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1. 2016: Wei

 

Nein, er zögerte nicht.

 

Er fragte sich auch nicht, ob es ihm später einmal, aus welchem Grunde auch immer, leidtun könnte, die Entscheidung getroffen zu haben. Hätte er darüber nachgedacht, wäre es ihm wie mit einer alten Volksweisheit bewusst geworden: Wenn du auf dem Rücken eines Tigers reitet, kannst du nicht absteigen.

 

Sein Entschluss stand seit langer Zeit fest. Alle Risiken waren ihm bewusst. Und wenn er gelegentlich befürchtet hätte, mit seinem Projekt zu scheitern, trotz sorgfältiger Planung und Abwägung aller Risiken, niemand hätte es ihm angesehen. Nur Mali Bo, seine Frau, ahnte, dass die Zweifel in seinen Gedanken trotz seiner Entschlossenheit noch Wellen schlugen. Aber der Glaube an den Erfolg, die Überzeugung, dem Familienunternehmen Chan eine goldene Zukunft zu ermöglichen, wie er es aus traditioneller Prägung als seine Pflicht ansah, überwog alle Mahnungen seines kritischen Verstandes.

 

Sie sah Mee Koi im Garten neben der kleinen Quelle sitzen. Er hatte den steinernen Altar zum Gedenken an seine Ahnen nicht nur mit Blumen geschmückt. Sie bemerkte die kleine Bambusschale mit Nüssen und roten Früchten, die am folgenden Morgen geleert wäre, als hätten die Ahnen die Gaben angenommen und genossen. Er trug bequeme Kleidung, ein weiches wollenes Hemd und eine sportliche Hose und dazu einen weiten Umhang, als benötige er hier im Garten dessen Wärme und Schutz. Er saß dort ohne seinen Computer, ohne Pläne und Akten, als lausche er auf das Geräusch des leise in den hölzernen Trog fallenden Rinnsals.

 

Er hatte es ihr vor Jahren eingestanden. Es war eine der wenigen, selten gebliebenen Stunden, in denen er sich ihr öffnete. In denen er ihr erlaubte, in seine Gefühle, in seine geheimen Gedanken zu blicken. Sie hatten das neue Haus im Süden der Stadt erst vor wenigen Monaten bezogen. Ihr schien, auch er habe sich inzwischen mit dem Haus, mit dem Garten, mit dem heiteren Geist der Blüten und Blumen angefreundet. „Bist du zufrieden?“, hatte sie ihn gefragt und dabei an den sichtbaren Erfolg ihrer täglichen Bemühungen im Garten gedacht.

 

Er hatte sie nachdenklich angesehen, so als ob er auf eine Eingebung seiner Eltern warte, ob auch sie hier angekommen seien. Ihre Gräber waren auf ihrem Besitz in Keelung geblieben, Gräber können nicht an einen anderen Ort verlegt werden. Aber er hatte zu ihrem Gedenken den kleinen Altar neben der Quelle eingerichtet. Aus Steinen hatte er ihn gefügt, die er in der Bucht bei Yehliu im Norden von Keelung geborgen hatte, Steine, unvergänglich wie die Erinnerung. Er glättete mit der rechten Hand die Kissen neben sich und bedeutete ihr so, sich zu ihm zu setzen.

 

„Du weißt“, hatte er ihr gesagt, „das Unternehmen ist mein Leben und ich lebe für das Unternehmen“.

 

Er schwieg, so dass sie ihn fragend ansah. „Die Ahnen werden es dir lohnen“, sagte sie, um ihm über eine Schwelle zu helfen, vor der er wohl stehengeblieben war.

 

„Ich habe hier bereits etwas gelernt“, fuhr er schließlich fort. „Die Arbeit zerrt unermüdlich an meinen Gedanken. Das muss auch so sein, sollen doch alle Dinge gelingen. Hier in unserem Garten, der deine liebevolle Handschrift trägt, kann ich alleine sein. Hier kann ich mich selbst hören und den Rat der Ahnen. Hier kann ich zu den Göttern sprechen wie in einem Tempel. Ich habe es gelernt, hier neue Kraft zu finden, um alte Pläne zu ergänzen und neuen Absichten zu folgen.“

 

