War dieses der Anfang einer tragischen Geschichte? Oder ist es leichtfertig, hier zu beginnen, weil immer wieder die Gelegenheit bestand, den Kurs zu ändern und den Ereignissen eine andere Richtung zu geben? Aber wenn unerwartet Umstände eintreten, die nicht vorhersehbar waren, wenn sie sich überschneiden, wenn es nicht mehr möglich ist, den Folgen auszuweichen, dann muss man fragen: Begann es hier?
Diesen Abend, diesen einen Abend in der Kapitänskajüte würden sie nie wieder vergessen! Sie würden sich in guten Stunden dankbar an ihn erinnern, in schlechten Zeiten würden sie wünschen, sie hätten sich die Idee sofort wieder aus dem Kopf geschlagen.
Die schlechten Zeiten würden schon bald überwiegen.
In ihrer tiefen Sorge um ihre wirtschaftliche Zukunft war dort die Idee entstanden. Sie hatten Tee getrunken und Rupert, der Kapitän, hatte es ausgesprochen. Sie dachten zunächst, der Gedanke sei nur aus Ratlosigkeit, aus einer Laune heraus aufgekommen. Und sie brauchten Tage, um abzuwägen, ob aus dem Gedanken ein Plan entstehe, der eine Zukunft habe. Ob sie den Mut aufbringen könnten, dem ungewissen Weg zu folgen. Aber was hatten sie schon zu verlieren? Sie hatten beide keine Familie zu versorgen, waren nur sich selbst verantwortlich.
Rupert Mulders war zu dieser Zeit dreiundvierzig Jahre alt. Er war untersetzt und kräftig und niemand hätte in einer Hafenkneipe mit ihm Streit gesucht. Seine Haare waren von der Zeit im Seewind hellblond geworden, der trug sie aus Bequemlichkeit kurz geschnitten und ohne besondere Form. Er bewegte sich, wie man es in alten Western-Filmen gewohnt war, breitbeinig und mit wiegenden Schritten. Henning neckte ihn deshalb oft damit, sie seien gerade an Land, das schwanke nicht wie ein Schiff. „Sei du erst mal so lange an Bord wie ich“, bekam er dann zur Antwort. Rupert Mulders hielt sich für einen Praktiker der Alten Schule, wie er es nannte, er hatte als Kapitän das Patent für Große Fahrt.
Rupert stammte aus einer der Seefahrt zugewandten Familie, die vor zwei Generationen nach Wilhelmshaven gezogen war. Sein Großvater Knut fuhr im 2. Weltkrieg zu See und hatte das Glück, den Untergang seines U-Bootes zu überleben. Sein Vater Henning bewarb sich als Achtzehnjähriger, als im Frühjahr 1956 das Schnellbootlehrgeschwader der Bundesmarine in Kiel aufgestellt wurde. Er tat das einerseits aus Respekt vor der Lebensauffassung seines Vaters und andererseits aus Mangel an interessanten Ausbildungsplätzen und wurde bereits nach wenigen Jahren Soldat auf Lebenszeit. Rupert dagegen sah die Aufgaben seines Vaters und wuchs mit dem inneren Konflikt auf, den seine Freunde mit der in den Achtzigerjahren unter Jugendlichen weit verbreiteten Ablehnung der Bundeswehr am Leben hielten. Einerseits lehnte er das Militärische ab. Grundsätzlich, aber auch wegen des Gefahrenpotentials, das von seinen Einrichtungen ausging, aber auch auf sie einwirken konnte. Andererseits reizte ihn das Fahren auf den von ihm als fast grenzenlos empfundenen Weltmeeren. Also suchte er sich nach dem Abitur eine Ausbildungsmöglichkeit in der zivilen Seefahrt. Sein Vater reagierte unzufrieden, forderte dann aber seinen Ehrgeiz heraus: „Wenn du es tun musst, dann tue es“, ermahnte er ihn, „aber tue es richtig!“
Henning Krautner war fünf Jahre jünger. Er war schlanker, wirkte trotz seiner dunkleren Haare wie der kleine Bruder des Kapitäns. Er hatte das Befähigungszeugnis als Technischer Wachoffizier.
