Cover

Anfang


 

Jede Geschichte beginnt mitten im Leben,
meistens dann, wenn niemand sie erwartet.
Nimm dich in Acht, mein Kind,
denn es gibt solche, welche die Wahrheit sagen.

 

 

Wind zerrte an den Bäumen von Ravan. Donnern im pechschwarzen Himmel ließ die mächtigen Wände der Burgstadt Haguz Bri-las in ihren Fundamenten erschüttern. Das Volk der Bridônen erhoffte sich im Inneren der Mauern seit Jahrhunderten Schutz, allerdings in dieser Nacht vermochte kein Einwohner die Augen zu schließen und friedliche Ruhe zu finden. Erbarmungslos tobte die Natur ihre Kräfte über den Wipfeln Ravans aus und der Wald glich einem tosenden Meer.

 Zwölf Reiter hetzten ihre Pferde im kopflosen Galopp über die Wege. Keiner der Männer hatte je so ein Unwetter in Ravan erlebt. Das panische Wiehern der Rösser ging im Tosen der Winde unter. Die gebeutelten Baumstämme ächzten und es schien als würden sie unter entsetzlichen Qualen zu schreien. Jeder Befehl oder Ruf war sinnlos, denn die Stimmen der Männer wurden vom ungebärdigen Sturm im Mund zerdrückt. Drei Tage lang waren die Reiter bereits unterwegs und das Wetter hatte sich zunehmend verschlechtert. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, doch ihre Reise konnte kein klareres Ziel haben: die gefallene Königin so rasch wie möglich zurück in ihre Burg zu bringen.    Ob dort eine Rettung ihres Lebens zu erhoffen war, blieb zweifelhaft. Doch es ward so entschieden worden, denn die Heiler und Chirurgen im Lager der königlichen Armee wollten die Verantwortung nicht übernehmen, die Königin unter ihren Händen sterben zu sehen. Hilfe und Schutz an Tagen wie solchen im Wald zu erhoffen, war zwecklos, und ein Befehl war ein Befehl.

 

 Die Kämpfe gegen die Unih trugen sich an der Front ohne Unterlass aus. Der König konnte die Sicherheit seiner Gemahlin in solcher unmittelbaren Nähe des Feindes nicht gewähren. Und alte Traditionen zwangen die mächtigsten Männer zu absurden Entscheidungen. Die Abordnung der Reiter war gesandt worden, um die schwerverletzte Loris zurück nach Haguz Bri-las zu schleppen. Zwei Pferde waren bereits gestürzt und was aus den Männern geworden war, wusste niemand. Weder Fackel noch Lampe konnten diesem Wetter standhalten, die Männer waren gezwungen in der wilden Finsternis weiterzureiten und ihre Pferde hart anzutreiben. Die Wipfel der Bäume wirbelten hoch über ihren Köpfen in einem irrsinnigen Tanz, das Brausen des Sturms war begleitet vom unablässigen Ächzen und Krachen der Äste und Stämme. Mit einem verhängnisvollen Bersten stürzten Bäume über den Weg und begruben die vorderen Reiter unter sich. Der Befehlshabende der Gruppe zerrte verzweifelt am Zügel seines Rosses und zwang es dazu, nicht auszubrechen. Er brüllte und fluchte vor Angst und Schrecken. Es war unmöglich abzuschätzen, wer von den Begleitern ihrer wertvollen Fracht diesen gefährlichen Weg überleben würde.

 „Das ist der Untergang der Welt!“, hörte er seine eigene Stimme wie fremd in seinem Kopf. Die Außenwelt tobte so laut, dass die anderen seine Worte nicht hören konnten. Er wandte sich zu denen, die an seiner Seite ritten und jenen die hinter ihm waren. Mehr als vier Schatten konnte er nicht erkennen. Wo waren die anderen? Die Königin musste noch im Sattel von einem der Männer gehalten werden. Sie waren gezwungen, umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen. Insgeheim zählten die Männer auf den siebten Sinn ihrer Reittiere und das sie sich endlich nah genug an der Burgstadt befanden. Die Pferde würden hoffentlich trotz der üblen Finsternis und dem chaotischen Sturm den Weg zurück in ihre schützenden Stallungen finden.

 

 Dieser apokalyptische Sturm hielt seit Tagen an. Es hatten sich schwarze Wolken am helllichten Tag im Osten gesammelt, drohendes Grollen und peitschende Blitze waren die Vorboten des ungeheuerlichen Unwetters gewesen. Die Prinzessin Céthis hatte diesen Ablauf vom Turmfenster aus beobachtet, bis Kammerfrauen gekommen waren und sie in ihr Gemach allerhand Geschosse tiefer begleitet hatten. Dort hatte sie gewartet und wie gebannt das tobende Wetter hinter den verschlossenen Fenstern verfolgt. Das siebenjährige Mädchen betrachtete aus großen blauen Augen das Funkeln der Blitze hinter den farbigen Glasscheiben. Es war ihre Mutter gewesen, die es veranlasst hatte, im Wohnsitz ihrer Familie die Fenster mit bunten Scheiben zu versehen. Ein Wissen, welches sie von ihrem Clan mitgebracht hatte und in den letzten Jahren zu einer großen Mode wohlhabender Familien geworden war. Céthis überlegte, welche Magie in diesem durchsichtigen Material wohl stecken mochte, weil viele Menschen so geheimnisvoll von den Fenstern der Königin sprachen. Andere verabscheuten diese Erneuerung und sagte, die Königin würde zu viel Geld für fremdes Zeug aus Ravan ausgeben. Céthis verzog spöttisch ihren Mund und dachte, von welchen Dummköpfen sie doch umgeben war, Ravan war ihr eigenes Land. Sie konnten stolz auf ihre Wunder sein. Allerdings hatte die Prinzessin bereits in ihren jungen Jahren begriffen, dass ihre Eltern wohl Herrscher über Ravan waren, die Bridônen bewohnten Haguz Bri-las, während andere Menschen im Wald lebten. Loris war dort geboren, fühlte sich aber nicht mit den Bridônen verbunden. Das Mädchen schluckte mühsam und verdrängte die Tatsache, dass es sehr durstig war. Ihre vollen Lippen, die stets ein wenig provokant und schmollend unter ihren aufmerksamen Augen prangten, waren rau und spröde von der langen Wartezeit. Sie hatte sich in den letzten Tagen geweigert, jede Pflege von den Kammerfrauen anzunehmen und war in den Turm am Ostwinkel des Schlosses geflüchtet. Von dort konnte sie den Verlauf des Wetters besonders gut sehen, aber ihr war von selbst klargeworden, wie gefährlich es war, dort weiter auszuharren, wobei sie ein untrügliches Schwanken und Beben in den steinernen Wänden vernehmen konnte.  Der Turm konnte jeden Augenblick von einem Blitz getroffen werden. Céthis wollte sich einreden, dass sie keine Angst vor dem Tod habe, aber sie wartete darauf, dass dieses Unwetter endlich zu Ende ginge. Wenn dieser Turm stürzen sollte, wollte sie mit ihm fallen, denn sie glaubte nicht mehr an die Rückkehr ihrer Mutter.