Sie sah ihn gerne an, obwohl es nicht ihrer traditionellen Erziehung entsprach. Man sah sich nicht ohne Grund an, nicht in das Gesicht, nicht in die Augen. Und sie spürte an seinen sanften Reaktionen, dass er es gelegentlich auch bemerkte. Mee Koi war inzwischen siebenundvierzig Jahre alt. Seinem Körper sah sie noch keine Spuren nahenden Alters an. Die Haare voll und dunkel. Das Gesicht in gesunder Farbe, straff und ohne Falten. Die Schultern aufgerichtet, wie den ihm gebührenden Platz fordernd. Aber Mali Bo sah nicht nur seinen Körper. Sie war Heilerin, in den Geheimnissen der traditionellen Medizin bewandert. Sie sah den ganzen Menschen. Sie sah, dass der Körper durch seine geistige Kraft, seinen Willen und sein Können geprägt wurde. Und sie sah seine Erfolge, als bedürfe es noch einer Bestätigung ihrer Einschätzung.

 

Sie glaubte, zu erkennen, dass er jetzt mit sorgenvollen Gedanken alleine sein wollte. Hier, in der ihn behütenden Tiefe seines Gartens, nicht den Blicken derer ausgesetzt, die zu Fragen, zu Zweifeln und sogar zu offener Kritik ansetzen könnten. Trotzdem schritt sie zögernd zu ihm, ohne ihn anzusprechen, um sein Grübeln nicht zu stören. Sie wusste, dass ihre Nähe ihm Bestätigung und Kraft gab. Sie kniete mit Liqi XinXin, ihrem fast einjährigen gemeinsamen Sohn auf ihrem Arm, vor ihm nieder und reichte ihm die hölzerne Kelle mit einem Trunk frischen Quellwassers. Es würde ihm, wie er es seit vielen Jahren gewohnt war, Ruhe geben, die Kraft und die Klarheit der Gedanken stärken. Das Kind lauschte aufmerksam auf das leise, beruhigende Murmeln der Mutter und schwieg, als wisse es schon von den Sorgen des Vaters. Und als spüre das Kind auch bereits, dass sich der Vater schon bald nur noch an ganz wenigen Tagen hier in diesem Haus aufhalten werde. Und dass es später dessen Nähe suchen, ihm folgen werde.

 

Als Ministerpräsident Mao Chi-ko und Innenminister Lak Hong-yuan ihm vor wenigen Tagen im Auftrag des Regierungs-Yuan die Erlaubnis für die Bebauung der Sandbänke Nam Wei und Bei Wei im Pratas-Archipel mit einem Ferienpark übergaben, nach einem einstimmigen Beschluss des Regierungsrates, sogar der Vertreter des Militärs hatte vorbehaltlos zugestimmt, war der entscheidende Punkt erreicht. Chan Mee Koi gab die Anweisung, Wei Ling, das Unterwasserhaus auf der Sandbank vor Kaohsiung, aufzunehmen und im Westen des Atolls neu einzurichten.

 

Als vor sechs Jahren der Vorschlag des Direktoriums, im Pratas-Archipel einen Ferienpark zu errichten, Gestalt annahm und durch den Familienrat gebilligt wurde, ließ Chan Mee Koi als Leitender Direktor der Unternehmensgruppe EBS Exploration, Buildings and Services AG Taipeh das Haus errichten. Der Seepark würde im ersten Bauabschnitt auf der Sandbank Nam Wei Platz für zehntausend Gäste bieten. Um zu erkunden, welche neuen Baumaterialien langfristig den Angriffen der Stürme und der See widerstehen könnten, und um zu testen, wie die Gäste auf die Umgebung auf und unter Wasser und auf denkbare Angebote von Aktivitäten aller Art reagieren, wurde das Haus auf der Sandbank vor Kaohsiung in einer Wassertiefe von zehn Metern errichtet. Es bekam als Teststufe für die beiden Bauabschnitte auf den Sandbänken Wei den Namen Null, Wei Ling, Wei Null.

 

Eine Katastrophe hatte schonungslos auf Wei Ling eingeschlagen. Bei einer Sitzung des Direktoriums in dem Haus, in der der Beginn konkreter Schritte beschlossen werden sollte, brach Wasser ein, flutete das Gebäude und es wurden achtzehn Menschen getötet, lediglich Chan Mee Koi und mit ihm ein Einziger der Direktoren konnten entkommen und sich retten.

