwei leuchtende Augen, die ihn anstarrten. Ich werde verrückt, dachte Oméril bei sich und blickte gehetzt nach rechts und links, dort waren sie wieder, seine unsäglichen Verfolger, finster, stumm, vielleicht mit zerzaustem Fell versehen und mit Hörnern gekrönten Köpfen und diesen starrenden, hellen Augen, wie bleiche Sterne, die ihn fixierten.

„Was wollte ihr von mir?“, brüllte er plötzlich mit aller Kraft und musste abermals husten. Er war über seine eigene Stimme überrascht gewesen, welche sich in seiner Verzweiflung gar nicht so knabenhaft angehört hatte, wie er sie kannte. Rau und endgültig, wie ein gehetztes Tier, welches sich seinem letzten Kampf stellt. Verbissen rappelte er sich auf seine Beine, jeder Knochen in seinem Körper schien zu schmerzen, doch er war noch lange nicht erledigt. Oméril konnte nicht aufgeben, er trat einen Schritt nach vorn, so steil schien der Abhang nicht zu sein, er hatte ihn nur nicht kommen gesehen, doch er konnte es wagen, dort hinunter zu gehen und allmählich seine Schritte beschleunigen, um ihnen zu entkommen, jene die ihn verfolgten. Der Ruf seiner eigenen Stimme hatte ihm Mut verschafft, er wollte sich so einfach nicht geschlagen geben, biss die Zähne zusammen und rannte weiter, bis der Boden wieder eben war und er seinen Lauf beschleunigen konnte. Jetzt blickte er sich nicht mehr um, sollten sie ihn doch überfallen, wer immer sie auch waren. Er würde sich seines Messers benutzen und ein paar von ihnen töten, bevor sie ihn zerfetzen würden. Sie waren nichts weiter als eine feige Meute von Ungeheuern. Sie waren groß und in Überzahl, sie hätten ihn längst auffressen können, statt ihn sinnlos durch den Wald zu jagen.

Sie ernähren sich von deiner Angst, mein Kind!  Oméril hatte deutlich eine Frauenstimme in seinem Kopf vernommen und hielt augenblicklich im Laufe inne und lauschte erstaunt. Wer hatte zu ihm gesprochen? Oder hatte er sich das eingebildet? Gehetzt blickte er sich schließlich doch um und stellte zornig fest, dass sie noch immer da waren, hinter ihm, über ihn zwischen den Ästen der Bäume und neben ihm im Gebüsch. Er fluchte und entschloss sich, weiterzulaufen, so schnell es seine humpelnden Füße zuließen. Jeder Laufschritt war eine Qual für seine Knöchel und Knie, seine Rippen brannten bei jedem Atemzug.

Folge mir, mein Junge, ich werde dir den Weg zeigen! Der Laut dieser Stimme in seinem Kopf zwang ihn, abermals stehenzubleiben, denn er hatte den Eindruck, diesen Ton genau zu kennen. Er kam ihm so bekannt vor, dass ihm erneut Tränen in die Augen stiegen. Vor ihm schien ein Weg zu sein, doch er konnte ihn nicht erkennen, nur ein diffuses Licht in der Dunkelheit. Und wenn diese Stimme ihn noch mehr in die Irre führen wollte als diese feigen Monster hinter ihm?

Oméril, zöger nicht! Bring dich in Sicherheit! Drängend und fast befehlend verschlug ihm nun die Stimme den Atem. Sie klang wie die Stimme seiner Mutter. Sie kannte seinen Namen! Er hastete los, in die Richtung des Lichtes. Beeil dich, Oméril! Folge mir! Jetzt war Oméril sich fast sicher, eine Frauengestalt im Schimmer erkennen zu können. Eine Frau in einem langen, hellen Kleid. Er wollte nach ihr rufen, verbat es sich aber und beeilte sich, ihr näher zu kommen. Er befürchtete, dass seine Stimme ihre Erscheinung verschwinden lassen könnte. Alles was er jetzt noch wollte, war zu ihr zu kommen und bei ihr zu sein. Wie konnte es sein, dass seine Mutter in diesem verdammten Wald zu ihm gefunden hatte? War sie nicht gestorben? War sie einfach nur den Machenschaften am Hof seines Vaters entkommen und hatte einen Unterschlupf gefunden? Vielleicht hatte sein Vater sie auch ins Exil geschickt und sie war ihnen allen entkommen und hatte ihn nun wieder gefunden. Mit jedem Schritt kam er dem Licht näher und war sich sicher, sie bald erreicht zu haben. Er wollte sie sehen, sie in die Arme schließen, denn wenn er wieder bei seiner Mutter sein konnte, würde sich alles wieder zum Besten wenden. Gemeinsam würden sie die Welt bereisen und allem Übel den Rücken kehren. Er würde über sie wachen, sie brauchte von  nun an keine Angst mehr zu haben.

Plötzlich gelang er an eine Lichtung und blieb schlagartig stehen. Vor ihm breitete sich eine weite Wiese aus, leichte Nebelschwaden lagen über der Landschaft und der Himmel verfärbte sich hell dank der aufgehenden Sonne. Das ferne Schnauben eines Pferdes ließ ihn zusammenschrecken, doch er vermochte nicht zu erkennen, wo sich das Tier befand, denn es war vom Nebel verborgen. Der Himmel war von einem Muster zerrissener Wolkengebilde übersät und veränderte seine Farben zusehends. Aus dem fahlen Hellblau wurde seichtes Gelb, gefolgt von leicht orangenen Tupfern auf Wolkenspitzen. Die Dunkelheit der Nacht wich dem neuen Tag. Oméril atmete schwer und suchte nach der hellen Gestalt, wünschte sich, erneut ihre Stimme zu hören. Im Nebel bewegte sich ein Schatten, menschlich, erhob sich von der Erde und ging zu dem Pferd, welches erneut zufrieden schnaubte. Omérils Tränen waren auf seinem Gesicht angetrocknet, die Schmerzen in seinem Körper hatten ihn wohl um den Verstand gebracht, einzig der dumpfe Rhythmus seines Pulses schien in diesem Moment wahrhaftig zu sein.

„Mutter …“, hauchte er atemlos leise an der Waldgrenze und starrte gebannt auf die Schatten im Nebel. Ein zweites Pferd zeichnete sich ab, ein weiteres kam mit friedlichen Schritten hinzu und schüttelte sich. Die drei Tiere nahmen die Witterung auf und spitzten die Ohren in seine Richtung. Die Gestalt, die bei den Pferden stand, wurde sich seiner Gegenwart Dank ihrer Aufmerksamkeit bewusst und drehte sich um. Der Junge konnte noch nicht Genaues erkennen, doch er wusste, dass er dort seiner Mutter nicht finden würde. Er lauschte den schweren Schritten, die sich durch das Gras ihm näherten. Er erkannte Adrig, seinen Ritter wieder, größer und mächtiger als er ihn in Erinnerung hatte. Oder war das nur ein Eindruck von ihm, wo er sich selbst erbärmlich und zerschlagen fühlte.

„Oméril“ Adrigs Stimme klang unglaublich beruhigend tief und warm, der Junge vermochte augenblicklich ruhiger zu atmen. Vielleicht war es in der Tat der Geist seiner Mutter gewesen, der ihn hier her geführt hatte, dachte er sich und warf einen raschen Blick zurück in den Wald. Dort war keine Spur mehr von den Geschöpfen, die ihn an die Grenze des Wahnsinns getrieben hatten. Sollte er seinem Ritter davon erzählen?

„Da bist du ja!“ Der große Mann war direkt vor ihm zum Stehen gekommen und betrachtete ihn eingehend. Er erkannte sofort, dass der Junge in der vergangenen Nacht allerhand durchgemacht hatte und ihm wahrscheinlich allerhand Verletzungen zugekommen waren. Er beugte ein Knie zu Boden, um den Knaben nicht von oben herab betrachten zu müssen. Omérils Blick traf den seinen und er wartet einen kurzen Moment, bis er sicher sein konnte, dass er ihm zuhörte und auch verstand, bevor er sprach: „In Zukunft wäre es vernünftiger, wenn du in meiner Nähe bleibst, meinst du nicht auch?“

Oméril nickte kurz und stumm, sein Nacken schmerzte erbärmlich.

„Was tust du hier?“, wagte der Junge zu fragen.

„Siehst du, die Pferde waren ausgehungert und ich habe ihrem Instinkt vertraut, diese Weide zu finden. Dieser Hang liegt in Richtung Süden und geschützt vom Wald, so wächst also hier noch zu dieser Jahreszeit nahrhaftes Gras für die Tiere.“ Die beiden sahen den Pferden einen Moment beim Grasen zu.

„Wie du hier her gekommen bist, magst du mir vielleicht später erzählen. Wir sollten uns zunächst um deine Verletzungen kümmern und zusehen, dass du etwas zu Kräften kommst, was meinst du?“, schlug Adrig schließlich vor und Oméril nickte dankbar. Schweigend gingen die beiden zu ihren Pferden, Adrig kramte aus den Satteltaschen etwas von dem übrigen nahrhaften Gebäck heraus, reichte es ihm, ebenso eine Flasche mit frischem Wasser. Während er dem Jungen die Nahrung überreichte, stellte er fest wie dessen verdreckte Finger zitterten. Er setzte sich zu ihm und wartete, bis er ein paar Bissen in Ruhe gekaut und geschluckt hatte. Der kleine Kerl musste erst einmal wieder zu sich finden, er stand zweifelsohne unter einem schweren Schock und es war zwecklos, ihn auszuschimpfen, weil er ihm davon gelaufen war. Er hatte wieder zu ihm zurück gefunden, was von einziger Wichtigkeit war, alles andere würde sich im Laufe der Zeit klären. Die Zeit vermochte die unterschiedlichsten Wunden zu verheilen, egal wie tief sie lagen, wenn auch Narben blieben, die Heilung der Zeig ermöglichte so vielen Wesen zu überleben, warum sollte es bei Oméril nicht anders sein. In diesem Moment bereute der Ritter, dass sie über kein Bier verfügten. Ein Schuck von diesem herb bitteren Gebräu hätte ihnen beiden gut getan.

„Möchtest du dich eine Weile hier ausruhen?“, fragte Adrig vorsichtig, woraufhin er ein energisches Kopfschütteln des Jungen erntete. Oméril kaute plötzlich schnell seinen Mund leer und spülte den Rest mit einem Schluck Wasser runter.

„Das ist unmöglich! Ich habe einem Mädchen versprochen, zu helfen. Ihre Mutter ist todkrank. Sie liegt vielleicht im Sterben und brauch Medizin. Wir sind ihre einzige Hoffnung, wir haben welche in unserem Proviant“, erklärte er bestimmend. Adrig legte nachdenklich seine Stirn in Falten.

„Du bist einem Mädchen begegnet?“ Oméril nickte.

„Wir haben die Nacht miteinander verbracht“, platzte er unbefangen heraus, was auf dem Gesicht des Ritters einen überraschten Eindruck erzeugte.

„Sie ist unglaublich arm und abgemagert, ihre Mutter liegt seit Tagen im Fieber und wenn sie stirbt wird Sli ihre armselige Hütte verlieren und nicht mehr wissen, wo sie den Winter verbringen kann“, plapperte Oméril mit einem Mal los.

„Sli ist der Name des Mädchens, nicht wahr?“

Oméril nickte bestätigend.

„Du bist damit einverstanden, dass wir ihr helfen?“

Adrig hob beschwichtigend beide Hände und begann ruhig zu erklären: „Immer eins nach dem anderen, mein junger Held. Wenn ich es richtig verstanden habe, bist du bei deinem Ausflug im Alleingang in diesem unbekannten Wald auf ein junges Mädchen getroffen, mit dem du einige Zeit verbracht hast. Ein armes Mädchen?“ Oméril nickte. „Und sie bittet dich um Hilfe? Sie hat dich nicht gebeten, dich auf deine Reise mitzunehmen?“

„Nein, aber ich fand sie auch sehr merkwürdig. Sie geht mitten in der Nacht ohne jeden Schutz durch den Wald. Selbst ich hätte sie umbringen können, und sie hatte nicht einmal Angst vor mir.“ Adrig nickte verstehend und fügte hinzu: “Ich kann mir vorstellen, dass ihr in ihrem Leben schon unheimlichere Kerle begegnet sind …“

„Ich bin stark genug, um sie umzubringen!“

„Ist dir außer ihr kein anderer Mensch begegnet?“

„Nein, warum fragst du das?“

„Weil du aussiehst, als sei eine Horde über dich hergefallen und ich mir lieber Zeit nehmen würde, um deine Wunden zu heilen, anstatt hinter hysterischen Mädchen her zu rennen.“ Jetzt war es Oméril, der nachdenklich die Stirn runzelte und sich entschloss, noch einen Bissen zu sich zu nehmen, bevor er antworten wollte.

„Ich denke, sie hat die Wahrheit gesprochen. Sie sah wirklich sehr verarmt aus und hatte keine andere Wahl, als mich um Hilfe zu beten. Das hat sie eigentlich gar nicht. Sie hat mir nur von ihrer Mutter erzählt und ich habe ihre meine Hilfe angeboten. Ich kann jetzt nicht mein Wort brechen.“

„Oméril, wir befinden uns beide am Anfang einer langen Reise und sind beachtlichen Gefahren ausgesetzt, wie du hast feststellen können. Du kannst dir denken, dass wir im Laufe der kommenden Jahre auf allerhand Elend treffen werden und es ist einfach unmöglich, jeden Bettler zu retten. Sie werden dir alle von ihren Leiden erzählen, weil du ehrlich bist und ein gutes Herz hast. Doch dabei wirst du dich selbst in Gefahr bringen.“

„Ich habe es ihr versprochen. In ihrem Leben konnte sie bestimmt nie einem Menschen vertrauen. Sogar ihre eigene Mutter spricht schlecht über sie, doch sie respektiert sie und geht mitten in der Nacht frisches Wasser für sie holen, damit es ihr besser geht. Sie hätte in dieser Nacht sterben können, weil irgendein Unwesen über sie herfällt. Ich möchte ihr wenigstens einmal in ihrem Leben ein wenig Hoffnung geben. In ihrem Leben scheint alles nur dunkel und schrecklich zu sein. Sie verfügt nicht einmal über vernünftige Schuhe und hat keine Vorräte für den bevorstehenden Winter …“

Adrig hörte den beinahe flehenden Unterton in der Stimme des Jungen und er hatte eine gewisse Ahnung, was sich zwischen den beiden Menschen abgespielt haben mochte.

„Offensichtlich wusste sie, wie sie zu deinem Herzen sprechen soll …“, fügte er hinzu, was zu Folge hatte, dass Adrigs Wangen sich rot anliefen. „… und allen Anschein habe ich damit nicht Unrecht, jetzt siehst du wenigstens wieder fast gesund aus. Hast du das Dorf gesehen, in dem sie wohnt?“

Der Junge nickte eifrig. „Es ist kein Dorf, sie sagt, es sei eine Siedlung. Die Leute dort sind sehr arm und bist zum nächsten Dort ist es sehr weit. Ihre Schuhe würden die Reise nicht aushalten, aber mit unseren Pferden könnten wir leicht dorthin.“

„Es kommt nicht in Frage, dass wir sie mitnehmen, ist das klar?

Omérils Blick bohrte sich in die Augen seines Gefährten.

„Warum nicht? Wir haben drei Pferde?“

„Weil ich unmöglich über zwei Halbwüchsige wachen kann, im Anbetracht, dass du bei der geringsten Möglichkeit ausreist und in einem fremden Wald verschwindest!“ Dem Jungen war klar, dass sich sein Ritter unsägliche Sorgen um ihn gemacht haben musste und dass es ein unglaublicher Zufall gewesen war, dass er ausgerechnet zur Morgendämmerung nach einem albtraumhaften Rennen auf ihn gestoßen war. Im strahlenden Licht der aufgegangenen Sonne erschienen die abscheulichen Erinnerungen der Wesen aus der Dunkelheit gar nicht mehr so real und der Junge drehte sich unwillkürlich zum Wald zurück als wollte er sich versichern, dass die Bäume noch immer vorhanden waren und so bedrohlich aussahen wir in der vergangenen Nacht.

„Oméril, magst du mir einen Augenblick zuhören? Ich habe diese Wiese Dank der Pferde entdeckt und die Landschaft beobachtet. Dort in dieser Richtung liegen Berge, welche sanft und grün bewachsen aussehen. Es scheint so, als würde dort ein gnädigeres Klima herrschen und ich dachte mir, dass es klug wäre, unsere Reise in diese Richtung fortzusetzen und diesem finsteren Wald erst einmal den Rücken kehren. Der Norden kann warten. Unsere Verfolger dürfen ruhig ihren Weg in diese Richtung weiter verfolgen. Wir müssen in erster Linie an unser Überleben und die Unterhaltung unserer Pferde denken.“

„So weit kann die Siedlung von Sli von hier aus nicht sein. Ich habe den Weg innerhalb kürzester Zeit hinterlegt. Wir könnten doch rasch ihrer Mutter etwas von unseren Heilmitteln geben und dann unsere Reise fortsetzen, so wie du es geplant hast?“

Adrig seufzte schwer, denn sein junger Freund hatte offenbar kein Wort von dem verstanden, was er ihm hatte sagen wollen und die Schmerzen an seinem Körper hatte er scheinbar vergessen, nur um diesen fremden Gör zu helfen.

„Bist du überhaupt in der Lage, zu reiten?“

„Ich denke schon …“

„Dessen bin ich mir überhaupt nicht sicher. Du siehst aus, als hättest du dich die ganze Nacht geprügelt. Das Wenigste wären ein paar gebrochene Rippen und ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass es kein Kinderspiel ist, mit gebrochenen Rippen zu reiten. Willst du mir nicht sagen, wer oder was dir in diesem Wald begegnet bist? Du sahst aus, als sei der Teufel hinter dir her gewesen.“ Oméril überlegte und Adrig sah ihm an, dass er versuchte sich auszumalen, was er ihm als erwachsener Mensch sagen konnte und was nicht. Dem Jungen stand im Gesicht geschrieben, dass er sich fragte, was ein Großer von der Fantasie eines Menschen in seinem Alter begreifen mochte. Dabei konnte er sich sehr gut erinnern, wie er sich gefühlt hatte als er selbst an der Schwelle der Kindheit zum anderen Leben gestanden hatte. Doch es waren derartig viele Ereignisse vorgefallen, dass er den Eindruck hatte, diese Zeit habe in einer anderen Epoche stattgefunden.

„Nun? Was ist geschehen?“

„Ich weiß selbst nicht genau, was ich gesehen habe. Ich bin gerannt und hatte Angst, weil man im Wald immer das Gefühl hat, von etwas beobachtet zu werden. Am Ende dachte ich sogar, meine Mutter würde nach mir rufen, dabei bin ich nur dir begegnet.“ Adrig blickte ihn betroffen an, in der Tat war er nicht seine Mutter und er konnte sich denken, wie sehr sich Oméril nach ihr sehnte. Nachdem ihm klar geworden war, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit alles in seinem Leben verloren hatte und von nun an jeden Tag um sein Überleben kämpfen musste, mochte nichts verlockender sein als ein Traum von einer wiederauferstandenen Mutter.

„Es ist vielleicht ihr Geist, der über dich wacht, mein Junge. Das sagt uns aber nicht, was sich in diesem Wald befindet. Außer einem vom Hunger gebeutelten Mädchen, dessen Mutter sterbenskrank in einer Hütte liegt. Und du bist dennoch der Meinung, dass wir ihr zu Hilfe kommen sollen?“

Oméril nickte eifrig und sprach kein Wort mehr, beschränkte sich darauf, ihn aus flehenden großen Augen anzuschauen. Der Junge verfügte tatsächlich über bemerkenswert große dunkle Augen mit ungewöhnlich langen Wimpern. Glücklicherweise war er groß gewachsen und von kräftiger Statue, sein Gesicht zeigte bereits eine markante Zeichnung was auf einen entschlossenen, starken Charakter schließen ließ. Niemand konnte ihn mit einem Mädchen verwechseln, doch mit einem Mal war Adrig klar, dass Oméril über eine singuläre Schönheit verfügte, welche ihm auf der bevorstehenden Reise sicherlich für allerhand Aufsehen sorgen würde. Und ihm war auch klar, dass es zwecklos war, ihm einfach zu widersprechen. Er war starrsinnig und mutig genug, seine Ideen durchzusetzen. Wenn er auf ihn aufpassen wollte, sollte er lieber zusehen, mit ihm einverstanden zu sein und sich auf Kompromisse einzulassen.

„Bist du sicher, den Weg zur Siedlung wiederzufinden?“

Oméril war ehrlich genug, um einfach mit den Schultern zu zucken, was ihm offensichtlich Schmerzen bereitete.

„Nun gut, es ist noch früh am Tag. Wir können uns eine Chance geben und im Morgenlicht in den Wald reiten. Wenn du einen Ort wiedererkennst, der uns zur besagten Siedlung führen mag, dann reiten wir weiter. Wenn es allerdings zu lange dauert, schlage ich vor, kehrtzumachen. Wir können es uns nicht erlauben, eine weitere Nacht in dieser Umgebung zu verbringen, in der sich Wesen herumtreiben, von denen wir keine Ahnung haben. Du brauchst Pflege und Ruhe. Aber ich verspreche dir, dass wir nach der Siedlung suchen werden. Wenn ich aber sehen muss, dass der Ritt zu anstrengend für dich ist, drehen wir um, einverstanden?“

Oméril nickte und wollte aufstehen, wobei sich sein Gesicht vor Schmerzen verzog. Adrig reichte ihm seine Hand und half ihm dabei. Es tat ihm im Herz weh, mit ansehen zu müssen, wie der Kerl unter seinen Verletzungen litt, doch er gab keinen Klagelaut von sich, sondern näherte sich tapfer seinem Pferd, wartete bis Adrig den Sattelgurt festgezogen hatte und saß ohne Hilfe auf. Der Ritter nickte ihm verstehend zu und begann mit langsamen Bewegungen seine Habseligkeiten aufzusammeln und in den Taschen zu verstauen, sein eigenes Pferd vorzubereiten und selbst aufzusitzen. Er übernahm die Zügel des dritten Tiers und sie setzten sich langsam in Bewegung. Der Ritter beobachtet den Jungen, offensichtlich tat es ihm gut, sich wieder im Sattel zu befinden und er entschloss sich, noch eine Weile mit seiner Entscheidung zu warten, sich von den Pferden zu trennen. Er hatte eine unverhoffte Möglichkeit gefunden, die Tiere zu ernähren. Zumindest hatten die Tiere diesen Weg selbst gefunden, weil er außer Stande gewesen war, dem davongelaufenen Kind zu folgen. Bis jetzt hatten die Pferde ihm mehr Glück gebracht als er sich hätte vorstellen können. Warum sollten sie sich also von ihnen trennen?

Die beiden jungen Männer ritten in den Wald und Adrig hatte das sichere Gefühl, dass ihm bald wieder allerhand Unvorhersehbares wiederfahren würde, doch vorläufig erschien die Umwelt freundlich und angenehm im morgendlichen Sonnenlicht. Warum nicht die Zeit nutzen und einem armen Fräulein zur Hilfe zu kommen, es zumindest zu versuchen? Als Adrig einen letzten Blick über die Schulter warf, bevor sie in den Wald einritten, empfand er das Spektakel der flachen Sonne über der Landschaft schlicht ergreifend und er konnte sich nicht verkneifen, zu glauben, diese Naturerscheinung wollte ihn einladen, in die Richtung zu reiten, die er eigentlich ausgewählt hatte. Das goldene Sonnenlicht lag wie ein mächtiger Balken über den sanften Bergen, welche Wolken wie in einem Kessel gefangen hielten. Weit darüber wurden dunkle Wolkenwände von kräftigen Strahlen durchbrochen. Und tiefer im Tal schimmerte der restliche Nebel wunderschön orange im Licht, wie ein wärmendes Feuer. Vor ihnen lag der fremde Wald und Oméril hatte beschlossen, dem Unbekannten entgegen zu reiten. Der Ritter wollte zusehen, dass sie nicht zu viel Zeit verlieren mochten und trieb sein Pferd leicht mit einem Schenkeldruck an, um dem Prinz aufzuholen.

Sie ritten schweigend hintereinander her und Oméril musste sich eingestehen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, welche Richtung er einschlagen musste, um den Weg zur Siedlung zurück zu finden. Er konnte nicht einmal sagen, wo sich der Wasserlauf befinden mochte. Wahrscheinlich war dieser weiter entfernt als gedacht, denn hier war die Gegend abschüssig und der Boden recht trocken. Es war bemerkenswert still im Wald, genauso als würden die Einwohner sich verborgen halten und aus ihren Verstecken die Fremden beobachten. Oméril betrachtete die eintönigen grauen Baumstämme im Rhythmus des Pferdeschrittes an sich vorüberziehen. Er hatte sich mit dem Wiegen im Sattel abgefunden und kämpfte nicht mehr gegen seine Schmerzen an. Er versuchte sich vorzustellen, was für Qualen die Mutter von Sli ausstehen mochte, so konnte er ruhig einen Ritt überstehen. Doch wie wollte er sicher sein, dass er auf dem richtigen Weg war und sich nicht im Gegenteil von der Siedlung entfernte? Er lief sogar die Gefahr, dass Adrig den Weg nicht mehr zurückfinden würde. Damit wäre niemand geholfen. Auf einer Anhöhe hielt er sein Pferd an und beobachtete die einfarbige Natur. Ein Baum glich dem anderen, hochgewachsene Tannen. War er nicht durch Laub gestolpert? Hier war der Boden mit einer dichten Schichte von getrockneten Nadeln übersät. Oméril suchte nach Laubbäumen. Sein Ritter brachte sein Pferd neben dem seinen zum Stehen und betrachtete eingehend die Natur.

„Du erkennst nichts wieder?“, stellte er mit ruhiger Stimme fest, erwartete aber keine Antwort vom Jungen. Ratlos verharrten die beiden auf der Anhöhe, das einzige Geräusch, was sie vernahmen, war die Atmung der Pferde. Dieselbe vertiefte sich plötzlich, die Tiere nahmen Witterung auf, spitzten mit einem Mal die Ohren und schnaubten unruhig. Adrig war sofort klar, das etwas nicht stimmte und er nahm vorsichtshalber die Zügel auf. Sein Pferd ging unruhig ein paar Schritte zurück und würde nicht zögern, auszubrechen, wenn sein Herr es ließe.

„Was ist los?“, flüsterte Oméril und beugte sich instinktiv nach vorn, bevor er sich rasch eines Besseren besann und tief in den Sattel setzte, damit sein Pferd vor Ort bleibe. Adrig gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, ruhig zu bleiben und bedeutete dem Jungen, ihm zu folgen. Zunächst galt es, die Anhöhe zu verlassen und sich etwas zurückzuziehen. Ein leichter Wind war aufgekommen und brachte die verräterischen Geräusche mit sich, welche die Tiere bereits vernommen hatten. Es klang nach Waffen und Kampfgeschrei. Oméril hörte sie jetzt auch und sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. Er hatte Angst, mit einem Mal war sie wieder da, die panische Angst, wenn sich etwas Böses in unmittelbarer Nähe abspielte.