 Doch man hatte sie geholt und nun saß sie auf ihrem großen Bett, ihre Beine reichten nicht bis auf dem Boden, die schweren Vorhänge des hohen Betthimmels waren beiseitegeschoben und nachlässig mit einem dicken Strang aus geflochtener Seide festgebunden. Im Winter diente diese Einrichtung dafür, die Wärme um die Schlafende zu halten, doch darum kümmerte sich an Abenden wie dieser niemand mehr. Céthis war froh darüber, dass die Kammerfrauen sie endlich in Ruhe ließen. Sie wollten keinen von diesen falschen Personen sehen. Als das königliche Elternpaar den Hof verlassen hatte und ein paar Abgeordnete für die Verwaltung bestimmt worden waren, verliefen zunächst die Tage diszipliniert den strengen Protokollen folgend. Doch der Krieg hatte sich in die Länge gezogen und die ursprüngliche Euphorie und Zuversicht waren zunehmend verlaufen. Posten blieben mit einem Mal unbesetzt und die Leute trafen sich in Gruppen an unvermuteten Ecken des Schlosses und tuschelten. Cethis hasste die bösen Wörter der feigen Menschen und wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

 

 Während die Prinzessin weiter auf die blinkenden Fensterscheiben starrte und ein Gedanke den anderen jagte, wurde plötzlich die schwere Tür zu ihrem Gemach mühsam aufgeschoben. Das Mädchen schreckte aus ihrer Starrheit auf und versuchte ihre Müdigkeit wegzublinzeln. Sie hatte es zu lange versäumt, zu zwinkern und merkte jetzt, dass ihre Augäpfel schmerzten. Unwillkürlich stiegen Tränen in ihre Augen und verschleierten ihren Blick, doch sie erkannte die Silhouette ihres Bruders. Brimon ähnelte seiner Schwester auf die einzigartige Weise eines Zwillingsbruders, die beiden Geschwister standen in Körpergröße einander um nichts nach und aus ihren aufmerksamen graublauen Augen blitzte dieselbe Wissbegierde, gefärbt von einem leichten Hauch des Misstrauens gegenüber anderer Menschen.

 Behutsam schob Brimon die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor, um sicher zu gehen, mit seiner Schwester allein gelassen zu bleiben.

 „Ich kann nicht schlafen …“, sagte er leise mit eintöniger Stimme, die vom tobenden Wetter beinahe übertönt wurde. Seine Schwester erwiderte nichts und wartete schweigend bis er es sich auf dem Bett neben ihr bequem gemacht hatte.

 „Hast du geweint? Deine Augen sind nass!“, bemerkte er sofort. Céthis wischte sich mit flinken Händen über die Augen und blickte ihn forschend an.

 „Was tust du hier? Hast du etwa Angst vor dem Gewitter? Keiner von uns beiden darf Angst haben, verstehst du? Mutter und Vater sind im Krieg und wir können nur auf uns zählen“, bestimmte sie mit fester Stimme, doch Brimon ließ sich davon nicht beeindrucken.

 „So ein Unwetter habe ich noch nie erlebt! Wann wird es wohl aufhören?“, fragte er.

 „Wenn Mutter wieder da ist …“, entfuhr es Céthis, woraufhin sie sofort die Lippen aufeinanderpresste und den Kopf senkte als habe sie zu viel gesagt. Brimon kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie etwas wusste, was von größter Bedeutung war, es aber nicht aussprechen wollte.

 „Was ist mit Loris?“, fragte er und richtete sich auf. Er vertraute seiner Schwester sehr und musste mit Bedauern feststellen, dass sein Atem unwillkürlich kürzer wurde, weil er sich davor fürchtete, was Céthis zu sagen hatte.

 „Ich bin im Wald gewesen“, begann die Prinzessin zögernd, ohne den Kopf zu heben. Der Wind rüttelte an den Fenstern und sang bedrohliche Melodien im weiten Kamin am anderen Ende des Zimmers.

 „Du weißt, dass Vater es nicht mag, wenn du allein in den Wald gehst…“, sprach Brimon, um etwas zu sagen und ihr düsteres Schweigen zu unterbrechen.

 „Warum nicht, wo unsere Mutter doch ein Kind des Waldes ist? Wir haben im Wald nichts zu fürchten …“, murmelte Céthis und blickte gedankenverloren an den bebenden Fensterscheiben hoch „… und sie hätte den Wald nie verlassen dürfen!“ Brimon konnte in ihren angstgeweiteten Augen sehen, wie erdrückend ihr Geheimnis sein mochte, welches sie mit ihm teilen musste. Plötzlich machte sich in seinem Mund ein bitterer Geschmack breit, doch er wagte es sich nicht, nach etwas zu trinken zu fragen und zog es vor, abzuwarten.

 „Ich habe Brinhinda aufgesucht!“ Die Worte seiner Schwester wogen schwer wie Mühlsteine mitten im Zimmer, denn dies war die letzte Person, die eine Prinzessin in Kriegszeiten ohne Aufsicht und Schutz ihrer Eltern aufsuchen durfte.

 „Warum hast du das getan?“, flüsterte Brimon fassungslos. Céthis wandte langsam ihren Kopf in seine Richtung und blickte ihren Bruder endlich in die Augen.

 „Warum wohl? Weil ich wissen wollte, wann der Krieg vorüber sein wird.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein verhaltenes Flüstern. Brimon änderte ungeduldig seine Sitzposition.

 „Und? Was hat die Hexe dir gesagt?“

Céthis presste erneut die Lippen aufeinander, bevor sie sich endlich entschloss, weiterzusprechen:

 „Ich weiß, ich hätte Brinhinda nie aufsuchen sollen, denn alles was sie mir gesagt hat, trifft gerade ein. Aber jetzt ist es zu spät und ich trage allein schuld daran.“

 „Woran sollst du schuld sein?“

 „Sie hat mir gesagt, dass in der Nacht vor dem neuen Vollmond eine Armee schwarzer Wolken den Himmel verfinstern würde.“

 „Wann wird der nächste Vollmond sein?“, erkundigte sich Brimon.

 „Das war vorgestern.“

 „Ich habe ihn nicht gesehen …“

 „Niemand konnte ihn sehen, wegen der Wolken, du Dummkopf!“, schalte Céthis ihren Bruder, der verlegen den Mund verzog. Er wusste, wie genau es seine Schwester mit den Naturerscheinungen nahm und dass Loris ihnen beiden die Wichtigkeit des Mondkalenders hatte beibringen wollen.

 „Du kannst unmöglich die Ursache von diesem verflixten Wetter sein.“

 „Brinhinda hat mich böse ausgelacht! Das Schicksal der Bridônen sei besiegelt, der Krieg würde bald enden, so oder so, doch es sei Zeit für eine neue Königin – so ihre Worte.“

 Brimon runzelte fragend die Stirn, und seine Schwester fuhr erklärend fort: „Ich habe den Sinn dieser Sätze auch nicht sofort begriffen. Also hat die böse Frau es mir mit einfachen Worten erklärt. Eine Tochter des Waldes habe in Haguz Bri-las nichts zu suchen und noch weniger einen Platz neben dem Thron des Herrschers. Und weil ich eine unfolgsame Prinzessin sei, habe ich mir allein den Tod von Loris zuzuschreiben.“

Brimon seufzte schwer und schüttelte den Kopf.

 „Diese bösartigen Worte sind nur dazu da, dich zu verletzen, hörst du? Mutter ist nicht tot – sie fehlt uns nur.“

 „Wir sind alt genug, um ohne Mutter zu leben. Aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn eine neue Königin ihren Platz einnehmen würde …“

 Céthis Worte wurde von einem schrillen Klirren unterbrochen. Unzählige Stücke von Glasscheiben splitterten auf den Steinboden. Die Kinder schreckten auf. Der Wind hatte das größte Fenster in der Mitte aufgedrückt und die Läden klapperten haltlos im Sturm, dass die bunten Scheiben zerbrachen und zwischen den wallenden Vorhängen die Scherben wirbelten. Brimon ergriff seine Schwester bei der Hand und zerrte sie vom Bett. Rasch eilten die beiden zur Tür, schoben den Riegel beiseite und rannten über den breiten Flur zum Treppenturm. Sie hörten aufgeregte Stimmen von den unteren Geschossen und liefen auf blanken Füssen die Treppe hinunter. Brimon und Céthis gelangten an eine lange Balustrade, von der sie den Saal sehen konnten, in der normalerweise die königliche Familie ihre Speisen einnahm. Loris hatte es vorgezogen, so oft wie möglich in der Küche zu essen, wo sie liebend gerne die Zubereitung der Nahrung selbst überwachte.