 

Das Unheil hatte seine Ursachen nicht in einer Schwäche der Konzeption oder des Materials des Hauses, sondern in der Absicht eines Neiders. Bai Ma Rugu, der Bruder seiner Frau und Leiter eines der dem Unternehmen angeschlossenen Betriebe, neidete Mee Koi seit Jahren die Stellung des erfolgreichen Leitenden Direktors der Holding. Er nutzte die Anwesenheit des Direktoriums in dem Unterwasserhaus, um sein schändliches Handeln hinter dem Anschein eines schrecklichen technischen Versagens zu verbergen und durch die Flutung des Hauses Mee Koi zu töten. Er kannte jedes technische Detail des Hauses, das sein Betrieb nach Plänen und im Auftrag Mee Kois gebaut hatte und das in verräterischer Voraussicht bereits die benötigten Vorrichtungen enthielt, die seinen Anschlag ermöglichten. Er war überzeugt, man würde sein Eingreifen nie erkennen. Dass das gesamte Direktorium getötet würde schien ihm hinnehmbar. Sie alle standen loyal zu Chan Mee Koi und er bezweifelte ohnehin, dass sie sich zu derselben Treue zu ihm entscheiden würden. Sie müssten lediglich ersetzt werden, sobald er die Aufgaben des Leitenden Direktors des Unternehmens übernommen hätte.

 

Als Mee Koi nach wenigen Tagen in seine Aufgaben zurückkehren und den Täter überführen konnte, ließ er das Haus wieder herrichten. Unzählige positive Emotionen waren in den Jahren seiner Erprobung entstanden und trotz der schrecklichen Tat noch immer mit ihm verbunden. Am Material für den Bau und an der Grundidee für den Seepark gab es keine Zweifel. Sein großer Plan, seine Vision von einer goldenen Zukunft des Unternehmens und der Familie, durfte nicht mit dem Untergang des Hauses, an der Untat eines Neiders sterben. Ma Rugu, dem Täter, der sich seinem Urteil unterwarf, um nicht der Polizei und der Justiz übergeben zu werden, nahm Mee Koi alle Aufgaben in der Unternehmensgruppe und wies ihn aus dem Land.

 

Mit der Umsetzung von der Sandbank vor Kaohsiung in den Pratas-Archipel änderte sich nicht viel an dem Haus. Jetzt stand es am westlichen Rand des Atolls in tieferem Wasser. Die Brandung überspülte wie vorher auch schon die große durchsichtige Kuppel aus GlasAl auf dem Dach des Gebäudes. Der bei den Gästen sehr beliebt gewesene Blumengarten, ebenfalls aus GlasAl vor dem Untergeschoss des Hauses, vorher auf der Sandbank auf dem Grund des Meeres vor Kaohsiung gelegen und bequem zum Ausschwimmen gestaltet, hatte jetzt eine Wassertiefe von dreißig Metern unter sich, denn das Haus stand auf hohen Pfählen. Der Zugang in das Haus wurde umgestaltet. Eine große Plattform umgab das Haus wie ein Kragen, als ob es vor den Gefahren des Meeres und vor den Stürmen geschützt werden müsse. Sie trug auf der Außenseite die für das Haus erforderlichen Versorgungseinrichtungen. Auf der Innenseite, dem Sonnenaufgang und den fernen Sandbänken zugewandt, befanden sich neben einer Landeplattform für Hubschrauber eine Aufenthaltszone und der Zugang in das Haus. Der vorherige Zugangsturm vor Kaohsiung konnte bei der größeren Wassertiefe nicht wieder verwendet werden. Im Inneren des Hauses waren nur wenige Anpassungen notwendig. Es bot genügend Raum für Mee Koi zum Wohnen und Arbeiten, für den Besuch durch seine Familie und durch Mitarbeiter und zur Unterbringung der erforderlichen Servicekräfte. Der Name des Hauses wurde gekürzt auf Wei. Es war jetzt und an dieser Stelle das Sinnbild für den gesamten Park, für Nam Wei und Bei Wei. Wei, das Unterwasserhaus im Westen, zeigte jedem, dass mit der Verwirklichung eines großen Traumes begonnen worden war.

