Cover

1. Eine Schadensanzeige

 

Der kleine grüne Radlader stand im ablaufenden Wasser des Priels. Aus dem nur langsam freiwerdenden Profil seiner großen schwarzen Reifen sickerte der von der Flut zurückgebliebene Schlick in braunen Schlieren. Der Ausleger war abgesenkt, seine Schaufel tief in den nassen Sand des Ufers eingetaucht, eine Möwe saß auf ihr und beobachtete den Spülsaum.

Es war noch früher Morgen, an einem Mittwoch im September. Ein Mann stürmte mit polternden Schritten in die Wachstube der Polizeistation in Büsum: „Es geht um den Radlader! Mit wem habe ich telefoniert?“

Der Wachhabende sah auf: „Guten Morgen! Wie ist denn Ihr Name?“

„Lau“, antwortete der Gefragte. „Ich bin der Vorarbeiter. Ich hab vorhin angerufen. Es geht um den Radlader!“

Polizeimeister Ole Reimers fand, der Tag fange nicht gut an. Die Ferien waren zu Ende und es gab endlich für die Polizei wieder weniger Arbeit. Dafür kam dieser verwirrt erscheinende Mann. „Was ist mit dem Radlader?“, fragte der Polizist.

„Der war weg“, beschwerte Lau sich. „Einfach weg, heute Morgen! Dann hab ich ihn gefunden, vom Deich aus, da kann man ja weit gucken. Der steht mitten im Priel. Und das geht doch nicht!“

„Nein“, bestätigte Reimers, „ein Radlader im Priel, das geht wirklich nicht. Wie kam er denn da hin?“ ‚Treibstoff, Schmierstoffe, Wasserverschmutzung‘, ging es ihm durch den Kopf. Naja, dachte er, besser im Priel als in Polen. Man war da ja noch so einiges gewohnt. ‚Stop!‘, wies er sich zurecht. Das hätte vor ein paar Jahren so sein können, und er müsste sich endlich solche Gedanken abgewöhnen! Jetzt war Polen als befreundetes Land in der EU, aber die Gedanken und die Witze über Polen waren noch immer im Kopf. Der Inspektionsleiter hatte kürzlich kritisiert, so etwas dürfe man als Polizist noch nicht einmal denken. Und wo hatte man den in Süddeutschland vermissten großen Autokran schließlich gesehen? In Ägypten!

„Landgewinnung“, erklärte Lau und schreckte den Polizeibeamten aus seiner Nachdenklichkeit auf. „Im Norden. Vor Stinteck. Wir brauchen den Radlader für den Bau der Lahnungen.“

Reimers  nickte mit dem Kopf. Er war am Wochenende auf dem Deich gelaufen. Zweimal in der Woche fünftausend Meter. Das braucht er, um fit zu bleiben. Dabei hatte er die Baustelle gesehen. Zwei Container und der Radlader hinter dem Deich auf dem Rüstplatz, ein Dixi-Klo im Vorland. Er hatte sich noch gewundert: eine neue Baustelle im Vorland zum Herbstbeginn? „Und den Radlader haben Sie gestern Abend vergessen und außerdem auch noch den Schlüssel stecken lassen?“, vermutete Reimers.

Lau wurde fast wütend, hielt einen Schlüsselbund klirrend in die Höhe. „Doch nicht bei mir!“, gab er heftig zurück. „Der stand auf dem Rüstplatz, wo er nach Feierabend hingehört! Ich habe ihn selbst dort abgestellt. Den Kerl, der das gemacht hat, den müssen Sie finden! Das wird teuer für ihn! Was mit der Maschine ist, das können wir erst nach der Bergung sehen!“

Polizeimeister Reimers begann, die notwendige Anzeige gegen Unbekannt aufzunehmen. Lau wurde ungeduldig.

Zwei Tage später sah Kriminalhauptkommissar Hans Jensen in der Kriminalpolizeistelle in Heide die Meldung auf dem Bildschirm. Jensen sah alle Meldungen der Polizei in ihrem Gebiet, nicht immer sofort, aber spätestens am übernächsten Tag. Das war auf Anordnung des Landeskriminalamtes so eingerichtet worden. Alle Dienststellen sollten besonders aufmerksam auf bestimmte Vorkommnisse achten und ein erfahrener Ermittler müsse sich zusätzlich alle Meldungen ansehen: besondere Ereignisse, Gleichartigkeit, räumliche und zeitliche Häufung. Als Jensen die Meldung aus Büsum sah, drückte er sie gelangweilt weg. Obwohl sie ihn hätte aufmerksam machen müssen. Inzwischen war Freitag. Und bei dem letzten Mordfall hatten sie im Team angemerkt, dass es immer an einem Freitag geschehe. Aber diese Anzeige war ja schon zwei Tage alt.

2. Ermittlungen

 

Nachdem Polizeimeister Reimers die Wache an die Nachmittagsschicht übergeben hatte, fuhr er hinaus nach Stinteck. Der Radlader war inzwischen geborgen und auf den Rüstplatz hinter dem Deich zurückgebracht worden. Lau, der Vorarbeiter, und seine Mitarbeiter hantierten an dem Fahrzeug, um es wieder herzurichten. Wasserverschmutzungen durch Betriebsmittel im Priel draußen oder im Vorland gab es nicht, sagten sie. Das hätten sie auf jeden Fall so gesagt, auch wenn sie durch das Aahrzeug verursachte Spuren vielleicht inzwischen beseitigen mussten. Das Zündschloss war kurzgeschlossen worden, was seinen Betrieb ohne Zündschlüssel ausreichend erklärte. Das Hochwasser hatte den Motorraum und die Kabine geflutet. Es würde erheblichen Aufwand erfordern, das Gerät wieder einsatzfähig herzurichten. Lau schimpfte und die einzige Erklärung, die sie fanden, waren verantwortungslose Jugendliche, die sich mit der Fahrt hinaus einen Spaß hatten machen wollen und dabei im Priel steckengeblieben waren.