 Die Geschwister sahen, wie sich Leute aus dem Gefolge zuriefen und beeilten, den anderen zu folgen. Niemand kümmerte sich um die Kinder.

 „Komm! Wir sehen, was los ist!“, sagte Brimon zu seiner Schwester. Beide trugen sie die Kleidung, die sie seit Tagen nicht abgelegt hatten. Er trug seine ledernen schwarzen Reithosen und ein Hemd aus schwerer Seide. Normalerweise achtete immer jemand darauf, dass es ordnungsgemäß zugebunden war, damit die wertvollen Stickereien zur Geltung kamen. Doch dergleichen war seit Tagen nicht mehr geschehen. Céthis langes hellblaues Kleid trug am Saum die Spuren von Staub und zeugte von der Vernachlässigung der königlichen Geschwister. Ihr langes Haar war lange nicht von einer Kammerfrau gebürstet worden, aber sie machte sich daraus nichts. Mit Herzklopfen rannte sie neben ihrem Bruder runter, hinter den Leuten her, um zu sehen, was dieser Aufruhr mit sich brachte. Die Flammen der Fackeln an den Wänden tanzten unruhig und der Sturm tobte sich weiter um die Stadtburg aus. Hölzerne Gerüste ächzten müde unter dem unermüdlichen Wiegen der mächtigen Wände. Céthis und Brimon eilten zum Thronsaal, blickten rasch durch die halbgeöffnete Tür und verfolgten ihren Lauf sobald sie sicher waren, dass sie von niemand gesehen wurden. Hinter dem Saal befand sich eine riesige Halle, in der sich ohne Weiteres hundert Reiter aufhalten konnten. Von dort aus gelangte man direkt in den Hof der sieben Prinzen. Der größte Aufruhr ging von dort aus. Die Kinder hörten Pferde wiehern und Hufe auf dem Pflaster klappern. Die Banner der Familie wurden vom Sturm gepeitscht und zerrißen der Länge nach. Alle Aufmerksamkeit galt den Reitern, die ebene gerade eingetroffen waren.  Die Botschaft der geheimnisvollen Reisenden war trotz des Unwetters wie ein Lauffeuer durch die Stadt gerannt und kurz vor ihrer Ankunft am Hof gemeldet worden. Céthis warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu.

 „In die Kapelle!“, riefen Männer und die Kinder sahen die Menschen durcheinander rennen.

 „Bringt sie in die Kapelle!“

 Die Prinzessin gab Brimon zu verstehen, ihr zu folgen und huschte im tiefen Schatten der hohen Mauern entlang, um sich in die besagte Kapelle zu mogeln. Das Mädchen drängte sich zwischen den Menschen hindurch und wollte sehen, wen oder was die Männer angeschleppt hatten. Auf den Gesichtern der Anwesenden standen Besorgnis und Entsetzen geschrieben. Céthis entschloss sich, kein Antlitz mehr zu beachten und konzentrierte sich einzig auf das, was sich vor dem Altar der Kapelle abspielte. Dort wo Priester normalerweise den Göttern Opfer darboten und mit den anwesenden Gläubigen hofften, dass ihre Gebete angehört werden, hatten sich abgekämpfte Reiter gebeugt und ihre Last niedergelegt. Ein Priester war anwesend, ebenso ein Heilender, mit besorgter Miene, den Körper betrachtend. Céthis kam herangetreten, gefolgt von ihrem Bruder und erkannte das bleiche Gesicht ihrer Mutter. Loris schien zu schlafen, doch jedes Leben war aus ihren Wangen gewichen, ihre Lippen waren farblos und ihre Augenlider friedlich geschlossen. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, sie gehörte nicht mehr zu den Lebenden. Die Traditionen verlangten es, dass eine Fremde auch nach dem Tod zu den Bridônen zählen konnte, wenn sie innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las ihren ewigen Frieden fand. Céthis blickte strafend von einem Gesicht der umstehenden Männer zum anderen. Sollte sie der Weissage der verrückten Brinhinda Glauben schenken und sich denken, sie trage die Schuld am Tod ihrer Mutter? Oder waren es nicht diese blöden Männer mit ihren Befehlen, die sie der Traditionen wegen ausführen mussten, wobei Loris viel eher an einem anderen Ort hätte geheilt werden können? Stattdessen hatten sie die schwerverletzte Königin bei einem Unwetter ohne Gleichen durch den Wald geschleppt. Sie sah, wie Brimon sich dem Leichnam näherte und über Loris Gesicht beugte. Seine Hautfarbe war beinahe ebenso bleich wie die der Verstorbenen. Seine Augen schimmerten nass, doch er brach nicht in Tränen aus. Der Priester sprach zu den Umstehenden und gebot, ein paar Schritte zurück zu treten. Céthis nahm die Worte, die er aussprach nicht wahr, sie vermischten sich mit dem anhaltenden Lärm des Sturms, doch sie spürte, dass sie vorerst in Sicherheit war. Sie musste in der Nähe der toten Königin bleiben und kauerte sich neben die in vor Dreck starrenden Decken, in die man die Verletzte eingehüllt hatte. Jemand beugte sich zu ihr hinab, es war einer der Reiter, doch sie kannte seine Augen nicht.

 „Bleibt bei eurer Mutter. Sie ist im Kampf gegen die Unih gefallen. Sie war eine bemerkenswerte Schwertkämpferin“, sprach der bärtige Mann und nahm seinen Helm ab, damit die Prinzessin sein Gesicht sehen konnte.“ Céthis beobachtet eindringlich seine stockenden Bewegungen, seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen, deren Leder durch Schmutz und unermüdliche Benutzung hart geworden war.

 „Ich weiß!“, erwiderte sie mit überraschend fester Stimme. Die Umstehenden, die sie vernommen hatten, verstummten und blickten sie verwundert an. Das Mädchen ließ sich nicht verschüchtern und musterte jedes Gesicht. Sie kannte niemand von den Anwesenden und fragte sich, wo das andere Pack vom Hof war. Wahrscheinlich konnten sie nicht näher herantreten, weil die kleine Kapelle von Menschen überfüllt war.  Sie traute keinen dieser Leute, die dort standen und die Leiche ihrer Mutter betrachteten. Sogar der Priester verhielt sich zögernd und abwartend. Noch bevor Céthis sich weitere Fragen stellen konnte, drehte sie sich zu ihrer Mutter um und löste die Deckenhülle von ihren Beinen. Sie wusste, wo Loris ihre Klingen verborgen hielt und glitt mit tastenden Händen an ihren Beinkleidern hinunter. Dabei beobachtete sie, wie sich ihre Hände vom vergossenen Blut der Königin dunkel färbten. Céthis atmete bewusst flach, um den penetranten Geruch des Blutes so weit wie möglich zu vermeiden. Als sie den Schaft der Stiefel erreicht hatte, fühlte sie den harten Griff des Dolches und löste ihn aus seiner Hülle. Der dunkle Stahl wog schwer in ihrer zarten Kinderhand, sie presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich, damit niemand sofort sehen konnte, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Waffe in den Händen hielt.

 „Jetzt seid Ihr vom Blut des Krieges getauft und werdet nicht ruhen, bevor Eure Rache gestillt ist“, sprach der Reiter, der als erstes seinen Helm Céthis gegenüber abgenommen hat. Die Prinzessin blickte ihn erneut an.

 „Wie ist dein Name, Soldat?“, verlangte sie zu wissen.

 „Ich nenne mich Orgond, Majestät und es war Euer Vater, der mir die letzte Reise Eurer Mutter anvertraut hat.“ Die Prinzessin nickte und wünschte sich, allein gelassen zu werden. All diese fremden, neugierigen Menschen sollten verschwinden und aufhören, ihre Mutter anzugaffen. Sie wollte, dass ihre Mutter schön aussah, wenn sie zu ihrer letzten Ruhe begleitet wurde. All das, was um sie herum geschah, war nicht richtig.