 

Chan Mee Koi hatte in der letzten Sitzung des vorherigen Familienrates, die am Beginn des vergangenen Jahres stattfand, alle Aufgaben des Leitenden Direktors der aus einem Handwerksbetrieb seines Vaters in Taipeh entstandenen Unternehmensgruppe auf seine beiden jüngeren Brüder übertragen. Er wollte sich nur noch auf die Verwirklichung seines großen Traumes, auf den Bau des Seeparks, konzentrieren. Daher war auch seine vorher fast tägliche Anwesenheit in der Hauptverwaltung des Konzerns, im Tower 105 auf dem Nordufer des Keelung Ho in Taipeh, für die laufenden Geschäfte nicht mehr erforderlich. Dort hatte er noch immer sein Büro im Observatorium, in der obersten, der 88. Etage des Gebäudes. Er nutzte alle Mittel und Stärken des Unternehmens, um den Seepark voranzubringen. Seine gesamte Energie richtete der Siebenundvierzigjährige auf seinen Plan, der so kühn war, dass er bereits über den Seepark hinaus weit in die Zukunft reichte.

 

Es war noch kein Plan. Es war eine Vision. Noch ohne die zu seiner Verwirklichung erforderlichen technischen Mittel und Möglichkeiten erkennen zu können. Noch ohne den Anschein einer Ermutigung, sich in seinen vagen Traum zu vertiefen. Aber schien nicht jede Wendung in der Geschichte nicht nur seines Volkes anfangs undenkbar? Würden notwendige technische Neuerungen rechtzeitig entwickelt, damit er das Entstehen seines Traumes, die Annäherung an das Ziel noch erleben könnte? Er hatte schon oft die Anzahl seiner Jahre gezählt. Dann bat er die Ahnen, ihm mit der Hilfe der Götter eine angemessene Zahl weiterer Jahre zu schenken. Er würde immer den nächsten Schritt erst gehen, wenn er möglich wäre. Er war gesund, stark und überforderte nie den Körper und den Geist. Aber er wusste: Er musste handeln, zu seinem Ziel hin streben. Er musste zügig handeln, um den Göttern zu zeigen, dass er keinen Tag der ihm gegebenen Zeit vergeudete.

 

Mee Koi wohnte schon bald in Wei, wenn er sich in der Nähe des Baufeldes aufhalten wollte, und diese Notwendigkeit ergab sich nach dem Beginn der Bauarbeiten auf Nam Wei innerhalb kürzester Zeit immer dringlicher. Schnell wurde aus der Notwendigkeit eine lieb gewordene Gewohnheit, die niemand mehr hinterfragte. Nur Mali Bo, seine Frau, erinnerte ihn gelegentlich daran, dass es für die Entwicklung von Liqi XinXin, ihrem gemeinsamen, inzwischen einjährigen Sohn, förderlich sei, seine Anwesenheit zu Hause und bei seinem Spiel im Garten zu spüren.

2. 2016: Nam

 

Die Einfügung der großen Bauteile in den felsigen Sockel der Sandbank Nam in dieser Wassertiefe sei schwierig, sagte Mee Koi seiner Frau, und er könne sich nicht nur auf die Gewissenhaftigkeit der Ingenieure in ihren Tauchanzügen verlassen. Er fuhr fast an jedem Tag mit einem Tauchscooter hinüber, umrundete die Baustelle und inspizierte gründlich den Stand der Arbeiten. Er ordnete an, die Anzüge der Taucher mit Nummer und Emblem zu kennzeichnen, damit ihre Identität und Berechtigung erkennbar wäre.

 

In Wei, seinem Haus im Westen des Atolls, empfing er wichtige Gäste aus der Führung des Unternehmens, aus Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung und Politik. Sie alle zogen offensichtlich diesen ungewöhnlichen Ort jedem anderen Platz für ihre Verhandlungen vor. Hier fanden Gespräche mit den die Arbeiten auf der Baustelle leitenden Ingenieuren statt und die wie aus der Zukunft geliehene Atmosphäre des Hauses beflügelte die Suche nach Lösungen für erkannte Schwierigkeiten. Und hier hielt sich seine Familie auf, seine Frau Mali Bo und sein Sohn Liqi XinXin, wenn sie seine Konzentration auf die Verwirklichung seines Traumes mit ihrer Anwesenheit aufzulockern versuchten.

 

Der Sommer 2016 brannte sich schmerzlich in die Erinnerungen Mee Kois ein und er nahm das Ereignis wie eine erneute Warnung der Götter vor ihrem Umgang mit den Kräften des Meeres.