Henning stammte aus dem münsterländischen Hiltrup, einer Kleinstadt, die gerade nach Münster eingemeindet worden war und in der Wasser nur in gebändigter Form im Dortmund-Ems-Kanal vorkam. Die Eltern hatten im Süden der Stadt einen landwirtschaftlichen Betrieb, den der ältere Bruder übernehmen würde. Da lag es nahe, dass Henning Maschinenbau studierte, als die Bundeswehr ihm nach vier Jahren als Zeitsoldat Übergangshilfen gewährte. Nach dem Studium fuhr er ein paar Jahre zur See, um seinem Drang nach Abenteuern in der großen weiten Welt zu folgen. Die gesammelten Erfahrungen veranlassten ihn, die Fachschule für Seeschifffahrt zu besuchen, um auch das Patent als Kapitän für Große Fahrt zu erwerben. Nach dem zweiten Semester nutzte er die Ferien, um sich in der Praxis wieder mal den Wind um die Nase wehen zu lassen. Er geriet an Rupert Mulders, der zu dieser Zeit noch als Erster Steuermann fuhr, sie wurden Freunde und er ging nicht wieder zur Fachschule zurück. Krautner war der Intellektuellere, der Gründliche von beiden. Er hatte nicht nur seine technischen Anlagen im Griff. Er interessierte sich für finanzielle Aspekte, für Effektivität der Schiffsführung und alle nautischen Probleme. Dazu gehörte es für ihn, Pfeife zu rauchen. Eine Zigarette blase ihm an Bord der Wind aus dem Gesicht, sagte er, als Rupert ihn einmal fragte, warum er nicht eine schnelle Zigarette rauche. Die Pfeife gebe ihm ungefährdeten und längeren Genuss.
Während der letzten Krise der Weltwirtschaft Anfang der Zehner-Jahre standen sie vor dem Aus. Der internationale Handel war trotz aller Gegenwehr eingebrochen. Die Frachten über See verminderten sich dramatisch und die geringere Menge drückte die Frachtraten. Die ersten großen Massengutfrachter lagen in möglichst windgeschützten Meeresbuchten in Wartestellung vor Anker und die Mannschaften wurden nach Hause geschickt.
Sie waren ein paar Jahre zuvor zu der Reederei RAHNA Logistics auf einen Stückgutfrachter gewechselt. Von Helsinki runter bis Kapstadt und wieder zurück. Sozusagen im Linienverkehr in jeden Hafen, in dem es etwas abzuladen oder abzuholen gab. Trampfahrt. RAHNA war eine indische Reederei mit Sitz in Bombay, ihr Schiff fuhr aber unter der Flagge der Seychellen. Rupert Mulders, dessen Aussehen und seine kurz angebundene Art den praktischen Alltag in den Häfen erleichterte, fuhr als Kapitän des Schiffes und zugleich als Erster Steuermann, Henning Krautner war dem Freund gefolgt. Er hatte sich daran gewöhnt, dafür zu sorgen, dass alles, was Rupert bestimmte, auch seine Ordnung hatte. Er fuhr als Schiffsingenieur. Sie waren die einzigen ausgebildeten Nautiker, alle übrigen in der Besatzung waren angelernte gutwillige Ahnungslose. Dann kam die Order mit ihrer Kündigung. Sie hatten den Hafen von Soyo und die Mündung des Kongo verlassen und Kurs nach Süden genommen. Die Reise ende in Kapstadt, hieß er in der Mitteilung der Reederei. Eine Rückreise sei nicht geplant. Deshalb sei das abgeladene Schiff der Hafenbehörde zu übergeben und die Zahlung ihrer Heuer werde eingestellt.
Bis nach Kapstadt redeten sie sich die Köpfe heiß! Was mit dem Schiff, was mit der Mannschaft zu geschehen habe. Wie es mit ihnen weitergehen könne.
Der Hafenkapitän in Kapstadt brüllte zornig, er könne im Hafen keinen Dauerliegeplatz zuweisen, er brauche den Platz an den Kais, es lägen bereits genug stillgelegte Schiffe herum.