Adrig kannte diese Geräusche vom Schlachtfeld, unweit wurde gekämpft und es kam nicht in Frage, dass er sich selbst in erneut in ein Kampfgeschehen verwickeln wollte, mit einem verletzten Jungen im Schlepptau. Sie mussten beide vorsichtig sein, doch er musste sehen, was es mit diesem Lärm auf sich hatte, wer die Verursacher waren und was sie im Schilde führten. Er entschied sich, die Hügel zum umreiten, weitgehend im Windschatten und ungesehen zu bleiben. Dem Lärm zu folgen, war nicht schwierig,  bald waren sie nahe genug dran, dass Adrig sich entschloss, anzuhalten. Er überlegte rasch, er konnte beurteilen, dass es keine große Streitmacht war, die anderen Menschen den Garaus bereitete. Den Schreien nach zu urteilen gehörten Frauen zu ihren Opfern. Er blickte zu Oméril und ordnete ihm an: „Du wartest hier mit den Pferden! Bleib im Sattel und warte auf mein Zeichen. Ich werde nachsehen, was dort vor sich geht, hast du verstanden?“ Der Prinz nickte, er war wieder erschreckend bleich unter seinen roten Schürfwunden und Dreck im Gesicht geworden. Adrig ließ sich aus dem Sattel gleiten, zog sein Schwert aus der Scheide am Sattel seines Pferdes und pirschte sich dem Hügel hinauf, hinter dem sie sich versteckt hielten. Das siegreiche Geschrei der Unholde vermischt mit den panischen Stimmen der Opfer drang nun beinahe unvermindert an seine Ohren und er spürte, wie sich sein gesamter Körper bereit zum Angriff anspannte. Er war hoch genug geklettert, um hinter einem Baumstamm versteckt in das bewaldete Tal unter ihm zu sehen. Ein Reiter legte eine Hütte in Feuer, davor lag eine erschlagene Leiche. Weiter hinten im Wald fuhren Männer ihr blutiges Handwerk fort. Adrig erkannte die bluterstickten Schreie, wenn Menschen erstochen wurden. Durch den schwarzen Qualm des frischentfachten Feuers konnte er leider nicht erkennen, wie viele es waren. Jedenfalls waren sie zahlreich genug, dass ein Eingriff von ihm ihn mit einem sicheren Tod belohnt würde. Sie töteten rasch und schienen außer sich vor Wut zu sein. Vielleicht hatten sie sich mehr Beute von ihrem Überfall erhofft. Ein Mann brüllte einen Befehl in einer fremden Sprache und zwei weitere Reiter kamen wie aus dem Nichts heran geritten. Adrig erschrak, denn er hatte die beiden nicht kommen sehen. Allem Anschein nach waren es junge Männer, Späher, wie solche, die ihm und dem Prinzen beinahe mächtig geworden wären. Und wenn es sich um eine Abteilung der Mörder handelte, die Ripek auf seine Fersen geschickt hatte? Wie gebannt blieb Adrig in Deckung und beobachtete mit rasendem Herzen, wie die Reiterei abzog. Sie ritten gen Norden und er hatte genug gesehen. Sie waren bestens ausgerüstet und verfügten über schnelle Pferde. Sie waren ihnen verdammt dicht auf die Spuren gekommen und es galt nun, noch vorsichtiger zu sein als geplant. Behutsam schob er sich dicht über den Waldboden zurück, bis er es sich erlaubte aufzustehen und in Omérils Richtung zurück zu blicken. Doch sein Herz blieb stehen, denn der Junge war nicht mehr da. Er fluchte und hastete den Hügel hinunter. Er verbat es sich, den Namen des Prinzen zu rufen und umklammerte den Griff seines Schwertes mit aller Kraft, bereit zum Schlag für den nächsten Kampf um Leben und Tod. Aber der Junge war nicht weit gegangen. Adrig sah ihn plötzlich wieder, er war weiter in den Wald geritten und abgesessen. Die Pferde warteten unruhig an seiner Seite, denn etwas beschlagnahmte die Aufmerksamkeit des Prinzen.

„Verdammt noch mal, Oméril, kannst  du nicht einmal meine Anweisungen befolgen?“, zischte Adrig zornig und eilte zu ihm, bis er sah, was der Kleine wie gebannt anstarrte. Vor ihm zwischen vertrockneten Waldfarnen ausgestreckt lag ein junges Mädchen lang auf dem Bauch. Auf ihrem Hinterkopf klaffte eine unschöne Wunde, die von einem abscheulichen Hieb zeugte. Leider ließ die Wunde zu viele Details des Inneren eines menschlichen Kopfes frei. Adrig seufzte und warf rasch eine prüfenden Blick in die Umgebung. Die Stille hatte die Natur erneut ergriffen, es roch nur nach unweitem Qualm von brennenden Hütten.

Langsam kniete sich Oméil neben das Mädchen nieder und drehte es behutsam an den Schultern auf den Rücken. Er wollte ihr Gesicht sehen und strich ihr behutsam das zerzauste Haar aus dem Antlitz.

„Kennst du sie?“, verlangte Adrig zu wissen. Der Junge nickte wortlos und dem Ritter war klar, dass er nur schwer die richtigen Worte finden konnte, doch sie rasch von diesem Ort verschwinden mussten.

„Das Mädchen aus der Siedlung?“ Oméril brachte keinen Laut über die Lippen und nickte nur erneut. „Die Siedlung wurde überfallen und niedergebrannt. Dem Mädchen kann nicht mehr geholfen werden und sie hat endlich ihren Frieden gefunden. Wir sollten uns aber schnellsten aus dem Staub machen.“ Er packte den Prinzen am Arm und wollte ihn dazu bewegen, aufzustehen, doch Oméril riss sich los. Adrig seufzte angespannt und sprach weiter beschwörend auf den Jungen ein: „Wir können nichts mehr für sie tun! Es geht jetzt darum, unsere eigene Haut zu retten. Du bist verletzt, wir müssen fort von hier. Es könnte gut sein, dass es die Auftragsmörder waren, die über diese Leute hergefallen sind.“ Mit einem Mal blickte Oméril ihn wutentbrannt an.

„Willst du damit sagen, dass ich diese Mörder hier hergelockt habe? Ich bin daran schuld, dass Sli und ihre Leute heute gestorben sind?“

Adrig fragte sich, warum dieses Kind die Dinge immer so verstand, wie sie leider nun einmal waren und presste verbittert seine Zähne zusammen.

„Es kommt nicht in Frage, dass das Mädchen hier allein im Wald liegen bleibt, hörst du! Sie kann hier nicht liegen bleiben, das ist unmöglich, denn so wird sie nie zu ihrem wohlverdienten Frieden finden.“

„Du willst sie wohl nicht im Ernst begraben?“

„Sie darf hier so nicht liegen bleiben! Bei all den Unwesen, die sich nachts in diesem Wald herumtreiben.

„Und vor denen ich uns lieber in Sicherheit bringe! Wir haben keine Zeit, ein Loch tief genug zu graben und wieder zuzuschütten, hörst du? Sie ist ein Mädchen aus dem Wald, der Wald wird sich ihrer annehmen.“

„Nein!“, brüllte Oméril und stellte sich breitbeinig vor seinen Ritter. Adrig machte eine beschwichtigende Handbewegung, damit er doch ruhig bleibe. Wie konnte er absolut sicher sein, dass sich keine weiteren Spitzel in der Nähe aufhielten.

„Oméril, die Menschen sind schlecht und wir müssen am Leben bleiben. Was kann eine Tote schon im Wald befürchten?“

„Die Geister, die mich in der vergangenen Nacht gejagt haben. Adrig, ich bitte dich, wir können sie so hier nicht liegen lassen, sie hat das nicht verdient.“ Der Mann wusste, dass er rasch eine Lösung finden musste und überwachte mit wachsamen Augen die Umgebung. Die Rauchschwaden der brennenden Hütten wallten über den Hügel. Die unzähligen vertrockneten Tannennadeln würden dem Feuer eher behilflich sein. Er fluchte, beugte sich zu der Ermordeten hinunter und hob sie vom Boden auf. Sie wog kaum mehr als ein kleines Kind, sie war federleicht. Ihr abgemagertes Gesicht bleich und schon lange vom Tod gezeichnet, lag ausgeliefert in seiner Armbeuge.

„Was hast du vor?“, verlangte Oméril zu wissen.

„Nimm die Zügel der Pferde und folge mir!“, befahl Adrig und eilte nach vorn gebeugt zurück zur Siedlung, spähte vorsichtig über das verlassene Schlachtfeld, konnte aber kein lebendiges Wesen mehr ausfindig machen. Oméril folgte seinem Blick und beobachtete besorgt sein angespanntes Gesicht. Dann sah er wie der Ritter mit weitausgreifenden Schritten zu der nächsten brennenden Hütte lief. Die Flammen schlugen mit einem Mal erschreckend hoch, Adrig duckte sich und wich ihnen aus. Ehe der Junge sich versah, hatte der Mann den Leichnam des Mädchens in die Flammen geworfen und sprang vor dem ausgreifenden Feuer zurück. Die Pferde zuckten zusammen und begannen nervös auf der Stelle zu tänzeln. Oméril befürchtete mit einem Mal, dass sie ausbrechen oder wiehern würden. Er wusste, dass sie in Gefahr waren und ihre Verfolger so ein Geräusch hätten zu deuten gewusst. Noch während Adrig zu ihm zurück kam, begann er in den Sattel seines unruhigen Pferdes zu klettern, verbot sich einen Schmerzenslaut, denn er hatte den Eindruck, seine Lungen würden in seinem Brustkorb zerrissen werden. Adrig kam ihm zu Hilfe, entnahm ihm die Zügel, saß rasch auf, und trieb zum Abritt an. Die Pferde hatten es eilig, dem Feuer zu entkommen und rannten in einem hastigen Galopp davon. Oméril hielt sich verkrampft am Sattel fest, denn die wilden Sprünge des Tieres waren eine absolute Qual für seinen Körper. Adrig behielt ihm im Auge, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt wich er niedrigen Ästen aus und bangte mit jedem Atemzug, dass der Prinz abstürzen würde. Die Pferde rannten Leib an Leib durch den Wald, um so rasch wie möglich den Ort des Schreckens und des Todes zu verlassen. Der Junge hielt sich tapfer, wenn er auch beinahe vor Schmerzen den Verstand verlor. Die Pferdehufe trommelten über den Waldboden, Erdklumpen und kleines Geäst wurde von ihren Hufen aufgewühlt und flogen wild um ihre Köpfe. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Adrig einem Kampfort in derartiger Hast den Rücken zugekehrt. Machte sein neues Leben ein Feigling aus ihm? Nun war er weit entfernt von seinen Waffenbrüdern und Kameraden von einst. Die Wildnis und das Unbekannte zeichneten das Leben eines Abenteurers auf ihre ganz bestimmte Art und Weise.

Er atmete auf, als er endlich wieder die sanfte Lichtung erkennen konnte und verlangsamte die Schritte der Pferde. Oméril war noch vorn über den Sattel gekippt und hatte sich mit beiden Händen in der Mähne seines Pferdes festgeklammert. Sein Atem ging schwer und röchelnd, aus seiner Nase lief eine feine Spur von hellem Blut, was nichts Gutes bedeuten konnte. Adrig lenkte sein Pferd an seine Seite und befühlte seine Stirn, sie war glühend heiß und schweißüberdeckt.

„Komm mit mir, mein Junge, noch etwas Mühe, dann können wir Rast machen“, murmelte er, doch er war sich nicht sicher, ob der Kleine seine Worte verstand. Adrig betrachtete die Landschaft, die ihn umgab und entschied, diese Lichtung so rasch wie möglich zu überqueren und in dem dahinter gelegenen Wald erneut Unterschlupf zu finden. Anschließend wölbten sich anmutige Berge und er hoffte, dort die nötige Ruhe zu finden, um seinen Schützling heilen zu können. Mochte das arme Mädchen ihren wohlverdienten Frieden gefunden haben, dachte er bei sich und fühlte sich plötzlich leer und niedergeschlagen. Was mochte dem Jungen wohl alles in der vergangenen Nacht begegnet sein? Das junge Mädchen hatte ihn offensichtlich zu Herzen gesprochen und Adrig konnte sich gut denken, wozu Menschen in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung im Stande waren, um sich ein wenig Hilfe zu erbetteln. Sein Schützling war unmittelbar mit dem Elend der Menschheit konfrontiert worden und Adrig wurde sich bewusst, dass die Gefahren für den Prinz nicht nur bei Auftragsmördern und Übeltätern lagen, sondern es nun auch zu seinen Aufgaben gehörte, ihn vor Elend und Krankheit fernzuhalten. Der Junge war am Hofe von Valroux erzogen worden. Die einzige gefährliche Reise, die er wohl je unternommen haben mochte, hatte ihn hinauf zu den Gletschern geführt. Wohlbehütet von seinen Leibgarden und Lehrern. Er war kräftig und hatte sicherlich allen für einen Prinzen nur erdenklichen Unterricht genossen, war aber für die Härte der Welt nicht ausgerüstet. War er es selbst denn? Er, der er seine Jugend im Reichtum seines Vaters und am Hofe seines Monarchen verbracht hatte? Vor dem Krieg hatte er in der Stadt vielleicht ein paar Tavernen gekannt, die auch von niedrigem Volk besucht wurden, vielleicht ein paar Schlägereien miterlebt, aber was kannte er schon von der Welt? Er wusste, dass man sich vor Armen lieber in Acht nahm, weil sie meistens von ansteckenden Krankheiten besessen waren, die einen Mann innerhalb kurzer Zeit seiner Gesundheit berauben konnten. Sein Vater hatte ihn davor gewarnt, sich mit Frauen aus dem Volk herumzutreiben. Er hatte seinen erstgeborenen Sohn strikt hinweg verboten, mit ihnen zu schlafen, weil er ihn bei bester Gesundheit wissen wollte, und Adrig hatte ihm weitgehend gehorcht. Was es bei seinen jüngeren Brüdern und einigen Kameraden nicht hatte beobachten können. Er wusste, dass manche von ihnen erkrankt waren und in die Gesellschaft nicht mehr gelassen wurden.

Er strich sich mit einer müden Geste über sein Gesicht und ließ sein Pferd mit losen Zügeln durch den neuen Wald reiten. Oméril hielt sich noch auf seinem Sattel, hatte aber die Augen geschlossen und atmete flach. Sein Haar klebte in nassen Strähnen an seiner Stirn. Adrig würde bald Rast machen müssen.  

 

 

 

  

2. Kapitel - Uhowo

Uhowo

 

 

Die Fremde lernt dem Reisenden,

was er wissen muss, um zu Überleben.

Reisender, lass dir gesagt sein, dass du

Nie die bescheidene Hilfe eines Wilden unterschätzen sollst.

 

 

Die Sonnenstrahlen fielen bereits erschreckend flach über das Land und warfen lange Schatten zwischen den Bäumen und dem gebeugten Gras. Adrig hatte sich entschlossen, an einem sanften Hang Rast zu machen. Behutsam löste er Omérils verkrampfte Finger aus der Pferdemähne und ließ den Jungen in seinen Armen behutsam aus seinem Sattel gleiten. Sein Schützling schien in einen tiefen Schlaf gesunken zu sein und machte nicht einmal die Augen auf, als er ihn zu Boden legte. Adrig lockerte die Sattelgurte und suchte nach der Flasche. Er hatte seine liebe Not, dem Kind etwas Wasser in den Mund zu schütten. Omérils Gesicht war furchtbar bleich und seine Lippen spröde und wie ausgetrocknet, keine gute Zeichen für eine mögliche Besserung des Jungen. Was um alles in der Welt konnte Adrig in diesem Moment für seinen Schützling tun? Weiterzureiten wäre sinnlos gewesen und hätte sie beide nur mehr strapaziert. Doch der Abend würde sich bald im Land ausbreiten und die Nacht einbrechen. Der Ritter verfügte über nichts, womit er ein wärmendes Feuer hätte entfachen können. Der Junge war nicht im Stande, irgendeine Form von Nahrung zu sich nehmen. Es blieb Adrig nichts anders übrig als zu hoffen, dass ein paar Stunden Schlaf dem Kind helfen mochten. Doch sollten sie hier in der absoluten Wildnis der Feuchte und Kälte einer Herbstnacht trotzen, ohne zu wissen, was für Tiere sich in dieser Gegend aufhielten? Adrig fühlte sich wieder wie am Ende seiner Reise angelangt. Wenn er sich umblickte, entdeckte er kein Anzeichen von einem eventuellen Obdach oder nur erdenklichen Schutz vor den Elementen. Vorläufig zeigte sich der Himmel frei von Wolken und er konnte hoffen, in den kommenden Stunden keinem Regen trotzen zu müssen. Die Pferde konnte sich hier zwar ernähren, doch wo gab es frisches Wasser zu finden? Seine eigenen Vorräte neigten sich mal wieder dem Ende zu und er spürte, wie er die Kontrolle über jedes Detail verlor. Er war nicht dafür ausgebildet, in einer fremden Wildnis zu existieren. Er fühlte, dass er dem Versagen sehr nahe war, weil er keinen Ausweg wusste. Wahrscheinlich hatte sich König Mana Kael nicht ausmalen können, was es für einen Mann bedeutete, in der Natur zu überleben.

Schließlich setzte sich Adrig dicht neben den Prinzen, wobei ihm selbst alle Knochen schmerzten. Der Junge atmete flach und hatte die Augen fest geschlossen. Der Ritter wusste, wie qualvoll eine gebrochene Rippe war und konnte sich denken, dass der tapfere Kerl vor Schmerzen sein Bewusstsein verloren hatte. Er wagte sich nicht, ihn anzurühren und ließ ihn in Ruhe liegen. Noch war die Luft nicht zu kalt und feucht und sie konnten sich eine Ruhepause leisten. Die Natur würde ihn früh genug zum erneuten Aufbruch zwingen, vorläufig wollte er hier ausharren und nur für einen Moment die Augen schließen, selbst wenn er nicht einschlafen durfte. Dazu hatte er nicht das Recht, er musste wachen, das war das Wenigste, was er dem Jungen noch bieten konnte. In der Dunkelheit seiner geschlossenen Augenlider lauschte er den Atemzügen des Kindes und seinen eigenen. Solange sie beide regelmäßig atmeten, mochte es eine Hoffnung auf eine Genesung geben, redete er sich ein. Mit seinen angewinkelten Beinen stemmte er sein eigenes Gewicht gegen den Abhang und würde so ausharren. Er spürte seine Schultern fest gegen die Erde gedrückt, seine Oberarme lagen neben ihm auf der Erde und es erschien ihm beinahe, als würde eine Form von Entspannung sich in seinen Muskeln ausbreiten. Vielleicht war es der direkte Kontakt zur Erde, der ihm zu neuen Kräften verhalf, jedenfalls musste er darauf Acht geben, wach zu bleiben. Ein leichter Wind blies über sein Gesicht und er lauschte den Geräuschen der Natur, die friedlicher nicht sein konnte als in diesem Moment. Er wollte nur für einen Augenblick nicht mehr nachdenken, sich weder erinnern, noch Sorgen um die Zukunft machen. Die frische Luft strich über sein Gesicht, seine Atmung glitt ein und aus und mehr brauchte er im Augenblick nicht.

 

Aus unbestimmter Ferne drang das Geräusch eines Tieres zu seinen Ohren, sein Bewusstsein wehrte sich zunächst gegen sein Erwachen. Raue Grashalme kitzelten seine Wange im Wind und die Tierlaute ließen sich erneut vernehmen, tief, aus einer mächtigen Kehle heraus. Adrig riss die Augen auf, es war dunkel geworden, er war eingeschlafen! Diese Erkenntnis jagte ihm einen Schrecken durch die Brust und er rappelte sich auf, als er das riesige Tier erblickte. Er hielt mitten in seine Bewegung inne und starrte den entsetzlichen Hund an, der sich unweit auf seine Hinterläufen gesetzt hatte und ihn beobachtete. Das Tier erschien so groß und mächtig wie ein Bär, sein Fell wehte wild und unglaublich dicht in der Abendluft. Es war noch nicht völlig dunkel, aber er war eingenickt und hatte sich von einem fremden Hund überraschen lassen. Dieser beobachtete ihn aus seinen schwarzen Augen, die in der Dunkelheit schimmerten und bellte abermals in bedrohlichen Tönen, laut und langsam, gefärbt von Selbstsicherheit verkündete das Tier weit über die Landschaft hinweg, dass es jemand aufgespürt hatte. Adrig blickte zu den Pferden hin, welche aufmerksam den Hund beobachteten. Sie standen dicht beisammen und bildeten gemeinsam einen lebendigen Schutzwall. Der Mann verabscheute das Gefühl, sich vom Tiefschlaf überrascht haben zu lassen, er spürte in seinem gesamten Körper das Gefühl von erschöpfter Ruhe, gemischt mit einer gewissen Panik, die Frage nach dem Wohlbefinden von Oméril. Ein entferntes Blöken von einem Schaf riss ihn aus seinem Gedankenstrom und er blickte zurück zu dem abwartenden Hund, der sich offensichtlich nicht von der Stelle rühren wollte. Der Hund setzte erneut mit seiner tiefen Stimme zum Bellen an und verkündete seine Gegenwart jenen, die unbemerkt an diesem Ort hätte vorüberziehen können. Adrig machte Anstalten, sich zu erheben, sein Versuch wurde allerdings von einem drohenden Knurren des Hundes beantwortet. Das riesige Tier sprang auf und zeigte sich plötzlich sehr aggressiv. Es hatte wohl entschieden, dass dieser fremde Mann lieber auf der Erde liegen bleiben sollte. Mit Entsetzten musste Adrig die mächtigen Zähne des dunklen Hundes aufblitzen sehen und verhielt sich sofort ruhig. Die Pferde warfen unruhig die Köpfe hoch, es würde nicht viel fehlen und sie würden ausbrechen. Der Mann überlegte fieberhaft, denn seine Waffen befanden sich am Sattel seines Pferdes und er fragte sich, wie er jetzt daran kommen mochte?

In diesem Augenblick wurde das laute Bellen mit einem langen Pfeifton beantwortet. Der Hund warf den Kopf in diese Richtung und bellte zur Antwort. Kurz darauf zeichnete sich der dunkle Umriss eines hochgewachsenen Mannes gegen den Abendhimmel ab. Der Hund bellte unablässig in Adrigs Richtung und wedelte begeistert mit seiner riesigen Rute. Der Mann sprach in einer fremden Sprache zu seinem Hund und belohnte ihn mit streichelnder Hand auf den mächtigen Kopf. Er rief Adrig etwas zu und wartete auf dessen Antwort. Als diese ausblieb kam er vorsichtig ein paar Schritte näher und wiederholte seine Worte, die der junge Mann nicht verstand. Er konnte allerdings am Klang der Stimme vernehmen, dass es sich um einen Mann im Vollbesitz seiner Kräfte handelte. Vorsichthalber zeigte er mit einer langsamen Bewegung seine offenen Handflächen zum Beweis, dass er unbewaffnet war. Der Fremde kam näher und betrachtete ihn, dicht neben ihm knurrte der riesige Hund, verstummte aber sofort, als sein Herr ihn zur Ruhe mahnte. Offensichtlich hatte er den Jungen an Adrigs Seite bemerkt und beugte sich nach vorn. Er deutete auf Omérils zusammengerollte Silhouette und fragte etwas in seiner fremden Sprache. Adrig hatte keine andere Wahl als ratlos die Schultern anzuheben, um zu bedeuten, dass er nichts verstand. Der Mann kniete sich neben dem Jungen nieder, legte seinen festen Stab zu Boden und befühlte die Stirn des Kindes.

„Es geht ihm nicht gut …“, sprach Adrig mehr zu sich selbst als zum Unbekannten, denn er war sicher, dass jener ihn nicht verstehen mochte. Doch vorläufig war der Fremde damit beschäftigt, den Prinzen zu begutachten, er hatte ihn sanft auf den Rücken gewälzt und befühlte aufmerksam seinen Nacken, seinen Kopf und überprüfte seinen Herzschlag. Allem Anschein nach brauchte dieser Fremde aus der kühlen Abendluft keine weiteren Erklärungen, um zu verstehen, wie es um seinen Schützling beschert war. Oméril ging es dreckig und wenn ihm nicht bald die nötige Pflege geleistet würde, sei es in dieser Nacht vielleicht um sein Leben geschehen. Adrig beobachtete angestrengt was der Fremde mit dem Prinzen tat. Er befühlte jede Stelle seine Körpers und legte seinen Kopf so, dass der Junge ungehindert atmen konnte. Behutsam legte er dessen Arme und Beine lang und betastete die Knochen, offensichtlich suchte er nach Brüchen, lauschte einen Moment lang der Atmung des Kindes, beobachtete ihn und schien zu überlegen. Adrig saß hilflos daneben und beobachtete das stumme Schauspiel. Der Hund an seiner Seite leckte sich über seine Lefzen und gab kurz einen drohenden Ton aus seiner Kehle. Der Fremde zischte kurz zwischen seinen Lippen, woraufhin der Hund sofort winselte und seinem Herrn rasch über die Wange leckte. Der Mann blickte Adrig an und überlegte einen Augenblick, bevor er an seinen Gürtel unter seinem weiten Mantel nach einer Flasche suchte, diese entkorkte und dem bewusstlosen Oméril behutsam ein paar Tropfen von seinem Getränk zwischen dessen Lippen goss. In der Tat gab Oméril ein leises Geräusch von sich, welches Adrigs Herz einen unerwarteten Freudensprung machen ließ. Omérils Augenlider bebten und er war sich beinahe sicher, dass der Junge sie wieder öffnen würde. Der Fremde wartete einen Moment lang und beobachtete das Gesicht des Jungen aufmerksam. In dieser Zeit hatte Adrig die Möglichkeit, etwas mehr von dem Gesicht des Schäfers zu erkennen. Er war von bemerkenswert hochgewachsener Statue und trug einen dichten, dunklen Krausbart. Seine Augen waren auf den Jungen konzentriert und den Bewegungen des Mannes nach zu urteilen, war der Schäfer selbst nicht sehr alt. Er rührte sich präzise und kraftvoll, allem Anschein nach, schien er mit seiner Herde allein in diesem Gebirge unterwegs zu sein.

Adrig beobachtete ihn dabei, wie er dem Kind einen weiteren Schluck von seinem Getränk in den Mund goss, die Flasche behutsam absetzte, zukorkte und ablegte. Mit beiden Händen hielt er den Kopf des Kindes so, dass er sicher sein konnte, dass Oméril sich nicht verschluckte, sondern in Ruhe den heilenden Schluck zu sich nehmen konnte. Danach ließ er den Jungen ruhen, richtete sich auf und überlegte. Sein Blick wandte sich zu Adrig, er schätzte den Ritter eine kurze Weile ab, bevor er ihm seine geheimnisvolle Flasche reichte. Adrig zögerte, doch der Fremde nickte ihm einladend und bestimmend zu. Der Hund winselte kurz und verharrte mit unterdrückter Unruhe neben seinem Herrn. Der Ritter nahm die Flasche entgegen und erlaubte sich einen Schluck. Das Zeug roch stark nach Heu und Kräutern, die gesamte Pflanzenwelt der Berge schien darin konzentriert zu sein und er bereute fast den Riss, den er daraus genommen hatte. Die Flüssigkeit brannte sich ihren Weg durch seine Innereien bis tief in den Magen und breitete sich warm darin aus, er musste husten und reichte dem Fremden sein Gebräu zurück.

Er hörte den Fremden kurz auflachen und reden, bis er endlich ein paar Wörter in seiner merkwürdigen Sprache verstand: „Wie ist dein Name?“

„Mein Name? Adrig, man nennt mich Adrig. Sprichst du meine Sprache?“

Der Fremde blickte ihn an und wartete, bis der Ritter seine Sinne wieder beisammen hatte.

„Ein wenig. Mein Name ist Uhowo.“

„Wie kann es sein, dass du meine Sprache kennst?“

„Gelernt auf Reisen in meiner Jugend. Der Junge braucht Pflege, es ist wichtig. Folge mir!“ Ohne auf Adrigs Einverständnis zu warten, beugte sich der Fremde über Oméril und hob ihn behutsam auf. Der Ritter raffte sich auf und eilte zu seinen Pferden, der Hund bellte aufmunternd und umkreiste mit tanzenden Schritten die kleine Gruppe. Uhowo gab einen merkwürdigen grollenden Ton von sich, auf den sein Hund offensichtlich gehorchte, denn er eilte rasch vorwärts. In diesem Moment wurde Adrig bewusst, über was für eine beachtliche Anzahl von Schafen dieser Mann wachte. Die Tiere gingen dicht an dicht durch das Tal und erfüllten die sich verdunkelnde Landschaft wie eine Welle von lebendigen Wesen. Andere Hunde rannten um diese große Herde herum, einer von ihnen bellte dem Riesenhund und ihrem Herren kurz zur Begrüßung zu. Adrig konnte in dem abnehmendem Licht nicht erkennen, wie viele dazu gehörten, er sah nur wie einer nach dem anderen zu ihrem Herren kamen, ihn freudig beschnüffelten, einen Blick auf seine neuen Begleitern warfen und augenblicklich wieder an ihre Aufgabe zurückkehrten. Uhowo hatte seinen Stab an Adrig abgegeben, damit er Oméril in seinen Armen tragen konnte. Der Ritter hatte seine Mühe, den sicheren Schritten des Mannes zu folgen. Der Fremde kannte die Umgebung mit seiner abschüssigen Landschaft und wusste genau, welche Richtung er einschlagen sollte, um die Nacht in Sicherheit zu verbringen. Allerdings hatte Uhowo keinen von Menschenhand errichteten Unterschlupf im Sinn. Er entschied sich für einen Platz, den er gut kannte und von wo seine Hunde einen Überblick über die Herde behalten konnten. Im Windschatten von einem großen Felsen wies er Adrig an, sich dort niederzulassen.