 

Mit dem Bau auf Nam Wei war erst vor wenigen Wochen begonnen worden. Wao Chil-Mee, seit mehreren Jahren mit Chan Mee Koi befreundet, fuhr ein in Deutschland gebautes Luftschiff, seinen Feichuán, und bot mit seinem Unternehmen UNIVERSAL AIR SHIPPING Transporte aller Art an. Als Mee Koi ihm vorschlug, leistungsstärkere Luftschiffe für den Bau des Seeparks im südchinesischen Meer einzusetzen, während der Bauzeit für den Transport von Baumaterial und später zur Beförderung von Besuchern und Verbrauchsgütern, entwickelte und baute er die Himmelsdrachen. Jetzt trugen sie die großen an Land vorgefertigten Bauteile über das Meer herbei und senkten sie präzise an der richtigen Stelle hinab, zu Beginn erst in das Wasser auf den felsigen Sockel, später dann auf das über die Wasseroberfläche hinaus wachsende Bauwerk. Die Anfahrt, die Positionierung auf der richtigen Stelle und das Einfügen der Bauteile in den Felssockel und in die aufstrebenden Wände waren schnell zu Routine geworden.

 

„Komm mit mir“, lud Mee Koi seine Frau ein, um seine Freude über den ungestörten Verlauf der Arbeiten und seinen Stolz auf die Einmaligkeit des entstehenden Seeparks mit ihr zu teilen. „Das musst du sehen! Ich hätte nie gedacht, dass es so reibungslos abläuft.“

 

„Mir genügt es, die Übertragungen im Internet zu sehen“, wehrte sie zunächst ab. Mali Bo, ältestes Kind der in TaiNan ansässigen Unternehmerfamilie Bai, war nach der Heirat die Stellvertreterin des Leitenden Direktors, ihres Mannes, im Unternehmen geworden, hatte diese Aufgaben inzwischen abgelegt, war aber mit dem Unternehmen, seinen Plänen und Absichten bestens vertraut. „Und ich möchte unseren Sohn nicht so lange mit einem Kindermädchen zurücklassen.“

 

„XinXin kommt mit!“, erklärte Mee Koi mit Überzeugungskraft. „Es ist sein erster Geburtstag. Wir fliegen mit einem Hubschrauber und bleiben ein paar Tage. Die Meeresluft wird euch beiden guttun.“

 

Mali Bo liebte es nicht, ihr Gesicht der Sonne und dem Wind über der See auszusetzen. Sie würden die zarte und blasse Farbe ihrer Haut schädigen. Aber sie sah seine freudige Erwartung und gab ihre Bedenken auf. So flogen sie nach Wei und richteten sich für ein paar Tage ein.

 

Mee Koi saß draußen über dem Wasser, XinXin auf seinem Schoß, als der nächste Himmelsdrachen einschwebte. Es gab erst zwei Anlieferungen am Tag, Wao Chil-Mee war dabei, für die Drachen noch weitere Brüder zu bauen. Die Größe des Himmelsdrachen war für alle beeindruckend. Lang und breit war er wie ein riesiger Teppich, groß wie die Fußballspielfläche im berühmten Nationalstadion von Kaohsiung, das jeder im Land kannte. Hoch war er wie ein zehngeschossiges Wohnhaus. Er verdunkelte die Sonne, als er von Westen kommend über Wei einschwebte. Unter seinem Leib trug er seine Fracht, das riesige Teil einer Wand aus dunklem GranAl. Seine Elektromotoren summten leise, sie hatten auf dem letzten Stück ihres Weges nur noch wenig Arbeit. Als Mee Koi seinem Sohn Erklärungen in seine Ohren flüsterte und ihn auf den nicht mehr hoch in der Luft herannahenden Körper hinwies, geriet das Kind in Panik. Es glitt von seinem Schoß und lief auf noch ungeübten Beinen davon, als müsse es sich verstecken. Bevor der Vater es erreichte, stürzte es über den Rand der Plattform und fiel hinab.

 

Mali Bo, die Mutter, war zum Glück unten im Haus, sie wäre sicherlich vor Entsetzen auf der Stelle gestorben. Dem Vater blieb keine Zeit zum Nachdenken. XinXin trug eine kleine Rettungsweste, die ihn an der Wasseroberfläche hielt. Die Höhe hinab war gering, nur wenige Meter, so dass der Fall ihm nicht geschadet haben konnte. Mee Koi sprang in das ruhige Meer hinab, ohne an eine Rettungsweste für sich selbst zu denken, er war ein leidlicher Schwimmer.