In diesem Moment wagte der Priester, allmählich die Anwesenden zum Rücktritt zu geleiten. Orgon nickte den Männern an seiner Seite zu, Ruhe und Stärkung brauchten sie, um bei klarem Sinne zu bleiben. Die Unruhen des Krieges kosteten den Menschen viel Entbehrung, doch sie mussten dringend etwas essen, um bei Kräften zu bleiben. Orgon blickte auf die Kinder, die neben ihrer verstorbenen Mutter hockten. Die Prinzessin schien trotz ihres jungen Alters die Gefahr, die sie umgab zu spüren. Machtgierige Angehörige des Stadtrats konnten über unerwartete Mittel verfügen und den Thronfolgern Leid zufügen. Allein das war der Grund gewesen, warum der König veranlasst hatte, seine schwer verletzte Gemahlin in das Innere der regierenden Stadt bringen zu lassen. Nur innerhalb der Mauern von Haguz Bri-las blieb ihr Status als Königin bestehen und ihre Kinder behielten den Anspruch auf den Thron.

 

 Céthis fühlte sich leer und erschöpft. In ihrem Kopf herrschte eine unsägliche Leere, beinahe so als habe der stetige Sturm jedes Gefühl und sämtliche Gedanken davon gefegt. Sie konnte so tun als sei sie groß und stolz, doch die Tatsache, dass sie noch zu jung für Entscheidungen in der Welt der Erwachsenen war, wurde ihr bewusster denn je. Schlimm genug, dass selbst die Betagteren nicht wussten, was sie zu tun hatten und Angst und Unsicherheit auf ihren Gesichtern geschrieben standen.

Irgendwann erschien dieser Orgon wieder an ihrer Seite, sie hatte die Geräusche seiner schwerverdreckten Reitstiefel auf dem Steinboden der Kapelle wiedererkannt. Zwischen seinen schmutzigen Händen hielt er einen Zinkteller, auf dem ein Stück trockene Wurst und etwas abgelagertes Brot lagen. Der grobe Mann warf dem Priester einen kurzen Blick zu und entschied sich, in der Nähe der Kinder auf den Stufen vor dem Altar Platz zu nehmen. Céthis musste bedrückt feststellen, dass der Duft dieser Nahrung, ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie vermochte es nicht zu sagen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte und nahm dankbar ein Stück Brot und Wurst an. Orgon nickte verstehend und kaute ausführlich, wie er es sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte. Wenn einer langsam aß, hatte er das Gefühl, dass bisschen Nahrung würde mehr sein als in Wirklichkeit, denn in diesen Zeiten konnte niemand voraussagen, wann die nächste Mahlzeit möglich sei. Der Priester schien mit einem Mal sehr erschöpft zu sein. Er hatte die letzten Umstehenden aus der Kapelle begleitet und kam mit schlurfenden Schritten zum Altar zurück. Orgon stellte den Teller auf den Boden und kramte aus seinem Lederbeutel eine Weinflasche heraus. Céthis schaute sich den Behälter neugierig an. Mit den wertvollen Karaffen auf den Tafeln der königlichen Gelage von einst hatte dieses Ding nicht viel gemeinsam, eine unbestimmte Form aus dunklen, festen Leder, die sich wie ein lebloses Wesen unruhig zwischen den Händen seines Besitzers wandte und mit Kraftaufwand entkorkt werden musste. Orgond beobachtete das Mädchen und wartete einen Augenblick, bis sie ein paar Bissen geschluckt hatte. Schließlich kramte er einen Becher aus seinem Beutel hervor und schüttete etwas von dem Wein ein. Selbst der Priester sagte kein Wort als der Mann der Prinzessin zuerst von dem Getränk reichte.

 Céthis nahm den Becher schweigend an und roch misstrauisch daran. Das Zeug roch scharf nach gegarten Trauben und Gewürzen. Die einfachen Reisenden hatten Mittel gefunden, den Wein auf ihren Wegen trinkbar zu behalten. Als sie den Becher zu ihren Lippen fuhr, wurde ihr beinahe übel, doch sie nahm ihren Mut zusammen und ließ einen großen Schluck in den Mund laufen. Der warme Wein wirkte sofort in ihrem ungewohnten Gaumen und brannte sich in ihr Gedächtnis. Céthis blickte zu ihrem Bruder und reichte ihm den Becher. Brimon gehorchte und sie sah ihm dabei zu, wie auch er davon trank. Das Prinzenpaar verspürte zugleich den wärmenden Effekt des starken Alkohols in ihren Körpern. Die Glieder schienen sich zu entspannen und ihre Augenlieder wurden schwer. Nun war es soweit, die beiden kannten den Geschmack des Weines und ließen das fremde Getränk stumm wirken.

 „Wir werden wohl über die beiden wachen müssen …“, entschied der Priester und erhob sich schwerfällig von der hölzernen Bank. Brimon hatte den halbgeleerten Becher an den Reiter zurückgegeben, Orgond schüttete erneut davon ein, nahm selbst einen großen Schluck und reichte das Getränk dem Hüter des heiligen Ortes.

 „Ich werde hier mit meinen Männern abwechselnd Wache schieben. Solange bis der König eingeritten kommt. Ich habe nicht acht meiner Männer verloren und all die Strapazen auf mich genommen, um zur Belohnung den Kopf abgeschlagen zu bekommen“, brummte der große Mann. „Ich übernehme die erste Wache! Ihr geht und besorgt euch was zu essen, bevor euch eure Beine nicht mehr tragen können!“, wies er seinem Gefolge an. Die noch anwesenden Männer zögerten nicht lange, verbeugten sich kurz und verließen den tristen Raum.

 „Seid unbesorgt! Andere werden mit ihrem Leben bezahlen müssen und seine Majestät wird sie als abschreckendes Beispiel auf dem Marktplatz hängen lassen. Wie war doch gleich Euer Name?“

 „Orgon, Sohn von Laurmech“, gab der Angesprochene knapp zu Antwort und schnitt sich ein Stück Wurst ab.

 „Ah, ein Sohn eines Schmieds. Die Laurmech sind seit Generation für ihre Schmiedekünste bekannt, man könnte regelrecht von einer Dynastie sprechen.“ Der Priester schob wie für eine Zeremonie seine Unterarme in den auslandenden Ärmeln seiner grauen Kutte übereinander, dass man seine Hände nicht mehr sah. Céthis befürchtete, dass er darunter eine Waffe verbarg. Jedenfalls hatte die Prinzessin dieses mögliche Versteck als intelligent empfunden. Orgon war jetzt allein, sein Gefolge außer Rufweite, möglich, dass der Priester einen Plan im Schild führte. Doch sie schien sich zu täuschen, die beiden Männer unterhielten sich ruhig weiter.

 „Unnötig mir zu schmeicheln, alter Mann. Die Schmiede werden immer hochangesehen, wenn es zu Kriegszeiten kommt. Doch das hält die Einwohner von Haguz Bri-las nicht davon ab, uns wie Aussätzige außerhalb der schützenden Mauren leben zu lassen“, knurrte Orgon und zog seine Augenlider seinem Gesprächspartner gegenüber zu prüfenden Schlitzen zusammen.

 „Damit habt Ihr ganz recht. Doch frage ich mich, ob die Schmiede ihr freies Leben im Wald der Enge der Stadt nicht vorziehen? Wenn Ihr wollt, kann ich mit dem König sprechen und ihm einen hilfreichen Vorschlag unterlegen, damit Eure Familie im kommenden Winter innerhalb der Stadtmauern leben kann.“

 Orgon schüttelte abweisend den Kopf, seine Geschichte schien voller Geheimnisse zu sein und Céthis wollte die Ohren spitzen. Sie liebte Geschichten und Sagen von mutigen Menschen und deren Familien.