„Hier ist es gut. Wir können ein Feuer machen. Im Schatten vom Felsen sieht es keiner von Weitem. Alles wird gut.“ Adrig lauschte den Worten des Fremden und an der Art, wie er sprach, konnte er hören, dass er sich konzentrieren musste, um seine Sätze zu formulieren. Uhowo hatte es nicht nötig, viel zu sprechen. Er machte sich an seinem riesigen Sack zu schaffen, den er unter seinem Mantel trug und brachte allerhand Zeug zum Vorschein. Mittlerweile war es völlig dunkel geworden und Adrig konnte kaum etwas zu erkennen. Sein Begleiter war von dem fehlenden Licht nicht gestört, er hörte, wie er begann, den Jungen zu pflegen. Der Ritter ließ die Pferde und gesellte sich dazu, selbst wenn er nicht wusste, wie er sich nützlich machen konnte. Er vernahm den scharfen Geruch einer heilenden Salbe.

„Prellungen, der Junge ist gestürzt, nicht wahr?“, raunte Uhowo und nun erkannte Adrig in der Finsternis, wie er Omérils Oberkörper einrieb.

„Ich war nicht bei ihm, als das passiert ist. Er ist mir entlaufen und wollte mir nichts davon erzählen“, begann Adrig zu erklären.

„Ihr seid auf der Flucht!“ Uhowos Feststellung traf den Ritter wie einen Schlag, er hatte das mit aller Selbstverständlichkeit gesagt, keine Frage gestellt und einfach gehandelt.

„Wo wollt ihr hin?“ Und auf diese Frage wusste Adrig absolut nicht, was er antworten sollte. Mit jedem Atemzug wurde ihm bewusster, wie unfähig er dieser Situation gegenüber stand und blieb dem Fremden eine Antwort schuldig. Der Bärtige beobachtete ihn einen Augenblick, wischte schließlich seine Hände in einem Tuch ab und holte etwas aus seinem Sack.

„Und wie geht es dir? Hier, nimm das, gutes Brot. Du musst etwas essen!“ Adrig konnte es kaum fassen als er das Stück Brot zwischen seinen Fingern spürte, es roch ebenso würzig und nahrhaft wie die Wiesen, die ihn umgaben. Ihm lief das Wasser regelrecht im Mund zusammen und er nahm seinen ersten Bissen langsam zu sich.

„Ruhe, du brauchst Ruhe. Wir haben Zeit zum Reden später“, ordnete Uhowo an und Adrig gehorchte ihm nur zu gerne. Dieser Mann war bestens für seine Wanderungen ausgerüstet, er vermochte es sogar, ein kleines Feuer zu entfachen, geschützt von ein paar Steinen, die er geschickt zusammen schob und darüber etwas Flüssiges in einem kleinen Gefäß erhitzte. Der große Hund saß unweit von den Männern und beobachtete alles aus wachsamen dunklen Augen. Ein gewisser Frieden hatte sich an diesem Ort ausgebreitet, die Natur rings herum wartete ab und die Geräusche der zahlreichen Schafe wirkten sich beruhigend aus. Adrig wollte diese unverhoffte Ruhe nutzen und sich ruhen lassen. Uhowo sprach kein Wort mehr, beobachtete still den ruhenden Jungen und breitete eine Decke über ihn aus.  Er betrachtete seinen Begleiter, holte abermals seine Flasche hervor und genehmigte sich selbst einen Schluck von dem würzigen Getränk, bevor er es an ihn weiterreichte. Adrig nahm es dankbar an, spürte den brennenden Alkohol stark in seiner Kehle brennen, bevor er sich gegen den Stein lehnte und endlich zur Ruhe kam.

 

Am nächsten Morgen wurde Adrig von einem hohen Pfeifton und fernen Hundebellen aufgeweckt. Die Schafe blökten aufgeregt und der Mann brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, wo er sich befand. Er war in einen tiefen Schlaf gesunken und fühlte sich schwer und benommen gegen einen harten Stein gelehnt. Er wischte sich die Müdigkeit aus den Augen und blinzelte in die gleißenden Sonnenstrahlen, die über die Landschaft strichen. Weiße Nebelschwaden zogen über die unzähligen Schafsrücken hinweg. Die Hunde bellten freudig und rannten in unglaublicher Geschwindigkeit um die weitausreichende Herde herum. Zu seiner linken Seite offenbarte sich ein atemberaubender Blick in ein Tal, welches noch unter weißen Wolken verborgen war. Oméril saß in eine dicke Decke gewickelt und hielt einen Becher mit dampfendem Inhalt zwischen den Händen. Er betrachtete seinen Ritter mit kritischem Blick, auf seiner Stirn prangte ein dunkler Bluterguss und der Junge sah mitgenommen aus, doch er lebte und verhielt sich ruhig unter seinem warmen Schutz. Einige Meter entfernt stand Uhowo, groß und dunkel unter seinem ausladenden Mantel, sein dunkles, krauses Haar wehte unter einem spitzen Filzhut im leichten Morgenwind und er rief seinen Hunden Befehle zu. Kurz darauf warf er einen Blick zu seinen neuen Reisekumpanen zurück und kam auf sie zu, als er sah, dass Adrig aufgewacht war.

„Es ist Zeit, Adrig! Oméril! Nur nicht zagen! Heute steigen wir hinab ins Tal. Dort könnt ihr Hilfe finden.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen, um seinen Aufbruch zu verkünden. Die Hunde und die Schafe kannten offensichtlich den Weg. „Der Junge kann aufsitzen, aber besser ist es, wenn die Pferde allein gehen. Der Weg ist abschüssig.“ Adrig beeilte sich, um dem Prinzen auf die Beine zu helfen und im Sattel aufzusitzen, während Uhowo die Decke verstaute. Mit aller Selbstverständlichkeit hatte er sein Gepäck an den freien Sätteln der Pferde verstaut und erfreute sich offensichtlich seiner neugewonnen Bewegungsfreiheit. Sein Gesicht strahlte beim Anblick der Berge und der Landschaft ringsherum. Er liebte diesen Tag und lächelte in den strahlenden Morgenhimmel. „Gute Luft, gutes Wetter, gute Zeit, viele Tiere werden zurück zu ihren Herren finden. Der Winter wird für viele Familien gnädig sein. Sie können sich auf mich verlassen, doch ohne die Güte der Natur bin ich nichts.“ Adrig hörte dem Fremden zu, der sich an diesem Morgen offensichtlich viel redseliger zeigte als am vergangenen Abend. „Die Hunde freuen sich auch, sie haben Hunger und ein wohlverdientes Mahl erwartet sie. Isold hat gut über uns gewacht. Nie hatte ich eine bessere Wächterin an meiner Seite.“ Dem Ritter wurde klar, dass Uhowo von seinem gigantischen Hund sprach.

„Mir ist noch nie so ein riesiger Hund begegnet, offensichtlich ein Weibchen. Wie mächtig mögen die Männchen sein?“

„Kaum ein Unterschied. Diese Tiere sind gut, um die Schafe vor Wölfen zu schützen. Sieh dort drüben, da sind die anderen. Es sind insgesamt fünf der Großen, die mich begleiten. Isold herrscht über sie. Die kleineren Hunde sind flinker und leiten die Schafe, während die großen über uns wachen. Gute Hunde, hörst du! Sie wissen, ob sie es mit guten oder schlechten Menschen zu tun haben. Isold hat euch aufgespürt und wusste, dass ihr meine Hilfe braucht.“

„Ich hatte den Eindruck, sie würde mich auffressen, wenn du nicht gekommen wärst.“ Adrig betrachtete argwöhnisch den großen Hund an der Seite seines neuen Freundes. Aus der Ferne im gütigen Sonnenlicht sah Isold sehr friedlich aus und ihr weiches, wuscheliges Fell lud ein, mit beiden Händen hineinzugreifen. Doch ihre Zähne konnten sich unglaublich bedrohlich zeigen. Stolz trabte sie neben ihrem Herrn und ließ die wandernde Herde nicht aus dem Auge.

„Sie wollte nur sicher gehen, dass du mir nichts antun wirst. Wo kommst du her Adrig? Und wer ist der Junge?“

„Wir sind auf Reise. Der Junge wurde mir von seinem Vater anvertraut. Sein Vater ist alt und krank und fürchtet um seine Sicherheit. Daher sind wir unterwegs.“

„Doch ihr wisst nicht, wo ihr hin wollt? Wer verfolgt euch?“

Adrig hatte gehofft, mit ein paar knappen Worten ausreichend Auskunft zu geben, dass Uhowo den Eindruck habe, etwas zu wissen, ohne Genaueres von seiner Herkunft preiszugeben. Doch der dunkle Mann war alles andere als dumm und durchaus in der Lage, zu logischen Schlüssen zu finden. Adrig hielt den fragenden Augen unter den dichten Brauen stand, stahlblau und stechend, und zögerte.

„Ich habe dich und deinen jungen Gefährten gerettet. Lass dir Zeit mein Freund, ich verlange nichts von dir. Heute Abend wirst du im Dorf einkehren. Es wird sich zeigen, ob du dort findest, was du suchst.“ Dies waren die letzten Worte, die Uhowo während des Abstiegs sprach. Er beschleunigte seinen Schritt und ging voran. Adrig bereute es fast, sich nicht vertraulicher gezeigt zu haben, doch einem Mann wie Uhowo schien das nicht weiter zu berühren. Er rief zu seinen Hunden und folgte seinem Weg, die Einsamkeit war seine Verbündete und er duldete eventuell andere Menschen in seiner Nähe. Pech für jene, die ihm nicht vertrauten. Ohnehin konnte Adrig sich denken, dass der Mann eine Idee hatte, aus welchem Land er stammte, denn er hatte einst diese Sprache gelernt. Doch war das ein Grund genug, ihn in die Geheimnisse eines Königreiches einzuweihen? Je weniger Leute von Omérils wahrhaftiger Existenz wussten, desto besser und Adrig war sich sicher, gut daran zu tun, nichts davon preiszugeben. Sie waren auf dem richtigen Weg und würden sich mit jedem Schritt von ihren Auftragsmördern entfernen. Tief in seinen Taschen verfügte er über etwas Gold, das würde er anzuwenden wissen, wenn er Leute brauchte, die ihm den Weg durch dieses Gebirge zeigen wollten. Und vielleicht hätte er in diesem Dorf die Möglichkeit, die Pferde zu verkaufen, was ihm ebenfalls eine ansehnliche Summe einbringen würde. Er blickte zu Oméril hinauf, der schweigend im Pferdesattel saß und nachdenklich die Welt betrachtete.

 

Die Wanderung verlief ruhig im Rhythmus von hunderten kleinen Schafshufen, die eifrig die Berge verlassen wollten. Die Zeit der grünen Weiden im Hochland war vorüber und bald würde der Winter einziehen. Wenn auch die Sonnenstrahlen am Tag noch kraftvoll waren, schritt der Verlauf des Jahres unaufhaltsam fort und auf den hohen Zinnen verdichtete sich bereits der Schnee. Warme Ställe warteten auf die Tiere, doch zuvor wollte sich ihre Rückkehr ins Dorf wie eine wahrhaftige Naturerscheinung darbieten. Adrig hielt die drei Pferde zögernd zurück als sie sich  dem Tal näherten und die ersten menschlichen Behausungen sichtbar wurden. Er hatte sich wohl in den vergangenen Tagen an die Stille der Natur gewöhnt, dort wo er Schutz vor anderen Menschen gefunden hatte, die nach seinem Leben trachteten. Mit einem Mal beschlich ihn ein ungutes Gefühl, sich  den Blicken fremder Leute aussetzen zu müssen. Er wusste nicht, wer sie waren, oder vermochte das Ausmaß der Ansiedlung abzuschätzen. Uhowo hatte von einem Dorf geredet, doch im Anbetracht der Anzahl der Schafe durften es allerhand Menschen sein, die hier lebten. Der Ritter fragte sich, wie diese Leute es wohl verstanden, ihre Tiere aus diesem Haufen herauszufinden?

Uhowo war weiter gegangen und hatte bemerkt, dass seine Begleiter Abstand genommen hatten. Der große Mann blieb abwartend stehen und blickte ihnen entgegen. Er schien Adrigs Misstrauen zu verstehen, ohne Worte, nur auf die Körpersprache vertrauend, doch er war bei ihnen und würde auch hier ein Führer für ihn sein. Adrig atmete tief durch und warf Oméril einen vielsagenden Blick zu. Der Junge brauchte dringend Nahrung und Pflege, das war der wirkliche Grund warum er hier war. Gemeinsam ritten sie in das Dorf ein. Beim Eintritt der Schafe wurde es mit einem Mal lebendig in diesem verschlafenen Ort. Leute kamen herbei und spielten auf merkwürdigen Instrumenten eigenartige Melodien. Pfeifen und grobe Seiteninstrumente gehörten dazu, aber auch kleine Trommeln. Das Ganze fügte sich zu einem seltsamen Konzert und Oméril musste beim Anblick der Leute sogar lächeln. Sie waren allesamt nicht sehr groß gewachsen und mit Kleidung aus groben Tuch und Lammfellen bekleidet. Die Frauen und Mädchen trugen lange, einfarbige Röcke, deren Säume nur ihre groben Holzschuhe sichtbar ließen. Den einzigen Schmuck, den sie sich offensichtlich leisteten, waren buntbestickte Tücher, die sie über ihre Schultern trugen und auf der Brust verknotet hatten. Die Menschen begrüßten Uhowo respektvoll und kamen nach und nach alle zu ihm, um ihn an den Armen zu berühren oder auf die Schulter zu klopfen. Der große Schäfer überragte sie ausnahmslos ein bis zwei Köpfe und zeigte sich freundlich und reserviert. Er begrüßte kleine Kinder, die von ihren Müttern stolz vorgestellt wurden.

Oméril bewegte sich langsam aus seinem Sattel und stellte sich neben seinen Begleiter. Die Einwohner des Dorfes hatten die beiden wohl bemerkt und warfen ihnen flüchtige Blicke zu, Mädchen tuschelten und kicherten hinter vorgehaltenen Händen und rannten plötzlich mit hochroten Wangen fort, sobald Oméril und Adrig in ihre Richtung blickten. Adrigs Aufmerksamkeit galt einer Abordnung von Männern, die sich Uhowo näherten, ihn knapp, aber respektvoll begrüßten und zu den Fremden zeigten. Offenbar erwarteten sie eine Erklärung vom Schäfer, dem sie ihre Tiere anvertrauten. Uhowo sprach eine Weile mit ihnen, mit beschwichtigenden Gesten und ernster Miene. Schließlich schienen sie mit einem Kopfnicken einverstanden zu sein und Uhowo winkte Adrig zu. Der Ritter gehorchte und nickte den umstehenden Leuten aus dem Dorf zu. Er wollte sich nicht unterwürfig zeigen, denn er fühlte sich von ihnen beobachtet und nicht gerade willkommen. Er vernahm seinen eigenen Namen im Gespräch von Uhowo, verstand allerdings kein weiteres Wort von dieser eigenartigen Sprache. An der ernsten Miene seines neuen Bekannten erkannte Adrig, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Wie eine Bestätigung seiner Befürchtungen begann Uhowo in seiner Sprache zu erklären: „Die Dorfgemeinde ist besorgt, denn sie werden nicht die Rückkehr ihrer Herden feiern können, wie sie es sonst tun. Aber sie wollen sich dir gegenüber nicht feindselig zeigen, denn ich habe ihnen gesagt, dass du nicht zu den Abgeordneten der Mächtigen gehörst. Die Familie des Oberhaupts wird sich deiner annehmen und sich um deinen jungen Schützling kümmern. Ihr könnt die Nacht hier verbringen, müsst aber bald wieder abziehen, denn die Leute wollen keinen Ärger auf sich ziehen.“

„Aber ich komme in Frieden! Sag ihnen das!“, protestierte Adrig. Uhowo lächelte beschwichtigend und blickte auf seine Pferde, deren Ausrüstung und die Sättel an denen seine Schwerter befestigt waren. „Jeder sieht dir an, dass du ein Mann der Waffen bist und dein Handwerk darin besteht, Menschen zu töten. Ich bin dein Bürge für den Frieden hier im Dorf. Allerdings weiß niemand zu sagen, ob keine militärische Abordnung in den folgenden Tagen über das Dorf herfällt. Wenn sie dich hier finden, ist das weder für die Einwohner noch für dich eine gute Sache.“

Adrig blickte in die argwöhnischen Gesichter der Männer, die ihn umringt hatten und warteten.

„Petir nennt sich unser Oberhaupt. Lassen wir seine Einladung nicht warten und folgen wir ihm. Bringen wir die Pferde in seinen Stallungen unter und sorgen dafür, dass es ihnen gut geht.“

Oméril und Adrig waren gezwungen zu gehorchen und folgten den Leuten in das niedrige, wenn auch geräumige Haus in der Mitte des Dorfes. In der Dunkelheit des Hauses roch es nach kalter Asche und Kräutern. Frauen kümmerten sich mit gesenkten Häuptern an langen Tischen um Nahrung. Eine von ihnen legte Holz im Feuer nach, welches in der Mitte des Raumes brannte. Adrig sah, dass eine hölzerne Balustrade Räume rings über ihren Köpfen abschirmte. Diese einfache Behausung schien dafür geschaffen zu sein, so viel Menschen wie möglich in Wärme dicht beieinander leben lassen. Die Männer wurden eingeladen, sich neben dem Feuer niederzulassen und Frauen brachten würzig riechendes Bier und Brot, mit Butter und Honig bestrichen. Adrig trank schweigend mit Uhowo, dem sogenannten Petir und seinen Männern. Oméril umklammerte den schweren Humpen mit beiden Händen und trank einen Schluck daraus. Offensichtlich schmeckte ihm dieses Getränk, denn er trank es mit einem Zug aus und wischte sich über den Mund. Neben ihn hatten sich zwei junge Mädchen eingefunden und kicherten. Sie reichten ihm eine Holzplatte mit Brot, welches er dankbar annahm und herzhaft reinbiss. Während er es sich schmecken ließ, nahm eines von den Mädchen seinen Mantel von seinen Schultern und legte das wertvolle Bekleidungsstück an seine Seite.

„Du siehst, dein Prinz findet rasch Freundinnen, die sich gerne um ihn kümmern“, lächelte Uhowo. Adrig blickte ihn strafend an.

„Wie kommt es, dass du meine Sprache immer fließender sprichst?“

„Weil ich sie seit langen endlich wieder benutzen kann. Mach dir keine Sorgen, Ritter Adrig, vorläufig habt ihr beiden nichts zu befürchten.“ Dem Angesprochenen hatte es die Sprache verschlagen, denn er hatte nicht damit rechnen können, so von Uhowo angeredet zu werden. Als hätte der Schäfer in seinen Gedanken gelesen, deutete er auf seine Stiefel und fügte hinzu: „Nur Reiche und Mächtige können sich solches Schuhwerk leisten. Omérils Ausstattung ist für einen Vasallen zu fein, er ist nicht dein Bruder, sein Vater hat dich zum Schutz abgeordnet, nur ein Ritter kann so einen Auftrag annehmen. Den meisten Menschen hier ist noch nie ein Schwert unter die Augen gekommen, es sei den die einfachen schartigen Waffen der Soldaten, die den Dörfern das Garaus machen.“

„Warum kommen diese Männer hier her und was wollen sie?“

„Das ist einfach zu verstehen, mein Freund. Sie kommen, um das Volk zu unterwerfen. In den Bergen glauben die Menschen an ihre eigenen Götter und scheren sich nicht darum, was die Mächtigen in ihren Städten wollen. Die Herrscher aber wollen sichergehen, dass ihre Handelswege sicher werden und keine Freidenker über ihre Karawanen herfallen. So einfach ist das zu verstehen. Jene, die sich noch nicht unterworfen haben, werden von den Truppen heimgesucht. Was dann geschieht, bedeutet nichts Gutes für das Volk.“

„Wir können ihnen helfen!“, entschied Adrig kurzentschlossen, woraufhin Uhowo lachen musste. Zu Petir gewannt übersetzte er wohl, was er gerade gesagt hatte, was bei den Männern ebenfalls allgemeines Gelächter verursachte.

„Ich wusste, dass du ein Ritter bist. Heldenhaft und ein gutes Herz, doch unwissend, was das Leben des einfachen Volkes betrifft. Deine Tapferkeit ehrt dich, doch es ist zwecklos. Was mag schon ein einzelner Mann gegen eine militärische Abteilung ausrichten?“

„Wir können uns gegen sie verbünden.“

„Ja, das können wir, vielleicht werden wir über eine Abordnung Herr. Doch auf diese Weise zieht das Dorf die Aufmerksamkeit auf sich, die es um jeden Preis vermeiden will.  Ich rate dir, Petirs Entscheidungen zu gehorchen, sonst nehmen dir seine Männer die Waffen ab und sie halten euch gefangen, um euch den Abgeordneten der Mächtigen auszuliefern.“

Adrig beobachtete die Augen der Leute, die ihm gegenüber saßen und war sich sicher, dass Uhowo die Wahrheit sprach. Diese Männer waren fest dazu entschlossen, ihren Wohnsitz gegen alle Eindringlinge zu verteidigen. Das Leben in den Bergen war hart und jeder musste zusehen, wie er sich und seine Familie beschützen konnte. Fremde und Reisende mochten wohl eine Abwechslung darstellen, aber man sah sie lieber wieder abziehen, um nicht die begrenzten Vorräte zu belasten oder Unheil zu bringen. Oméril rückte näher an Adrigs Seite und sprach leise: „Wir können nicht hierbleiben. Die Menschen hier fürchten sich vor allem. Wahrscheinlich haben sie Gründe dafür, aber das geht uns nichts an.“

„Du hast recht. Morgen reisen wir weiter.“

„Wo wollen wir hin?“

„Das werden wir später sehen.“ Was wollte Adrig schon anderes sagen, denn er konnte von diesen Fremden nichts erwarten. Uhowo und die Leute aus dem Dorf hatten ihm mehr gegeben als er sich hatte erhoffen können. Er spürte die diffuse Angst vor etwas Unbestimmten zwischen den Anwohnern. Sie gaben sich wohl Mühe, so unbefangen wie möglich ihren alltäglichen Tätigkeiten nachzugehen, waren allerdings von einer Macht bedroht, die sie nicht beherrschten. Es war ihm unmöglich, ein Auslöser von mehr Leid zu sein, als ihnen vielleicht bevorstand. Sie warteten auf etwas und hatten ihre gewöhnlichen Festlichkeiten deswegen unterlassen. Oméril und er selbst waren zum Essen eingeladen, aber die Stimmung blieb bedrückt und reserviert gegenüber den Fremden. Uhowo verhielt sich ebenfalls zurückhaltend und beobachtete die speisende Versammlung in dem großen Haus des Dorfoberhauptes. Erst als den beiden Reisenden ein Raum zugeteilt wurde, in dem sie die Nacht verbringen sollten, gesellte er sich wieder zu ihnen. Er wartete bis er mit Adrig und Oméril allein war und setzte sich auf einen Strohballen. Mit einer einladenden Geste hieß er Adrig, es ihm gleichzutun. Der Ritter hatte es für richtig gehalten, seine Habseligkeiten mit in den Raum zu schaffen und auch seine Waffen in Griffnähe zu wissen. Uhowo beobachtete ihn dabei, wie er sein Zeug neben seinem Schlaflager verstaute. Oméril saß aufrecht auf einem mit Decken ausgerichteten Strohlager und wartete ab, was die beiden Männer miteinander besprechen würden. Schließlich begann Uhowo mit seiner ruhigen, tiefen Stimme zu reden: „Euch besteht eine schwierige Reise bevor, denn ihr habt nicht die geringste Ahnung, wo euer nächstes Ziel liegt. Wenn hier der Herbst auch noch angenehm sein mag, sind bereits viele Berge unpassierbar geworden. Ohne einen Führer seid ihr hier verloren.“

Adrig stützte sich schwer auf seinen Knien ab, seine Hände erschienen ihm völlig machtlos und er konnte seinem neuen Bekannten nur Recht geben: „Und im Dorf sind wir auch nicht willkommen. Seit ich meine Reise angetreten bin, habe ich den Eindruck von einer Endstation zur nächsten zu gelangen.“

„Ihr seid weder vorbereitet noch ausgerüstet. Ich mag vielleicht einen Vorschlag für dich haben.“ Adrig machte eine verneinende Kopfbewegung und wollte Uhowo von etwas anderen überzeugen.

„Du hast schon mehr für uns getan als ich dir je zurück erstatten kann. Ich bin dir das wahrscheinlich mein Leben lang schuldig.“

„Und was genau hast du mit deinem Schützling vor? Du hast selbst bemerkt, wie terrorisiert die Menschen hier sind und ich habe nicht vor, Zeuge von etwas zu werden, was mich das Leben kosten könnte. Ich werde selbst morgen abreisen und mein Winterquartier aufsuchen. Dort bin ich sicher, dass niemand mir folgen wird. Normalerweise verbringe ich einige Zeit im Dorf, wenn ich die Tiere wieder ins Tal bringe. Andere Schäfer werden bald eintreffen und für Aufsehen sorgen. Ein guter Moment, um selbst zu verschwinden und ich denke, dass ist das Beste für dich und deinen Freund.“ Adrig hörte ihm aufmerksam zu und überlegte dabei, was für eine Entscheidung er treffen mochte.

„Oben in meiner Heimat ist Platz für uns und die Tiere, meinen Hunden und ein Stall für die Pferde. Wir werden vier Tage brauchen, um dort hinauf zu steigen. Wenn der Winter erst einmal begonnen hat, kann uns niemand mehr etwas anhaben. Du und Oméril, ihr könnt die Zeit nutzen, um von mir zu lernen. Ihr wisst nichts von der Natur, den Pflanzen und dem Rad der Zeit. Wenn ich euch bei diesen Menschen lasse, bin ich mir fast sicher, dass ihr bald zu den Gefangenen gehört. Ich denke nicht, dass diese Art von Reise deinen Wünschen entspricht.“

„Warum würden sie uns einsperren wollen?“, fragte Oméril.

„Weil ihr anders seit und nicht zum Volk gehört. Mehr braucht es nicht, um einen Menschen zu verurteilen. Die Zeiten sind so, gierige Herrscher wollen sich ihre Macht sichern. Ich habe es gelernt, in der Einsamkeit zu leben und vom Weltgeschehen unbeachtet zu bleiben. Wenn ihr den Winter überstanden habt, könnt ihr im Frühjahr auf eigene Faust durch das Gebirge reisen. Ich kann euch Wege zeigen, die andere nicht kennen.“

Adrig blickte zum Prinzen hinüber und es fehlten ihm mal wieder die Worte. Oméril hingegen hatte eine treffende Antwort parat: „Wir können Uhowo viele Geschichten erzählen, die er noch nicht kennt. Einen Winter völlig allein zu verbringen ist bestimmt furchtbar langweilig, so haben wir wenigstens eine Aufgabe.“ Uhowo musste auf diese Worte hin lachen. „Der Junge bringt es mal weit! Alles gut mein Freund, morgen vor Sonnenaufgang brechen wir auf. Ich werde mich um den Proviant kümmern. Seht zu, dass ihr zu etwas Schlaf findet.“ Er nickte Adrig zu und verließ den Raum. Der Ritter blickte ihm einen Moment nach bevor er sich lang auf seinem Schlaflager ausstreckte. Im unteren Bereich des Hauses hörte er die leisen Stimmen der Einwohner. Eine gewisse Ruhe hatte sich ausgebreitet, allerdings schien es in so einem Wohnraum nie wirklich still zu werden. Irgendjemand hatte immer etwas zu verrichten, oder brauchte etwas. Unweit wurden Tiere versorgt, er hörte wie Heu aufgeschüttet wurde und leise Stimmen etwas Beruhigendes sagten.