Im Hafen lag auch ein kleineres Schiff, ein Küstenmotorschiff, ein Kümo, am Kai. Das brachte Rupert Mulders auf einen Gedanken, der ihm gefiel. „Was hältst du von folgender Idee, Henning?“, fragte er. „Wir kaufen uns ein Schiff und fahren dieselbe Strecke wie bisher schon.“
„Und wie stellst du dir das vor?“, Henning Krautner konnte dem Vorschlag noch nichts abgewinnen.
„Wir gemeinsam! Jeder die Hälfte! Partenreederei! Die Boote kosten jetzt doch nicht viel.“
Krautner blieb noch skeptisch: „Ich habe aber kein Geld. Ich wäre schon dankbar, wenn RAHNA den Rückflug nach Deutschland bezahlen würde.“
„Geld!“, wehrte Rupert Mulders ab, das schien ihm das schwächste Argument gegen seinen Plan zu sein. „Geld!“, wiederholte er. „Wir müssen doch etwas für uns tun! Ich habe schon mal Flagge gezeigt. Die waren dort ganz neugierig. Richtig heiß. Die Banken finanzieren doch noch immer alles, was schwimmen kann.“ Dann grinste er: „Nur bei Enten und Gänsen ist das schwierig. Wegen des Zertifikats über ihrer Hochseetauglichkeit.“
Henning Krautner war der Vorsichtige unter ihnen, er mochte auf den Scherz nicht eingehen. „Und wie soll das gehen? Wenn selbst die größeren Reedereien in Schwierigkeiten geraten?“
Sie hatten das Boot noch nicht an den Hafenkapitän übergeben können und saßen in der Kapitänskajüte. An den Abend würden sie sich später noch oft erinnern. Auf dem Tisch lag eine Seekarte mit dem Gebiet des Hafens von Kapstadt, sie lag dort wie eine Tischdecke auf dem im Laufe der Jahre abgeschabten Holz. Mulders lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Wir lassen das Boot im Schiffsregister von Liberia eintragen. Das geht schnell und einfach. Fahren also unter einer Billig-Flagge. Wir zwei Nautiker und ein paar billige Hände dazu. Dieselbe Arbeit wie bisher, aber für unsere eigenen Taschen!“
Das machte Henning Krautner neugierig. „Ist ja alles gut und schön“, gab er zu, „wir wissen schließlich, wieviel wir für RAHNA verdient haben. Aber wie willst du an Fracht kommen?“
„Wir fahren auf derselben Strecke“, wiederholte Mulders. „Wir kennen die Auftraggeber, die Makler, das Seerecht und das übliche Verfahren. Wir können billiger fahren als RAHNA und übernehmen deren Kunden.“
Sie redeten ein paar Tage lang über das Für und Wider, sprachen sich Mut zu, sahen auch keine Alternative.
Es dauerte ein paar Wochen, bis sie ein Schiff fanden, das ihren Vorstellungen und ihren finanziellen Möglichkeiten entsprach, und alles Notwendige geregelt war. Es lag in der Lagune von Lagos auf Reede. Der Eigner hatte es für den Transport von Containern umbauen lassen wollen, den Plan aber wegen der immer niedriger werdenden Frachtraten aufgegeben. Es hatte bis zu seiner Stilllegung an der Westküste Afrikas Schüttgut und Stückgut befördert. Sie machten das Schiff fahrbereit, tauften es auf den Namen „Ruping Star“ und ließen es im Schiffsregister von Liberia eintragen.
Es war für ihn zu mehr als nur zu einem zweiten Hobby geworden. Begann ein Tag anders, wurde es kein guter. An manchen Tagen war es mühsamer, etwa wenn der Nordwest mit Regen über die Elbe kam, aber er hatte mit sich vereinbart, dass Nachlässigkeit nicht infrage komme. Und er würde dann eben eine windgeschützte Strecke nehmen. Horst Wümpelmann liebte es, zu laufen, morgens, bevor er zur Arbeit ging.