 „Macht, was Ihr für richtig hält, Priester. Wenn der Frieden wiederkommt, werden wir zu denen gehören, welche die Reichtümer der Steuerkassen in Waffen verwandelt haben. Alles was uns dann noch zu tun bleibt, sind wertvoll geschmückte Waffen für Paraden verwöhnter Reiche herzustellen. Wer wird sich dann noch um eine gut ausgewogene Klinge kümmern, die den Schwertarm des Kriegers nicht zu schnell ermüdet?“ 

 Céthis blickte auf die Klinge, die sie auf ihre angewinkelten Beine abgelegt hatte. Im Gegensatz zum weichen Stoff ihres Kleides wirkte diese Waffe herrlich scharf und furchteinflößend. Sie umfasste den Griff erneut mit ihrer linken Hand und biss einen weiteren Happen von ihrem Stück Brot ab. Sie kaute ebenso langsam wie der Reiter neben ihr, lange genug bis das alte Brot beinahe süß schmeckte. Wie gerne hätte sie noch zugehört und mehr über den geheimnisvollen Reiter erfahren, der mitten im Unwetter Loris heimgebracht hatte, doch sie ward mit einem Mal von einer unwiderstehlichen Müdigkeit erfasst und konnte nicht anders als sich neben ihre Mutter zu legen. Brimon tat es ihr gleich, es war den beiden unmöglich, etwas Anderes zu unternehmen als auf die Ankunft des Königs zu warten. Sie hatten endlich etwas Nahrung zu sich genommen und zum ersten Mal in ihrem Leben vom ordinären Wein der Reisenden gekostet.

 Orgon unterhielt sich weiter mit dem Priester, doch die Stimmen der beiden Männer verschwanden in ein eintöniges Murmeln, welches die Kinder in den Schlaf begleitete.

 „Wie kann es sein, dass sie niemand der Prinzen annimmt? Sie sehen beinahe so verwahrlost aus als habe man sie ebenfalls vom Schlachtfeld hierhergeschleppt“, wunderte sich der Reiter.

 „Wie ich bereits andeutete, es wird so nicht bleiben. Sobald Toren seine königlichen Funktionen wieder einnehmen wird, werden Verräter büßen müssen“, waren die letzten erklärenden Worte des Priesters, welche Céthis noch im Halbschlaf vernahm.

1. Kapitel - Toren -


 

Oh Hoher König, dein Sieg kostet dich der Schatz

deines Lebens,
selbst wenn dein Leben wie Asche im Wind verweht ist,
wird die Erde nie das vergossene Blut deiner Brüder vergessen.

 

 Die Erde des gähnenden Tals an den Ausläufern des Waldes war dunkel vom Blut der Gefallenen getränkt und aufgeweicht. Die Luft erfüllt vom Gestank der Toten und verbrannten Körpern. Toren hörte die Stimmen seiner Männer wie von einer dicken Mauer gedämpft. Das Rauschen seines Atems erfüllte seinen Kopf und er war sich in diesem Moment sicher, sein Gehör von einst verloren zu haben. Das blanke Entsetzen blitzte in den irre aufgerissenen Augen der Überlebenden auf. Das Weiß ihrer Augäpfel stach regelrecht unter ihren verbeulten Helmen und vor Dreck geschwärzten Gesichtern heraus. Toren war zu erschöpft, um etwas wie Erleichterung zu verspüren, während er die letzten Krieger der Unih abziehen sah. Ihre verdammten Hörner bliesen aus unbestimmter Ferne zum Rückzug. Doch Torens Reserven waren komplett aufgebraucht, die seines Körpers, seines Geistes und seiner Armee. Seine Fußsoldaten hätten niemand mehr nennenswerten Widerstand geleistet. Seine Reiterei war so gut wie aufgebraucht. Obdaro stand zu seiner Seite, standhaft und aufrecht, allerdings von einem innerlichen Beben erschüttert, welches selbst dieser zähe Mann nicht verbergen konnte. Obdaros schwarze Augen wanderten fassungslos über die finstere Landschaft. Der Sturm hatte sich gelegt und ein wohlwollender Wind strich über die Ebene und ließ die dichten Brandwolken davongleiten. Über ihren Köpfen zeigten sich Stücke von einem blauen Himmel, an den er in diesem Moment nicht glauben konnte. Er blickte zu seinem mächtigen Freund hinauf. Toren war fast drei Köpfe grösser als er und Obdaro hoffte inständig, dass der König aufrecht stehen bleiben würde. Es war nicht selten, dass Männer nach den Explosionen ihren Gleichgewichtssinn verloren. Sie hatten gezögert, seine fremden Waffen einzusetzen, denn die Gefahr, eigene Männer zu verletzten, blieb einfach unschätzbar. Doch wer hätte Loris Fall voraussehen können? Die schwerverletzte Königin hatte den Bridônen zum Sieg verholfen, doch zu welchem Preis? Jetzt sahen Toren und Obdaro die letzten aufrechtstehenden Krieger Gefallene erstechen. Einige hoben mit ihren letzten Kräften ihre blutigen Waffen in die Höhe und stießen ihre Siegesschreie aus. Eine alte Sitte der Bridônen, ihre tiefen, markerschütternden Stimmen weit über das Kampffeld schallen zu lassen, damit ihre Schreie ihre Besiegten in deren Albträume begleiten. Obdaro vermochte nicht zu sagen, von wie vielen Kriegen er in seinem Leben bereits Zeuge geworden war. Sein langes schwarzes Haar wehte in dreckigen Strähnen im sanften Wind. Er war der einzige Mann im Umfeld des Königs, der über jenes glatte Haar verfügte, denn er stammte aus einem fernen Land. Dort wo er als kleiner Junge an einen Kriegsherrn verkauft worden war und bei der ersten Gelegenheit Unterschlupf bei Mönchen gefunden hatte. Nachdem er den ersten Toten gesehen hatte und den abscheulichen Geruch von frischem Blut ausgesetzt worden war, hatte er sich geschworen, sein Leben lang alles zu tun, um in keinen Krieg mehr verwickelt zu sein. Doch offensichtlich waren seine Pläne nicht aufgegangen. Allein die ruhigen Lehrjahre im Kloster, in dem er ein Versteck gefunden hatte, gaben ihm eine Idee vom Frieden. Doch um seinen Beitrag für das Leben der Mönchezu leisten, die ihn beherbergt und versorgt hatten, musste er Reisen unternehmen, um die umliegenden Länder zu studieren. Schreiben und lesen gehörte zu seinem jüngsten Wissen, denn sie hatten es ihm beigebracht. Doch die Kunst der geheimnisvollen Kämpfe aus seiner Heimat hatte ihm anschließend oft das Leben gerettet. Heute waren es seine Kenntnisse über das Handhaben vom schwarzen Pulver, welches verheerende Löcher in Mauern und Reihen von Kriegern schlug, wenn man es richtig anzuwenden wusste. Er hatte Toren lange vor seiner Krönung gekannt und mit ihm ein paar friedliche Jahre in Ravan verbracht. Loris war ihm sehr nahegestanden und jetzt fand er sich abermals Zeuge von einem abscheulichen Ende eines sinnlosen Krieges.

 

 Toren drehte sich um und ging mit steifen Schritten dem Lager entgegen, welches im Schatten der Bäume lag. Seine Stiefel stapften hart durch den Schlamm, er suchte innerlichen Halt mit jedem Schritt, doch vermied es verbissen, sich von irgendeinem der umstehenden Männer stützen zu lassen. Er war der Sieger, der letzte Prinz, so wie sie ihn nannten, der endlich den Frieden über sein Land bringen würde und die Unih in die Knie gezwungen hatte.