„Adrig? Traust du Uhowo nicht?“, unterbrach Oméril sein Schweigen.

„Woher soll ich wissen, ob ich ihm trauen kann? Er ist etwas älter als ich es bin und zieht ein Leben in der Einsamkeit vor, was durchaus für ihn spricht. Die Leute hier sind so, wie es sich für die meisten Bauern gehört.“

„Wie sind sie?“

„Sie mögen nichts, was anders ist als sie selbst und nicht ihren Bräuchen entspricht. Ich denke Uhowo hat das sehr wohl begriffen. Er sieht selbst eher wie ein Krieger aus. Vielleicht werden wir mehr über ihn und seine Reisen in der Jugend erfahren, wenn wir seiner Einladung folgen.“

„Du bist also einverstanden?“ Oméril blickte seinen Freund aus erwartungsvollen Augen an und saß noch immer aufrecht auf seinem Lager. Adrig hob den Kopf, um ihn anzublicken.

„Du solltest dich lieber ausruhen, Junge! Vorläufig denke ich, dass es eine kluge Idee ist, sich mit einem einsamen Wolf zusammen zu tun.“

„Gemeinsam werden wir eine Wolfsmeute sein!“, entschied der Prinz und ihm schien diese Idee offensichtlich zu gefallen. Bei dieser Bemerkung musste Adrig lächeln und er wünschte ihm eine gute Nacht. Um sein Herz breitete sich eine wohlige Wärme aus als er den Jungen zusah, wie er sich endlich zum Schlafen hinlegte und auf seinem Lager zusammenrollte. Er war noch ein Kind und es war seine Aufgabe, über ihn zu wachen. Möge es ihm möglich sein, die gute unschuldige Seite des Wesens des Knaben zu beschützen.

 

In der Tat wurde Adrig in aller Frühe von der kalten rauen Hand Uhowos geweckt. Er schreckte auf und brauchte einen wieder Augenblick, um zu begreifen, wo er sich befand. Uhowo bedeutete ihm, ruhig zu bleiben und weckte den Jungen auf. Dieser sollte ebenfalls keinen Laut von sich geben. Adrig und Oméril gehorchten und packten mit großer Vorsicht ihre Sachen zusammen. Sie folgten Uhowo auf leisen Sohlen über die Balustrade hinweg an den anderen Räumen und Schlafenden vorbei. Vereinzeltes Schnarchen ließ darauf schließen, dass alle Anwohner fest schliefen. Die drei kletterten die schmale Treppe hinunter und schlüpften aus dem Hauptraum zu den Tierställen, wo die Pferde bereits aufmerksam auf sie warteten.

„Wir haben uns nicht einmal von unserem Hausherren verabschiedet!“, flüsterte Adrig, doch Uhowo winkte nur ab. „Die Leute kennen mich gut genug, um nicht weiter überrascht zu sein. Und glaube mir, es ist besser so. Je weniger sie sich an eure Gegenwart gewöhnt haben, desto weniger Fragen werden sie sich selbst stellen. Wahrscheinlich werden heute andere Schäfer eintreten und die Menschen werden nicht mehr an euch denken.“

„Du magst sie nicht besonders“, stellte Oméril fest und sah im schwachen Mondlicht, wie Uhowo grinsen musste. „Ich mag ihre Tiere lieber als die Herren, das könnte stimmen.“ Adrig überreichte ihm das Zaumzeug von dem dritten Pferd und Uhowo fügte hinzu: „Und ein Kerl aus meiner Abstammung hat nicht jeden Tag die Möglichkeit, auf Pferderücken hinauf in sein Winterquartier zu reisen. Ich danke dir, Adrig!“

Die drei führten ohne zu Zögern ihre Rösser aus dem Stall und saßen so bald wie möglich auf. Ohne sich umzuschauen verließen sie das Dorf. Niemand brauchte ihnen Fragen zu stellen. Isold war bei den anderen Hunden außerhalb des Dorfes geblieben und ließ ihre tiefe Hundestimme ertönen, als sie ihren Herren heran reiten sah. Weiteres Bellen setzte an und stimmte sich ein. Oméril war begeistert von den Hunden, wie ein Rudel hetzten sie freudig neben den Reitern her. Sie kannten dieses Ritual und wussten, dass ihnen eine lange Reise bevorstand. Den Pferden konnte man ebenfalls eine freudige Erregung anmerken. Mit aufmerksam gespitzten Ohren und aufgeblähten Nüstern trabten sich unter den Sätteln ihrer Herren in die frische Morgenluft. Uhowo ritt vorweg, gefolgt von Oméril und Adrig schloss die kleine Gruppe ab. Während die Sonne aufging entfernten sie sich von dem Dorf und je heller der Himmel wurde, desto tiefer gelangten sie in die Wildnis, die sie erwartete. Uhowo war zuversichtlich, denn das Wetter zeigte sich angenehm und ruhig. Die Herbststürme hatten noch nicht eingesetzt und wahrscheinlich war es einfach der richtige Zeitpunkt, diese Reise mit zwei Fremden anzutreten. Die Betrübnisse und Sorgen der Menschen im Dorf hatten ihn zu einer richtigen Entscheidung bewegt und jetzt erfreute er sich an einem fröhlichen Ritt durch sein geliebtes Land. Unter anderen Umständen hätte er einige Tage im Dorf verbracht und die menschliche Gemeinsamkeit genutzt, von den Geschichten der Familien gehört, vielleicht ein paar Bekanntschaften gemacht, aber in diesem Jahr brauchte er nicht allein sein. Er vertraute seinem Instinkt und dem seiner Hunde. Besonders Isold schien sehr erfreut über seine Begleiter zu sein. Es war selten genug, dass seine Tiere Menschen gerne duldeten. Bei Adrig und Oméril handelte es sich offensichtlich um eine Ausnahme. Menschen aus sogenannten herrschaftlichen Verhältnissen pflegten es übelicherweise nicht, ihre Städte zu verlassen. Es hatte bestimmt seinen Grund, warum Adrig auserkoren war, den Jungen zu begleiten. Er musste unter seinem dichten Bart lächeln, wenn er das glückliche Gesicht von Oméril erblickte.

Als die Sonne hoch genug stand, um den Boden zu erwärmen, hielt Uhowo sein Pferd an und lud zu einer Rast ein.  Sie lockerten die Sattelgurte und ließen die Pferde grasen. Oméril nutzte diesen Moment, um zu den Hunden zu laufen. Isold begrüßte den Jungen mit einem freudigen Bellen, leckte ihm flink über die Wange und ließ sich herzlich von ihm ins Fell greifen. Adrig beobachtete das lustige Schauspiel von dem Kind und den Hunden, wie sie ihn zum Spiel einluden, mit tanzenden Sprüngen, um ihn herliefen und vergnügt bellten, wenn er mit ihnen losrannte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin, den Jungen so zu sehen“, sprach Adrig und half Uhowo dabei, etwas von dem Proviant für die bevorstehende Mahlzeit auszupacken. „Omérils Leben ist bislang alles andere als sorglos gewesen.“ Uhowo beobachtete beide einen kurzen Augenblick und setzte sich dicht an einem Baumstamm, wo er das Umfeld gut im Blick behalten konnte.

„Möge Oméril seine kindliche Seite tief in seiner Seele behalten“, sprach der große Schäfer nur und aß in Ruhe von seiner Portion. Adrig zögerte etwas bevor er sich dazu setzte. Er überlegte, denn die Gegenwart eines Unbekannten, der es offensichtlich gut mit ihnen meinte, erschien ihm derartig ungewöhnlich, dass er sich in Acht nahm. Leider musste er sich eingestehen, dass er es sich in seinem Leben angewöhnt hatte, bei seinen Mitmenschen auf der Hut zu sein. Von klein auf war ihm anerzogen worden, aufmerksam jedes Wort und die Art, wie es ausgesprochen worden war, zu analysieren, die Körperhaltung eines jeden zu beobachten, ebenso die Gesichtsausdrücke, um zu erfahren, was seine Gegenüber im Schilde führten. Er hatte sich dies von seinen Eltern abgeschaut. Seine Mutter und sein Vater kannten viele Leute in Valroux und pflegten ihre Verbindungen, um stets auf dem Laufenden zu sein, was sich am Hof abspielte und was wichtig für die Geschäfte war.

„Dein Leben scheint auch freudlos gewesen zu sein“, unterbrach Uhowo Adrigs Schweigen und beobachtete, wie der junge Mann überrascht aufblickte.

„Warum sagst du so etwas?“, platzte er heraus und hatte sofort allerhand rechtfertigende Erklärungen parat, wobei er bereits überlegte, nicht zu viel über seine Herkunft preiszugeben.

„Um in den Bergen zu überleben, bin ich es gewöhnt, die Natur zu beobachten. Wahrscheinlich verstehe ich es daher, etwas von den Gemütern der Wesen zu erfahren, wenn es ihnen nicht gut geht.“

„Aber es geht mir gut!“ Adrig fühlte sich entrüstet, obwohl er ahnte, dass es sinnlos war, sich vor Uhowos forschenden Blick verbergen zu wollen. Seine hellblauen Augen unter seinen dichten dunklen Brauen warfen klare, nahezu stechende Blicke und Adrig fügte hinzu: „Bist du nicht selbst ständig auf der Hut, wenn du mit anderen Menschen zusammen bist?“ Uhowo blickte in Adrigs dunkle Augen und lachte leise auf. „Gewiss, nichts ist unberechenbarer als die menschliche Natur.“ Diese freundschaftlichen Geräusche entspannten den jungen Ritter und er lud Uhowo ein: „Jetzt wo wir über Zeit verfügen, magst du mir von dir erzählen? Deiner Statue nach zu urteilen entsprichst du nicht unbedingt dem Bild, das man sich allgemein von einem Schäfer macht. Es scheint eher, du kennst dich mit Waffen aus und hast irgendwann entschieden, den Kämpfen der Menschen den Rücken zu kehren. Oder liege ich mit meinen Einschätzungen falsch?“

„Deiner Meinung nach, ist ein großgewachsener Mann zweifelsohne ein Krieger?“, fragte Uhowo und ließ Adrig nicht aus den Augen.

„Es könnte jedenfalls sein. Nimm es mir bitte nicht übel, ich versuche nur etwas über dich zu erfahren. Daran ist nichts Verwerfliches, immerhin folge ich dir und vertraue dir im gewissen Sinne auch Oméril an.“

Der Schäfer nickte zustimmend. „Ich frage mich selbst, wo ich herkomme und finde keine Antwort. Also habe ich es mir angewöhnt, meinem Instinkt zu folgen. Glaube mir, als Isold euch beide aufgespürt hat, konnte ich nicht wissen, dass wir gemeinsam zu meinem Winterquartier ziehen. Ich wusste nur, dass ihr Hilfe braucht. Anschließend sind wir den Dorfbewohnern begegnet und ich weiß nur, dass eine von Angst besessene Menschenmenge gefährlich für Männer ist. Wo ich wirklich herkomme, kann ich dir leider nicht sagen, werter Adrig, denn ich bin elternlos aufgewachsen und habe mich von Kindesbeinen auf bei Bauern und Tierzüchtern nützlich gemacht. Sobald ich die Möglichkeit hatte, Männer mit ihren Tieren auf Reisen zu begleiten, bin ich ihnen gefolgt. So kam es, dass ich ein paar Sprachen lernen konnte. Ich bin nie in eine Schule gegangen und die Frage, eine Familie zu gründen, habe ich mir nie gestellt. Die Leute im Dorf brauchen mich, weil niemand die Berge so kennt wie ich und ich ihre Tiere stark und kräftig wieder zurückbringe.“ Adrig hatte aufmerksam zugehört und beobachtete ebenso wie sein Begleiter den Jungen, der mit den Hunden spielte. „Denkst du, dass du deine Söhne in deinem Leben kennen wirst?“, fragte Uhowo direkt und Adrig runzelte verwundert die Stirn. Was sollte er darauf antworten? Der Schäfer lächelte verständnisvoll hinter seinem dichten Bart und ließ den jüngeren Mann schweigen.  Es wunderte ihn selbst, was für neugierige Fragen er stellte, wo er es gewohnt war, wochenlang kein Wort zu sprechen, zeigte er sich in Adrigs Nähe ungewöhnlich redselig. Vielleicht mochte er den Klang dieser Sprache, in der er sich mit dem Fremden unterhalten konnte, oder er war einfach neugierig auf ihn geworden und wollte mehr über ihn wissen. Doch er hatte Zeit, wenn Adrig Lust habe, mehr von sich preiszugeben, wollte Uhowo den richtigen Moment abwarten. Er rief nach Oméril, damit der Junge auch etwas zu Essen bekam und belohnte die Hündin Isold mit kräftigem Streicheln auf dem Kopf, als das Tier sich ebenfalls dazugesellte. Die anderen Hunde behielten ihren Abstand und beobachteten das Umfeld, so wie sie es aus den Sommermonaten gewohnt waren.

 

Die folgenden Tage verliefen geruhsam, von den Schritten der Reisenden begleitet strich die Natur an ihnen vorbei. Hinter jedem Berg offenbarte sich ein neues Gesicht, die Farben des Herbstes verfielen langsam im Wind, anderswo wuchsen hohe dunkle Tannen dicht an dicht, rauschten und sirrten in der unruhigen Luft. Uhowos Weg führte über hohe Zinnen, auf denen keine Bäume mehr wuchsen, bis er wieder hinab in ein Tal stieg. Finster und unberührt folgten dichtbewachsene Berge, ein Wald, der sich allein genügte und seine Grenzen im Horizont hoher Zinnen fand. Ewiges Eis ruhte dort und bald würden Wolken Schnee bringen, der dieses Land einkesseln würde. Hier war Uhowo zu Hause und er lächelte zufrieden. Oméril mochte diese Reise, auf der wenig geredet wurde. Die Abwesenheit der Worte ließ Platz für die Sprache der Natur. Die Augen der Tiere brauchten auch keine Worte, um die unbeschreibliche Macht der geheimnisvollen Berge zu erfassen. Sie vertrauten in das, was sie umgab. Die drei Reisenden waren von den Pferden abgesessen und führten den restlichen Weg zu Fuß fort. Tiefer im Tal zwischen den Bäumen erschien die Luft wärmer und sanfter im Vergleich zu dem kargen Hochland, welches sie durchquert hatten. Der weiche Waldboden federte ihre Schritte ab und sie genossen die unbeschreibliche Ruhe, die sich in diesem Gebiet eingenistet hatte. In dieser Stille schien keine Bedrohung zu lauern und sie folgten dem großen Schäfer, die Hunde an ihren Seiten. Er legte keine Pause mehr ein und strebte sein Ziel an. Im Haus würden sie ruhen können. Gegen Ende des Tages gesellte sich ein gleichmäßiges Plätschern in die ruhigen Geräusche des Waldes und die dichten Bäume lichteten sich an einem Hang. An die Bergwand geschmiegt, von dicken Baumstämmen umgeben schien es mit der Natur verwachsen zu sein, Uhowos Haus schlief und wartete darauf, für diesen Winter von ihm aufgeweckt zu werden. Adrig war erstaunt, denn er hatte sich eine einfach Hütte vorgestellt, doch offensichtlich hatte sein Begleiter seine eigenen Vorstellungen was eine Behausung anbetraf. Die Wände waren aus grauen Steinen erbaut worden, die mit dunkelgrünem Moos bewachsen waren und das grüne Dach wölbte sich überraschend weit in den Wald hinein.

„Ein Haus mit seinen eigenen Händen zu bauen ist wie eine Geschichte ohne Ende. Jedenfalls werde ich das Ende nicht kennen. Vielleicht einsame Wanderer, die eines Tages einen Fluchtort vor dem Rest der Welt suchen. Im Dorf leben die Männer in den Häusern ihrer Vorfahren, ich lebe hier. Seid willkommen!“ Mit einer einladenden Geste schritt Uhowo voran, Isold rannte ihm vor und nahm jede Witterung um diese Behausung auf. Ihre breite Rute wedelte freudig über das hohe Gras hinweg. Die Pferde schnaubten zufrieden, denn sie schienen zu wittern, dass sie am Ziel angelangt waren. Oméril blickte in diese Lichtung, umgeben von dunklen, hohen Bäumen, die beruhigend im leichten Wind rauschten und dieses einzigartige Haus, welches perfekt in die Landschaft passte, beschützten. Er blickte an Adrig hinauf und versuchte dessen Gesichtsausdruck zu entschlüsseln. Es war durchaus möglich, dass sein Ritter sich Sorgen machte und dem Fremden nicht völlig traute. Doch Oméril griff entschlossen in die Zügel seines Pferdes und folgte dem Schäfer. Vor der abgerundeten Tür angelangt, waren sowie der Prinz als auch Adrig überrascht über das schwere Schloss, welches mit einem aufwendigen Schlüssel geöffnet werden musste. Uhowo hatte diesen wohl dicht bei sich getragen, vor neugierigen Blicken verborgen gehalten. Das metallene Geräusch beim Aufschließen zeugte von einer vernünftigen Verarbeitung. „Verstehst du etwas vom Schmiedehandwerk?“, fragte Adrig prompt, woraufhin Uhowo kurz auflachte und die Tür langsam aufschob. „Nicht so viel, wie ich gerne würde, mein Freund. Erze sind teuer und von Königen begehrt. Sagen wir, bei dem Schloss handelt es sich um ein Erbstück, das mir ein alter Freund überlassen hat.“

Als die Tür weit offen stand und die ersten Lichtstrahlen ins Dunkle fielen, sahen die Männer, wie ein paar kleine Wesen hastig davon huschten und sich verbargen. Sie vernahmen sogar empörtes Wispern und leises Fauchen. „Macht euch keine Sorge. Das Haus ist so eng mit dem Wald verbunden, dass es während meiner Abwesenheit natürlich von anderen Anwohnern benutzt wird. Sie sind harmlos und wir werden ihnen wahrscheinlich begegnen, sobald sie sich an unsere Gegenwart gewöhnt haben.“

„Was für Einwohner sind das?“, fragte Oméril besorgt, dessen Herz plötzlich fester schlug. „Wiesel, Ratten, Mäuse, Spinnen, Vögel und vielleicht noch andere. Wir werden sehen. Sie sind die wahrhaftigen Einwohner des Waldes und wir dürfen sie nicht davon jagen.“

„Ratten und Mäuse? Und die fressen dir deine Vorräte nicht weg?“ In Adrigs Stimme schwang deutliche Abneigung.

„Nicht wenn genug da ist. Wir verstehen uns gut, mach dir keine Sorgen. Nicht so zaghaft, tretet ein und legt eure Sachen ab. Wir haben vor Einbruch der Nacht noch allerhand zu verrichten!“ Uhowo drückte die Fenster von innen auf und ließ das Licht ein. Adrig erblickte einen großen Igel der bequem durch den Raum ging und dabei empört grunzte. In der Tat machte der ungewöhnliche Raum einen ordentlichen Eindruck und es roch nach Wald und Kräutern. An der Decke hingen dichte Bündel mit getrockneten Pflanzen, an den Wänden waren Utensilien und Säcke und Taschen befestigt. Aber die Wände waren nicht gerade, sonder schienen der Form des Waldes angepasst zu sein. Wulstige Baumwurzeln wuchsen dort und manche waren so dick, dass Uhowo sie als Ablage benutzte.

„Bevor ich euch das gesamte Haus zeige, wäre es vernünftig, sich um unsere Begleiter zu kümmern, sie haben es bei Weitem verdient“, sagte Uhowo an und ordnete den beiden an, ihm nach draußen zu folgen. Adrig und Oméril sattelten ihre Pferde ab und Uhowo zeigte den beiden, welchen Raum er als Stall für sie benutzen wollte. Dort konnten sie die Sattel und das Zaumzeug lassen. Die Reittiere ließen sich das Gras vor dem Haus schmecken, während Uhowo Bürsten besorgt hatte, mit denen die Pferde gestriegelt werden konnten. Oméril zeigte sich sehr emsig als wollte er den beiden Männern beweisen, dass auch er arbeiten konnte und sich vor nichts scheute. Der Junge machte jeden Handgriff seinem Ritter nach, was Adrig lächeln ließ. Es konnte gut sein, dass Oméril noch nie zuvor in seinem Leben ein Pferd hatte bürsten müssen. Er beobachtete ihn, wie er sich um die Hufe der Tiere kümmerte und hatte Mühe, einen Huf vom Pferd anzuheben. Adrig zeigte ihm, wie er sich mit dem Pferd zu verständigen hatte, damit es sein Vorhaben respektierte.

Nachdem die Tiere geputzt waren, musste er den Männern helfen, den Stall einzurichten. Strohballen wurden geschleppt und ausgestreut. Uhowo reichte dem Jungen einen großen Eimer und zeigte ihm, wo er frisches Wasser holen sollte. 

Als die Pferde endlich in ihrem neuen Stall waren, hatte Oméril den Eindruck, noch nie so viel an einem Stück geschuftet zu haben. Uhowo hatte drei Humpen aus Holz mit Bier gefüllt und auf den groben Tisch im ersten Raum seines Hauses gestellt. Draußen begann es dunkel zu werden und er musste kurz auflachen als der Junge völlig abgekämpft eintrat.

„Nur nicht verzagen, junger Held! Komm zu uns und trink einen Schluck. Wir haben viel vor. Morgen werde ich auf eure Hilfe zählen. Ich werde euch mein Haus anvertrauen und euch ein paar Reinigungsarbeiten verrichten lassen. In der Zeit werde ich einem Freund einen Besuch abstatten. Während meiner Abwesenheit wacht er über meine Hühner und es ist wichtig, dass ich ihm mitteile, dass ich wieder eingezogen bin“, erklärte der große Schäfer mit seiner ruhigen Stimme.

„Ich dachte, du lebst völlig allein und abgeschieden von anderen Menschen hier?“, platzte Oméril heraus.

„Natürlich, ebenso wie mein Freund. So ist es in den Bergen, man hilft sich untereinander, auch wenn man es vorzieht, allein zu leben. Diese Wanderung dauert einen Tag und ich werde erst übermorgen wieder eintreffen. Macht euch keine Sorgen, er wird mich auf dem Laufenden halten, was sich in den vergangenen Monaten im Tal abgespielt hat. Nach meiner Rückkehr werden wir uns gemeinsam um die Vorbereitungen für den kommenden Winter kümmern.“

„Wenn uns Zeit bleibt, werde ich dem Jungen Unterricht erteilen. Etwas Waffenkunde könnte dir auch nicht schaden!“, schlug Adrig vor und wartete Uhowos Reaktion ab.

„In der Tat … daran hatte ich nicht gedacht …“, der Schäfer schien überrascht von diesem Vorschlag zu sein und genehmigte sich einen tiefen Schluck von seinem Bier. Oméril tat es ihm gleich, verzog aber angewidert sein Gesicht beim bitteren Geschmack des Gebräus und stellte seinen Humpen behutsam auf den Tisch zurück. Adrig lachte herzlich und fuhr ihm mit einer gutgemeinten Geste durchs Haar.

 

Die drei richteten sich ihr neues Leben in einer unerwarteten Idylle mitten in der Natur ein und lernten rasch voneinander, gingen ihren alltäglichen Aufgaben nach und genossen die ruhige Bruderschaft im Ablauf der Tage. Adrig hatte zum Beispiel noch nie in seinem Leben Holz gehackt und war beeindruckt mit welcher Genauigkeit Uhowo dabei vorging. Der Schäfer hingegen war erfreut über die Gegenwart der Pferde, welche er benutzen konnte, um Baumstämme für den nächsten Winter tief aus dem Wald zu holen. Uhowo erwies sich nicht nur als ein umsichtiger Gastgeber, sonder war auch ein bemerkenswerter Jäger. Mit wenigen Worten verstand er es, das Wesentliche an seine Kameraden weiterzugeben und er verließ sich auf sie, wenn es darum ging, völlig still zu sein und seinen Anweisungen gewissenhaft zu folgen. Adrig begann seinen Unterricht mit Oméril und hatte drei Holzschwerter angefertigt, mit denen er nicht nur dem Prinzen, sondern auch Uhowo Lektionen erteilen wollte. Der Ritter hatte bald eine Erklärung für den ausgeprägten Gleichgewichtssinn des großen Mannes. Jeden Morgen und jeden Abend vollführte dieser Mann eine Serie von merkwürdigen Bewegungen, welche seinen Muskeln Kraft und Geschmeidigkeit schenkten. Adrig beobachtete ihn dabei und überlegte sich, ob er nicht auch davon lernen sollte. Er hatte noch nie in seinem Leben versucht, auf den Händen zu stehen und sich nicht sehr um die Beweglichkeit seiner Gelenke gekümmert. Uhowo sagte es sei gut für Geist und Körper und das erschien ihm einleuchtend. Also fügten sich diese Bewegungen bald in den Ablauf des Tages der drei hinzu. Adrig war ebenso verblüfft, dass der Älteste von ihnen flexibler war als er, der Jüngste und bemühte sich, es ihm nachzueifern.

Die Tage waren erfüllt von neuen Aufgaben und Tätigkeiten, das Wetter zeigte sich gnädig und abends nach dem Abendessen fiel der Junge in einen tiefen Schlaf. Uhowo hatte ihm und Adrig jeweils ein Bett im Hauptraum seines Hauses eingerichtet, während er sich selbst in ein kleines Zimmer zurückzog. Am Abend hatten die Männer etwas Zeit, sich mit leisen Stimmen zu unterhalten.

„Wie lange seit ihr beiden schon unterwegs?“, fragte Uhowo eines Abends, während er damit beschäftigt war, getrocknete Blüten von ihren Stengeln zu trennen und in Leinensäcke zu füllen.

„Noch nicht sehr lange …“ Adrig schaute ihm bei seiner Tätigkeit zu.

„Kanntest du ihn vorher?“ Der jüngere Mann schüttelte den Kopf. „Oméril wurde mir am Abend meiner Abreise vorgestellt.“ Uhowo blickte ihn abwartend an und nickte verstehend. „Oméril ist ein ungewöhnlicher Junge. Er hört dir mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit zu und beobachtet jede deiner Bewegung. Er studiert dich regelrecht. In ihm hast du einen jüngeren Brüder und einen Sohn gefunden.“ Als er sah, wie Adrigs die Augen niederschlug, war ihm klar, dass er eine sensible Stelle getroffen hatte. Er wartete ab und fuhr schweigend mit seiner Tätigkeit fort. Als er einen Sack gefüllt hatte, knotete er diesen sorgfältig zu und stellte ihn behutsam auf ein Regal.

„Brüder und Söhne gehören mit großer Wahrscheinlichkeit zu deiner Vergangenheit an, die dich schmerzt“, sprach Uhowo und füllte Wasser in einen Topf über dem Feuer.

„Hast du selbst irgendwann Kinder gehabt?“, wagte Adrig zu fragen was Uhowo leise auflachen ließ. „Um Kinder zu machen, müsste eine Frau da sein, nicht wahr?“ Sein Lachen war ansteckend und entspannte Adrig. „In er Tat. Dein Haus ist so gut gehalten, dass du keine Frau brauchst. Sie würde dir im Gegenteil vielleicht Unordnung bringen“, scherzte der jüngere Mann.

„Das könnte gut sein. Und Frauen wollen nicht in der Natur leben. Sie wollen mit anderen zusammen sein, auf den Marktplatz gehen und bunte Bänder kaufen, mit Freundinnen schwätzen …“, fügte Uhowo hinzu und streute duftende Kräuter in das siedende Wasser im Kessel.