 

Nach wenigen Zügen erreichte er seinen Sohn. Der sah ihn ängstlich und fragend an, als sei das eine für ihn vorbereitete Überraschung gewesen, die ihm noch nicht gefallen konnte. Also machte Mee Koi aus dem Missgeschick ein Spiel, um dem Kind das Erschrecken über den Sturz und die Furcht vor der Gefahr des Wassers zu ersparen. Sie begannen zu spritzen, verglichen, wer am weitesten und am höchsten mit dem Wasser spritzen könne.

 

Der Pilot des Himmelsdrachen hatte das für ihn unverständliche Verhalten bemerkt und vorsorglich ein Rettungsboot herbeigerufen.

 

Das Missgeschick blieb nicht unentdeckt. Mali Bo sah die durchnässten Kleider und schwor, das sei der letzte Aufenthalt des Kindes in dieser gefährlichen Umgebung. Es dauerte Wochen, bis es Mee Koi gelang, einen Kompromiss zu vereinbaren.

3. 2017: Unerwarteter Besuch

 

Tage und Wochen verstrichen und Mee Koi sah nicht auf das Ende, sondern immer nur auf das nächste Ziel. Er vergaß, auf den Fluss der Zeit zu achten. Fragen wurden gestellt und mussten beantwortet werden. Probleme zeigten sich trotz sorgfältiger Planung und es waren Entscheidungen zu treffen. Und so wurde jede Lösung, jedes Erreichen eines kleinen Zieles zu einem ermutigenden Argument für die schnelle Bewältigung der nächsten Schwierigkeit.

 

Die unter Wasser tätigen Ingenieure und Arbeiter hatten eindeutige Kennzeichnungen auf ihren Anzügen angebracht. Zu der Zeit, als das Gebäude begann, über die Wasseroberfläche hinaus zu wachsen, erwähnte der Bauleiter in einer der nachmittäglichen Lagebesprechungen, er habe Chan Mee Koi an dem Morgen an der Ostseite des Bauwerkes beobachtet. „So weit von Wei entfernt und ohne Scooter!“, stellte er anerkennend fest.

 

„Ich war heute noch nicht draußen“, wehrte der Gefragte ab, „und ich tauche nie ohne den Scooter.“

 

Ein Fremder, der gesichtet worden war? Ein Schaulustiger, der sich in ungeahnte Gefahr begab? Chan Mee Koi ließ den Sockel des in die Höhe wachsenden Gebäudes ständig von einer Unterwasser-Drohne beobachten und sie bemerkten nach wenigen Tagen zwei Schwimmer in neutralen Anzügen.

 

„Sie gehören nicht zu uns!“, beteuerte der Leiter der Baustelle und schob die fotografischen Aufnahmen wieder über den Tisch zurück. „Sie gehören auch nicht zu den Soldaten des benachbarten Stützpunktes im Norden des Atolls, ich habe bereits mit dem Kommandeur gesprochen. Es müssen Neugierige sein. Touristen, die ein Abenteuer suchen und sich den Bau ansehen.“ Im Norden des Atolls, auf der Insel Dong Sha, befand sich ein Stützpunkt des Militärs, um die Zugehörigkeit des Atolls zur Republik Taiwan zu garantieren.

 

Die Überwachung unter Wasser wurde verstärkt und die unbekannten Besucher bei ihrem nächsten Besuch ergriffen. Es stellte sich heraus, dass es unbewaffnete Kampfschwimmer der nationalchinesischen Armee waren. Über den Zweck ihrer Beobachtung der Bauarbeiten machten sie keine Angaben.

 

Zhang Xun Junxu, der Direktor für alle Sicherheitsfragen bei EBS, war aus der Konzernverwaltung in Taipeh gekommen, um die Aufgegriffenen zu befragen. Xun war mit dem Leitenden Direktor der Katastrophe von Wei Ling entkommen, er blieb Direktor für Sicherheitsfragen, seither vertraute Chan Mee Koi ihm vorbehaltlos. Was gehe hier vor, fragten sie sich. Nahm das chinesische Militär trotz aller Informationen auch für die Pekinger Regierung das Bauprojekt zum Anlass, eine Intervention gegen das den Staat Taiwan auf dem Atoll repräsentierende Militär zu beginnen? Oder hatte Ma Rugu Sabotage im Sinn? Nach seiner Untat in Wei Ling hatte er sich, um nicht an die Polizei ausgeliefert zu werden, dem Urteil Mee Kois im Familienrat unterworfen und war des Landes verwiesen worden. Seither nutzte er seine Kontakte zu den chinesischen Ministerien aus einem früheren Bauprojekt, um den Bau des Seeparks zu verhindern.