 Mit einer herrisch knappen Bewegung seiner linken Hand wollte er seinem Knappen zu verstehen geben, ein Ross herbei zu bringen. Neben ihm sah er den treuen Obdaro Worte formulieren, doch der Klang seiner vertrauten Stimme erreichte ihn nicht. Sein Schwertarm hing wie leblos betäubt an seiner Schulter, Obdaro hatte es bemerkt. Toren wusste, dass es von ihm als König erwartet wurde, im Lager zu bleiben, bis der Bestand der restlichen Armee bekannt war. Hatte er nicht genug gegeben und das Volk in einen blutigen Sturm gegen den Feind geritten? Seine geliebte Frau war nicht mehr da, er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war. An Wunder mochte er nicht mehr glauben, doch er wollte sie sehen. Loris war eine hervorragende Schwertkämpferin gewesen. Ihre Strategien hatten sich im Ablauf des Krieges von großem Vorteil erwiesen, sie hatte ihre Aufgabe erfüllt und nun wollte er bei ihr sein und nicht auf die Abgeordneten warten.

 Obdaro hatte begriffen, dass der König ihn nicht verstand und beeilte sich, ebenfalls zu einem Pferd zu kommen. Ein Mann aus der Leibgarde des Königs brüllte seinen Untergeordneten Befehle zu. Wenn Toren sich in Bewegung setzte, hatten diese Männer ihm zu folgen. Jedenfalls jene, die noch am Leben waren. Mit verkrampfter Miene zerrte der König sich in den Sattel des unruhigen Pferdes, welches der Knappe mühsam festzuhalten versuchte. Obdaro fluchte unschön, es blieb ihm keine Zeit, um sich nach dem Zustand seines Reittiers umzuschauen. Irgendwelche Pferde standen dem König und seinem Gefolge immer zur Verfügung, doch die Aussicht auf einen anstrengenden Ritt durch den Wald mit erschöpften Pferden, abgenutzten Sätteln und schunden Beinen konnte nichts Gutes bedeuten.

 Der König schien den Verstand zu verlieren – Toren war am Ende seiner Kräfte, wie alle anderen Männer auch und stürzte sich in eine kopflose Flucht. Obdaro hatte seine liebe Mühe, den Reitern zu folgen. Die Tiere spürten die Panik der Männer und gaben ihr Bestes, um von diesem verdammten Ort davonzujagen.

 

 Toren stand wie betäubt in seinen Steigbügeln, über die Schultern seines Rosses nach vorn gebeugt, die Zügel frei gegeben und den hastigen Galoppsprüngen des Tieres folgend. Seine Atmung passte sich der des Tieres an, die Bäume schienen an ihm vorbei zu rauschen und die Frische des Walds empfing ihn und glitt feucht unter seinen Helm auf sein Gesicht. Tränen rannen wie klebrige Fremdkörper aus seinen Augen. Loris war nicht mehr bei ihm! Seine Pflicht hatte ihm alles genommen und er hatte seine Leute in dieses abscheuliche Gemetzel geführt. Oh wie er seine Brüder hasste! Doch wem half es, Tote zu verachten? Sie hatten alles verdorben und er musste dafür bezahlen! Nicht mit seinem eigenen Leben, sondern mit dem seiner geliebten Frau. Das war der Preis dafür, dass er vor Jahren seiner Familie den Rücken gekehrt hatte und sich dem Clan seiner Frau in Ravan angeschlossen hatte. Kein Prinz konnte dem Fluch seiner Familie entkommen und nun war es zu spät.

 

 Er trieb sein Reittier an die Grenze des Möglichen, bis er und seine Leute gezwungen waren, eine Pause zu machen. Niemand sprach ein Wort. Seine Ohren verweigerten dem König weiterhin ihren Dienst. Obdaro reichte ihm etwas vom dem scharfgewürzten Wein, den sie seit Wochen aus stinkigen Lederflaschen tranken. Die reinen Quellen lagen zu tief im Wald verborgen und das Wasser in den schmächtigen Bächen in der Nähe des Lagers war seit langen für die Männer nicht mehr zum Trinken rein genug. Es musste abgekocht werden, also stillte der alte Wein den ersten Durst, wobei er gleichzeitig die Schmerzen linderte und Grauen und Schrecken etwas vergessen ließ.

 Der treue Begleiter des Königs zog seinen Mantel enger um die Schultern und beobachtete die Männer, wie sie ein Feuer zubereiteten.  Er hoffte, dass sie den Weg nach Haguz Bri-las so rasch wie möglich hinter sich bringen würden. In Momenten wie jenen konnte niemand sicher sein, heil durch Ravan zu gelangen, selbst wenn es sich um den König und seine Leibgarde handelte. Sie waren Eindringlinge, Menschen, die zu beschäftigt mit ihren Geschehnissen waren und nur durch den Wald reisten. Ebenso Toren wie Obdaro hatten andere Zeiten gekannt. Momente, in denen sie gelernt hatten, sich lautlos durch die dichte Natur zu bewegen und Spuren zu lesen. Die Geräusche, die jetzt nur fremd und fern an ihre Ohren gelangten, gehörten zu der Sprache des Waldes. Jetzt waren sie zu lange dem unsäglichen Lärm des Krieges ausgesetzt gewesen, sie waren schwer bewaffnet und mit beeindruckenden Rüstungen ausgestattet, doch fühlten sich bei Weitem nicht so stark wie einst, wo sie in Loris Clan lebten und von den Einwohnern lernten. Das süße Gefühl von Freiheit hatten sie vor Jahren verloren.

 

 Der Sommer war nun vorüber und die Nächte verlängerten sich. Die erste Herbstfrische warnte vor dem nahenden Winter und erinnerte daran, dass die Bridônen nicht auf diese magere Zeit vorbereitet waren. Der Krieg hatte zu lang gedauert und zu viele Männer waren gefallen. Wer würde sich nun um die leeren Vorratskammern kümmern können? Doch solche Fragen brauchten nicht mehr gestellt zu werden. Toren starrte erschöpft in die Flammen des kleinen Feuers und war mit seinen Gedanken weit von diesem Moment in seine Vergangenheit gewandert. Zu jener Zeit als er Loris kennengelernt hatte. Es war ebenfalls im Herbst gewesen. Die Tage waren noch warm und von kräftigen Sonnenstrahlen erfüllt gewesen. Der vergangene Sommer hatte sich noch nicht verabschiedet, obgleich die Bäume in roten und kupferfarbenen Kleidern standen und Mensch und Tier sich an der Ernte nahrhafter Pilze erfreuten. Toren war damals tief genug in den Wald eingedrungen, um sich ohne es zu wissen im Gebiet des Clans der Rodorrë aufzuhalten. In diesem Gebiet zogen sich zwischen den Bäumen lange Sandbänke von einem Horizont zum anderen. Felsenriesen verbargen Zeichen aus längst vergangenen Zeitaltern. Der Legende nach wurde erzählt, dass hier einst ein Ozean gewesen war, lange vor dem Zeitalter der Menschen. Hin und wieder vermochte ein aufmerksamer Wanderer Steinfossilien von merkwürdigen Schnecken und erstaunlich großen Wassertieren sehen, die nie einem Menschen zuvor unter die Augen gekommen waren. In diesem Land zwischen den Felsen konnte in uralter Glut direkt aus dem Inneren des Leibes der Erde Eisen und Stahl geschmolzen und verarbeitet werden. Hier war Loris zu Hause gewesen und hatte ihm als jungen Mann vor einem sicheren Tod aus der Gefangenschaft ihrer Leute gerettet. Gastfreundlichkeit gehörte nicht zu den Stärken der Rodorrë. Doch es war Loris Scharfsinn nicht entgangen, dass es sich mit Toren nicht um einen gewöhnlichen Gefangenen handle. Es war ihr gleichgültig, dass sie sich gegen ihren eigenen Vater durchsetzen musste, um dem jungen Mann zu retten. Loris Mutter hatte die bevorstehende Geschichte geahnt und Toren erinnerte sich bitter an die Worte der weisen Frau: die Schwäche der stärksten Frauen liegt in der Liebe zu ihren Männern. Wie wahr dieser Satz an Tagen wie solchen doch war, Loris hatte ihr Leben in ihren schönsten Jahren in einem absurden Krieg gegen einen mächtigen Feind gelassen, um ihrem Gatten beizustehen. Aus Liebe zu ihm war sie in den Tod gegangen und hatte ihre beiden Kinder allein gelassen. Toren hasste sich für seine Existenz, seine Pflichten als König, sein Versagen als Vater und als Ehemann. Er war nichts wert, denn er hatte nicht die Sicherheit eines komfortablen Lebens seiner geliebten Frau gewähren können. Jeder Hirte in einsamen Steppen war mehr wert als er, der nur aus Pflichtbewusstsein Taten vollbrachte, die im Grunde nur von Toten erwartet wurden. Was seine verdammten Brüder in der Vergangenheit verbrochen hatten, ging ihn im Grunde nichts an, und noch weniger seine geliebte Frau Loris, eine Tochter der Natur, ein Kind des Waldes.