„Kennst du viele Frauen?“, fragte Adrig, woraufhin der Ältere den Kopf schüttelte.

„Aber insgeheim träumst du von einem Sohn?“ Uhowo überlegte einen Augenblick und beobachtete den Kräutersud vor sich.

„Mein Leben ist nichts für ein kleines Kind. Also darf ich nicht um etwas beten, was ich nicht verantworten kann. Ich freue mich darüber, Oméril dank deiner Gegenwart kennen zu dürfen. Das allein ist ein Geschenk von einem unglaublichen Wert. Mit unseren Lektionen, die wir dem Jungen beibringen, gebe ich einen Teil von mir an eine jüngere Generation weiter und das hätte ich mir an dem Abend als ich euch begegnet bin, nicht ausmalen können.“

Adrig war berührt von dem, was Uhowo ihm gesagt hatte und begegnete seinem klaren Blick. Der Schäfer goss von dem Kräutersud in zwei große Becher und reichte Adrig einen davon. Der Ritter nahm das dampfende Getränk dankend an und kostete vorsichtig daran, um sich nicht zu verbrühen.

„Wahrscheinlich hast du keine Frau, weil im Dorf nicht genug Auswahl ist“, meinte er einfach, woraufhin sein Gegenüber erneut lachen musste. „Das kann gut sein, mein Freund. Bei dir zu Hause scheint das eine andere Sache zu sein, sei ehrlich!“

Adrig grinste und nickte. „Am Hof eines Königs gibt es immer Frauen. Bestimmt wäre auch eine für dich dabei, eine die es leid ist, den feinen Herrschaften alles recht machen zu müssen und die von einem Leben in der Natur träumt. Was meinst du?“

„Nicht viel“ Uhowo erhob sich von seinem Platz, leerte seinen Becher mit einem großen Schluck und ging zu seinem Regal, wo er auf einmal etwas anderes zu tun hatte. Adrig runzelte die Stirn und hatte plötzlich den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben.

„Ich meinte das zum Scherz. Es ist mir klar, dass das alles nicht lustig ist. Tut mir leid, das Leben am Hof ist nicht so umwerfend wie es so mancher glauben mag.“

Uhowo warf ihm einen gutmeinenden Blick zu und räumte ein paar Utensilien beiseite.

„Mir ist das Leben am Hof eines Königs oder in einer Stadt gleichgültig, ebenso die Frauen. Ich liebe die Kraft der Natur. Hier finde ich, was ich zum Leben brauche und lerne mehr als so manches Menschenkind. Zum Beispiel die Heil- und Nährkraft der Pflanzen, die Kunst des Jagens, die Jagdgebiete der Wölfe, all diese Dinge habe ich nur in diesem Leben lernen können. Und es gibt noch unglaublich viel zu entdecken.“

Adrigs Ohren hatten sich bei seiner Aussage gespitzt und er war sich sicher, richtig gehört zu haben, denn Uhowo war ein Mann, der seine Worte sorgfältig auswählte.

„Ein Leben ohne Anwesenheit einer Frau, das habe ich verstanden.“

Uhowo verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen sein Regal.

„Und was hast du nicht verstanden?“, fragte er und der jüngere Mann glaubte ein verschmitztes Lächeln unter seinem dichten Bart zu erkennen.

„Frauen sind dir gleichgültig?“

„In der Tat“, gab Uhowo mit seiner sanften, bestimmten Art mit einer gewissen Note von Stolz zur Antwort. Adrig blickte ihn ungläubig an und seine Gedanken überschlugen sich mit einem Mal in seinem Kopf, ebenso wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Denn so vieles erklärte sich plötzlich, Uhowos Freundlichkeit, seine Bereitwilligkeit, ihm und Oméril zu helfen, für ihn da zu sein, sein Haus mit ihm zu teilen, von ihm zu lernen, ihm alles was er wusste, zu erklären, ihm seine Übungen beizubringen, selbst die einfachen Gesten des Holzschlagens zu zeigen. Jede Berührung von diesem Mann bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Er sah, wie Uhowo ihn abwartend beobachtete, er gefiel ihm und nichts schien deutlicher als in diesem Moment. Adrig stellte seinen Trinkbecher auf den Boden ab und fuhr sich mit einer fahrigen Geste mit beiden Händen über das Gesicht und versuchte, seine Fassung zu bewahren. Als wollte er sein Antlitz hinter seinen Händen verbergen, blickte er Uhowo über seine Finger hinweg an und begann zu erklären: „Ich weiß, ich habe nicht viel von mir erzählt, aber ich werde es nachholen. Zu Hause habe ich eine Verlobte, sie lebt bei meiner Familie und erwartet ein Kind von mir …“  Uhowo zuckte ungerührt mit seinen breiten Schultern und unterbrach ihn: „Ja und? Was hat sie für dich getan, außer dir Sorgen und Leid zuzufügen? Ist sie dir auf deine Reise gefolgt? Nein, sie wartet brav im erstickenden Wohlstand deiner Familie auf deine Rückkehr, die wann stattfinden soll?“

Adrig musst nach Luft schnappen und seine aufsteigenden Tränen verdrängen. „Wenn Oméril seinen achtundzwanzigsten Geburtstag feiern soll und reif genug für den Thron seines Vaters ist“, brach Adrig mit erstickter Stimme hervor, doch fügte rasch mit vehementen Gesten hinzu: „… und du täuscht dich in ihr! Sie ist ein gutes Mädchen mit reinen Gefühlen, in ihr wohnt nichts Schlechtes. Und glaube mir, um in meiner Familie überleben zu wollen, bedarf es eine gehörige Portion von Mut…“ Uhowos Blick schweifte ins Unbestimmte und fixierte etwas, was er der Decke des Raumes befestigt hatte. „Aber sicher doch. Ich kann es mir denken.“

„Uhowo, ich bitte dich. Ich möchte gerne dein Freund sein, doch lass mich in Frieden, wenn du verstehst, was ich meine“, flüsterte Adrig beklemmt und in seinem Bauch ballte sich ein Knoten von unguten Gefühlen zusammen. Er sah, wie der große Schäfer langsam nickte und ihn schließlich wieder anblickte. Der Mann atmete einmal tief durch und sprach: „Deine Freundschaft, das ist viel mehr als ich erwarten durfte.“ Doch kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, tat irgendetwas tief in Adrig unglaublich leid und er hatte den Eindruck, dass er es einfach nur gewohnt war, zu lügen und sein Leben lang gelogen hatte, obgleich man ihm von Kindheitsbeinen auf eingebläut hatte, die Wahrheit zu sagen. Ein Mann wie Uhowo sprach die Wahrheit, weil er wusste, was er wollte und wer er war.

Uhowo hingegen sah die Verzweiflung im Gesicht von Adrig geschrieben und kam ihm mit einem leisen aufmunternden Lachen entgegen, gab ihm einen leichten Klaps auf die Schultern und scherzte: „Mach dir keine Sorgen, junger Ritter. Nichts Unerhörtes wird geschehen, wir wollen dem kleinen Prinzen doch keine Angst einjagen! Und jetzt ist es Zeit zum Schlafen. Gute Nacht!“ Daraufhin ließ er ihn und verschwand in seinem Zimmer. Adrig hingegen war es unmöglich, Ruhe zu finden. Er empfand sich selbst törichter als nie zuvor. Nur einem unerfahrenen Tollpatsch wie er selbst einer war, konnte dergleichen passieren. Er erzählte Uhowo zwar von einem Leben am Hofe eines großen Königs in einer mächtigen Stadt, war aber selbst zu blöd, um die einfachsten Dinge zu begreifen. Sein Leben lang hatte er gehorsam das getan, was von ihm erwartet wurde, in der naiven Hoffnung, eines Tages Gnade in den Augen seines Vaters zu finden. Dabei hatte er nichts von der Welt und der Natur der Menschen gelernt. Er konnte von Glück reden, einen Mann wie Uhowo getroffen zu haben. Wenn er nur ein wenig mehr wahrhaftige Erfahrungen in seinem Leben gesammelt hätte, wäre ihm wahrscheinlich eher aufgefallen, was diesen einsamen Schäfer motivierte, sich ihm gegenüber derartig einladend und zuvorkommend zu zeigen. Jetzt stellte sich die Frage, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte, denn er erschien ihm unmöglich, so unbefangen wie sonst mit ihm umzugehen. Doch er würde sich Mühe geben müssen, um Oméril nicht zu beunruhigen. Der Junge würde sofort jede Veränderung in seinem Verhalten bemerken, was die Situation nur verschlimmern würde. Adrig ging mit lautlosen Schritten zu seinem Bett und streckte sich darauf aus, ohne ein Auge schließen zu können. Ein Gedanke jagte den anderen und er dachte daran, was Uhowo bezüglich seiner Verlobten, der jungen Nemda gesagt hatte. Würde sie über den nötigen Mut verfügen, ihn wirklich lieben, sei sie ihm ins Ungewisse gefolgt, hatte er sagen wollen. Doch wie konnte eine Frau wie Nemda solchen Mut überhaupt aufbringen? War eine Frau überhaupt im Stande dazu? Und was wusste er eigentlich von ihr oder von anderen Frauen, die er gekannt hatte? Sie waren ihm irgendwann begegnet, hatten ihn mit ihren großen verlangenden Augen angeschmachtet und sich in seinen Armen hingegeben. Sein Vater hatte ihn auch darauf vorbereiten wollen und ihm gelehrt, eines Tages eine reiche Frau aus einer einflussreichen Familie zu nehmen. Mit seinem Aussehen und seinem Status brauchte er nur zu wählen und in diesem Bereich hatte er mit Nemda völlig versagt. Kein Wunder, dass sein Vater das Gold seines Königs nur zu gerne akzeptiert hat, damit er von seinem erstgeborenen Sohn entledigt war. Mit etwas Glück würde er eines Tages siegreich an der Seite des neuen Königs zurückkehren, doch diese Aussicht war sehr gering. Bezahltes Gold wirkte sofort und er musste nun mit einem Jungen jeden Tag um sein Überleben kämpfen. An der Seite seines neuen Freundes Uhowo mochte er vielleicht für ein paar Wochen Ruhe und Schutz gefunden haben, doch der Preis dafür schien zu sein, dass er nun auch diesen Mann enttäuschte. Was konnte er tun? Wozu war er eigentlich wirklich fähig, außer auf dem Schlachtfeld anderen Männern die Köpfe einzuschlagen? Wahrscheinlich war das seine einzige wahrhaftige Aufgabe – andere Menschen zu töten. Er wusste, wo die Schwachstellen einer Rüstung lagen, wann ein Mann seine Deckung aufgab und welche die Partien des Körpers waren, an denen man mit wenig Aufwand verhängnisvolle Wunden schlagen konnte, um seinen Gegner zu schwächen. Er rollte sich auf die Seite und blickte in Omérils Richtung, der friedlich schlief und von der Schönheit der Natur träumte. So stand es nun einmal beschert um die wahrhaftige Bestimmung eines Ritters und er wollte morgen darüber mit Uhowo sprechen, damit seine Lektionen einen Sinn bekamen. Der Schäfer durfte ruhig wissen, wer er eigentlich war, ein Mörder, der zu feige zum wirklichen Leben war.

3. Kapitel - Lydia

 

Lydia

 

Ein Abbild von Schönheit und Tugend,

Frau, wie sie zu sein hat im Sinn

Ihrer Welt,

bis der Unhold kommt, den sie eingeladen hat.

 

 

Schmerzen in der rechten Schulter war die erste Empfindung, die Lydia zum Aufwachen zwang. Sie befand sich in einem kalten Raum und niemand hatte sie zugedeckt. Ihr rechter Arm war nahezu gefühlslos, das Gewicht ihres Körpers in dieser unbequemen Lage hatte das Blut gestaut. Die junge Frau zwang sich, keinen Klagelaut von sich zu geben und richtete sich vorsichtig von ihrem Liegeplatz auf. Sie wusste, dass sie allein war, denn ihre Damen hatte sie entlassen. Darum hatte sie die Männer, welche sie gefangen hielten, gebeten, denn es war nicht nötig, dass ihre Begleitpersonen ihre Gefangenschaft ertragen mussten. Behutsam bewegte sie ihren Nacken und lauschte dem Knistern und Knacken ihrer zarten Gelenke. Leider war es ihr unmöglich, sich mit Genauigkeit daran zu erinnern, wie viele Tage sie bereits eingesperrt war. Sie befand sich wohl im Palast ihres Königs Mana Kael, doch diese kalten hohen Wände hatten nicht viel gemeinsam mit dem prachtvollen Haus ihrer Familie. Sie war es gewohnt, jeden Morgen ein Bad zu nehmen, sie vermisste das Gefühl, ihren Körper in duftendes Wasser von perfekter Temperatur gleiten zu lassen und darin zu ruhen, bis eine von ihren Damen ihr das Elixier zum Beginn des Tages reichte. Dessen Zubereitung hatte sie von einem der berühmtesten Ärzte des Königsreichs gelernt, es versprach, ihre jugendliche Schönheit zu bewahren und sie liebte es, wenn er hinzufügte, er habe dieses Rezept exklusiv für sie entworfen. Gewöhnlich verbrachte Lydia den Vormittag damit, sich um ihre Haut und Haare zu kümmern. Ihre Damen waren dazu da, ihr zu helfen, und wenn jene Rituale vollbracht waren, suchte sie sich ihre Kleider und ihren Schmuck für den bevorstehenden Tag aus. Sie liebte besonders die Tage, die mit Schneidern, Gärtnern oder Menschen aus dem Kunstgewerbe verplant waren, denn dann war sie für niemand anders zu sprechen. Die Politik oder geschäftliche Treffen konnten warten, was im Allgemeinen respektiert wurde. Dame Lydia von den Hohen Schellen verfügte über dass größte Vermögen im Königreich, kaum eine bedeutende Familie im Land war ihr gegenüber von Schulden befreit, selbst der König hatte in den vergangenen Monaten auf sie zählen können, um die leeren Staatskassen etwas aufzufüllen. Lydias Buchhalter hatten ein ausgeklügeltes System von Prozenten angelegt, die sich nach der Wichtigkeit des Unterfangens eines jeden richtete. Wenn eine Person Geld brauchte, den Grund dafür aber nicht preisgeben wollte, war dieser Prozentsatz besonders hoch. Ripek, Mana Kaels Berater und Vertrauter schuldete ihr unglaubliche Summen und sie ahnte, dass er sein Ziel noch nicht erreicht hatte. Vielleicht war das Geld sogar für den König selbst und diese Tatsache sollte geheim bleiben. Es konnte sein, dass sie diese Angelegenheit in den kommenden Tagen zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Vielleicht konnte sie auch König Toren in ihre Geheimnisse einweihen, um ihm glauben zu lassen, sie sei seine Verbündete. Früher oder später musste sie diesen Wald Ravan kennenlernen und sie wollte dort etwas erreichen, wo die Männer mit ihrem dummen Krieg versagt hatten. Sie war eine Frau und hatte ihre eigenen Strategien. Aber in diesem Moment war sie das Abwarten leid und begann sich zu langeweilen. Ihre Damen hatten ihre Handspiegel mitgenommen und sie bereute es, ihr Antlitz nicht kontrollieren zu können. Sie hätte gerne gewusst, wie sie nach all diesen Entbehrungen aussehen mochte, was allerdings nur eine Angewohnheit von ihr war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und fragte sich, was für fade Nahrung man ihr an diesem Morgen bringen würde. Sie erhob sich von ihrem Platz und ging langsam ein paar Schritte hin und her durch den Raum, während sie sich die Hände rieb. Dabei konnte sie sich nicht erinnern, sich je so schmutzig gefühlt zu haben. Sie betrachtete ihre Hände und lächelte, sie durfte sich nicht undankbar zeigen, denn diese Erfahrungen sollten für ihre bevorstehende Reise nützlich sein. In Ravan konnte es keine Bäder geben und sie würde ihre Begleiter damit beeindrucken, wie selbstverständlich sie sich den Gegebenheiten anzupassen konnte. Die Frauen ihrer Familie hatten ihren Stolz und sie würde sich ihrer Geschichte würdig zeigen.

 

In einem anderen Bereich des Schlosses erwachte der Hexer Ewellent aus einem Tiefschlaf und fühlte sofort in seiner Brust ein ungutes Gefühl von einer bedrohlichen Vorahnung. Er hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf seine Eingebung, in der Hoffnung, etwas über diesen Gefühlszustand in Erfahrung zu bringen, blieb aber in der Ungewissheit. Er lag auf dem Rücken, seine Beine und Arme lang ausgestreckt, spürte er die Schwere seines Körpers in seinen Muskeln, unter dem Laken war er nackt und er hatte sich beinahe daran gewöhnt, jeden Morgen so zu erwachen. Und neben ihm im Bett lag Heniah, die Zofe der Königskinder. Wie lange war es ihm nicht widerfahren, jede Nacht das Bett mit einer jungen Frau zu teilen? Seine Gefährtin erwies sich als eine unermüdliche Gegenspielerin für sein geheimes Verlangen und er liebte sie dafür. Ihre Jugend ließ ihn im wahrsten Sinne des Wortes nicht unberührt, in seinen Muskeln spürte er die pulsierende Lebenslust und Kraft von einst. Besonders hier in Valroux fühlte er sich von der ursprünglichen Natur getrennt. Die Kraft der Berge war anders, härter, unflexibler, in dieser Umgebung hätte es ihm viel Energie gekostet, seine Erscheinung als junger Mann aufrecht zu halten. Doch Dank Heniahs bedingungsloser Liebe hatte er es nicht nötig, sich vor den Augen seiner Mitmenschen zu verbergen. Seinesgleichen hätte seine Maskerade gewiss durchschaut, aber unter den Unih am Hof befand sich niemand, der diesen Zauber kannte. Die einzige Person, welche über ähnliche Fähigkeiten verfügte, lebte tief in Ravan verborgen, einige Tagesreisen entfernt und absolut nicht daran interessiert, an dem teilzuhaben, was sich am Hof von Mana Kael abspielte. Ewellent blickte auf den bloßen Rücken seiner Geliebten, die tief schlief und eine selige Ruhe ausstrahlte. Ihr langes Haar ergoss sich über das Kissen und sie atmete ruhig und völlig entspannt. Der Hexer fragte sich, ob er sich nicht von ihr hatte ablenken lassen. Doch Heniahs Wunsch, die Kinder wiederzufinden, war ehrlich und sie sehnte sich danach, die beiden wieder in ihrer Nähe zu wissen. Jetzt fühlte sie sich verloren und es war vielmehr er, der sie mit seinen Liebesspielen von ihren Sorgen ablenkte. Wie so oft vermischte sich das Gefühl der Liebe in eine Situation von zwei Menschen, die einander brauchten.

Er richtete sich langsam auf und bemühte sich, sie nicht aufzuwecken. Rasch griff er nach seinen Kleidern, die auf dem Boden verstreut lagen, strich sich geschwind sein langes, dunkelgraues Haar im Nacken zusammen. Er musste Obdahro aufsuchen, sich mit ihm unterhalten. Die Situation dauerte zu lange, Torens Männer langweilten sich am fremden Hof der Unih und Ewellent war sich sicher, dass die Königskinder nicht mehr in Valroux zu finden waren. Ohne ein Geräusch zu verursachen schlüpfte er aus dem Zimmer, verschloss die Tür lautlos hinter sich und ging eiligen Schrittes dem kalten Flur entlang. Kühles, fahles Morgenlicht zeugte vom nahenden Winter.

Obdaro, der Berater des Königs Toren war ebenfalls auf den Beinen und wenig überrascht, Ewellent zu dieser Stunde zu begegnen. Er hatte sich an dessen Gegenwart gewöhnt und wusste, dass der Hexer kam, wenn etwas Wichtiges zu besprechen war.

„Guten Morgen, Ewellent, Eure Gegenwart ist willkommen“, begrüßte er ihn, woraufhin sich Ewellent kurz verbeugte. Er wusste Obdaros Respekt zu schätzen und vertraute ihm.

„Ich habe zu danken, werter Obdahro. Dabei bin ich in den vergangenen Tagen keine besondere Hilfe gewesen.“

„Jeder überlegende Kopf in der Nähe des Königs ist von großer Hilfe. Folgt mir und lassen wir unsere Majestät nicht warten.“

„Ich sprach von der Suche nach den Kindern! Ihr wisst, dass ich über die Fähigkeit verfüge, sie aufzuspüren, doch dort wo sie sind, gibt es keinen Zugang für mich.“ Obdahro blickte an dem großen Mann hinauf und ward abermals von der offensichtlichen Jugend überrascht, die er ausstrahlte und die zu seinem weisen Wesen nicht passen wollte. „Wurde Magie benutzt, um sie zu verbergen?“, wagte Obdahro zu fragen und befürchtete die Antwort. Ewellent hingegen schüttelte kurz den Kopf. „Nicht direkt, dort wo sie sich befinden, wurden sie weder eingeladen, noch hingeschleppt. Sie sind aus eigenen Stücken gegangen, doch befinden sich an einem Ort, der von alten Mächten beherrscht wird. Uralte Mächte, deren Auffassung von Gut und Böse nichts mit unseren Leben gemeinsam hat, sie würden ihre Magie nie benutzen, um sie direkt gegen uns zu wenden, was nicht bedeutet, dass jemand Zugang hat.“

„Ihr redet in Rätseln.“

„Verzeiht mir, aber es sind Rätsel für mich selbst. Ich vermag nur auszudrücken, was sich in meinen Träumen in den letzten Tagen angesammelt hat.“

„Nun gut, mit anderen Worten, wissen wir nach wie vor nichts über das Verbleiben der Königskinder. Ich bitte Euch, vermeidet es, dem König etwas darüber zu sagen. Solange nichts Konkretes angegeben werden kann, ist jede Vermutung oder Eingebung nur namenlose Qual für seine Ohren und sein ungestümes Temperament wird niemand helfen, wenn er seine Geduld verliert.“

„Ich verstehe“, gab Ewellent hinzu und nahm eine Körperhaltung an, die seine Ergebenheit vortäuschen sollte. Obdaro seufzte leise und ließ sich die Tür zum Gemach seines Königs von einem bewaffneten Wächter öffnen. Die beiden ungleichen Männer traten ein und stellten fest, dass der dunkle König gekleidet war, als wollte er seine Abreise sofort antreten. Das schwarze Leder seine Beinkleider und das finstere Brustschild über den schwarzen Ärmeln und dunklen Manschetten an seinen Unterarmen schimmerten unheilvoll im grauen Morgenlicht. Sein langes, krauses Haar und sein mächtiger Bart verliehen ihm das Aussehen eines zornigen Löwen. Er gab Befehle an seine Männer, alle ausnahmslos bewaffnet, als seine hellblauen Augen Obdaro und Ewellent erblickten. Mit einer herrischen Handbewegung ordnete er den beiden an, heranzutreten. Obdaro verbeugte sich kurz, Ewellent tat es ihm gleich, ließ Toren dabei aber nicht aus den Augen.

„Eure Majestät“, begann Obdaro und hielt seine Hände unter langen Ärmeln vor seiner Brust verborgen.

„Neuigkeiten von meinen Kindern?“, donnerte Torens Stimme durch den Raum.

„Nein, Eure Majestät, doch eine Abteilung von unseren Männern sucht unablässig nach ihnen.“

„Würden sich Cethis und Brimon innerhalb der Mauern dieser verfluchten Stadt befinden, hätten wir sie schon längst gefunden“, grollte Toren zornig. „Es ist Zeit, andere Methoden anzuwenden.“

„Woran gedenkt Ihr?“, brach Ewellent draufgängerisch vor und hielt dem drohenden Blick des Monarchen furchtlos stand. Toren stand dem großen Hexer um nichts an Körpergröße nach und musterte den Kerl wie einen Gegner. In diesem Moment sah er nur einen jungen Mann von durchtrainierter Statue, mit dem er sich gerne hätte als Kämpfer messen wollen, um seiner aufgestauten Wut Luft zu verschaffen.

„Ich habe dich nicht zum Reden eingeladen, Hexenmeister! Ich verlange Tatsachen! Alles andere kann mir erspart bleiben!“, grollte Toren mit offensichtlichem Zorn.

„Das ist mir klar, dennoch würde ich gerne wissen, was Eure Majestät in der vergangenen Nacht für Entscheidungen getroffen hat. Denn ich sage Euch, dass jede unserer Gesten und Worte, die bei den Unih Unfrieden stimmen, der Suche der Kinder erschweren wird. Allein unsere Gegenwart in Valroux verärgert jeden Unih.“

Obdaro sah, mit welcher Mühe Toren seinen Zorn beherrschen musste und hoffte inständig darauf, dass Ewellent nachgeben würde und nicht weiter darauf bestehen, die Konversation zu bestimmen. Toren trat mit festen Schritten näher und baute sich imponierend vor dem Hexer auf.

„In der Tat!“, grollte der König, „Noch heute werde ich Mana Kael meine Bedingungen für unseren Frieden unterbreiten. Und ich verlange deine Gegenwart Ewellent. Vielleicht wirst du bei dieser Versammlung etwas in Erfahrung bringen, was uns profanen Geistern verschlüsselt bleibt. Vielleicht wirst du für uns etwas von Nutzen sein.“ Obaro schnappte nach Luft und setzte zu einem beschwichtigen Satz an, wusste in diesem Moment aber nicht, was er sagen konnte, eine Situation, die ihm unbekannt war. Seine Blicke wanderten nervös vom Gesicht des Hexers auf das des Königs. In diesem Moment erkannte er seinen langjährigen Freund kaum wieder. Sein starker Charakter hatte ihm stets bei seinen Entscheidungen geholfen, doch der vergangene Krieg hatte einen Berserker aus ihm werden lassen. Ein starker König, wie aus alten Zeiten, dem die feinen Gesellschaften der Unih nicht beherrschen konnten.

Ewellent verschränkte seine Arme vor der Brust und musterte Toren eingehend. Er verabscheute es, Befehlen zu gehorchen, doch wusste, dass er in diesem Fall besser beigeben musste. Toren war um so viele Jahre jünger als er, was vor den Augen aller Anwesend unsichtbar blieb, also beherrschte er sich.

„Was entscheidet Ihr für Dame Lydia?“, wagte er mit auffallend leiser Stimme zu fragen.

„Sie kommt mit nach Ravan!“

Ewellent schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ihr täuscht Euch in ihrer Person. Sie trägt keine Schuld am Verschwinden der Kinder!“

„Das ist mir gleichgültig!“, war Torens trotzige Antwort. Der Hexer warf Obdaro einen raschen Blick zu und wusste, dass der Berater der Königs ihm am liebsten zum Schweigen zwingen würde. Doch Ewellent dachte nicht daran, sondern fuhr unbeirrbar fort: „Was verfolgt Ihr mit dieser sinnlosen Gefangennahme? Eure Macht braucht ihr auf diese Weise nicht zu beweisen, selbst wenn es eine einflussreiche Frau ist, bleibt ist in dieser Geschichte unschuldig.“

„Ewellent, ich verbiete es dir, meine Entscheidungen in der Gegenwart meiner Männer anzuzweifeln! Was geht dich das Wohlergehen dieser Dame überhaupt an? Sie wollte ohnehin nach Ravan reisen, ich erfülle ihr nur ihren Wunsch.“

„Sie wollte Euch als freie Frau begleiten, nicht als Eure Gefangene! Die Geschichte wird keine gute Wendung nehmen, wenn ihr sie mit Gewalt nach Ravan bringt, nur weil sie die Möglichkeit gehabt hätte, Eure Kinder zu entführen!“ Torens Augen funkelten zornig und Obdaro befürchtete, dass er den Hexer angreifen würde.

„Sei auf der Hut, Hexenmeister! Du bist nichts weiter als ein geladener Gast an meinem Hof, also erwarte ich von dir, meine Entscheidungen zu respektieren. Lydia von den Hohen Schellen wird mit mir reisen, als Pfand.“

„Was ist mit Euren Friedensbedingungen?“ Nun war es Obdaro, der eine Frage wagte, er hatte nichts zu verlieren und erwartete den drohenden Blick Torens.