 

Eine Entscheidung über die Behandlung der beiden aufgegriffenen Männer war notwendig und Chan Mee Koi rief Gei Ju-Guang, den Kommandanten des Militärstützpunktes auf der Hauptinsel im Norden des Atolls an. Sie hielten ohnehin alle paar Tage Kontakt, nicht nur wegen der gemeinsamen Nutzung des Luftraumes. „Haben Sie Hinweise auf die Herkunft der Männer? Ein Schnellboot oder ein U-Boot?“

 

„Nein, Freund Mee Koi“, antwortete Ju-Guang. „Bereits nach der Rückfrage Ihres Baustellenleiters haben wir das Meer beobachtet, aber keine Hinweise gefunden. Ich nehme Ihnen die Gefangenen ab und übergebe sie dem Sicherheitsdienst des Verteidigungsministeriums.“

 

Dann würde daraus eine militärische Konfrontation entstehen, ein Konflikt mit unabsehbaren Folgen, an dem Mee Koi kein Interesse hatte. Der Fortgang der Bauarbeiten durfte nicht gefährdet werden. Er entschloss sich, Kiang Rong Nan, einen Freund seit der Schulzeit, in Taipeh anzurufen. Rong hatte sein berufliches Leben dem Militär gewidmet, er war Mitglied im Lenkungsausschuss der Zentralen Militärverwaltung. Sie hatten seit Monaten nichts voneinander gehört. Nach dem Austausch der nach alter Sitte gebotenen Höflichkeiten schilderte Mee Koi ihm sein Problem. „Es würde die Heißsporne im Militär auf beiden Seiten ermutigen“, vermutete Freund Rong. „Kann ich dir helfen, den Besuch auf ziviler Ebene zu regeln?“ Im weiteren Verlauf bot er an, eine Yacht unter privater Flagge, aber mit militärischer Besatzung zur Verfügung zu stellen, die die beiden Kampfschwimmer für eine kurze Zeit im Bereich der Baustelle in sicheres Gewahrsam nehmen würde, bis eine Regelung gefunden sei.

 

Also war eine endgültige Regelung der Lage noch nicht gefunden. Mee Koi bat Chàng Yangchang in einem dringenden Gespräch um Hilfe. Yangchang war zu dieser Zeit noch der Persönliche Referent des Regierungschefs von Hongkong und deshalb der Vermittler zu der Verwaltung von Hongkong und zu der Regierung in Peking. Seit kurzer Zeit war er mit eigenen Investitionen Partner von EBS in allen Fragen, die die künftig auf den Seepark orientierten Besucherströme in Hongkong betrafen. „Sie gefährden den Ausgleich gemeinsamer Interessen und außerdem sich selbst und ihr Leben“, mahnte Mee Koi. „Sie dürfen das Projekt nicht gefährden. Ihre Anwesenheit ist sinnlos, denn ich gewähre jedem Beauftragten der Pekinger Regierung uneingeschränkte Auskunft vor Ort.“

 

„Wo sind die beiden Männer jetzt?“, fragte Yangchang.

 

„Noch auf meiner Baustelle in sicherer Verwahrung. Aber ich habe auch schon mit dem Militär und der Polizei in Taipeh gesprochen“, informierte Mee Koi ihn.

 

Yangchang versprach, sich um die Klärung der Angelegenheit zu kümmern und es gelang ihm, Bewegung in den Konflikt zu bringen. Nach mehreren langen Ferngesprächen mit dem Beauftragten der Pekinger Regierung für wirtschaftliche Beziehungen mit Taiwan und dem Innenministerium in Taipeh wegen der Einreiseerlaubnis wurde eine Einigung darüber erzielt, eine private Delegation auf der Baustelle zu empfangen, die sich informieren und die beiden Kampfschwimmer mit sich nehmen würde.

4. (ohne Titel)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erklärung:

 

Die Zahl Vier, 'si', ist eine Unglückszahl.