Es gab keine Spuren, die auf den Täter hingewiesen hätten. Wären welche im Fahrzeug geblieben, hätte das Wasser sie abgespült. Sogar Fingerabdrücke auf der Tür oder dem Lenkrad hätten dem ein- und ausströmenden salz- und schlickhaltigen Wasser nicht widerstanden.

Polizeimeister Reimers ging zu dem nahe hinter dem Rüstplatz liegenden Campingplatz, um Fragen zu stellen. Bei dem Personal in der Anmeldung. Bei den Gästen, die ihm über den Weg liefen. Lediglich Ernst Loschinski aus Bochum sagte, hier schlafe er IMMER gut, das liege wohl an der Luft. Letzte Nacht sei er aber aufgewacht. Da sei etwas gewesen. Ein Motor oder eine Maschine oder ein Auto, etwas schwereres, behäbigeres als ein Motorrad, und er habe noch gedacht, das müsse doch nicht sein, mitten in der Nacht. Und der Flugplatz habe doch so früh auch noch nicht geöffnet. Aber gesehen habe er nichts. Vielleicht so einen Schatten, wie von einem Auto. Von seinem Wohnwagen aus könne man ja nicht viel von dem, was am Deich geschieht, sehen. Und das sei auch erst später gewesen, so gegen vier, als er einmal aufstehen musste und dabei hinausgesehen hatte, in Richtung Büsum habe er sich bewegt.

Polizeimeister Ole Reimers notierte für seine Akten: ‚Etwa gegen vier Uhr: Fahrzeug auf der Straße Neuenkoog, Fahrtrichtung Büsum. Geschädigter: Land Schleswig-Holstein. Schadensverursacher: unbekannt.‘ Die Anzeige landete auf dem Stapel unerledigter Akten, die man abheften würde, wenn die Zeit dafür da wäre.

3. Einer fehlt

 

Dann kam, eine Woche später, der Anruf des Freundeskreises. Es war keine Anzeige, noch nicht einmal eine Meldung, sondern lediglich eine vorsorgliche Information. Und niemand dachte deshalb zunächst an den grünen Radlader im Priel.

Als die aus vielen Ländern des nahen und des mittleren Ostens stammenden Flüchtlinge auf die einzelnen Städte aufgeteilt wurden, bildete sich in Büsum der ‚Freundeskreis BIENVENUE‘. Man wolle die vor dem Tod geflohenen Menschen willkommen heißen und ihnen bei der Integration in die örtlichen Lebensverhältnisse helfen.

„Ich möchte Sie vorsorglich informieren“, sagte Pastor Hall, der Leiter des Freundeskreises, am Telefon. „Einer unserer neuen Mitbürger, Jussuf Ben Hadar al Anbari, hält sich nicht mehr am Ort auf.“

Der Name sagte ihm nichts. Sie hatten zwar in der Station eine Liste mit den Namen und den notwendigen Personalien. Aber die Jugendlichen ausländischer Herkunft, wie sie sie in ihrem Sprachgebrauch nannten, lebten in der Gemeinde unauffällig. Niemand war bisher in ihren Akten aufgetaucht. Eine ältere Dame hatte sich im Sommer beklagt, weil sich „zwei junge dunkelhaarige Männer“, wie sie sich ausdrückte, neben sie auf eine Bank auf dem Deich gesetzt hatten. Das war ihr unangenehm, aber für die Polizei nicht relevant. „Wollen Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?“, fragte der Wachhabende in der Polizeistation.

„Nein“, wehrte Hall ab. „Sie wissen doch selber, wie behutsam wir mit den traumatisierten Jugendlichen umgehen müssen. Ich will nicht, dass die Polizei gleich ihren gesamten Apparat in Bewegung setzt, mit Vernehmungen der jugendlichen Mitbewohner und mit Fahndungsplakaten. Nur informieren. Ich habe schon mit der Ausländerbehörde gesprochen, dort liegen keine Informationen über eine Rückführung vor. Jussuf wohnt in der Sammelunterkunft mit anderen Jugendlichen zusammen, aber die wissen nichts über ihn. Jussuf sei seit gut einer Woche nicht mehr gesehen worden. Das gibt es ja immer mal, dass einer von ihnen für ein paar Tage verreist, einen Freund oder einen Verwandten zu besucht.“

Der Wachhabende bedankte sich und trug die Information in das Tagebuch der Station ein.

4. Misstrauen

 

Hauptkommissar Hans Jensen in Heide sah den Eintrag im Tagebuch der Station Büsum und wunderte sich. Jussuf Ben Hadar stand nicht als Gefährder unter Beobachtung. Er war auch aus anderen Anlässen bisher nicht auffällig geworden. Aber das hatte noch nichts zu bedeuten. Es gab auch ‚Schläfer‘, die unauffällig lebten, bis sie einen Auftrag erhielten. Und dann fragte natürlich jeder, warum die Polizei das nicht vorher gewusst habe.