„Was soll schon damit sein? Sie wurden entschieden und werden angewandt.“

„Und Ihr gedenkt diese Bedingungen dem Hofrat zu unterbreiten?“

„Ich übergebe sie Mana Kael. Die Politik der Unih ist nicht mein Anliegen. Ich unterhalte mich mit dem König!“

Obdaro war klar, welchen Weg sein Freund eingeschlagen hatte. Genau den, der ihm verholfen hatte, den Krieg zu gewinnen. Toren ließ die beiden Männer und kehrte ihnen den Rücken zu. Mit großen Schritten verließen der König und seine Männer den Raum, ihre Stiefel donnerten laut durch die leeren Gänge von Valroux und die Diener Mana Kaels mussten sich beeilen, ihren König aufzuwecken. Den anwesenden Unih war es sehr unangenehm, die finstere Abordnung Torens im Empfangssaal warten zu lassen, bis sich der alte König endlich sehen lassen konnte. Als Mana Kael endlich eintrat, dass Toren auf der Kante der ausladenden Steintafel, auf seinen Oberschenkel abgestützt blickte er ihm entgegen und hielt in seinen behandschuhten Händen eine Schriftrolle.

Mana Kaels Gesicht erschien noch bleicher als die Tage zuvor und er blickte verbittert in Torens Gesicht. Ripek diente ihm als Stütze, doch der alte Mann wehrte ihn ab, um die letzten Schritte allein zu seinem Platz zu gehen. Toren wartete ab, erhob sich nicht und musterte herausfordernd die anwesenden Unih, die hinter bewegungslosen Mienen versuchten, ihre Fassung zu bewahren.

„Wie ich sehe, habt Ihr es aufgegeben, Euch auch nur andeutungsweise unseren Gepflogenheiten anzupassen“, murmelte Mana Kael als er sich endlich auf seinem hohen Stuhl niedergelassen hatte.

„Die Stunde unserer Abreise ist gekommen, mein alter Freund. Ich bedanke mich für Deine Gastfreundlichkeit.“ Mana Kael war gezwungen, über Torens Sarkasmus zu schweigen und konnte ihm lediglich einen strafenden Blick zuwerfen. Toren reichte ihm die Schriftrolle, welche er zögernd annahm.

„Deine Bedingungen …“

„Bringen wir es hinter uns und besiegeln sie!“, befahl Toren. Umringt von den größten Männern aus Torens Leibgarden, die sich um die Tafel herum aufgebaut hatten und vollbewaffnet dieser Szene beistanden, wirkte Mana Kael noch zerbrechlicher als er ohnehin war. Der König der Unih entrollte das Papier und blickte auf die lange Liste von dem, was der Sieger des vergangenen Krieges von den Unih in den kommenden Jahren abverlangte. Er kannte die Anforderungen und hatte erhofft, jeden Punkt einzeln und ausführlich in Gemeinsamkeit mit dem Hofrat und Toren durchgehen zu können, doch der Verlauf der Dinge hatte es dazu nicht kommen lassen. Seit die Kinder vom König Toren verschwunden waren, herrschte eine spannende Unruhe zwischen den Kriegern aus Ravan und den Anwohnern von Mana Kaels Hof. In der Nacht des Konzertes als Cethis und Brimon unauffindbar geblieben waren, war es zu blutigen Kämpfen gekommen, Toren und seine Männer verdächtigten die einflussreichen Mitglieder des Hofrates, den Prinzen und die Prinzessin entführt zu haben. Bis zum heutigen Tag waren sie zu keiner befriedigenden Erkenntnis gekommen und jeder Unih war im Grunde nur heilfroh zu wissen, dass die Bridônen endlich abreisen würden. Eiskalt beobachteten die Männer einander, die hellgekleideten Unih dominiert von den finsteren Recken aus Ravan. Toren hätte ebenso ein gefürchteter Anführer von einem alten Stamm barbarischer Vorfahren sein können. Mit seinen kalten, hellblauen Augen beobachtete er den kränkelnden König Mana Kael, wir er die Feder von seinem Berater Ripek gereicht in die Hand nahm und behutsam unter der langen Liste der Bedingungen von Torens Frieden unterzeichnete. In diesem Moment wusste der alte König, dass er seine Aufgabe verfehlt hatte und seinem Volk Unrecht getan hatte. Er legte langsam die Feder beiseite auf die kalte Marmorplatte der prächtigen Tafel, an der er saß. Torens dunkle Bekleidung zeichnete einen harten Kontrast zum kostbaren Stein und der feinen Verarbeitung des riesigen Möbels, doch niemand der Umstehenden schien wirklich gegen diese Entscheidung zu sein. Mana Kael hatte etwas unterzeichnet, was das Volk der Unih und deren Land in aussichtsloses Jahre von Dienst und Schuld unterwarf. Mühsam hob der König der Unih sein Haup an und blickte in das abwartende Gesicht Torens. Dessen Jugend und Zorn strotzte unter seinem dichten Haar und seiner offensichtlichen Kraft nur so hervor.

„Ich bete zu den Göttern, dass du deine Kinder bald wieder finden wirst“, hauchte Mana Kael geschwächt. Doch Toren reagiert nicht auf diese Aussage. Mit raschen Gesten entledigte er sich seiner Handschuhe, warf seine große Hand auf die beiden unterzeichneten Dokumente und zog sie in seine Richtung. Beide langen Papier lagen offen vor dem schwarzen König und dieser zückte mit einer theatralischen Geste einen mächtigen Dolch aus seiner Scheide an seinem Gürtel, er legte die Klinge in seine linke Hand und schloss seine Faust fest darum, bis Blutstropfen zwischen seinen Fingern hervorquollen. Mit einem lauten Klirren legte er den blutigen Dolch auf die helle Marmorplatte neben sich, presste seine linke Faust fest zusammen und ließ sein Blut neben Mana Kaels kaligrafischer Unterschrift auf das Papier tropfen.

„Dies zur Erinnerung daran, dass ich persönlich darüber wachen werde, ob Dein Volk unseren Abschluss einhält“, gab Toren erklärend hinzu. „Schickt nach der Dame Lydia, sie wird mich nach Ravan begleiten und so lange dort leben, bis meine Kinder wieder zurück zu mir gefunden haben!“

Mana Kael schluckte gequält beim Anblick der dunkeln Blutstropfen und schloss erschöpft die Augen. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, schloss er die Augenlider und nickte kurz. Ripek blickte entsetzt von Toren zu seinem König und musste sich schließlich dazu besinnen, den ausgesprochenen Befehl auszuführen. Er gab den Männern aus dem Gefolge zu verstehen, nach der Dame Lydia zu schicken. Toren richtete sich allerdings geschwind auf, seine Klinge klang laut auf, während er diese aufnahm und rasch verstaute.

„Seht zu, dass sie bereit ist, wenn wir abreisen!“, rief er den Unih hinterher. „Sie kann sich das Schauspiel hier im Empfangssaal ersparen“, fügte er zu Mana Kael gewandt hinzu, nickte ihm kurz zum Abschied zu und rollte eines der beiden Dokumente zusammen, ohne sich darum zu sorgen, ob die Signaturen getrocknet waren und überreichte es Obdaro mit einer raschen Geste. Daraufhin kehrte er Mana Kael den Rücken und verließ den Saal ebenso rasch, wie er eingetreten war. Ripek starrte entsetzt hinter den Bridônen her und verharrte wie erstarrt neben seinem König. Den übrigen Anwesenden erging es ähnlich. Laikren war der erste, der sich mit einem lauten Räuspern bemerkbar machte und seinen Platz verließ, um sich zu seinem König zu wenden.

„Majestät …“, ließ er seine harte Stimme verlauten und beobachtete den alten König, der völlig erschöpft in seinem hohen Sessel saß und von seinem mächtigen Mantel erdrückt zu sein schien. „Eure Majestät, Ihr müsst den Hofrat herbeirufen!“ Mana Kael wandte langsam seine müden Augen zum obersten Befehlshabenden seiner Armee.

„Warum so eilig, Laikren? Seid Ihr um Eure Bezahlung besorgt? Dazu habt Ihr auch allen Grund, jetzt wo Dame Lydia in den Klauen unseres Gegners ist, kann ich kaum jemand in diesem Königreich zitieren, der noch über Goldreserven verfügt.“

Ripek sah nicht ohne Gefallen, wie der stolze Laikren mit seiner Fassung haderte und nach Worten suchte.

„Eure Majestät, Ihr bezeichnet Toren als Euren Feind, obgleich vor wenigen Augenblicken das Friedensabkommen unterzeichnet wurde …“ Laikrens Stimme klang bemerkenswert heiser, aber jeder Anwesende hatte seine Worte verstanden.

„Toren hat den Krieg gewonnen und uns allen dargestellt, wie er vorgeht. Ein Barbar, der sich nicht auf lange Diskussionen mit seinen Untertanen einlässt. Heute haben wir einen zornigen Wolf zum Nachbar unseres Königreiches, er wird nicht locker lassen, bis es sich herausstellt, was aus seinen Kindern geworden ist.“

„Aber unser Hofrat …“, warf Laikren unaufgefordert ein, doch sein Satz wurde mit einem energischen Wink des Königs abgebrochen.

„Glaubt mir, selbst im Hofrat gibt es mehr Männer, denen das Verschwinden von Dame Lydia nicht so unangenehm ist, wie sie uns glauben lassen wollen.“ Mit diesen Worten wand er sich zu Ripek und musterte ihn eingehend. „So ist es nun mal mit Schuldnern, die nicht zurückzahlen können, was sie sich aufgeladen haben, besonders wenn die Affären sich in die Länge ziehen und der erhoffte Gewinn auf sich warten lässt. Ich ziehe mich in meine Gemächer zurück, denn ich habe mich um meine Gesundheit zu kümmern. Das ist wohl das Wichtigste, was ich für mein Volk noch tun kann. Den Hofrat überlasse ich Euch, meine Herren!“ Ein Diener eilte herbei und schob den schweren Stuhl so, dass Mana Kael sich erheben konnte und reichte ihm seinen Arm, damit er sich darauf abstützen konnte. Mit langsamen Schritten verließ der König den Saal und hinter liess eine drückende Stille.

Ripek blickte beinahe flehend in Laikrens Gesicht, es war offensichtlich, dass die Situation aus jeder Kontrolle entglitten war. Der Befehlshabende wartete regungslos, bis sich die schwere Tür endlich hinter Mana Kael geschlossen hatte und die anwesenden Unih sich leise in kleinen Gruppen zusammen schlossen und mit verhaltenen Stimmen darüber sprachen, was sie wohl als nächstes für Entscheidungen zu treffen hatten. In der Tat sollte sich der Hofrat so bald wie möglich eintreffen, damit jeder die Friedensbedingungen zu Kenntnis nehmen konnte.

Laikren trat mit steifen Schritten neben Ripek der verhalten das Schreibzeug zusammen räumte.

„Von Oméril habt Ihr keine Neuigkeiten, sonst hättet Ihr es mich wissen lassen, nicht wahr?“, sprach der große Mann leise zu Ripek gewandt. Dieser verneinte mit einem kurzen Kopfschütteln und presste die Lippen aufeinander.

„Jetzt wo niemand mehr bezahlen kann, ist es schwer zu sagen, ob die Auftragsmörder ihr Ziel weiter verfolgen würden. Im Anbetracht der Natur solcher Männer wage ich es nicht, auf deren patriotische Gefühle zu rechnen, um ihre Aufgabe zu Ende zu bringen. Und wo immer Oméril jetzt auch sein mag, sehen wir ihn vielleicht mit etwas Glück zu seinem achtundzwanzigsten Geburtstag wieder, um seinen Thron zu beanspruchen.“ Ripek vermochte in diesem Moment nicht zu sagen, woher er die Kraft nahm, um dem unnachgiebigen Blick Laikrens zu trotzen. Er musste wahnsinnig gewesen sein, seine Pläne verfolgen zu wollen, doch jetzt war er wahnsinnig vor Angst, denn er wusste, dass sein Leben als Berater des Königs nichts mehr wert war. Laikren richtete sich langsam auf und musterte den kleineren Mann herablassend. „Ihr habt nicht die geringste Idee von dem, was Ihr mir schuldig seid!“ Nur der Berater des Königs hatte vernommen, was das Oberhaupt der Armee zu ihm gesprochen hatte, die beiden Männer wussten, dass von nun an nichts mehr wie vorher sein würde.

 

*

„Heniah, wach auf!“, befahl Ewellent und berührte die junge Frau sanft an ihrer nackten Schulter. Die Zofe schlug die Augen auf, brauchte allerdings einen Moment, um ihre Sinne zu sammeln und zu begreifen, was Ewellent von ihr wollte. Sie schenkte ihm unwillkürlich ein verliebtes Lächeln.

„Ich bitte dich, beeile dich und zieh dich an! Toren reist ab, seine Leute sind bereits im Aufbruch!“, fügte der Hexer mit ruhiger Stimme hinzu, sie begriff allerdings, dass etwas nicht stimmte und er sich Sorgen machte. Sie richtete sich auf ihrem Bett auf und runzelte die Stirn.

„Was ist denn los? Haben wir die Kinder wiedergefunden?“, fragte sie, doch ihr Geliebter schüttelte bedauernd den Kopf.

„Leider nicht, die beiden sind nach wie vor spurlos verschwunden. Doch Toren hat sich entschieden, nicht länger in Valroux zu verweilen. Ich kann mir auch nicht erklären, was ihm zu dieser plötzlichen Eile bewegt hat. Vielleicht ist ihm deutlich geworden, dass die Gegenwart eines Königs für sein Volk wichtiger ist, als er bisher annehmen wollte. Jedenfalls will er keinen Tag länger hier verbringen und verlangt, die Dame Lydia mitzunehmen.“

„Macht das Sinn? Niemand kann beweisen, dass sie am Verschwinden der Kinder Schuld ist?“, warf Heniah sofort ein.

„Allerdings, dieser Verdacht wurde aber ausgesprochen und das genügte offensichtlich, um den König zu dieser Entscheidung zu bringen. Sie ist reich, sie wollte nach Ravan, und ist jetzt gezwungen, Toren zu folgen. Ich ahne nichts Gutes in dieser Geschichte, doch mich hört er nicht an. Deine Sicherheit ist mir jetzt wichtig, hörst du?“

„Aber wenn die Kinder verschollen bleiben, habe ich keine Aufgabe mehr am Hof!“

„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben! Solange ich mit euch reite, hast du nichts zu befürchten. Lass uns im Gefolge von Toren aus dem Land der Unih verschwinden. Sobald wir wieder in Ravan sind, werden wir weitersehen.“ Er drückte ihr einen wohlgemeinten Kuss auf die Stirn und ließ sie allein, damit sie sich für die Abreise vorbereiten konnte. Heniah mochte überhaupt nicht die letzten Worte, welche Ewellent ausgesprochen hatte, denn es hörte sich so an, als wolle er Toren und seine Leute verlassen. Mit einem Mal war ihr wieder klar geworden, dass er ein Reisender war, der aus einem unbekannten Land aus seiner Reise in Ravan zu ihnen gestoßen war und eigentlich gehen konnte, wann es ihm gefiel. Er gehörte nicht zu den Bridônen und war nur ein geduldeter Gast. Sie hatte begriffen, dass er mit dem König nicht einer Meinung war, und momentan keine konkrete Hilfe bei der Suche nach den Kindern war. Ewellents Platz war unsicherer denn je, ebenso der ihre. Ein paar Tage hatten genügt und sie hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt. Er hatte sie verändert, ihr so viel gezeigt, was sie sich in ihren kühnsten Träumen als junge Frau nicht hätte ausmalen können, doch die Tatsache war, dass ihre Liebe geheim und unbedeutend im Geschehen der Mächtigen war. Sie wusch sich rasch und kleidete sich an, raffte ihr Habseligkeiten zusammen und half einem Zimmermädchen dabei, die Sachen der Kinder einzupacken. Alles ging mit einem Mal sehr hektisch zu, denn die Leute, die das Torens Gefolge begleiteten, mussten zusehen, bei ihnen zu bleiben. Keiner der Bridônen würde nach der Abreise des Königs weiter am Hof oder innerhalb der Mauern von Valroux geduldet werden. Wenn sie im Schutz der bewaffneten Herren reisen wollten, um in ihr Land zurück zu kommen, mussten sie zusehen, bei ihnen zu bleiben. Heniah fühlte sich im aufgeregten Treiben in den Gemäuern mit einem Mal sehr unbedeutend und verletzlich. Sie war wie eine Dame auf einem Pferd mit den Königskindern eingeritten, doch würde sie jetzt bei dieser hektischen Abreise zu ihrem Pferd zurückfinden? Wer würde ihr ein Reittier zuweisen? War sie selbst weniger wert als die Ausstattung der Kinder? Wenn es ihr nicht gelingen sollte, zu einem Reittier zu gelangen, musste sie sich einen Platz am Ende der Gruppe zwischen dem einfachen Gefolge finden und konnte nicht sagen, ob sie dort akzeptiert würde. Sie fragte sich, wo ihr Onkel war und ob der überhaupt etwas für sie tun könnte? Die Spannung war zwischen den Männern deutlich spürbar und Heniah fühlte sich entsetzlich verloren. Warum hatte Ewellent sie allein gelassen? Konnte er auch nichts mehr für sie tun? Hatte er sich mit Toren gestritten? All die Gedanken jagten durch ihren Kopf, während sie sich zwischen den geschäftigen Männern einen Weg suchte. Plötzlich fiel ihr Blick auf Obdaro, dem treuen Begleiter von Toren und ein Hoffnungsschimmer durchfuhr sie. Sie eilte ihm entgegen, wich den sperrigen Waffen im allgemeinen Gedränge aus und näherte sich dem Mann mit seinem langen dunklen Haar. Obdaro hatte sie kommen gesehen und blickte ihr entgegen. Sein Gesicht war von Besorgnis gezeichnet, doch er machte eine einladende Geste in Heniahs Richtung. Sie beugte sich zu seinem Ohr und fragte, ob er wisse, wo Ewellent sei. Obdaro schüttelte verneinend den Kopf und antwortete: „Im Augenblick mache ich mir keine Sorgen um einen erfahrenen Hexenmeister. Du tust allerdings gut daran, soweit wie möglich in meiner Nähe zu bleiben. Ich werde ein Pferd für dich finden und du wirst mit uns an der Spitze der Reiterei Valroux verlassen.“

Heniah nickte einverstanden und umklammerte fest ihren Mantel. Nicht das ihr kalt war, innerhalb der schützenden Mauern litt niemand unter der beißenden Kälte der hohen Berge. Doch sie fürchtete sich vor der Unberechenbarkeit der Menschen. Der scheinbare Frieden zwischen den Königen und ihren Untertanen war nur eine Maskerade gewesen, die seit dem Entschwinden der Königskinder unwiderruflich zerbrochen war. Der Blick der jungen Frau viel auf eine Abordnung von dunklen, voll gerüsteten Männern, die in ihrer Mitte Dame Lydia herbeiführten. Dieser Anblick verschlug ihr die Sprache, denn es war offensichtlich, dass die zarte Frau eine Gefangene war. Unwillkürlich blickte Heniah an den Wänden des Hofes hinauf, denn sie wusste, dass dort hinter den Ballustraden Unih die Bridônen beobachteten. Sie waren in Überzahl und hätten Torens Leuten mit wenig Aufwand den Garaus bereiten können, doch dafür waren sie nicht vorbereitet. Torens Entscheidung war plötzlich gekommen. Offensichtlich feindselig verfolgte er sein Ziel, so rasch wie möglich wieder in seinem Land einzukehren, die einflussreiche Persönlichkeit zu entführen und neue Pläne zu schmieden. Heniah empfand Mitleid mit der Dame Lydia, die blass ihre stolze Haltung zu bewahren versuchte. Aus ihrer hochgesteckten Frisur hatten sich vereinzelte Strähnen gelöst und wehten im Morgenwind. Heniah blickte in Obdaros Richtung und fragte sich, ob sie sich als Kammerfrau für die Dame vorschlagen sollte, solange die Kinder nicht zurückgekommen waren, konnte sie sich auf diese Art nützlich machen und ihren Platz am Hof von Toren bewahren. Offensichtlich durfte keine der Unih Dame Lydia begleiten und Heniah hätte gerne mehr von ihr erfahren. Doch der Moment war schlecht gewählt, zunächst galt es, gemeinsam Valroux zu verlassen, bevor es zu einem Blutbad käme. Sie musterte die finsteren Gesichter der Krieger, welche Dame Lydia umgaben und erkannte unter einem der Helme das Gesicht ihres Onkels. Diese Erkenntnis erschütterte die junge Frau, denn sie sah, wozu er fähig war. Sein Leben gehörte den Befehlen des Königs, so wie all die anderen Menschen in seinem Gefolge. Sie gehörten zu den Siegreichen und hatten diesen Status in blutiger Barbarei erreicht. Wenn es vom ihm verlangt wurde, erneut zu töten, würde er es ohne zögern tun, solange, bis er selbst zu den Toten gehörte. Heniah wandte ihren Blick ab und beeilte sich, Obdaro zu folgen, der damit beschäftigt war, Leuten Pferde zuzuteilen. Sie musste ihnen folgen, ohne zu wissen, ob sich die Kinder irgendwo in Valroux aufhielten oder an einen anderen Ort verschleppt worden waren.

 

Die stolze dunkle Reiterei Torens verließ Valroux, über den Zinnen der Berge spannte sich ein strahlender, wolkenloser Himmel, die hohen Gletscher blitzten weiß aus erhabener Ferne und allein das Trommeln der Pferdehufen hallte gegen die Bergwände wieder und begleitete die Reiter aus Valroux hinaus. Sie kamen beachtlich gut voran, das gute Wetter schien ihren Pferden Flügeln zu verleihen, jedenfalls schienen die Tiere sich daran zu erfreuen, aus den Ställen befreit zu sein und ihre Lungen mit frischer Luft zu erfüllen. Hier und da erschallte ein freudiges Wiehern und Heniah musste beobachten, wie diese momentane Lebensfreude auf die Reiter ansteckend wirkte. Sie waren allesamt der bedrückenden Stimmung aus Valroux entkommen und ritten durch eine freundlich gesinnte Natur. Ganz im Gegensatz zu ihrer Anreise, wo sie sich mit den Elementen hatten messen müssen, schien an dem heutigen Tag ihr Ritt unter einem guten Stern zu liegen. Die ergreifenden Gefühle von Kraft und Freiheit empfand wohl jeder Reiter, wenn er in so einer Abteilung ritt. Heniah konnte die knisternde Begeisterung regelrecht spüren und war allein mit ihren Gedanken. Wie ungerecht, dass solche Unholde wie Männer gleich Toren und seinen Leuten so etwas erleben durften. Oder war dies eine Entschädigung für ihr blutiges Geschäft? Brauchte ein Land solche Leute, um in Frieden leben zu können? Sie sah wie Obdaro mit verschlossener Miene unweit von ihr hinter Toren her ritt und fragte sich, was ihn dazu bewegte, diesen Mann zu begleiten? Was aus Ewellent geworden war, vermochte sie nicht zu sagen, er war von der Bildfläche entschwunden und er fehlte ihr. Sie liebte sein nachdenkliches Gesicht und erinnerte sich an all die Momente, welche sie in heisser Intimität mit ihm verbracht hatte. Sie war in Valroux als scheue Jungfrau eingeritten und er hatte ihr gelehrt, was sie mit ihrem Körper vollbringen konnte. Diese Erinnerungen brannten in ihrem Gedächtnis und brachten eine gewisse Hoffnung mit sich. Im Laufe der Reise verhielt sie sich so, als sei sie an ihrem Platz und hatte bei der ersten Rast mit Obdaro ihren Vorschlag unterbreitet, sich um Dame Lydia zu kümmern. Obdaro hatte diese Idee mit einem dankbaren Lächeln entgegen genommen und sie darin unterstützt. Sie sei eine kluge Frau und lerne schnell, hatte er hinzu gefügt, worauf Heniah nichts erwidern wollte. Schweigend ließ sie sich von Obdaro zu den Wachen begleiten, die wie ein Schutzwall die Dame umgaben. Obdaro stellte sie vor und von nun an hatte Heniah freien Zugang zu dieser Frau. Als sie zu ihr gelassen wurde, warf sie ihrem Onkel einen kurzen, finsteren Blick zu, bevor sie sich bemühte, eine elegante Reverenz auszuführen, wie sie es bei den Damen am Hofe beobachtete hatte. Allem Anschein nach bemerkte Lydia ihre Aufmerksamkeit und lächelte ihr vorsichtig zu.

„Dame Lydia, mein Name ist Heniah. Erlaubt mir, euch zu helfen, wenn Ihr etwas braucht“, eröffnete Heniah leise das Gespräch.

„Wie komme ich zu der Ehre, von der Zofe der Königskinder begrüßt zu werden?“, erkundigte sich die zarte Frau in ihrer melodischen Stimme. Heniah schlug ihre blauen Augen auf und erwiderte den Blick der Frau.

„Das habe ich selbst entschieden. Die Ordnung am Hof der Bridônen hat nicht viel gemeinsam mit dem, was sich bei Euch abspielt. Die Kinder sind abhanden gekommen, also habe ich im Moment keine Aufgabe. Glaubt mir, es wird nicht einfach für Euch sein, Euch einen Platz am Hof von Toren zu machen. Ihr seid eine Frau mit einem Sinn für Geschäfte und ich habe mir sagen lassen, dass die Unih sehr interessiert am Holz von Ravan sind. Eine reiche Stadt namens Ganthar sei die Garantie für hohen Gewinn im Handel mit wertvollen Holz.“

Lydia blickte überrascht in das Gesicht der jungen Frau und versuchte zu begreifen, wen sie vor sich hatte. An der ungeübten Art, wie sie ihre Reverenz ausführte hatte sie erkannt, dass Heniah nicht aus einer hochgeborenen Familie stammte. Aber man hatte ihr die Fürsorge der Königskinder anvertraut, was bedeutete, dass Leute sie sehr hochschätzten und Vertrauen in sie hatten. Heniah fuhr fort zu sprechen: „Ich habe nie zuvor von Ganthar gehört und mir nie Gedanken darüber gemacht, wie viel Gold ein gefällter Baum einbringen könnte. Ich weiß nur, dass Toren Euch nichts ersparen wird. Doch Ihr habt es nicht verdient, schlecht behandelt zu werden, also habe ich mich dazu entschieden, Euch beizustehen. Wenn Ihr etwas braucht, lasst es mich wissen.“ Dame Lydia brauchte ein paar Atemzüge, um zu begreifen, was die Unbekannte ihr gesagt hatte. Doch sie entschied sich rasch, ihr Angebot anzunehmen, denn etwas weibliche Unterstützung konnte ihr in diesem Moment nur gut tun. Sie verabscheute die harten  Blicke der Männer, die sie bewachten. Solche Kerle waren ihr noch nie in ihrem Leben in direkter Nähe begegnet und jetzt sollte sie auf Reise von unabsehbarer Zeit auf die angewiesen sein? Sie hatte wahrscheinlich noch nicht ganz ihre neue Situation begriffen, oder vielmehr begreifen wollen, also entschied sie sich, Heniah, nach etwas Nahrung und Wasser zu beten. Heniah nickte verstehend und beeilte sich, dergleichen zu besorgen und auch selbst etwas davon zu nehmen. Auf ihrem Weg bedankte sie sich leise bei Obdaro und hätte ihm am liebsten umarmt als er ihr diskret zu verstehen gab, wo sie das was sie suchte, finden konnte. Gemeinsam mit Lydia nahm sie eine kleine Mahlzeit ein und die weibliche Vertrautheit zwischen all den bewaffneten Männern.