Er hatte eine Drei-Zimmer-Wohnung in dem ersten Block an der Bahnhofstraße auf der Südseite von Brunsbüttel. Wenn die Anderen ihren Garten in Ordnung halten oder die Straße fegen mussten, dann hatte er Freizeit. Dann zog er durch den kleinen Stadtteil südlich des Nord-Ostsee-Kanals, ging zum Sport oder zum Biertrinken. Die Möglichkeiten zu Beidem waren weniger geworden, umso wichtiger war es ihm, sie zu nutzen, so lange es sie gab.
Er kannte inzwischen jedes Haus und jeden Pflasterstein. Er sprach mit jedem, der ihm begegnete, auch wenn es nur wenige belanglose Bemerkungen waren. Mit der alten Frau Schwarten, die in der Fährstraße zumeist auf ihrem Rolli saß, um sich für den Heimweg zu erholen und die noch aufzählen konnte, was es früher im Stadtteil gegeben hatte, einen Kaufmann, eine Filiale der Sparkasse, einen Blumenladen. Und eine Grundschule. Er sprach mit der kleinen Meike, wenn er sie in der Sandkiste hinter dem Wohnblock traf. Die Fünfjährige hatte ihm an der Einmündung der Bahnhofstraße in die Fährstraße zugewunken, als sie zum Kindergarten ging, so als ob sie ihn von einem Besuch bei ihren Eltern kenne. So lange es noch Kinder auf der Südseite gab, würde das Wohngebiet nicht aufhören zu leben. Er sprach mit den Zöllnern und mit den Polizisten vom Wasserschutz. Horst Wümpelmann wusste, was gerade geschah. Er bemerkte jede Veränderung.
Die Meinungen der Menschen im Ortsteil waren nach der Ansiedlung der Industrie zwiespältig geworden und es hatte sich nicht mit den Jahren gebessert. Man befürchtete, dass Wohnen und Industrie sich nicht vertragen würden, einerseits wegen des Gefährdungspotentials und wegen der Immissionen, die von den Industriebetrieben ausgingen, andererseits wegen der Einschränkungen für die Planungen der Großbetriebe durch das Wohngebiet. Und deshalb schieden sich hier die Geister. Die Einen zogen weg, auf die Nordseite oder nach Burg oder in eines der Dörfer hinter dem Industriegebiet, nach Kudensee oder Ecklak, und die Anderen beteuerten, wenn man sie fragte, sie würden den gewohnten Stadtteil nie verlassen. Nie, komme was da wolle. Zu diesen gehörte jetzt auch Horst Wümpelmann.
Als er der alten Frau Schwarten vor einiger Zeit seinen Namen nannte, hatte sie ihn gefragt, ob er sie noch gekannt habe, die alte Frau Wümpelmann. Ja, für Frau Schwarten waren alle Leute, die sie von früher kannte, inzwischen ebenfalls alte Leute. Und an die noch Älteren, auch wenn sie nicht mehr da waren, erinnerte sie sich, trotz ihres eigenen hohen Alters. Frau Wümpelmann hatte das Gelände an die Stadt verkauft und die Stadt hatte ein Wohngebiet daraus gemacht, die „Wümpelmann’sche Weide“, zu einer Zeit, als das Wohnen auf der Südseite noch gefördert wurde, als die Einwohnerzahl mit neuen Baugrundstücken „stabilisiert“ werden sollte. Als man preiswerte Baugrundstücke für junge Familien anbieten wollte, um die Zahl der Einwohner und der Schulkinder zu erhöhen. Als die Diskussion über die Verträglichkeit mit der Industrie noch nicht aufgekommen und ihre Schärfe gewonnen hatte. Nein, hatte Horst gesagt, die Großtante habe er nicht mehr kennengelernt, das sei ja auch inzwischen fast sechzig Jahre her und er sei erst zweiunddreißig Jahre alt. Er hatte schon früher davon gehört und fühlte sich besonders auch deshalb mit seinem Wohnplatz auf das Engste verbunden.