Und dabei hatten sie vom Landeskriminalamt mehrere Hinweise bekommen, Hinweise auf Sachverhalte, auf die sie in ihrer alltäglichen Praxis ihre besondere Aufmerksamkeit richten sollten. Eine kleine Welle von Rauschgiftdelikten im Sommer an der Küste, die am Ende der Urlaubszeit mit dem Urlauberstrom aber ebenfalls abklang. Landfahrer, die in betrügerischer Absicht handwerkliche Dienstleistungen anboten. Schleuserbanden und Asylanten ohne Aufenthaltsstatus blieben ein Problem. Sie müssten vorsorglich der unerklärlichen Abwesenheit nachgehen.

Aber wer würde das übernehmen? Matthey, der junge Kommissar? Oberkommissar Weiler mit etwas mehr Erfahrung? Hans Meiners, der ihm immer etwas oberflächlich vorkam? Er bat Wiebke Neudorf, zu ihm zu kommen.

Oberkommissarin Wiebke Neudorf hatte mit ihren neunundvierzig Jahren die meiste berufliche Erfahrung. Und sie hatte einen Sohn, der zwar inzwischen in Berlin studierte, ihr aber ein Gefühl für den Umgang mit halbwüchsigen Jugendlichen gegeben hatte. Wiebke Neudorf war der mütterliche Typ im Team. Zu ihr fanden Jugendliche, aber auch Zeugen und oft sogar Täter Zutrauen. Entsprechend reichhaltig waren zumeist ihre Ermittlungsergebnisse.

„Rede doch mal mit allen“, bat Hans Jensen. „Mit den anderen Jugendlichen in der Sammelunterkunft, ob sie nicht doch etwas wissen. Vielleicht über Freunde. Oder über seine Familie. Ob er vielleicht doch wieder nach Syrien zurückgegangen ist. Aber fange mit Pastor Hall an.“

„Klarer Auftrag“, bestätigte Wiebke Neudorf mit leichter Ironie. Als ob sie nicht selber wüsste, was zu tun ist. Aber so war Hans Jensen eben und sie mochte ihn trotzdem. Man wusste immer bei ihm, woran man war. „Kommst du nicht mit?“, fragte sie in liebenswürdigem Ton mit einem Lächeln. „Die Nordsee ist mir schon zu kalt, aber das Hallenbad ist auch nicht schlecht. Würde dir auch gut tun.“

Wiebke Neudorf suchte stets seine Nähe. Wenn es etwas zu besprechen gab, saß sie gerne etwas länger ihm gegenüber an seinem Schreibtisch. Wenn dann alles Notwendige gesagt war, versuchte sie oft, ein Gespräch über private Dinge aufzunehmen. Hans Jensen war verheiratet und sie hatten seit ein paar Monaten einen Sohn. Wiebke brauchte nur zu fragen, wie es Benjamin denn so gehe. Das reichte dann für eine halbe Stunde. Mit ihm das Hallenbad zu besuchen, in Badekleidung neben ihm mit den Wellen in dem warmen Wasser zu kämpfen, in Bademänteln zur Entspannung auf der Aussichtsterrasse einen Kaffee zu trinken …, Wiebke Neudorf zwang sich mit aller Energie, solchen Gedanken nicht weiter nachzugehen.

Jensen sah sie fragend an und überlegte, ob ihm eine angemessene Antwort einfiele. Wiebke hatte ein paar Pfunde mehr und war eine attraktive Frau. Als ihm bewusst wurde, dass er bereits zu lange nachgedacht hatte, klappte er die schmale Akte mit einer energischen Bewegung zu, weil er sich entschlossen hatte, auf die Einladung nicht einzugehen. "Ich will nicht, dass wir mit dem jungen Mann eine Überraschung erleben. Vielleicht gibt es genug gute Gründe für seine Abwesenheit", sagte er. Dann reichte er die wenigen Blätter über den Tisch, sah ihr wie zu einer Entschuldigung in die Augen und bat: „Mach das mal. Ich höre dann von dir.“

5. Ein zögerlicher Hinweis

 

Als die Ausländerbehörde vor Monaten eine Unterbringungsmöglichkeit für „unbegleitete Minderjährige“, wie sie in der Amtssprache genannt werden, suchte, bot die Gemeinde an, auf dem Sportplatz der Jugendherberge einen Wohncontainer für die Jugendlichen aufzustellen. Sie wurden durch die Herbergseltern versorgt, hatten im Sport Gelegenheit zum Kontakt mit anderen Jugendlichen und konnten von deren Lebensart lernen. Und der Freundeskreis organisierte Sprach- und Eingliederungskurse, nahm die Jugendlichen mit in ihren bürgerlichen Alltag.

„Sie bemühen sich in Ihrem Freundeskreis ja intensiv um die Jugendlichen“, stellte Wiebke Neudorf fest. „Das ist das erste Mal, dass wir uns um einen von ihnen kümmern müssen.“

„Ein Gebot der Nächstenliebe“, stellte Pastor Hall fest. „Eine schwierige Arbeit, deren Ergebnisse aber alle Mühen belohnen. Die Jugendlichen kommen mit vielen Defiziten zu uns.“

„Nun haben Sie der Polizei mitgeteilt, dass einer von ihnen nicht auffindbar ist. Kann er sich bei einem der Mitglieder des Freundeskreises aufhalten? Kann er mit jemand verreist sein?“

„Leider zweifaches Nein“, antwortete Pastor Hall. „Wir haben mit allen gesprochen, niemand hat etwas gesehen oder gehört.“

„Ich möchte mal mit den Jugendlichen reden“, sagte Wiebke Neudorf und bat Pastor Hall, sie zu begleiten. Sie kamen um die Mittagszeit, denn zum Mittagessen mussten alle Gäste in der Jugendherberge anwesend sein.