 

Der Ritt durch das Gebirge verlief bemerkenswert ruhig, das Wetter änderte sich nicht und sogar die Winde blieben sanft, was den Bridônen verhalf, rasch an die Ebene Obion zu gelangen. Toren betrachtete diese erhabene Weite vor sich und musste daran denken, wie er vor gar nicht langer Zeit seinen Kindern die Sage Obions erzählt hatte. Der ewige Gott der Erde sollte an diesem Ort seinen Frieden gefunden haben doch die Menschen stets daran erinnern, dass seine unglaubliche Macht erwachen könnte und sie allesamt in seiner ewigen Glut verschlingen würde. Er blickte zurück zu den Zinnen der Berge und es erschien ihm als habe dieses Land seine Kinder behalten wollen und ihm nun die Rückkehr ermöglicht. Er war gegangen und hatte sein Tribut bezahlt. Ein König, der die stolzen Unih in blutigen Schlachten unterworfen hatte, doch dafür waren seine Frau und Kinder verloren. Obdaro ritt an seine Seite und deutete in eine gewisse Richtung. Ein vereinzelter Reiter näherte sich, offensichtlich kam er aus dem westlichen Gebiet der Berge und die beiden Männer erkannten Ewellents Statue auch auf diese Entfernung. Schweigend warteten sie ab, bis der Hexer sie endlich erreicht hatte. Dieser hielt sein Pferd einige Schritte vor dem König an und nickte ihm kurz zur Begrüßung zu und ließ seinen Blick über die Reiterei schweifen, bevor er sprach: „Ich kann nicht behaupten, dass ein mächtiger König je auf mich gewartet hat.“

„Was führt dich hier her, Ewellent? Hat deine Abwesenheit bei unserem Aufbruch etwas mit meinen Kindern zu tun? Antworte!“, zerbrach Torens donnernde Stimme das abwartende Schweigen, doch Ewellent erwiderte nichts sofort und beobachtete eingehend das Gesicht des Königs.

„Im gewissen Sinne. Ich brauche die Nähe Ravans, um meine Forschungen fortzuführen …“

„Leere Worte, wenig Taten!“, unterbrach Toren ihn barsch.

„Ich dachte nicht, nach Eurer Erlaubnis zu fragen.“

Die beiden Männer musterten sich, schätzten einander ab wie Gegner, die aufeinander losgehen wollten und die Schwächen ihres Gegenübers ausfindig machten.

„Wie ich sehe, befindet sich Dame Lydia in Eurem Gefolge. In der Tat ist es nicht der Moment für ein ausführliches Gespräch. Es war mir nur  wichtig, dass die Bridônen wissen, dass ich noch für eine Weile in Ravan verbleiben werde. Doch mein Platz kann nicht am Hof von König Toren sein. Seht zu, dass Ihr Eure Leute rasch nach Haguz Bri-Las bringt und Euch hinter Euren dicken Mauern verbergt. Eure Entscheidungen haben nicht viel mit dem gemeinsam, was andere Mächte wollen“, sprach Ewellent mit betont ruhiger Stimme, doch Toren antwortete barsch: „Wie immer, wenn du nicht weiter weißt, redest du in Rätseln. Wen interessiert es, ob du überhaupt selbst die Antwort kennst? Niemand! Mein Weg führt mich heim, wozu verliere ich meine Zeit mit sinnlosen Worten!“ Damit gab er seinem Pferd die Sporen und riss es hart in die Richtung der großen Ebene, gefolgt von seinen Männern. Heniah ritt inmitten der Gruppe des Königs mit und warf einen entsetzten Blick in Ewellents Richtung. Sie hatte jedes Wort und gehört und es zerriss ihr das Herz, ihren Geliebten allein auf seinem unruhigen Ross zu sehen. Was ging nur in den Köpfen der Männer vor? Ihr Herz schlug heftig bis zum Hals, den sie spürte mit harter Gewissheit, dass von nun an nichts mehr wie zuvor sein würde. Sie musste einen Weg finden, um mit Ewellent reden zu können, aber es war ihr ein Rätsel, wie sie das zustande bringen könnte. Vorläufig blieb ihr nichts anderes übrig als die Galoppsprünge ihres Pferdes zu begleiten und sich nur auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Noch nie hatte sie sich so einsam inmitten von Menschen gefunden, mit starrem Blick sah sie dem Wald Ravan entgegen, während ihr Herz vor Jammer weinte.

Erst zur Abenddämmerung ließ Toren seine Leute rasten und die Männer beeilten sich, ihr Lager zu errichten. Jeder unterhielt sich mit gedämpfter Stimme und es wurde weitgehend vermieden, zu sprechen. Der König wollte in Ruhe gelassen werden, beobachtete allerdings jeden in seiner Nähe. Sein brodelnder Zorn war für alle spürbar und jeder wollte umgehend vermeiden, Toren zu reizen. Obdaro hatte es veranlasst, dass der Dame Lydia ein Zelt errichtet würde, in dem sich Heniah auch aufhalten konnte. Die junge Frau nutzte diesen Moment, um aus den Blicken der Männer entschwinden zu können und sah zwei jungen Dienerinnen dabei zu, wie sie frisches Wasser in eine weite Schale gossen, damit die Dame sich erfrischen konnte. Die Gesichter der beiden jungen Frauen waren Heniah bekannt und sie selbst machte sich stumm an Lydias Haaren zu schaffen. Geschickt löste sie die hochgesteckte Frisur und begann sanft die langen blonden Strähnen zu bürsten. Diese gleichmäßigen Bewegungen und das weiche Haar in ihren Händen, welches seine Geschmeidigkeit wiedergewann beruhigten sie.

„Es ist wirklich rührend wie Ihr Euch um mich kümmert“, sprach Lydia leise.

„Macht Euch meinetwegen keine Sorgen. Ich habe genug von diesen Leuten. Meine einzige Sorge gilt den verloren gegangenen Kindern“, antwortete Heniah gedankenverloren.

„Verdächtigt Ihr mich auch damit, dass ich die Entführung von Cethis und Brimon zu verantworten habe?“, verlangte Lydia zu wissen.

„Ich kann mir denken, dass Ihr über die nötigen Mittel verfügt, die Kinder Torens zu entführen. Aber ich sehe keinen Sinn dahinter. Eure Reise nach Ravan hattet Ihr unter anderen Bedingungen geplant. Heute hängt Euer Wohlergehen von den Entscheidungen eines zornigen Königs ab und ich kann mir denken, dass Euch diese Situation alles andere als angenehm ist.“

„Ihr seid klug für Euer junges Alter, liebe Heniah. Ja, ich hatte mir den Einritt in Ravan anders vorgestellt. Heute sehe ich einen Wald der ebenso düster ist, wie das Gemüt des Gebieters. Was für eine Rolle soll ich an seinem Hof spielen?“ Lydia hatte diese Frage in die Leere gestellt und erwartete keine Erklärung von Heniah. Sie genoss es, gebürstet zu werden und ließ ihre frischgewaschenen Hände auf dem Stoff ihres Kleides ruhen.

„Der Wald verändert sich ständig, Menschen, die der Natur nicht zuhören, müssen mit unruhigen Gemütern leben.“ Heniah wollte ebenfalls in ihre Gedanken versinken, wurde allerdings von einer der Dienerinnen unterbrochen, welche sich mit einem flinken Knicks bei ihr entschuldigte und ihr sagte, dass jemand sie sprechen wollte. Heniah legte die Bürste beiseite und warf Lydia einen verwunderten Blick zu.

„Geht nur, Ihr seid frei. Jedenfalls freier als ich. Wenn ihr wieder zurück kommt, könnt Ihr mir vielleicht von Eurer Begegnung erzählen.“ Die junge Frau verließ das Zelt und folgte dem Mädchen durch das Lager. Sie war umso erstaunter, als sie zu ihrem Onkel gebracht wurde, der in voller Rüstung auf sie wartete. Als sie ihn im Halbdunkel erkannt hatte, hielt sie in ihrem Schritt inne und starrte ihn erbost an. Der große Mann nickte ihr zu und bedeutete ihr, näher zu treten.

„Was geht hier vor, Orgond?“, verlangte sie zu wissen.

„Gute Heniah, du wirst erwartet, doch es kommt nicht in Frage, dich ohne Begleitung in den Wald gehen zu lassen.“ Ihr Onkel sprach sehr leise und Heniah spürte, dass er vermeiden wollte, von anderen gehört zu werden. Also entschied sie sich, ihm schweigend an seiner Seite zu folgen. Doch kaum waren sie außer Hörweite des Lagers, begann Orgon mit ihr zu sprechen: „Ich bitte dich, bestrafe mich nicht mit deinen Blicken und Schweigen! Ich stehe im Dienst des Königs und du hast es mir zu verdanken, an diesen Posten gekommen zu sein. Außerdem kann ich dich für deine kluge Entscheidung nur beglückwünschen. Es war eine gute Idee von dir, dich der Dame Lydia anzunehmen!“

„Ich habe sonst nichts anderes zu tun, jetzt wo die Kinder nicht mehr da sind“, erwiderte Heniah kalt.

„Toren vertraut dir und zählt auf dich, ihm von Lydia zu erzählen.“

„Er hätte sie nie als Gefangene hier her schleppen sollen!“

„Diese Entscheidungen liegen nicht bei uns! Wir können uns nur damit abfinden, zu gehorchen.“

„Ebenso wie Vater!“

„Wärst du bei deinen Eltern geblieben, hättest du früher oder später das Haus verlassen müssen, das weißt du so gut wie ich. Dein Cousin wird eines Tages die Schmiede deines Vaters übernehmen, denn dein Vater kann sich eine Hochzeit für dich nicht leisten.“

„Und warum kann er das nicht? Weil die Bezahlungen des Königs für all die Waffen die er geschmiedet hat, ausgeblieben sind. Jetzt hoffen alle darauf, dass die geheimnisvollen Reichtümer der Dame Lydia die leeren Kassen wieder füllen werden. Doch wenn es dazu nicht kommt? Du weißt genau, dass es immer dieselben sind, die sich zuerst bedienen. Wer denkt schon an verarmte Schmiede, die ihr Leben außerhalb der Mauern von Haguz Bri-las fristen?“

„Heniah, sei nicht ungerecht! Unser König hat im Moment andere Sorgen …“

„Dem König ist es einerlei, wie eine Person wie unsereins lebt. Er ist nur daran interessiert, seine Macht nach seinem gewonnen Krieg zu festigen. Also erzähle mir bitte nichts. Und erwähne nicht immer meinen armen Vater, der meine Hochzeit nicht bezahlen kann. Wer hat sich so etwas überhaupt ausgedacht? Und woher meinen eigentlich alle zu wissen, ob eine Frau überhaupt mit einem Mann zusammen leben will? Ich habe davon geträumt, eine Kräuterfrau zu werden und vom alten Wissen in der Natur von Ravan zu lernen.“

„Das sind doch Kinderideen“, warf Orgond ein „Worüber beklagst du dich? Wenn du schon nicht mit einem Mann leben willst, der über dich wacht, kannst du dein Leben am Hof des Königs verbringen.“

„Ich brauche keinen Mann, der auf mich Acht gibt!“

„Damit könnte sie durchaus Recht haben!“, erklang eine weitere Stimme, die Heniah und Orgond zum Stehen brachte. Heniah hatte sofort Ewellent wiedererkannt und ihr Herz machte einen unkontrollierten Sprung in ihrer Brust.

„Ich werde auf euch ein warten“, sprach Orgond und verbeugte sich, bevor er ging und im Dunkeln des Waldes verschwand.

„Ewellent!“, hauchte Heniah und rannte ihm entgegen. Ungestüm schlang sie ihre Arme um seinen Hals und umarmte ihn fest. „Wo warst du nur? Du hast mir so gefehlt!“, flüsterte sie in sein Ohr und genoss es, von ihm in die Arme genommen zu werden. Er verharrte ruhig und wartete, bis sie bemerkte, dass er ihre Umarmung nicht wie ihr Geliebter erwiderte. Sie löste sich etwas von ihm und nahm sein Gesicht in beide Hände, um ihn zu küssen, doch seine sanften Lippen blieben verschlossen. Die junge Frau wagte sich nicht auszusprechen, was sie plötzlich mit Gewissheit empfand.

„Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden, liebe Heniah“, sprach er leise mit belegter Stimme dicht an ihrem Gesicht. Sie war außer Stande, etwas zu sagen und nahm seine Hände in die ihre, um ihn tapfer anzuschauen. Es war unbeschreiblich, wie sie sein Gesicht im Mondlicht liebte, doch allem Anschein nach hatte Ewellent entschieden, seine Wege allein weiterzugehen.

„Vielleicht hat mir Toren mit seiner absurden Entscheidung, diese Dame gefangen zu nehmen einen Dienst erwiesen. Jedenfalls kann ich unmöglich weiter in seiner Gegenwart bleiben.“

„Und warum nicht? Ist dir nicht eingefallen, dass Menschen dich brauchen?“ Mit einem Mal mischte sich Wut in Heniahs verzweifelte Gefühle.

„Natürlich brauchen Menschen mich und ich werde auch für sie da sein. Es stehen uns finstere Zeiten bevor. Das was wir bisher erlebt haben, ist nichts im Vergleich, was geschehen wird, wenn Männer wie Toren solche Entscheidungen treffen. Du wirst sehen und ich habe Vertrauen in dich, dass du stark genug bist, nicht in diesem Chaos unterzugehen.“

„Wovon redest du? Alles was ich will, ist mit dir zusammen zu sein! Du fehlst mir, hörst du, ich liebe dich!“

„Heniah, du hast mir mehr gegeben als ich mir je hätte ausmalen können, doch was dir wiederfährt, erleben unzählige junge Frauen, die von hohen Idealen träumen. Du liebst ein Bild! Ich bin um sehr viele Jahre älter als zurückgebliebene Greise in Haguz Bis-las. Ich bin selbst nicht mehr in der Lage zu sagen, wie lange ich diese Welt schon bereise, mein Leben folgt anderen Gesetzen seit ich mich entschieden habe, Diener der Magie zu werden.“

Heniah schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte in seinen Augen einen Hoffnungsschimmer zu erkennen, der es ihr ermöglichen würde, an der Seite ihres Geliebten zu bleiben.

„Dass du nicht wie andere Männer bist, ist mir auch klar geworden. Dass du nicht liebst, wie normale Menschen, kann ich mir denken. Also bitte ich dich, nimm mich mit auf deinen Weg, zeige mir dein wahres Gesicht und lehre mir von der Magie, die dich beherrscht!“, beschwor sie ihn.

„Du wirst lernen, mein Kind, doch deine Kraft liegt woanders.“

„Gemeinsam können wir vielleicht eher die Kinder finden. Du sagtest, sie seien in anderen Ebenen verborgen, zu denen jedem Normalsterblichen der Zugang unmöglich sei.“ Doch Ewellent schüttelte unbeirrbar den Kopf und fuhr fort: „Unsere Wege trennen sich hier, verzeih mir!“

„Ich verbiete dir, mich zu beurteilen! Ich bin noch jung und bereit zu lernen. Woher willst du wissen, wozu ich wirklich fähig bin?“

„Ich weiß, was in dir steckt!“

„Doch du bist zu feige, es auszukundschaften! Ich bin Wesen entkommen, von denen andere nicht einmal zu träumen wagen und habe dich kennengelernt. Du hast mich verführt und mich von deiner Liebe kosten lassen, um mich jetzt zurück in mein normales Leben zu schicken? Was kann das anderes sein als Feigheit?“

„Gute Heniah, lass uns doch nicht im Streit auseinander gehen!“

„Ich will überhaupt nicht von dir gehen, willst du dass denn nicht begreifen? Ich will bei dir sein, doch du erzählst mir etwas von Bildern, Träumen von jungen Mädchen. Du kannst zum Teufel gehen, wenn es dir danach ist! Wahrscheinlich hast du ganz recht, du hast mich nicht verdient!“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, schlug sie ihre Hände vor den Mund und spürte wie die Tränen, die sich in ihren Augen aufgestaut hatten, haltlos über ihre Wangen kullerten. Ihre Stimme erstarb und sie war ausserstande, einen weiteren Laut von sich zu geben. Sie starrte ihn fassungslos an und wusste nur, dass sie ihn liebte mit jeder Faser ihres Körpers. All die Bilder vom Erlebten mit ihm wirbelten in ihrem Kopf durcheinander, sie sah in diesen Erinnerungen sein Gesicht ergeben in der Erfüllung seiner Gefühle dicht bei ihr und jetzt stand er vor ihr und wollte gehen, sie verlassen, für immer, seinen Weg fortfahren, wie er es zu sagen pflegte, seinen Entscheidungen folgen. Er hatte sie eingeladen, doch heute die Tür wieder verschlossen und ihr blieb keine andere Wahl, als tapfer ihr Leben zu führen, und Pflichten erfüllen, die sie nicht gewählt hatte.

„Ich schwöre dir, ich werde dich nie vergessen und ein Teil von mir wird immer bei dir sein. Eines Tages, wenn deine Wut verraucht ist, wirst du es begreifen“, sprach er mit betont sanfter Stimme und hatte sich entschieden, nicht mehr mit ihr über seine Vorhaben zu sprechen. Sie war außer Stande, seinen Gedanken zu folgen und er musste dies respektieren. Heniah nahm ihre Hände vom Gesicht, ballte ihre Fäuste und stellte sich steif und aufrecht vor ihn, presste ihre Lippen aufeinander und atmete tief durch bevor sie sprach und nur mühsam das Zittern in ihrer Stimmer unterdrückte: „Und ich schwöre dir, dass ich eines Tages zu den Waffen greifen werde. Es wird mich viel Zeit kosten, doch glaube mir, auch ich werde in der Lage sein, stolze Schwerter zu schwingen und wehe dir, wenn du mir dann über den Weg läufst. Es wird mir eine Ehre sein, dir den Kopf einzuschlagen!“

Ewellent verbeugte sich kurz vor ihr und fügte mit trockener Stimme hinzu: „Dazu wird es nicht kommen, werte Heniah!“ Sie war eine Tochter aus Ravan und sie zeigte ihm, dass auch in ihr eine dunkle Seite lebte. Mit diesen Worten verließ er sie und verschwand im Schatten der Bäume. Heniah blieb wie angewurzelt stehen und blickte auf den leeren Platz, an dem er eben noch gestanden hatte.

„Ewellent …“, hauchte sie und trat ein paar Schritte hinter ihn her, doch er war entschwunden. Sogar sein Geruch hatte sich in Nichts aufgelöst und sie fühlte um sich herum nur noch die kühle Waldluft und die nasse Frische, die aus dem Boden in der Nacht aufstieg. Sollte sie gehorsam zurück gehen, sich von ihrem Onkel zum Zelt der Dame Lydia begleiten lassen, wo sie ihre Aufgabe als Begleitperson von hochgeborenen Persönlichkeiten erfüllen durfte? Unmöglich! Ihre Verzweiflung ballte sich in ihr zusammen und würde explodieren, wenn sie sich nicht auf irgendeine Weise Luft verschaffte. Ihre Schritte führten sie in den Wald, sie wusste, wie einfach es war, sich in dieser Dunkelheit darin zu verlieren, den Weg nicht mehr zurückzufinden, doch sie wollte sich verlieren.

 

Orgond hatte seine Nichte mit dem Hexer Ewellent allein gelassen und erinnerte sich an die Tage der Abreise aus Haguz Bri-las. Diese Zeit schien in eine andere Epoche zu gehören. Schon gar die Tage nach dem Krieg, an dem ihm gemeinsam mit einer Abteilung von zwölf Männern der Leichnam der Königin anvertraut worden war. Der Krieg war beendet, die Schlachten gewonnen, viel Blut geflossen und die kriegerische Loris aus Ravan hatte mit ihrem Leben bezahlt. Den Gesetzen nach zu folgen, musste die Königin innerhalb von Hagus Bri-las sterben, wenn ihre Kinder Anspruch als Erbe auf den Thron behalten sollten. Sei dies nicht der Fall, hätte Toren eine andere Frau heiraten müssen, um neue Nachkommen zu zeugen, Kinder aus einer Linie von Angehörigen der Bridônen. Niemand hatte sich den Zwillingen annehmen wollen, denn die Anwohner der Schlosses hatten sich bereits damit abgefunden, dass eine neue Familie gegründet werde. Doch König Toren hatte es anders entschieden, und im Elend seiner abgrundtiefen Trauer um seine verstorbene Frau brauchte er eine vertrauensvolle Person, die sich seiner Kinder annehmen sollte. Orgond war in diesem Moment anwesend gewesen und hatte seine Nichte vorgeschlagen. Er hatte diese Entscheidung rasch getroffen, ohne wirklich zu wissen, wie es um Heniahs Leben beschert stand. Er wusste nur von den Sorgen seines Bruders und hatte sich geschworen, zu helfen, wie er nur konnte. Er, dem es im Leben eines Kriegers nicht möglich war, eine Familie zu gründen und seine Kinder zu kennen. In der dunklen Nacht dachte er an all die kleinen Wänste, die vaterlos geboren wurden und sich in ihrem Leben irgendwie durchschlagen mussten. Heniah war entsetzt gewesen, ihm nach Haguz Bri-las folgen zu müssen, doch sich trotz allen Schwierigkeiten tapfer ihrer neuen Aufgabe gestellt. Ihr Mut hatte den König überzeugt und Orgond war stolz auf seine Entscheidung gewesen. Er hatte sie inmitten des Gefolge des Königs reiten gesehen und sie auf die Reise nach Valroux begleitet, wo sie ihre Sorgen mit ihm geteilt hatte. Im Grunde war er an diesem Abend erleichtert, dass Ewellent sich von ihr verabschiedete. Was hätte aus dieser Geschichte schon werden können? Es war besser, wenn diese Leidenschaft rasch beendet wurde, auch wenn es brutal erschien. Orgond kannte sich nicht mit Hexern oder magischen Wissenschaften aus, es verlangte ihm auch nicht danach. Er war sich nur sicher, dass so ein Mann für eine junge Frau wie Heniah nicht sorgen konnte.

Das Gespräch zwischen den beiden hatte wohl nicht lange gedauert, denn ein leichter Wind trug ihm das traurige Schluchzen seiner Nichte entgegen. Sie war fortgelaufen, doch die Ruhe des Waldes gab Geräusche wie eine weinende Frau einfach weiter. Orgond zögerte nicht, um sie zu suchen und lauschte konzentriert, um sie bald zu finden. Heniah war in der Tat am Boden zerstört und hockte zusammengekauert auf dem Waldboden in der Dunkelheit. Sanft legte er beide Hände auf ihre Schultern und spürte, wie ihr gesamter Körper vom Weinkrampf erschüttert war. Es würde eine Weile dauern, bis sie sich wieder beruhigen konnte, also versuchte er erst gar nicht, tröstende Worte zu finden, sondern geleitete sie auf direkten Wege zurück zum Lager in das Zelt der Dame Lydia. Die gleichmäßigen Schritte hatten Heniah zum Durchatmen gezwungen und folgedessen war sie einigermaßen ruhig geworden, als er mit ihr durch die rastende Menschenmenge gehen musste. Im Zelt angelangt, erkannte Lydia sofort, dass Heniah tief verletzt war und kam der jungen Frau entgegen. Sie nickte dem großen Krieger an ihrer Seite kurz zu und nahm sich Heniah an. Gemächlich führte sie sie zu ihrem Lager und setzte sie dort hin. „Trink erst einmal etwas Warmes, mein Kind!“, sprach sie und reichte ihr von einem frisch zubereiteten Kräutersud.

„Was ist das?“, schluchzte Heniah bevor sie daran roch.

„Ein Getränk, das ich mir gerne zubereite, wenn ich keinen Schlaf finden kann. Mach dir keine Sorgen, diese Pflanzen wirken nur entspannend und vermögen niemand zu töten.“

„Und wenn schon, das kann mir einerlei sein“, brummte Heniah und nahm den warmen Becher entgegen. Lydia lächelte versöhnlich und sah gutmütig darüber hinweg, dass die junge Frau sich nicht bei ihr bedankte.

„Wenn du magst, kann ich dir die Haare bürsten. Das beruhigt und streicht die Sorgen fort“, schlug Lydia vor und griff nach ihrer Bürste. Heniah zuckte gleichgültig mit den Schultern und nahm sich einen großen Schluck, wobei sie sich halb den Mund verbrannte.

„Langsam, langsam, nimm dir Zeit“, mahnte Lydia als sie bemerkte, wie die junge Frau schmerzhaft ihr Gesicht verzogen hatte. „Ich kann natürlich nicht wissen, wer dich zu dieser Stunde zu einem privaten Gespräch eingeladen hat, aber das Ganze sieht mir wie ein mächtiger Liebeskummer aus. Leider gibt es keine Salbe für gebrochene Herzen, allein die Zeit mag solche Wunden verheilen.“

Heniah hielt den Trinkbecher zwischen ihren Händen und wartete reglos ab, während Lydia begann, ihr Haar zu bürsten. Nach einer Weile entschied sie sich zu fragen, um die drückende Stille zu unterbrechen: „Habt ihr schon einmal geliebt?“ Die Dame der Unih überlegte einen Augenblick, was sie daraufhin antworten sollte.

„Ich denke schon, als ich noch jung war und an die große, bedingungslose Liebe glaubte.“ Heniah hob überrascht die Augenbrauen und lud sie ein: „Erzählt mir von ihm? Wer war es?“ Sie hörte Lydia leise in ihrem Rücken lachen und spürte wie die Bürste sanft durch ihr Haar glitt.

„Der Sohn eines Schreiner. Mein Vater hatte einen Handwerksmeister beauftragt, einen Raum in unserem Haus neuauszukleiden und so verbrachte der gute Mann viel Zeit bei uns. Sein Sohn war auch sein Lehrling, ich fand ihn wunderschön und kann mich noch heute genau an sein Gesicht und an seine Haare erinnern. Wir haben nie ein Wort zueinander gesprochen, doch eines Tages wurde er mit anderen Lehrlingen fortgeschickt, um sein Erfahrungen im Schreinerhandwerk in seinen Wanderjahren zu sammeln. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber ich kann mich daran erinnern, dass mir tagelang der Appetit ausgeblieben war, weil der hübsche Junge nicht mehr bei uns zu sehen war. Möglich dass es seinem Vater aufgefallen war, wie ich seinen Sohn anschmachtete und immer einen Vorwand fand, mich in ihrer Nähe aufzuhalten. Weil er sich keinen Ärger mit meinem Vater einhandeln wollte, war es ein Leichtes für ihn, seinen Sohn auf Wanderjahre zu schicken.“

Heniah versuchte sich diese Geschichte vorzustellen und musste eingestehen, dass sie etwas enttäuscht war, denn sie hätte sich von der hohen Dame eine aufregendere Geschichte ausmalen können. Lydia schien Heniahs Gedanken zu erraten und fuhr fort: „Ich war wirklich noch sehr jung im Vergleich zu Euch heute. Es ist nun einmal so, die jungen Jahre eines Mädchens sind sehr entscheidend. Damals war ich vielleicht gerade dreizehn Jahre alt, nicht viel jünger als Ihr heute, aber immerhin machen diese Jahre viel aus. Es ist nun mal so, gerade ein junges Mädchen aus einer wohlbehüteten Familie wird besonders bewacht, denn in ihr lebt der Weiterbestand des Reichtums der Familie. Glaube mir, da bleibt nicht viel Platz für Liebe oder tiefes Gefühl. Meine Welt ist so geschaffen, dass ich regelrecht keine Zeit dafür habe. Mir wurde gelernt, wie ich anderen Menschen zu gefallen habe, wie ich sie bezaubern kann, um sie meinem Willen zu unterwerfen und das zu erlangen, was meiner Familie am meisten einbringt, Gold oder Einfluss am Hof. Und wenn das Königreich eine Niederlage einbüßen muss, dann soll ich eben zusehen, wo die nächsten Reichtümer einzusammeln sind …“ Lydia hatte die Bürste niedergelegt und ließ ihre Hände ruhen, während sie nachdachte. Heniah drehte sich zu ihr und blickte sie aus ihren vom Weinen geröteten Augen an.