 

 Die Reise vom Schlachtfeld nach Haguz Bri-las war nicht rascher als in drei Tagen zu bewältigen. Toren und sein Gefolge erreichten glücklicherweise die Mauern ihrer Stadt ohne nennenswerte Vorfälle. Ihre Ankunft war nicht angekündigt worden und sie ritten mit düsteren Gesichtern und gehetzten Pferden durch die Straßen dem Stadtkern und der Wohnstätte des Königs entgegen. Die wenigen Anwohner, die zu dieser frühen Stunde ihren Beschäftigungen nachgingen, drückten sich überrascht an die Wände der Häuser, um die Reiter bereitwillig vorbeizulassen. Mit ihren vor Dreck starrenden Mänteln erschienen König und seine Männer wie unglücksbringende Raben. Die Flanken ihrer Pferde bebten und winzige Bluttropfen hinterließen feine rote Linien im weißen Schaum ihrer Mäuler. Toren erblickte die wartenden Menschen vor der Kapelle. Zusammengekauert, mit über ihre Schultern gezogenen Mänteln hatten sich einige Leute in der Nähe der verschlossenen Tür versammelt und warteten dort. Sie duckten sich noch mehr, als sie die schwarzen Reiter erblickten, manche hatten ihren König gewiss nicht sofort wiedererkannt und waren nur instinktiv zurückgeschreckt, weil die Gefährlichkeit der Männer unmissverständlich war. Toren hielt sein Pferd an und ließ sich schwer aus dem Sattel auf den gepflasterten Boden nieder, jeder Schritt bereitete seinem gebeutelten Körper unglaubliche Schmerzen. Um ihn herum klapperten laut die Hufe der Pferde seines Gefolges, seine Männer verscheuchten den warteten Pöbel, damit der König Platz habe. Ohne zu zögern stieß Toren die zweiflügelige hohe Tür auf und stürzte in den Saal. Die Anwesenden schreckten zusammen, der Priester ließ eine metallene Schüssel fallen, die scheppernd ihren flüssigen Inhalt über die Stufen des Altars vergoss. Zwei kleinere Gestalten huschten überrascht davon und ein großer Mann erhob sich aus seiner kauernden Haltung und verneigte tief sein Haupt. Doch die Blicke Torens waren von Loris gebannt, die bleich und lang lediglich mit einem feinen Leinenhemd bekleidet auf dem Altar lag. Ihm entfuhr ein tierischer Schrei, lang und zäh erschütterte seine verzweifelte Stimme die Wände der Kapelle. Allen Anwesenden blieb der Atem stocken. Gleich einem verletzten Tier machte sich in Torens Brust eine unberechenbare Kraft breit und ließ ihn wie ein Unhold die hölzernen Sitzbänke der ersten Reihen hochwirbeln und gegeneinander zerbersten. Der Priester warf sich ihm mit hocherhobenen Armen entgegen als er den schweren Kerzenständer ergriff und über seinen Kopf schwang. Heißes Wachs schleuderte in die Gesichter der verängstigten Kinder und der Priester wurde erbarmungslos mit der Wucht des Kerzenständers an die Wand geworfen. Erst in diesem Moment erkannte Toren die schreckensgeweihten Augen seiner Kinder, die neben ihrer Mutter kauerten. Ihre Arme waren entblößt, denn sie hatten sich die Ärmel hochgekrempelt. Ihre helle junge Haut schimmerte erschütternd rein im Gegensatz zu dieser makabren Umgebung, doch ihre Hände waren vom Blut dunkelrot gefärbt. Torens Herzschläge pochten unglaublich laut in seinem benommenen Kopf. Seine geliebte Loris war tot. Seine Kinder erschienen ihm fremd und unwirklich. Er hatte die beiden seit dem Beginn des Krieges nicht mehr wiedergesehen, doch jede Empfindung für Zeit und Leben hatte sich im Laufe der Geschehnisse der vergangenen Monate verschoben. Im Sturm der Schlachten waren so viele Erinnerungen aus seinem Empfinden entrissen worden. Er hatte die beiden nicht einmal vor dem Anblick ihrer toten Mutter schützen können. Die Kinder waren in dieser verdammten Kapelle und hatten nichts anderes zu tun, als einem alten Priester beim Reinigen des Leichnams der Königin zu helfen. Toren kniete sich zu ihr und betrachtete ihr Gesicht, wächsern und hell, fast schwarz unter ihren geschlossenen Augenliedern.

 

 Obdaro war so rasch wie möglich dem König gefolgt. In den schmalen Gassen hatte er sich im letzteren Teil der Reitergruppe einordnen müssen und hatte aus Entfernung den gepeinigten König in die Kapelle stürzen sehen. Bestürzt eilte er zum Priester, der zusammengekauert in der Ecke unter dem schweren Kerzenständer lag. Unwillkürlich hievte Obdaro das metallene Ding beiseite und fühlte am Hals des armen Mann, ob sein Puls noch schlug. Offensichtlich war er noch am Leben. Seine nächste Sorge galt der Sicherheit der Kinder. Wie kleine Gespenster hockten sie dort am Fuß des Altars und starrten ihren gefährlichen Vater ungläubig an. Ein Mann hatte sich aus seiner Verbeugung vorsichtig aufgerichtet und hielt sich abwartend im Hintergrund. Obdaro erkannte einen der Reiter wieder, dem er die verletzte Königin anvertraut hatte. Der Kerl verfügte über Mut, an der Seite der Gestorbenen verweilt zu haben. In diesem Moment, wo Toren den Verstand verloren zu haben schien, war sein Leben nicht mehr viel wert. Doch er war geblieben und hatte den Kindern beigestanden. Allein diese Tatsache mochte ihn überleben lassen. Obdaro stand auf und trat zu ihm.

 „Wie ist dein Name?“, verlangte er zu wissen. Der Mann starrte ihn einen kurzen Augenblick abschätzend an. Obdaro war es gewohnt, dass die Bridônen ihn wie ein exotisches Tier betrachteten. Diese großen, groben Recken konnten nicht sofort begreifen, wie ein Mann von seiner feingliedrigen Statur einen Platz in der unmittelbaren Nähe des Königs verdient hatte.

 „Ich nenne mich Orgon, Sohn von Laurmech“, antwortete der Befragte schließlich. Obdaro erinnerte sich, diesen Namen bereits gehört zu haben. Spätestens in dem Moment wo Orgon die schicksalshafte Reise durch Ravan mit der Königin anvertraut wurde. Mit welchen Verhältnissen mussten die Menschen sich nun abfinden? Toren hatte den Sieg gegen die Unih errungen, war erschöpft wie ein Dieb in seine Stadt zurückgekehrt, um dort beinahe vor Entkräftung zusammenzubrechen.