„Nichts Neues“ sagte die Herbergsmutter und wies auf einen der Gruppenräume, mit einer entschuldigenden Geste, so als mache sie sich wegen der Abwesenheit des Jugendlichen persönliche Vorwürfe. Als wolle sie befürchtete Vorwürfe abwehren. Der lange Sommer mit dem heißen, trockenen Wetter wäre auch ohne die ausländischen Jugendlichen, ohne ‚min Container-Jungs‘, wie sie sie liebevoll nannte, hektisch gewesen. Mit dem Ende der Ferienzeit hatte sie gehofft, der Betrieb werde sich endlich mal wieder normalisieren. Und dann das! Auch wenn sie nicht wusste, was da schiefgelaufen sein konnte, so bereitete ihr doch der verlorengegangene Junge Sorgen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Essen beendet war und mit dem Gespräch begonnen werden konnte.

Die Verständigung mit den Jugendlichen war schwierig, aber Pastor Hall war es gewohnt, sich die Antworten aus Satzteilen in englischer, französischer und deutscher Sprache zusammenzusetzen.

„Könnt Ihr uns sagen, wo Jussuf sich aufhält?“, fragte Pastor Hall. „Wo wir ihn treffen können? Jussuf Ben Hadar, Ihr wisst schon. Vielleicht benötigt er unsere Hilfe.“

Sie redeten los, als müssten sie sich zunächst untereinander eine einheitliche Meinung bilden. Nein, sagte dann einer von ihnen und alle schüttelten den Kopf, sie hätten Jussuf seit vielen Tagen nicht mehr gesehen. Pendant plusieurs jours!, seit vielen Tagen nicht, und alle nickten eifrig mit dem Kopf. Er habe ihnen auch nicht gesagt, dass er verreisen wolle. 

„Hat er Freunde am Ort, bei denen er sich vielleicht aufhält?“, fragte Wiebke Neudorf. „Vielleicht eine Freundin? Hatte er bei den Gästen eine Freundin gefunden, mit der er abgereist ist?“

Wiebke Neudorf spürte eine plötzlich aufkommende Unruhe. Sie sahen sich an, flüsterten nur noch ein paar Worte, rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. „Ihr macht euch doch auch Sorgen um euren Freund“, schob Wiebke nach. „Wenn Ihr etwas wisst, dann sagt es uns doch. Niemand erfährt davon. Und euch wird deshalb auch nichts geschehen.“

„Nein“, sagte einer, der der Älteste von ihnen zu sein schien. „Nicht abgereist. Kein Freund. Keine Freundin. Sie gefiel ihm. Aber sie wollte ihn nicht.“

Das hörte sich nach einem Konflikt an. Sie sah Pastor Hall an, aber er blieb ruhig. „Wer gefiel Jussuf?“, fragte Wiebke Neudorf. „Ein Mädchen hier aus Büsum?“

Sie nickten eifrig mit dem Kopf.

„Und wie heißt die junge Frau?“

Sie wechselten ein paar Worte und es hörte sich an, als verwende jeder von ihnen eine andere Sprache. Dann schüttelten sie wieder einmütig den Kopf, als wüssten sie den Namen nicht. Bis der Älteste von ihnen mühsam einen Namen nannte: „Sswennjaa. Mehr nicht.“

„Svenja?“, vergewisserte Pastor Hall sich. „Svenja Piehl hilft uns gelegentlich im Freundeskreis.“ Er wandte sich zu den Jugendlichen: „Svenja. Sechzehn Jahre alt. Schlank. Schwarze Haare. Brille. Ist sie es?“

Sie schienen unentschlossen, gaben vor, dass ihnen die Beschreibung nichts sage.

„Wir fragen sie“, entschied Pastor Hall.

6. Svenja

 

Als Pastor Hall und Oberkommissarin Wiebke Neudorf vor der Haustür standen und klingelten, saß Svenja Piehl bei ihren Schularbeiten. Sie hatte zwar ihr Smartphone eingeschaltet und auf dem Schreibtisch liegen, war aber mit keiner ihrer Freundinnen verabredet. Deshalb störte sie die Unterbrechung, in ihrer Konzentration auf den Lehrstoff und überhaupt im Ablauf des Nachmittages. Aber sie war alleine zu Hause und musste deshalb selbst zur Tür gehen. Als sie Pastor Hall erkannte, vergaß sie ihren Unwillen.

„Das ist Frau Neudorf von der Kriminalpolizei in Heide. Wir müssen mal mit dir reden“, sagte Pastor Hall und drängte sich in den Hausflur, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Aber der Pastor hatte ihren Respekt, und deshalb blieb Svenja nichts anderes übrig, als die Besucher in das Wohnzimmer zu führen und ihnen Platz anzubieten.