„Genau das hattet Ihr mit Toren vor, doch seid Ihr Euch nicht mehr so sicher, der Lage Herr zu sein.“ Lydia lächelte die junge Frau an und antwortete: „Ihr lernt schnell, mein gutes Kind. In der Tat hatte ich vor, herauszufinden, ob es am Hof vom mächtigen Toren nicht einen Platz zu erobern gäbe, doch die Dinge sind aus der Kontrolle entglitten.“

„Warum glauben wir eigentlich immer, alles kontrollieren zu müssen?“

„Vielleicht weil es unsere Eltern so beigebracht haben …“

„… dabei ist das Unkontrollierbare so unglaublich interessanter, stärker und unbeschreiblich.“

„Oh, du redest wie eine verliebte Frau! Dein Geliebter hat dir viel gegeben und dich an diesem Abend verlassen, nicht wahr?!“

Heniah war gezwungen, bestätigend zu nicken und sie fügte hinzu: „Wahrscheinlich werdet Ihr mir sagen wollen, dass es nichts Wertvolleres auf dieser Welt gibt, als wahre Liebe gekannt zu haben …“

„Seid Ihr Euch dessen so sicher? Ich meine, hat es sich um wahre Liebe gehandelt?“

Heniahs Augen füllten sich augenblicklich mit großen Tränen und sie flüsterte: „Für mich war es jedenfalls alles was ich zu empfinden fähig bin.“

„Aber nicht von seiner Seite. Im gewissen Sinne respektiert er Euch und verlangt, Euch zu verlassen, weil er Eure Gefühle nicht erwidern kann.“

„Und das soll alles sein? Gibt es nicht mehr auf dieser Welt zu erwarten?“, Heniah suchte in der Tat nach einer Antwort in Lydias Augen. Sie war eine Frau, die ihr Leben lang über unglaubliche Reichtümer verfügt hatte, während Heniah in Armut gelebt hatte, und selbst sie konnte daraufhin keine hoffnungsversprechende Antwort geben.

„Machen wir das Beste aus dem was uns zur Verfügung steht, gute Heniah. Glaubt mir, alles wird zu irgendetwas gut sein, und damit es sich zum Besten wendet, gilt es, am Leben zu bleiben. Seid Ihr nicht mehr daran bestrebt die Kinder Eures Königs wiederzufinden und Ihnen zur Seite zu stehen, wenn sie heranwachsen und sich ihren Aufgaben stellen müssen? Ihr seid die Zofe von zwei zukünftigen Herrschern, das will schon was heißen.“

„Glaubt Ihr wirklich daran, dass Cethis und Brimon eines Tages wieder heimkehren werden?“

„Ich hoffe es inständig … ohne ihre Wiederkehr gebe ich nicht viel auf mein eigenes Überleben am Hofe der Brimônen.“

Heniah nickte einverstanden und zog es vor zu schweigen. In der Tat saßen sie alle beide wie in einer Falle und konnten einander nur behilflich sein. Sie war froh, in der Nähe von der Dame Lydia sein zu dürfen, denn ohne ihre tröstenden Worte hätte sie in dieser Nacht wohl kaum die nötige Kraft gefunden, an eine lebenswerte Zukunft zu denken.

 

Nahezu alles Männer ruhten so gut wie sie konnten von ihrem kräfteraubenden Ritt aus den Land der Unih hinaus und so mancher fühlte sich beinahe geborgen im Schatten der Bäume von Ravan. Obdaro allerdings gehörte zu jenen, die keine Ruhe finden konnten und suchte den Hexer Ewellent tief im Wald auf. Er fand ihn unter einer uralten Eiche sitzend auf seinem Stab gelehnt, sinnierend und einsam.

„So habt Ihr Euch entschieden, im Schatten von Toren durch Ravan zu reisen“, begann Obdaro ein Gespräch, während er auf leisen Sohlen zu ihm trat. Er vermochte Ewellents Bart im Dunkeln zu erkennen und sah seine Augen glitzern, doch der Rest seines Gesichts blieb im Schatten verborgen.

„Obaro, einer der wenigen Männer der Unih, der es vesteht, mir lautlos zu folgen. Dabei darf ich nicht vergessen, dass Ihr eigentlich gar nicht zu diesen Barbaren gehört. Einst entkommen aus einer alten Gesellschaft eines fremden Landes bis heute daraufhin erpicht, das Gute im Menschen zu bewahren, wo jeder Tag von Mord und Todschlag bestimmt ist“, sprach Ewellent und Obdaro setzte sich ihm gegenüber im Schneidersitz auf die Erde.

„Es freut mich, noch einmal mit Euch sprechen zu können, doch seid Ihr sicher, dass der Moment, den Hof Torens zu verlassen, gut gewählt war?“

„Es bleibt mir keine andere Wahl. Den Kindern muss geholfen werden, bevor es zu spät ist. Sie dürfen sich nicht zu lange in Gebieten aufhalten, die ein menschliches Wesen kaum erfassen kann.“

„Eines Tages werde ich vielleicht einen Bruchteil von dem begreifen, was Ihr mir habt mitteilen wollen. Warum habt Ihr von Heniah Abschied genommen? Es bricht das Herz der jungen Frau …“

„Allerdings, doch es ist nichts Gutes für ein kluges Erdenkind, das Bild einer Fantasie zu lieben. Ich bin wahrhaftig nicht der, den sie zu kennen glaubt. Vielleicht war mein Eingreifen in ihr Leben ohnehin nur geleitet von meiner egoistischen Lust, wieder einmal das Verlangen eines Jünglings in meinen Lenden zu spüren.“

„Sie liebt ein Bild, sagt Ihr, doch wer seid Ihr in Wirklichkeit?“

Kaum hatte Obdaro diese Worte ausgesprochen verwandelte sich Ewellents Erscheinung. Was er als erstes wahrnehmen konnte, war ein Geruch von altem Moder, wie aus einem vergessenen Kerker und dann erblickte er im Mondlicht die abscheuliche Gestalt des uralten Hexers, der sich mit abgemagerten Händen verkrampft an seinem Stab festhielt. Seine Hände glichen den Knochen eines Skelettes, seine Augen blitzten weiß und sein wirres Haar umhüllte ihn wie alter Staub. Selbst wenn Obdaro zu den Menschen gehörte, die ihre Gefühle kontrollieren konnten, schreckte der tapfere Mann unwillkürlich vor dem Abbild des alten Wesens vor sich, zurück und hatte Mühe, sich zu sammeln.

„Meine Zeit ist bald abgelaufen, werter Obdaro. Und es ist mir eine Ehre, noch einmal an so einem Abenteuer teilhaben zu dürfen. Glaube mir, ich werde alles, was in meiner Macht steht, dransetzten und den Kindern bei der Heimkehr behilflich sein, doch dazu brauch ich die Ruhe und die Kraft des Waldes. Mit etwas Glück kann ich auf die Hilfe von alten Freunden zählen. Doch deine Aufgabe besteht darin, dem finsteren König beiseite zu stehen und das Schlimmste zu verhindern. Dem Land der Bridônen bestehen dunkle Zeiten bevor, die Ewigkeit Ravans hängt nicht nur von den Entscheidungen der Mächtigen ab, daher werde ich alles geben, was ich kann, um Cethis und Brimon zu helfen.“

Obdaro hielt Ewellents Blick stand und verstand nun, was es mit seinem merkwürdigen Kommen und Gehen in dieser Geschichte auf sich hatte. Er wusste, dass Ewellent gehen musste und dass er seine Rolle zu Ende spielen würde.

„Ich danke Euch dafür, bei uns gewesen zu sein. Eines Tages werden Lieder gesungen werden, in denen Strophen von Euren Taten berichten. Ich wünschte, ein besserer Freund für Euch gewesen zu sein“, sprach Obdaro langsam und Ewellent neigte sein Haupt kurz zum Dank.

„Ich hätte mir keinen besseren Freund wünschen können! Geht in Frieden!“ Mit diesen Worten wusste Obdaro, dass er Abschied nehmen musste. Er erhob sich langsam und trat ein paar Schritte rückwärts von dem alten Hexenmeister, bevor er sich tief und lange verbeugte. Er glaubte die Essenz des Waldes in seinem Duft vernehmen zu können, uralt und unbegreiflich. Er hatte sich selbst von seiner Erscheinung täuschen lassen und konnte jetzt nur noch bescheide Ehrfurcht und Respekt empfinden. Ein Wesen aus einer vergangenen Zeit, welches seine eigene menschliche Existenz aufgegeben hatte, um den Leuten aus den verschiedenen Epochen beizustehen. Ewellents Zeit war bemessen, wie jede Existenz, doch sein Wissen und seine Kenntnisse sollten vielleicht ein paar Menschen dazu verhelfen, ihren Weg auf dieser Welt zu gehen. Allerdings konnte ein Mann wie Obdaro ihm dabei nicht beistehen. Seine Pflicht trug ihn zurück zu Toren, seinem Hof und all jenen, die damit verbunden waren.

 

4. Kapitel - Ethleb

Ethleb

 

Und der Rote sprach:

Vertraue nie in ein Bild,

welches Menschen benutzen,

denn sie verbergen ihre Lügen dahinter!

 

 

Die unzählbaren Sterne übersäten den Himmel, perfektes Schwarz mit strahlenden Punkten, unfassbarer Tiefe und wahrhaftige Ruhe. Den Nachthimmel so zu sehen war ihr noch nie möglich gewesen, denn von den Orten, die sie bisher gekannt hatte, konnte sie nur einen geringen Teil des Himmels sehen. Wie jedes andere Wesen eigentlich auch, wahrscheinlich hatte sie nie zuvor die Sterne mit solcher Genauigkeit betrachtet, doch jetzt konnte sie nur das sehen, nichts anderes und ihr war klar, dass sie sich irgendwo befand, wo sie den Sternen nicht näher sein konnte. Es war, als würde sie mitten drin sein und sie genoss diesen Anblick von wahrhaftiger Schönheit. Sie fühlte sich etwa so, wie aus einem tiefen Schlaf gerüttelt, wenn sie erschöpft war, sich zur Ruhe geweigert hatte und dennoch eingeschlafen war. Oder jenes Gefühl wie in einem Fiebertraum, wenn sie das Verhältnis für Oben und Unten verlor, sie sich in einem Raum befand, dessen Säulen bis ins Unendliche wuchsen und sie davon träumte, ein Fenster zu öffnen, um die frische Luft des Nachthimmels atmen zu können. Sobald sie erwachte, stand sie mit wackeligen Füssen auf und ging zum Fenster, streckte sich zum Griff und schob die Flügel auseinander, um hinauf zu blicken, dort wo die Sterne strahlten. Und jetzt war sie hier und konnte ihren Blick nicht abwenden. Hinter ihr nahm sie Lichter wahr, soweit sie sagen konnte, was vorne und hinten war, denn an diesem Ort erschienen Definitionen wie oben und unten, vorne und hinten unwirklich. Sie befürchtete, dass die Lichter verschwinden würden, wenn sie in die Richtung blickte, behielt also starr die Sterne im Blick und beobachtete das Zucken von Rot und Blau aus ihrem Blickwinkel. Sie war nicht allein, sie nannte sich Cethis, sie war mit ihrem Bruder hier hergekommen und nun bemüht, bei klarem Sinn zu bleiben. Sie befand sich an einem Ort, der einem Fiebertraum sehr ähnlich kam, nur spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie nicht schlief und alles seine Realität hatte. In diesem Moment erinnerte sie sich, dass sie ihren Bruder dazu überredet hatte, ihr zu folgen, denn sie hatte vergessene Gänge tief in den Bergen erforschen wollen. Folgedessen musste sie an Valroux denken, die Unih, das pompöse Konzert mit all den fein gekleideten Menschen, zwischen denen sie sich nicht wohlgefühlt hatte. Sie erinnerte sich an Heniah, die mit einem großen jungen Mann sprach. Etwas stimmte nicht mit diesem Mann, denn seine offensichtliche Schönheit verbarg sein altes Wissen, doch als Cethis ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war er damit beschäftigt, ihre Zofe zu verführen. Ein anderes Bild drängte sich in ihr Gedächtnis, eine Erinnerung aus dem Wald Ravan, in dem sie ihn mit einer anderen Frau erkannte. Cethis selbst war im Dickicht verborgen gewesen, ihr Bruder war bei ihr, andere Wesen waren da. Wesen aus ihrem Land, die meistens vor den Augen anderer Menschen verborgen blieben. Unzählige Erinnerungen purzelten in ihrem Kopf durcheinander und sie musste tief durchatmen. Sie führte ihre Hände zu ihren Schläfen, ihre Finger waren rau, war sie allein hier? Warum war alles durcheinander geraten? Die roten und blauen Lichter zuckten heftig und unregelmäßig, sie versuchte, einen Laut zu vernehmen, denn diese unglaubliche Stille bedrückte sie. Im Wald und sonst irgendwo konnten ihre Ohren immer etwas hören, selbst wenn es still war. Blitze waren normalerweise mit Donner verbunden, doch so nahe bei den Sternen schien alles völlig anders zu sein. Langsam wandte sie ihren Kopf zur rechten Seite, denn sie glaubte, dort etwas erkannt zu haben, ein Bild wie von einem Nebel verborgen, unscharf und düster. Wenn sie genauer hinschaute, kam es ihr vor, als würden sich feine Formen abzeichnen, kleine Wesen, die sich bewegten, eine dunkle Masse von vielen Individuen. Im Nebel breitete sich ein ovales Loch, das Cethis ein Bild von einem kämpfenden Heer zeigte. Sie sah die Krieger in ihren dunklen Rüstungen wie ein Vogel, der seine Kreise hoch im Himmel zog und die Menschen beobachtete. Mitten im Gedränge erkannte sie eine Gestalt, die sich besonders gut schlug, die Kämpfenden griffen sie an, wurden ihr allerdings nicht Herr. Die Rote behielt ihren Vorteil, denn sie bewegte sich schneller, schien unermüdlich zu sein und erkannte mit jedem Schlag den nächststehenden Angreifer. Cethis runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf dieses stumme Bild, welches sich vor ihren Augen abspielte. Sie erkannte die Rote als eine Kriegerin, alles war rot an ihr, ihre Haare, ihre Haut, ihre Augen, ihres Rüstung und ihre Waffen.

„So bist du also in der Lage, Bilder aus der Zukunft zu betrachten! Jetzt wundert es mich nicht mehr, dass du den Waldgeistern aus Ravan begegnet bist und sie dir gut gesinnt sind.“

Eine tiefe melodische Stimme hallte in Cethis Kopf wieder und sie erinnerte sich an ihre Begegnung mit dem blauen Drachen in den verlassenen unterirdischen Gängen vom Gebirge Ovon. Sie drehte sich rasch um und ward sich klar, dass es unmöglich war, die Richtung einer Stimme ausfindig zu machen, wenn man die Stimme im eigenen Kopf gehört hatte.

„Wer bist du?“

„Wer bist du? Wer bin ich? Wo sind wir denn? Wo ist dein Bruder und wie bist du hier hergekommen? Ach, du junges Menschenkind ermüdest mich jetzt schon mit deinen unzähligen Fragen.“

„Ich wollte nicht hier her kommen!“

„Nein? Was tust du dann hier?“

„Ich will wieder nach Hause!“

„Nach Hause, in den Wald von Ravan, und wie stellst du dir das vor? Du weißt nicht einmal wo du bist, wie willst du denn deinen Weg zurück finden!“

„Weil du mich und meinen Bruder dorthin bringen kannst!“ Cehtis spürte ihren Zorn heiß in ihrem Herzen brennen, denn sie konnte nichts außer der Sterne erkennen und ärgerte sich darüber, dass das Bild der Kämpfenden wieder hinter den Nebelwolken verschwand. „Du bist ein Drache, ich kenne deine Stimme zwar nicht, aber der blaue Drache Kahhon hat genau wie du in meinem Kopf mit mir gesprochen und meinen Bruder und mich aus der Höhle fortgetragen. Jetzt bin ich hier und will wieder fort, denn ich habe hier nichts verloren.“

„In der Tat, denn hier ist nicht deine Welt. Die meisten Menschen werden verrückt, wenn sie einem wahrhaftigen Drachen begegnen, ihre engen Sinne sind nicht dafür geschaffen, unser Wesen zu erfassen. Sie erzählen sich Geschichten von Drachen, die wie große Eidechsen mit Flügeln schwerfällig im Himmel fliegen und Feuer auf ihre Städte oder Felder spucken. Solche dummen Geschichten können sich nur Menschen ausdenken, damit sie ihren erbärmlichen Ängsten Form verleihen können, sich beklagen können. Mir sind noch keine anderen Wesen im Universum begegnet, die sich so gerne und viel beklagen wie Menschen, sie bemitleiden sich selbst am liebsten und verlangen von Ihresgleichen Hilfe. Ich habe Menschen noch nie begriffen, aus diesem Grunde war ich außer mir vor Wut, dass mir mein Bruder zwei von euch hier her gebracht hatte. Aber meine Wut ist nun vorbei und ich habe ihm eine gehörige Lektion erteilt. Sobald er seine Wunden geleckt hat, kann er wieder in sein Reich zurückkehren und seine Kristalle bewachen. Er liebt das Gestein der Erde und ist zum Hüter der Mineralien dieses Planeten geworden.“

Mit diesen Worten erkannte Cethis wie sich allmählich ein riesiges Drachengesicht zwischen den Sternen abzeichnete, dann erkannte sie seine Pranken, die er lässig übereinandergelegt hatte und sie neugierig aus seinen glutroten Augen beobachtete. Sein gesamtes Wesen schien aus flüssigen Stein und Feuer zu bestehen und jedes Element an ihm schimmerte unruhig wie heiße Luft

„Wenn dein Bruder Kahhon wieder zurückkehrt, kann er uns doch mitnehmen!“, wagte es Cethis zu verlangen.

„Du willst zurück unter die Berge? Wer sagt dir, dass Kahhon Lust hat, dir da wieder rauszuhelfen, nachdem du ihm die heftige Tracht Prügel eingebracht hast, die ich ihm gegeben habe?“

„Wozu hast du dich denn auch mit ihm gestritten? Du bist sein Bruder, ich schlage mich nie mit meinem Bruder!“

Der Drache legte seinen Kopf über seine Klauen und schien zu überlegen. Jetzt erkannte Cethis den blauen Kahhon, der sich im Hintergrund seine Wunden leckte.

„Wir haben uns schon immer bekämpft und gestritten, ebenso wie unser Schöpfer.“

Cethis Herz begann mit einem Mal heftig zu schlagen, aber nicht vor Angst, sondern eher vor Freude, wie wenn ein Lehrer eine Frage formulierte und sie schon die Antwort kannte.

„Du nennst dich Ethleb und es war Grimmynsar, der dich erschaffen hat! Ebenso Kahhon und wo ist Rilbanfil? Gibt es den auch noch?“

Der Drache richtete sich empört auf.

„Wieso die dumme Frage? Glaubt ihr Menschen eigentlich, wir wären ausgestorben?“

„Nein, die meisten glauben, dass es euch nie gegeben hat, weil sie euch sowieso nicht verstehen. Das hast du selbst gesagt und das wundert mich auch gar nicht. Sie glauben nicht einmal an die wahrhaftigen Bewohner Ravans, obgleich die ganz dicht beieinander leben und sie ständig beobachten.“

„In der Tat sind Menschen dümmer als ich dachte. Ihre Könige sind daran schuld, sie wollen immer mehr Menschen in ihren Städten, damit sie mehr Gold anhäufen und mehr Königreiche überfallen können. Doch dafür brauchen sie möglichst viele dumme Menschen, die ihnen bedingungslos gehorchen.“

„Für einen Drachen, der in den Sternen lebt, kennst du dich gut mit unsereins aus!“, stellte Cethis fest und blickte sich um, denn sie fragte sich, ob es nicht irgendwo etwas gäbe, worauf sie es sich bequem machen könnte. Doch die Umgebung unter ihren Füssen erschien konfus und unwirklich wie in einem Albtraum, dass sie sich lieber weiter auf das Drachengesicht konzentrierte.

„Belil hat mir von Menschen erzählt. Er begegnet vielen, denn er ist mit dem Licht der Sonne verbunden und wandert gerne durch die Flüsse der Welt. Wenn ich zurückkehre, halte ich mich in meinem Element auf und in der flüssigen Lava gibt es keine Menschen.“

Cethis entschied sich, vorläufig nicht um ihre Rückkehr zu betteln, aber das Gespräch mit diesem Wesen am Leben zu halten. Also wechselte sie das Thema und fragte: „Was habe ich dort in dem runden Nebelbild gesehen?“

„Was hast du denn gesehen?“

Cethis seufzte enttäuscht, erklärte aber bereitwillig: „Eine Schlacht mit unzähligen von dunklen Kriegern und mittendrin eine rote Kämpferin, die ihren Feinden große Schwierigkeiten bereitete.“

„Interessant nicht wahr?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: „Es ist keine gute Sache, in einem Schlachtfeld alle Blicke auf sich zu ziehen. Die rote Farbe sieht man von Weitem und sie ist ein leichtes Ziel.“

„Gewöhne es dir an, jede Weisheit und jeden Ratschlag von Menschen zu hinterfragen und zu bezweifeln. Es gibt keine absolute Wahrheit und schon gar nicht solche, die von Menschen geschaffen wurden. Und lerne, alles Außergewöhnliche wach in deinem Gedächtnis zu behalten, damit es nicht in der Langenweile des alltäglichen Lebens verloren geht. Wie du und dein Bruder zurückfinden werdet, kann ich jetzt noch nicht sagen, denn dazu brauche ich die Hilfe anderer.“

Jetzt war Cethis Geduld endgültig am Ende und sie schrie erbost auf: „Was für Hilfe braucht denn ein Wesen wie du? Das kann doch nicht wahr sein! Wozu all die Macht und Großartigkeit, wenn du uns nicht einmal zurückbringen kannst?“

„Ihr seid eben zu klein! Aber mach dir keine Sorgen, mit etwas Glück werden sich welche an euch erinnern und vielleicht helfen.“

Das Mädchen musste sich setzten und ließ sich nieder, sie konnte nicht begreifen, wo sie war, sie zog die Beine an, schlang ihre Arme darum und stützte ihren Kopf auf die Knie ab. Sie hatte schon oft geweint, weil sie sich allein und verlassen gefühlt hatte, doch sie verbat es sich, in Tränen auszubrechen. Ihr blieb nichts anderes übrig als ihrer Verzweiflung zu trotzen und abzuwarten.

„Wenn ich mal im Heer meines Vaters kämpfe, werde ich mich nicht mit Rot ausrüsten“, brummte sie und schloss die Augen, denn sie wollte den Drachen für einen Moment nicht mehr sehen.

Und Ethleb ließ sie warten, in perfekter Ruhe sollten sich die wirren Gedanken des Mädchens setzten, beinahe so wie aufgewühlter Sand im trüben Wasser. Wenn Ruhe wirken kann, tritt Klarheit auf.

„So ist das nun mal, wenn man nur wenige Jahre zur Verfügung hat und sich mit Fragen auseinandersetzt, die viel Zeit in Anspruch nehmen“, sprach der Drach mit ruhiger Stimme.

„Manche Menschen machen es gar nicht so falsch, denn sie beobachten die Natur, die sie umgibt und lernen alles was sie brauchen. Jedes Blatt an einem Baum führt seine Aufgabe aus, es lässt den Baum atmen und ernährt ihn, am Ende seines Lebens kehrt es zurück zur Erde, um seine Wurzeln zu ernähren. Tiere und Pflanzen stellen sich nie die Frage, ob das was sie tun, einen Sinn hat, sie sind der Sinn. Verzweiflung ist eine Erfindung der Menschen, sie sperren ihre Gedanken und Gefühle in wenige Worte ein, sagen sich gegenseitig, alles zu wissen und pflegen ihre Ängste. Nichts ist interessanter für einen mächtigen König, um eine Armee in den Krieg zu schicken oder massenhaft Leute dazu zu zwingen beengt in Städten zu leben.“

Cethis hob ihren Kopf auf und blinzelte in das mächtige Drachengesicht.

„Mein Vater hat in der Natur gelebt, die Familie meiner Mutter lebt noch immer in Ravan.“

„Genau, warum ist er denn König geworden? Er hätte sich weigern können! Hat er geglaubt, jemand brauche ihn, nachdem seine Brüder umgekommen sind? Was hätte schon schiefgehen können? Aber nein, das stolze Herz eines Menschen konnte nicht wirklich wiederstehen und so hat er sich geopfert, König zu werden. Auf diese Weise kann er mit ruhigen Gewissen grausem sein und Entscheidungen treffen, die alle mächtigen Herrschaften treffen, wenn sie sich für andere Menschenmassen verantwortlich fühlen.“

„Viele Anwohner in Haguz Bri-las sind schwach und könnten in der Natur nicht überleben, sie brauchen den Schutz der Stadt“, murmelte Cethis, denn sie hatte das nicht nur in ihren Unterrichtsstunden gelernt, sonder auch mit eigenen Augen gesehen. Der Drache legte wieder seinen Kopf auf seine Vorderpranken und schnaufte ärgerlich.

„Ich weiß, die Fragen der Menschen sind komplex, und ich komme aus einem anderen Zeitalter. Meine Schöpfer lebten auch mit vielen unbeantworteten Fragen und vielleicht liegt der Ursprung der Unruhe in den Köpfen der Menschen dort. Mach dir keine Sorgen, Prinzessin, du wirst deinen Weg schon finden. Immerhin bist du zwei Drachen begegnet und hast dich mit ihnen unterhalten. Ich rate dir, dich ein wenig auszuruhen, ebenso wie dein Bruder. Alles kommt zu seiner Zeit. Eines Tages wird euch sicherlich der Geist eurer Mutter wieder begegnen, aus diesem Grunde seit ihr beide zu uns gekommen, nicht wahr?“ Das Mädchen nickte stumm, denn genauso war es. Auf der Reise durch das Land der Unih hatte sie einen Kristall gefunden. Sie hatte diesen verborgen gehalten und heimlich den Hexenmeister um Rat und Erklärung gefragt. Dieser hatte ihr geraten, nach rosafarbenen Steinen zu suchen, welche wie die Liebe einer Mutter wirken würden. Als sie begriffen hatte, dass die Unih in ihren Mienen nach Steinen gegraben hatten, konnte sie ihre Neugierde nicht mehr beherrschen und wollte selbst in die unterirdischen Gänge der Berge gehen. Sie war unwissend, doch die Erwachsenen waren immer mit etwas beschäftigt, was gerade wichtiger war. Nie hätte ihr Vater sich Zeit genommen, nach bunten Steinen zu forschen. Der Drache hatte völlig Recht, die Ideen der Menschen mit ihren Kriegen, ihrer Politik, ihren Sorgen, wie sie das Volk im bevorstehenden Winter ernähren konnten und all die unzähligen langweiligen Regeln und Probleme eines Menschenleben, ließen für die Weisheit der Natur keinen Platz.

Sie beobachtete, wie sich der lange, rotglühende Körper der Drachen wand und hinter seinen Wendungen und Schlingen den schlafenden Brimon freigab. Cethis Bruder lag ruhig zusammengerollt wie eine Katze umgeben von der schützenden Wärme Ethlebs und schlief einen seligen, tiefen Schlaf. Sie beneidete ihn um seine Ruhe, Brimon stellte sich viel weniger Fragen als sie und vertraute in sein Leben. Er war ein Junge, sie war ein Mädchen und in ihrem Herzen brannten all die unausgesprochenen Ungerechtigkeiten, die Menschen einem Weibchen gegenüber nun einmal reservierten. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, Schlaf zu finden, also ließ sie ihren Blick über die zahllosen Sterne schweifen. Jedenfalls war sie sich sicher, diesen Moment in der Gegenwart des Drachens nie zu vergessen.

Impressum

Texte: Stephanie Berth
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Chroniken von Ravan widme ich allen Freunden des Waldes, der Natur und den Wundern, welche unsere Erde uns schenken mag. Es gab eine Zeit, in der jeder Mensch auf die Veränderungen der Elemente Acht geben musste, um sein Leben zu ermöglichen. Wahrscheinlich ist die Natur zu stark und es kam dazu, dass Leute sie vergessen wollten und ihre künstlich erdachten Lebensweisen für wichtiger hielten. Allerdings spielt es keine Rolle, ob das Wahrhaftige hinter Maskeraden versteckt sein soll – es findet dennoch statt. Und in solchen Gebieten spielen sich Geschichten ab, die ich heute erzählen möchte.

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