 

Sie klingt lautlich ähnlich wie das gleich geschriebene, aber anders betonte Wort 'si', das so viel wie 'sterben' bedeutet.

 

Deshalb ist die Zahl Vier, 'si', zwar vorhanden, aber nicht zu verwenden.

5. 2018: Ein wichtiges Ereignis

 

Der Bau des Seeparks auf Nam Wei war ein ständiger Kampf mit der Natur und eine Herausforderung für die Spezialisten, weil es für ein solches Projekt keine Erfahrungen gab. Später, bei dem zweiten Bauabschnitt auf Bei Wei, würden sie sich an Gleichartiges erinnern. Aber Nam Wei war für alle Beteiligten ein tägliches Abenteuer.

 

Viele Jahre später, sollte Chan Mee Koi jemals zur Ruhe kommen, würde er sich vielleicht einmal fragen, welchen Ereignissen eine besondere Bedeutung zustehe. Jeder mutige Schritt in eine ungewisse Zukunft hatte seine Bedeutung und seine Folgen. Aber es gab Fortschritte, ohne die der Plan hilflos gescheitert wäre.

 

Ein solcher Schritt war der im Frühjahr 2018 nach knapp zwei Jahren Bauzeit mögliche Einbau der Folie über dem Rohbau des Seeparks Nam.

 

Diese Folie war eine spezielle Weiterentwicklung eines Unternehmens im Norden Chinas, die sich bereits bei dem Bau und dem Betrieb der Himmelsdrachen bewährt hatte. Die fast völlig durchsichtige Hülle ersetzte Dach und Außenwände als Wetterschutz für Gebäude und Plätze und diente zugleich der Regulierung des Klimas in der Anlage und der Gewinnung von Energie aus dem Licht der Sonne. Der zentrale Mast, das Gerippe der die Folie tragenden Konstruktion und eine auf halber Höhe um das gesamte lang gestreckte Gebäude laufende Reling ragten seit Tagen in den blauen Himmel, so als warteten auch sie auf das große Ereignis. Die Folie war bereits vor Wochen von Wao Chil-Mee mit seinem älteren Luftschiff, dem Feichàn, aus Harbin im Norden des chinesischen Festlandes geholt worden und lag auf dem Baufeld Süd-Fang im Süden der Insel, dort wo für den Bau die Fertigteile produziert wurden, in großen Rollen bereit. Als die Meteorologen für ein paar Tage Windstille vorhersagten, gab Mee Koi in der Sitzung der Projektgruppe die erforderliche Anweisung.

 

Am frühen Morgen des folgenden Tages schwebten sie über das Meer heran. Zwei große Himmelsdrachen waren mit einem langen und breiten Gitter unter ihren Leibern verbunden. Es diente der Harmonisierung der Fahrtbewegungen der beiden riesigen Luftschiffe, aber in erster Linie der großflächigen Verteilung der zu transportierenden Last. Unter dem Gitter hing die Folie, in drei endlos lang erscheinenden Rollen angeordnet. Sie hatten lange darüber diskutiert, wie groß die einzelnen Teile für die Montage sein dürften und sich schließlich entschlossen, die gesamte Länge des Gebäudes nur einmal zu unterteilen und die Breite in drei Teilstücken zu überdecken. Nun sollte sich zeigen, ob ihr Mut belohnt würde.

 

Die mittlere Rolle senkte sich herab und die Folie wurde am zentralen Mast hoch über dem großen Platz und über der West-Mole fixiert. Die beiden äußeren Rollen gaben ihre Last frei, die Folienteile sanken beiderseits über die Reling hinab. Eifrige Hände eilten von Pfeiler zu Pfeiler, um die Folie zu befestigen, dreihundert Meter auf jeder Gebäudeseite. Aber es gab keine Pause, um sich über die gelungene Arbeit zu freuen. Eine Windbö von Osten kommend hätte die Arbeit zerrissen.

 

Gegen Mittag kam die zweite Hälfte der Folie, um das riesige Zelt zu schließen. Derselbe Ablauf: Die Folie absenken, an dem Mast und an der Ost-Mole sichern, an den Pfeilern befestigen. Eine ferngesteuerte Maschine ähnlich den „Kletterern“,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sig Meuther
Bildmaterialien: Sig Meuther
Cover: Sonja Rosenthal
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2023
ISBN: 978-3-7554-4665-1

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