„Wir versuchen, herauszufinden, warum Jussuf nicht mehr in Büsum ist“, sagte Wiebke Neudorf und bemerkte, dass Svenja bei dem Namen leicht zusammenzuckte. „Kennen Sie Jussuf?“

„Dieser Freak!“, wehrte Svenja ab. „Rannte wie Goofy hinter mir her. Hau ab, habe ich ihm gesagt. Aber dann stand er wieder vor der Schule.“

„Und was ist dann passiert?“

„Ach, ich hab den Jungs nur gesagt, sie sollen ihn mir vom Leib halten. Das war ja nicht mehr zu ertragen! Immer stand er irgendwo in der Nähe herum, benahm sich blöd, gab Zeichen, als müsse ich zu ihm kommen!“

„Sind die Jungs aus deiner Schule?“

„Nein“, sagte Svenja. „Mein Freund, Bodo Busch, hat da so eine Clique. Bodo fährt als Jungmann auf einem Kutter. Und ich dachte, wenn Bodo dem Jussuf Prügel androht, dann wird er wohl Ruhe geben.“

Wiebke Neudorf sah Pastor Hall an. „Dann sollten wir jetzt mal mit Bodo reden.“

Svenja begleitete die Besucher hinaus und blieb einen Moment an der Tür stehen. ‚Die Polizei?‘, dachte sie. Sie hatte Bodo gefragt, als Jussuf die ersten Tage nicht mehr auftauchte. ‚Habt Ihr mit ihm gesprochen?‘, fragte sie ihn. ‚Lässt er mich jetzt in Ruhe?‘ Und Bodo hatte sie angesehen, als habe er nur seine Fische im Kopf. ‚Fehlt er dir?‘, hatte er zurückgefragt. ‚Ist besser, wenn du nichts davon weißt, …, was ich ihm gesagt habe.‘ Als ob Jussuf ihr fehlen würde! Aber Bodo war abweisend zu ihr und er ging bald wieder, er habe noch Arbeit auf dem Kutter. Und sie hatte sich gewundert.

7. Bodo

 

Sie brauchten ihn nicht lange zu suchen. Pastor Hall kannte den Hafen und die Liegeplätze der Kutter, deren Anzahl in den letzten Jahren ständig zurückgegangen war. Bodo arbeitete noch auf dem Kutter „Heimkehr 7“. Sie hatten den Fang im Kühlhaus abgeliefert und jetzt war noch klar Schiff zu machen. Netze ordnen, Deck reinigen, die Taue aufschießen.

Als Pastor Hall vom Kai herab fragte, ob er ihnen etwas über Jussuf sagen könne, antwortete er abweisend. „Hören Sie“, sagte er, „ich habe gaaar keine Zeit. Sehen Sie doch. Ich hab zu tun. Und von Jussuf weiß ich nichts.“

„Ich würde mich aber gerne mit Ihnen unterhalten“, sagte Wiebke Neudorf. „Was ist Ihnen lieber: bei der Kripo in Heide, hier bei der Polizei oder bei einer Currywurst und einer Flasche Bier?“

Sie hatten sich schnell auf eine Currywurst geeinigt und Pastor Hall verabschiedete sich, im Gemeindehaus warte auch andere Arbeit auf ihn. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass Bodo mehr auf die Polizistin als auf seine Frage einging, und die Sache mit der Currywurst kam ihm wie eine Bestechung vor.

„Ihr kennt euch doch alle, hier in der Kleinstadt“, begann Wiebke Neudorf, nachdem sie im Imbiss Platz genommen und ihre Bestellung aufgegeben hatten. „Pastor Hall hat uns gesagt, Jussuf Ben Hadar sei seit ein paar Tagen nicht mehr in der Unterkunft. Und wir versuchen jetzt, herauszufinden, wo er sich aufhält.“

„Naja, jetzt wo Sie das so sagen, den kenne ich natürlich“, räumte Bodo nach dem ersten Schluck Bier ein. „Der Larry rannte immer durch die Stadt, als gehöre ihm die Welt. War klebrig wie ein alter Kaugummi.“

„Und Svenja kennen Sie auch? Svenja Piehl?“, vergewisserte sich Wiebke Neudorf.

„Der wollte sie einfach nicht in Ruhe lassen!“, ereiferte Bodo sich. „Und da hat Svenja gesagt, sie wolle nichts mit ihm zu tun haben und ich solle ihm das klarmachen.“

„Und das haben Sie dann versucht und es gab Streit?“

„Der hatte gleich ein Messer in der Hand!“ Bodo war entrüstet. „So ein großes Teil! Damit läuft der durch das Dorf!“ Bodo zeigte mit den Händen, wie groß das Messer nach seiner Erinnerung gewesen war und Wiebke Neudorf dachte unwillkürlich an Sportangler und ihre Schilderungen.

„Hat er Sie verletzt?“

„Ich habe ihm das Messer abgenommen. Dann habe ich ihn verprügelt, ich war so was von wütend! Als er am Kopf geblutet hat, ist er abgehauen.“ Bodo war sichtlich erregt. Er atmete schneller, seine Hände konnten kaum das Bierglas halten.

„Und waren Sie alleine? Oder gibt es Zeugen, die das so bestätigen können?“

„Nein“, sagte Bodo. „Er war alleine, hatte wohl Svenja nach der Schule aufgelauert. Und ich brauche niemand zur Verstärkung.“ Er hörte sich an, als sei er mit seiner körperlichen Kraft zufrieden.