Jetzt, Anfang Februar, begann die Morgendämmerung schon merklich früher. Das machte es leichter, zu laufen. Er trug noch das Stirnband mit der kleinen Lampe, brauchte sie aber kaum noch. Dreißig Minuten laufen, unter die Dusche, ein kurzes Frühstück und dann zur Arbeit im Elbehafen: So liebte er den Start in den Tag.
Leichter Dunst lag über dem Wasser des Nord-Ostsee-Kanals, deshalb hatte er sich spontan für die Strecke zur Mole 1, die die Einfahrt in die kleinen, die alten Schleusen flankiert, entschieden. Der Geruch der Schiffe, der vom Kanal herüberwehte. Die riesige Baustelle auf der Schleuseninsel, aus deren sich langsam verändernden Silhouette er auf den Fortgang der Arbeiten zum Bau der fünften Kanalschleuse schloss. Das weiche Licht der aufgehenden Sonne, das die kleinen Wellen auf der Elbe aufblitzen ließ. Besonders jetzt im Frühling der weiße Schimmer des frühen Tageslichtes im Dunst über dem Wasser, der dem Fluss vor Jahrhunderten seinen Namen gegeben hatte: Alba, der Weiße. Der erdige Duft aus den Kleingärten an der Cuxhavener Straße, an dem er mit geschlossenen Augen die Jahreszeiten hätte unterscheiden können. Er beobachtete den Wind und die Wolken und schloss daraus auf die Entwicklung des Wetters. Seine Schlussfolgerungen waren zumeist präziser als die Vorhersagen im Fernsehen.
Aber da war heute Morgen noch etwas anderes. Horst Wümpelmann blieb kurz stehen. Etwas Verbranntes lag in der Luft, sie schien ihm schwerer und feuchter als sonst. Es roch nicht nach dem in den Motoren der Schiffe verbrannten Schweröl, aber auch nicht nach einem Gartenfeuer, was es zu dieser Jahreszeit ohnehin nicht gab. Eher dazwischen, dachte er. Ob es auf der Baustelle auf der Schleuseninsel gebrannt hatte? Er sah sich um, sah aber keinen Rauch, kein Feuer. Und dann vergaß er es schnell wieder. Auf dem Kanal wurde ein Ponton mit einem großen Bauteil zur Schleuse geschleppt. Er lief über den Südkai zurück, um das Wenige sehen zu können, was es auf diese Entfernung über den weiten Binnenhafen hinweg zu sehen gab. Er fotografierte den Schleppzug und freute sich erneut über die gute Optik seines Handys. Erst am Zollamt bog er wieder ab zurück auf die gewohnte Laufstrecke.
Hein Sühlsen war bereits seit knapp sechs Jahren Rentner. Er hatte über vierzig Jahre lang beim Wasserbauamt gearbeitet, damals nannte man die Dienststelle am Südkai so. Inzwischen war da ja alles umorganisiert worden und die Schilder mit der Bezeichnung der Dienststelle neben dem Eingang in das historische Ziegelsteingebäude wechselten fast jedes Jahr. Nur der Sprachgebrauch blieb für die Älteren derselbe.
Damals hatte der Personalrat noch großen Einfluss auf die Dienststellenleitung. Als er vom Roten Kreuz wegen eines Bandscheibenvorfalls vom Arbeitsponton im Binnenhafen geholt werden musste, sorgten die Kollegen dafür, dass er sich nach der Operation und der Entlassung aus dem Krankenhaus in Ruhe erholen konnte. Dann setzten sie sich dafür ein, dass er als Pförtner und Telefonist beschäftigt wurde und so die restlichen zehn Jahre bis zu seiner Altersgrenze arbeiten konnte. Die Rente reichte nicht für große Sprünge, aber seine Frau und er kamen zurecht.