 „Du hast deinem König und deinem Land einen unermesslichen Dienst erwiesen. Dank deiner Anwesenheit sind Loris Kinder unversehrt geblieben.“ Obdaro sprach bewusst leise, denn er konnte in der finsteren Kapelle nicht erkennen, ob sich andere Menschen im Hintergrund des Raumes aufhielten. Orgon verbeugte sich unterwürfig und verharrte einen kurzen Augenblick in dieser Stellung. Der König hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Nachdem sein unbeschreibliches Brüllen von Leid und Qual verstummt war, schien eine abwartende Stille die Anwesenden zu erdrücken. Die kleine Chethis trat besorgt zum gestürzten Priester und befühlte dessen Stirn. Obdaro nickte seinem Gegenüber kurz zu und wandte sich zum König.

 „Eure Majestät! Jemand muss sich Euren Kindern annehmen! Wir können sie nicht weiter hier verweilen lassen.“ Toren verharrte unerreichbar über seine Frau gebeugt, seine groben Handschuhe verbargen seine Hände. Er berührte sie nicht und vollführte streichende Bewegungen über dem Antlitz der Verstorbenen, ohne sie anzufassen. Obdaro trat etwas näher, denn er war sich nicht sicher, ob Toren ihn gehört hatte und wiederholte seinen Vorschlag. Doch jede befürwortende Regung des Königs blieb aus. Sein Begleiter strich mit seiner rechten Hand abgekämpft über sein Gesicht. Nach all dem was er und die anderen Männer in den vergangenen Tagen durchgestanden hatten, fehlte noch, dass der König verrückt wurde.

 „Meine Nichte ist eine zuverlässige Frau und sie ist nicht verheiratet. Sie könnte sich um die Kinder kümmern“, schlug Orgon mit leiser Stimme vor. Obdaro blickte ihn dankbar an.

 „Lasst nach ihr rufen und sie soll auch gleich für etwas Nahrung sorgen. Die Männer sind ausgehungert.“

Orgon verbeugte sich abermals und trat ein paar Schritte zurück bevor er sich davonmachte, um das Haus seines Bruders aufzusuchen.

Obdaro wartete bis die schwere Tür wieder geschlossen war und wandte sich zu Cethis, die mühsam den Kopf des Priesters geradelegte. Ihre kleinen Finger waren dunkel vom abgewaschenen Blut und die Ränder ihrer Fingernägel erschienen noch finsterer. Der Priester hatte seinen Kopfschmuck beim Sturz verloren, doch auf seiner Stirn konnte man noch den breiten Abdruck des goldenen Reifs sehen. Cethis kämmte behutsam die Haare des Mannes beiseite und warf Obdaro einen strafenden Blick zu.

 „Er hat uns geholfen, Mutter zu reinigen“, murmelte sie. Ihre Stimme klang wie das drohende Knurren einer verängstigten Katze.

 „Mach dir keine Sorgen, liebe Cehtis! Er ist ein kräftiger Mann und wird sich von dem Schock erholen.“

 Die Prinzessin setzte sich auf ihre Fersen, faltete ihre Hände auf ihrem schmutzigen Kleid und musterte den Berater ihres Vaters. So war das nun mal mit den erwachsenen Leuten – wenn sie selbst nicht weiterwussten, sagten sie den Kindern einfach, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen und meinten damit sei in den Köpfen der Kleinen alles in Ordnung. Das Leben am Hofe war nie weder einfach noch amüsant gewesen, noch weniger als der Krieg gegen die Unih erklärt worden war. Sie kannte den Mann, der ihr gegenüber hockte, nicht gut und wusste nur, dass er sich immer in der Nähe ihres Vaters aufhielt. Wenn ein Mann einem Kind sagte, es solle sich keine Sorgen machen, konnte das in Wirklichkeit nur bedeuten, dass er keine Erklärungen für ihre Fragen hatte und es zwecklos war, etwas zu sagen. Also blickte sie stumm in die Richtung ihres Vaters an der Seite der Toten und zu ihrem Bruder, der das Geschehen mit weitaufgerissenen Augen beobachtete. Der mächtige König schien nur noch von seiner dunklen Rüstung gehalten zu sein, sonst wäre Toren wahrscheinlich in sich zusammengefallen. So empfand seine Tochter den Anblick den er bot. Bislang ahnte sie nichts vom Sieg ihres Volkes über die Unih. Sie wusste nur, dass sie diesen Namen hasste. Die Unih hatten Unglück über ihre Familie gebracht und ihre Mutter getötet. Ganz gleich ob sie eine Ahnung hatte, was für Menschen sich hinter diesem Namen verbargen, sie waren jene, die dafür verantwortlich waren, dass sie und ihr Bruder allein in dieser Welt waren. Der Krieg war schuld daran, dass selbst Königskinder Hunger leiden mussten. So lang sie sich erinnern konnte lebten sie zwischen diesen hohen kalten Mauern, umgeben von Menschen, die Cethis fremd erschienen. Die Prinzessin konnte sich nicht erklären, warum sie sich im Schloss nicht in Sicherheit fühlte. Eine diffuse Ahnung und einen ausgeprägten Überlebenssinn zwangen sie dazu, stets wachsam zu sein und niemand zu vertrauen. Allein der merkwürdige Obdaro schien seine Wichtigkeit zu haben, weil er sich stets in der Nähe ihres Vaters aufhielt. So war es schon immer gewesen, so lange sie denken konnte. Sogar in einem abscheulichen Moment wie jenen, in dem Toren den Geist verloren zu haben schien, gab sich Obdaro Mühe, überlegt und ruhig zu erscheinen. Cethis wusste nicht, ob sie seine merkwürdigen Augen mochte. Sie schienen dunkel und reglos im Vergleich zu den Augen anderer Menschen, die die Prinzessin kannte. Seine Augenlider glitten glatt über seine Pupillen und waren ebenso flach wie sein rundes Gesicht. Seine Haare und sein Bart waren lang und seidig wie Schweif und Mähne von Pferden. Seine Haut hingegen erinnerte an dunkles Kupfer. Obdaro war auffallend klein im Vergleich zu ihrem Vater und Cethis konnte sich vorstellen, dass sie ihn in absehbarer Zeit an Körpergröße eingeholt habe. Aber er war überraschend flink und verfügte über eine unerwartete Kraft, was sie schon bei Übungskämpfen gegen große Krieger hatte beobachten können. Solange Cethis sich erinnern konnte, war sie immer von Kriegern umgeben gewesen und hatte ihre Übungen mitangesehen. Wenn sie die Augen schloss, vermochte sie ihre Mutter zu sehen, jünger, sorgloser, von strahlendem Sonnenlicht umgeben und konzentriert auf geschmeidige Bewegungen. Diese frühen Erinnerungen aus der Kindheit der Prinzessin stammten aus einer Zeit, in der sie noch nicht in Haguz Bri-las gelebt hatten. Die Stadt war wie ein Gefängnis für die Familie von Cethis und Brimon gewesen und sie fragte sich, ob sie dem je entkommen würden.

 

 

Impressum

Texte: Kirsten Schwarz
Bildmaterialien: Kirsten Schwarz
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Chroniken von Ravan widme ich allen Freunden des Waldes, der Natur und den Wundern, welche unsere Erde uns schenken mag. Es gab eine Zeit, in der jeder Mensch auf die Veränderungen der Elemente Acht geben musste, um sein Leben zu ermöglichen. Wahrscheinlich ist die Natur zu stark und es kam dazu, dass Leute sie vergessen wollten und ihre künstlich erdachten Lebensweisen für wichtiger hielten. Allerdings spielt es keine Rolle, ob das Wahrhaftige hinter Maskeraden versteckt sein soll – es findet dennoch statt. Und in solchen Gebieten spielen sich Geschichten ab, die ich heute erzählen möchte.

Nächste Seite
Seite 1 /