„Wann hatten Sie die Auseinandersetzung?“, fragte sie. „An welchem Tag? Brauchten Sie nicht zu arbeiten?“

„Nein“, sagte Bodo. „Wir fahren nicht jeden Tag raus. Wegen der Fangquote, wissen Sie?“ Zum Tag des Zusammentreffens sagte er nichts.

Wiebke Neudorf hatte noch viele Fragen. Etwa: Wie nimmt man einem Angreifer ein so großes Messer ab? Aber sie stellte weitere Fragen zurück, um seine Bereitschaft, zu reden, nicht zu gefährden.

„Haben Sie eigentlich ein Auto?“, fragte Wiebke Neudorf.

Bodo schien erleichtert. Die Polizistin wechselte das Thema, war wohl mit seinen Antworten zufrieden. „Noch nicht“, antwortete Bodo. „Manchmal kann ich mir das Auto meines Vaters ausleihen. Aber nächstes Jahr, dann will ich ein eigenes Auto haben. Rot mit schwarzem Dach. Weiß ich jetzt schon.“

„Und welche Farbe hat das Auto Ihres Vaters?“

„So dunkel. Hässlich. Schwarz oder blau oder so.“

Ein dunkles Auto war in Stinteck beobachtet worden, in der Nacht, als der Radlader im Priel gelandet war. Gab es da einen schrecklichen Zusammenhang? Oberkommissarin Wiebke Neudorf entschloss sich, Bodo Busch mitzunehmen. Vernehmung vor Zeugen, Fingerabdrücke, DNS-Probe für den Fall, dass in dem Auto verdächtige Spuren zu finden wären. „Wenn Sie freiwillig mit mir kommen, ersparen Sie es sich, verhaftet zu werden“, sagte die Oberkommissarin. „Das würde sich in der Kleinstadt doch sofort herumsprechen. Und wie stünden Sie dann da? Wir fahren Sie hinterher auch wieder zurück.“ Sie sah ihm aufmerksam in die Augen. Würde er der Aufforderung nachkommen oder gäbe es eine körperliche Machtprobe oder seine Flucht?

Bodo Busch sah sie einen Moment mit großen Augen an, als müsse ihm die Tragweite ihrer Forderung erst bewusst werden. Dann sah sie, wie seine Kraft schwand. Sein Blick senkte sich auf den leeren Teller. Da war kein Anflug von Widerstand in seinen Schultern. Er nickte schweigend mit dem Kopf und trank sein Bierglas leer.

Hatte sie etwa ins Schwarze getroffen?

8. Der Streit

 

Sie hatten schon oft darüber gesprochen, Svenja und Bodo. Dass Jussuf ihr lästig falle. Und was man so lese, was alles passieren könne. Wenn man sich als Frau auf einen von ihnen einlasse.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht will“, klagte Svenja. „Aber er rennt immer noch hinter mir her. Du bist mein Freund. Kannst du nicht mal mit ihm reden?“

Und Bodo hatte einen Plan gemacht. Erstmal alleine mit ihm reden, notfalls müsste seine Clique ihm beistehen. Er kaufte sich bei Zweirad-Werwoll in der Heider Straße eine Fahrradkette. Neu, unbenutzt und ohne Schmierfett. Mit offenem Schloss ließ sie sich gut aufrollen und bequem in der Hosentasche unterbringen. „Ich habe ein neues Kettenöl“, sagte der Verkäufer eifrig, „mit neuer Rezeptur zur Steigerung der Langlebigkeit.“ Bodo dankte mit zum Abschied erhobener linker Hand: „Erstmal habe ich, was ich brauche.“

Dann rief Svenja ihn mit ihrem Handy an. „Ich bin auf dem Weg nach Hause“, sagte sie, „und da drüben steht er wieder. Tu doch endlich mal was!“

Als sie sich trafen, ging es gleich zur Sache. „Du lässt Svenja in Ruhe!“, forderte Bodo. „Hast du das verstanden? Geht das in deinen Kopf rein? Svenja gehört zu mir!“

Jussuf schien ihn verstanden zu haben. Er griff unter sein Hemd und hatte plötzlich ein Messer in der Hand. „Geh! Oder ich steche dich!“, forderte er.

Damit hatte Bodo nicht gerechnet. Oder eigentlich doch. Und es war bedrohlich. Jussuf bewegte seine Hand mit dem Messer mit schnellen Bewegungen, mal zur einen, mal zur anderen Seite. Mal tat er, als ziele er auf Bodos Hals, mal auf dessen Leib. Die Straße war menschenleer, niemand käme ihm zu Hilfe oder könnte später bezeugen, dass er mit einem Messer bedroht worden war. Er musste sich wehren und griff nach der Kette in seiner Hosentasche.

Sein erster Schlag traf Jussufs rechte Hand, die das Messer nicht mehr halten konnte.

Als die Kette für den zweiten Schlag schon in der Luft war, bückte Jussuf sich, um das Messer aufzuheben. Dabei geriet sein Kopf unter die Fahrradkette. Es gab ein hässliches Geräusch und Jussuf ging zu Boden und blieb regungslos liegen. Aus einer großen Wunde floss Blut.

War Jussuf jetzt etwa tot? Das hatte er nicht gewollt. Höchstens einen Denkzettel, weil Jussuf verstanden hatte, aber nicht einsichtig war. Außerdem: Was hätte er denn tun sollen? Jussuf hatte angefangen, hatte ihn mit einem Messer bedroht! Und dass der zweite Schlag auf den Kopf ging, das war reiner Zufall und nicht Absicht.