Seine Frau arbeitete in all den Jahren, sie hatten keine Not erlebt. Damals, sie ging in die Schule an der Jahnstraße putzen, kauften sie sich ein Jahr nach ihrer Hochzeit eines der kleinen Reihenhäuser in der Frischstraße. Das war eine schwere Zeit, aber es war eine richtige Entscheidung gewesen, wie sie sich immer wieder gegenseitig versicherten. Die monatlichen Zahlungen für den Kredit, die die Sparkasse pünktlich erwartete, sparten sie sich vom Mund ab, ohne dass es ihnen wie Not vorgekommen wäre. Ein bisschen Schwarzarbeit half. Und der Kleingarten! Hein Sühlsen gehörte zu den Leuten, die als Kind von ihrem Vater das Gärtnern beigebracht bekommen hatten. Und weil das Geld knapp war, wurde eben im Kleingarten an der Cuxhavener Straße angebaut und geerntet, was der Boden hergab. Kartoffeln, die bis zum Frühjahr reichten. Erbsen und Bohnen, der Platz in der Kühltruhe wurde im Herbst knapp. Erdbeeren. Das Haus mit dem winzigen Garten bewohnten sie noch heute, es war inzwischen schuldenfrei und ersparte es ihnen, von der Rente Miete zahlen zu müssen.
Dann hatten sie ihn zum Vorsitzenden des Kleingartenbauvereins Süd gewählt. Es war Hein immer gelungen, etwas Notwendiges zu organisieren. Einen Trecker mit einer Fuhre Mist, um im Frühjahr zu düngen. Die Reparatur des Rasenmähers des Vereins in der Werkstatt des Wasserbauamtes, natürlich erst nach Feierabend. Als die Entwässerung des Wohngebietes und des Gartengeländes durch das Deichsiel verstopft war, setzte er dem dafür gar nicht zuständigen Bürgermeister so lange zu, bis er seinen Bauhof schickte. Hein war der Erste, der mit einer Wathose in dem kleinen Fleet stand, und bis zum Abend waren das Siel gereinigt und der stinkende Schlamm abgefahren. Einen so tatkräftigen Mann brauchte der Verein als seinen Vorsitzenden. Das war inzwischen fünfundzwanzig Jahre her. Nach seinem Bandscheibenvorfall nahmen die Mitglieder des Vorstandes ihm alle körperlichen Arbeiten in der Gartenanlage ab und jetzt war Heinrich Sühlsen noch immer Vereinsvorsitzender.
Sie trafen sich an einem Tag Anfang März frühmorgens an der Fähre. Horst Wümpelmann kam von seinem morgendlichen Lauf zurück, wieder von der Mole 1. Heinrich Sühlsen saß auf seinem Fahrrad, hielt sich an der Verkehrsampel fest und wartete darauf, auf die nächste Fähre fahren zu können.
„Moin Hein!“, freute Horst sich, ihn unerwartet anzutreffen, nachdem er seinen Kurs verlassen und zu ihm hingelaufen war. „Was machst du schon so früh an der Fähre?“
Heinrich Sühlsen wies hinaus auf das Wasser, auf dem sich die Fähre näherte, und er wäre fast vom Fahrrad gefallen. Die linke Hand benötigte er, um sich an dem Mast der Ampel festzuhalten. Mit der rechten Hand hatte er hinausgewiesen und das Fahrrad war dadurch haltlos geworden. „Ich muss rüber“, sagte er und stieg vorsichtshalber vom Sattel. „Einkaufen. Hille sagt, ihr fehlen ein paar Sachen.“ Er hatte zwei große Satteltaschen am Fahrrad, wie immer, wenn man ihn mit seinem Fahrrad traf.
Hille, Hildegard, war seine Frau. „Du bist doch froh, dass sie dich losschickt. Dass du rauskommst. Aber so früh? Hast du noch so viel vor heute?“ Aber so war Hein Sühlsen, dachte Horst. Die meisten Leute hätten jetzt gejammert, dass es nichts mehr auf der Südseite gibt. Dass man wegen Allem „rüber“ müsse. Dass das früher ja alles viel besser gewesen sei, die Stadt aber nichts mehr für den Ortsteil tue. Nicht so Hein Sühlsen. Es war eben jetzt so, musste wohl so sein. Und wenn etwas getan werden musste, dann tat er es sofort, später würde es ihm
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: artwize
Cover: artwize
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2020
ISBN: 978-3-7487-7741-0
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