Als Bodo den auf dem Boden liegenden Gegner betrachtete, kam ihm eine Idee.

9. Geständnis

 

Sie nahmen Bodo Busch mit nach Heide zur Kriminalpolizei, um ihn dort zu verhören und seine Aussage zu protokollieren. Oberkommissarin Neudorf schaltete das Aufnahmegerät ein, informierte ihn über seine Rechte und bat: „Denk noch einmal darüber nach, was dort geschehen ist. Und sage uns alles, das ist besser für dich.“

Aber Bodo blieb bei seiner Darstellung. Er habe Jussuf zur Rede gestellt, sei aber von ihm angegriffen worden. Er habe sich verteidigen müssen und dabei Jussuf verletzt, der daraufhin geflohen sei. Mehr wisse er nicht.

Aber der Gedanke an den grünen Bagger und die unbekannten Gründe für seine Fahrt in den Priel vor Stinteck machte Hauptkommissar Hans Jensen plötzlich unruhig. Er rief Franz Schillhorn an, den Leiter der Mordkommission in Itzehoe. Wenn sie eine Leiche fänden oder das Geständnis eines Täters hätten, ginge der Fall ohnehin in deren Zuständigkeit über. Aber bisher hatten sie nur so ein unbestimmtes Gefühl, einen vagen Verdacht. Trotzdem schien es ihm ratsam, den Vorgesetzten in der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe zu informieren.

Kriminalhauptkommissar Schillhorn hatte wohl einen schlechten Tag. War er bei seinem morgendlichen Lauf durch den Itzehoer Wald in Regen geraten? Oder hatte seine Frau auf sein Frühstücksbrot den falschen Käse gelegt? Vielleicht konnte er auch nur bei dem überraschenden Anruf seine Vorbehalte gegen Jensen nicht mehr zügeln. Schillhorn mochte Jensen nicht. Zu selbstherrlich, wusste immer alles besser. Eigensinnig und nur wenig teamorientiert. Und das in einer nachgeordneten Dienststelle! Vielleicht war es auch nur eine unbegründete Furcht vor einem Konkurrenten um die nächste Beförderung. „Wenn ich das schon höre!“, polterte er. „Ein grüner Bagger, vielleicht gar keine Leiche. Könnt Ihr in Heide euch nicht mal einen sauberen, klaren Mord zulegen?“

Jensen kannte Schillhorns selten aufflammenden Humor. Er bemühte sich, angemessen ernst zu bleiben. „Ich halte dich auf dem Laufenden, Franz“, tröstete er ihn.

Dann rief er den Vorarbeiter bei den Landgewinnungsarbeiten vor Stinteck an. Die Handy-Nummer war in dessen Anzeige bei der Polizei in Büsum gespeichert worden. „Hier ist Jensen, Kripo Heide“, meldete er sich. „Wie geht es Ihrem grünen Bagger?“

„Radlader, Herr Jensen. Radlader. Geht wieder“, sagte Lau. „War doch nicht so schlimm wie befürchtet. Aber man weiß ja nie! Wasser in der Elektronik und im Motor! Das kann noch Folgeschäden haben! Haben Sie den Kerl gefasst? Der kriegt von uns eine Rechnung!“

„So weit sind wir noch nicht“, vertröstete Jensen ihn. „Ich habe eine andere Bitte. Können Sie den Radlader für uns an den Priel fahren? Ich meine, auf dem Ufer des Priels auf der Höhe der Fundstelle?“

Lau schien einen Moment lang nachdenken zu müssen. „Ist das Ihr Ernst? Naja, wenn Sie das sagen, Herr Jensen, dann werden Sie auch wissen, wofür das gut sein soll. In einer Stunde kann der Bagger dort stehen. Aber Sie müssen den Arbeitsausfall bezahlen!“

Dann rief Jensen Polizeimeister Ole Reimers bei der Polizei in Büsum an. „Ich brauche da mal Ihre Hilfe“, warb er. „Erinnern Sie sich an den grünen Radlader im Priel vor Stinteck?“

„Ist ja nur knapp zwei Wochen her“, verteidigte Reimers sein Erinnerungsvermögen. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Der Vater von Bodo Busch hat einen Pkw in einer dunklen Farbe. Den Wagen hätte ich gerne in einer Stunde auf dem Rüstplatz hinter dem Deich in Stinteck.“

Reimers sagte zu, das Notwendige zu tun.

Dann fuhren sie hinaus. Hauptkommissar Jensen, Oberkommissarin Neudorf und im Fond des Wagens Bodo Busch mit Handschellen, die sie dem jungen kräftigen Mann vorsorglich angelegt hatten. Zu ihrer eigenen Sicherheit besonders während der Fahrt, aber auch, um ihn an einer Flucht zu hindern. Bodo hatte sich nicht gewehrt. Als ahne er, was auf ihn zukomme.

Und als sie auf dem Deich standen, sein Vater und Polizeimeister Ole Reimers mit dem dunkle Pkw auf dem Rüstplatz hinter dem Deich und der grüne Radlader draußen auf dem Ufer des Priels, dort, wo er an dem Morgen vor zwei Wochen gefunden worden war, brauchten sie nicht nachdrücklich auf Bodo einzuwirken.

„Er war plötzlich tot“, sagte Bodo mit Verzweiflung in der Stimme. Er begann zu reden, noch bevor Hauptkommissar Jensen seine Fragen stellen konnte. „Das wollte ich nicht. Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte nur mit ihm reden, damit er Svenja in Ruhe lässt. Dann griff er mich an. Ich musste mich verteidigen und er sollte einen Denkzettel bekommen. Aber da war er tot.“ Er stockte einen Moment.

„Dann ist er also nicht geflüchtet, nachdem Sie ihn verletzt hatten?“, fragte Jensen. „Was haben Sie dann mit dem Toten gemacht?“

Bodo schüttelte kurz den Kopf, als müsse er seine Gedanken entwirren. „Er lag da auf der Straße und blutete. Da konnte ich ihn nicht liegen lassen. Es konnten jeden Moment Leute kommen. Deshalb habe ich ihn zunächst in einem Papiercontainer versteckt. Dann fiel mir ein: Ich hatte die Baustelle draußen im Vorland vom Kutter aus gesehen. Da würde ich die Leiche verstecken können, dachte ich mir. Ich wartete, bis es dunkel war und fuhr dann mit dem Wagen meines Vaters und mit der Leiche hierher. Mit dem Radlader habe ich an der Wassergrenze in der Sandbank ein Loch gegraben und die Leiche dort reingelegt. Aber ich hatte das auflaufende Wasser falsch eingeschätzt. Auf der Rückfahrt kam ich nicht mehr durch den Priel.“

„Und wo finden wir die Leiche?“, fragte Jensen. Sie gingen zum Wasser hinab. Es war Hochwasser. Sie schritten die Sandbank auf und ab, aber Bodo fand nichts mehr, was ihn an die Nacht erinnert hätte. Woran er sich bei der Suche hätte erinnern können. „Das war ja so dunkel“, versuchte er sich zu entschuldigen, „und sie sehen ja, wie das Wasser alles wegspült.“

Der Untersuchungsrichter erließ am folgenden Tag einen Haftbefehl.

10. Jussuf

 

Gleichzeitig setzte die Ermittlungsarbeit der Spurensicherung ein.

Jensen forderte von der Bereitschaftspolizei in Eutin einen Trupp zur Unterstützung bei der Suche nach dem Toten und bereits am frühen Nachmittag kam ein Mannschaftstransportwagen mit neun Beamten an. Sie verfügten über Suchgeräte ähnlich denen, mit denen in den Alpen Verschüttete nach einem Lawinenabgang gesucht werden. Zwei Hundeführer mit Suchhunden, geschult im Aufsuchen von Toten, wurden eingesetzt. Während des nächsten Niedrigwassers suchten sie die Sandbank vor Stinteck ab, von der Einmündung des Priels mehrere hundert Meter nach Norden. Als sie auch einen Tag später bei einem zweiten Suchgang ergebnislos blieben, beendete Jensen den Einsatz.

Oberkommissar Klaus Hosse, der Leiter der Spurensicherung bei der Kriminalpolizei in Heide, hatte alle Hände voll zu tun. Das dunkle Auto, mit dem der Tote in der Nacht transportiert worden war, wurde untersucht. Er fand Fingerabdrücke, die zunächst noch analysiert werden mussten, um sie den infrage kommenden Personen zuordnen zu können. Im Kofferraum fanden sie Blutspuren, die für eine DNA-Analyse ausreichten. In der Unterkunft vor der Jugendherberge fanden sie Kleidung, die nach übereinstimmenden Aussagen der anderen Jugendlichen dem Toten gehört hatte, so dass sich nach einer Analyse der DNA-Spuren die Blutspur aus dem Kraftfahrzeug eindeutig zuordnen ließe. Es würde ein paar Tage dauern, bis die Untersuchungsergebnisse vorliegen.

Eine Woche später rief die Ausländerbehörde bei Hauptkommissar Jensen an. „BAMF hat uns informiert, dass Jussuf Ben Hadar al Anbari in Dänemark aufgegriffen worden ist.“

„Kein Irrtum? Wie ist das möglich?“, fragte Jensen erstaunt. „Wir ermitteln, weil Jussuf angeblich ermordet worden ist.“

„Jussuf Ben Hadar fiel in Esbjerg einem Polizisten wegen einer noch nicht verheilten Kopfwunde auf. Deshalb haben sie ihn befragt. Er nannte seinen Namen und sie haben seine Angaben in der europaweit zugänglichen Datenbank über Asylanträge bestätigt gefunden. Nun benötigt die dänische Polizei von uns eine DNA-Analyse, um ihn zweifelsfrei identifizieren zu können.“

„Da können wir ihnen helfen“, sagte Jensen. „Und dabei waren wir überzeugt, er habe den Streit nicht überlebt. Dann kriegen wir ihn also wieder zurück?“

„Das steht noch nicht fest“, sagte der Beamte der Ausländerbehörde. „Jussuf sagte in Dänemark aus, jemand habe ihn im Streit verletzt und er habe das Bewusstsein verloren. Dann sei er im Sand am Meer eingegraben worden. Das kalte Wasser habe ihn aber aufgeweckt und er sei in der Dunkelheit geflüchtet. Nun habe er Angst, an den Wohnort zurückzukehren. Dort sei es für ihn auch nicht besser als in seiner Heimat. Deshalb wolle er in Dänemark bleiben.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.01.2019

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /